Aphorismen - Arthur Schopenhauer - E-Book

Aphorismen E-Book

Arthur Schopenhauer

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Beschreibung

Ein Aphorismus ist ein philosophischer Gedankensplitter, der üblicherweise als kurzer, rhetorisch reizvoller Sinnspruch (Sentenz, Aperçu, Bonmot) formuliert und als Einzeltext konzipiert wurde. Sogenannte geflügelte Worte und pointierte Zitate gelten aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht als Aphorismen. Erst seit dem frühen 20. Jahrhundert werden Aphorismen als eigenständige Prosagattung anerkannt und erforscht. Sie gelten als widersprüchliche Textform. (aus wikipedia.de)

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Aphorismen

Arthur Schopenhauer

Inhalt:

Arthur Schopenhauer – Biografie und Bibliografie

Aphorismen

Einleitung

Kapitel I: Grundeinteilung

Kapitel II: Von dem, was einer ist

Kapitel III: Von dem, was einer hat

Kapitel IV: Von dem, was einer vorstellt

Kapitel V: Paränesen und Maximen

Kapitel VI: Vom Unterschiede der Lebensalter

Aphorismen, Arthur Schopenhauer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849610142

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Arthur Schopenhauer – Biografie und Bibliografie

Geb. am 22. Februar 1788 in Danzig als Sohn des Bankiers Heinrich Floris Sch. und der Schriftstellerin Johanna Seil. 1793 übersiedelte die Familie nach Hamburg. Der Knabe, den der Vater gegen dessen Wunsch zum Kaufmannsstande bestimmte, machte mit seinen Eltern längere Reisen nach Frankreich und England, wo er die betreffenden Sprachen sich vollkommen zu eigen machte. Nachdem Sch. kurze Zeit im Kontor tätig gewesen, starb sein Vater und nicht lange darauf konnte sich nun Sch. dein Studium widmen. 1809 ging er nach Göttingen, wo er Naturwissenschaften (Physiologie) und besonders (unter G. E. Schulze) Philosophie studierte, Plato und Kant las. 1811 hörte er in Berlin Fichte, dessen Vorträge ihn aber abstießen. 1813 schrieb Sch. seine Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«, mit der er in Jena (1813) promovierte. Den Winter 1813-14 verlebte er in Weimar, wo er mit Goethe, auf den er einen guten Eindruck machte, verkehrte. 1814-18 lebte er in Dresden, wo er die (von Goethe beeinflußte) Abhandlung »Über das Sehen und die Farben« veröffentlichte (1816), welche eine physiologische Farbentheorie enthält, die in mancher Hinsicht durch spätere Theorien bestätigt worden ist. 1818 gab er sein Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« heraus, und unternahm dann eine Reise nach Italien, wo er sich einem freien Lebensgenuß hingab. 1820 habilitierte er sich in Berlin, wo er aber keinen Erfolg hatte. In Berlin lebte er, mit Ausnahme der Jahre 1822-25, die er wieder in Italien verbrachte, bis 1831, worauf ihn die Choleravertrieb. Nach kurzem Aufenthalte in Mannheim nahm er (1833) dauernd seinen Wohnsitz in Frankfurt a. M., wo er als einsamer Junggeselle lebte, ohne gesellschaftlichen Verkehr, in beständiger hypochondrischer Angst um sein Leben, seine Sicherheit und sein (seit dem Verlust eines großen Teiles seines Vermögens) sorgsam behütetes Eigentum, verbittert gegen die von ihm äußerst geschmähten »Universitätsprofessoren«, von denen er sich zurückgesetzt, totgeschwiegen sah, und gegen das Publikum, das seine Schriften nicht las; dabei überzeugt, eines der größten philosophischen Genies aller Zeiten zu sein und seinen einstigen Ruhm voraussagend. 1836 veröffentlichte er die Schrift »Über den Willen in der Natur«, 1841 »Die beiden Grundprobleme der Moral«, welche eine von der Norwegischen Sozietät der Wissenschaften zu Drontheim gekrönte Preisschrift enthalten. 1844 erschien das · Hauptwerk Sch.s in zweiter Auflage und fand nun schon mehr Beachtung, besonders seit (von 1848 an) Frauenstädt sich eifrigst für Sch.s Lehren einsetzte. 1851 erschienen die »Parerga und Paralipomena«, 1859 die dritte Auflage des Hauptwerkes. Am 21. September 1860 starb Sch., dessen Schriften nun immer mehr Verbreitung fanden; so sehr, daß seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts Sch. lange Zeit geradezu Modephilosoph war, wozu u. a. sein Pessimismus, seine geistreichen, oft witzigen und stets anregenden Bemerkungen, sein außerordentlich klarer, lebendiger, alles Schwerfällige vermeidende Stil beigetragen haben. Die Fachphilosophen haben sich seitdem vielfach mit ihm beschäftigt und Sch. gehört nun in der Tat zu den »Klassikern der Philosophie«. – Sch.s Persönlichkeit enthält zwei Seelen: sie ist einerseits von heftigen sinnlichen Trieben beherrscht, die den Menschen das Leben kräftig bejahen lassen; anderseits zeitigte die Erkenntnis des Leidens in der Welt, der Nichtigkeit des endlich-individuellen Daseins die Abkehr von den Lebenstrieben, die Sch., wenn schon nicht gleich in der Praxis, in seinem Denken überwand. Zum Pessimismus brachte Sch. übrigens schon gewisse Anlagen (eine »Dyskolie«) mit, insbesondere ist er von väterlicher Seite her erblich belastet.

Sch., der erkenntnistheoretisch die Lehren Kants weiterbildet, ist von der indischen Vedanta-Philosophie, Plato, Spinoza, J. Böhme, auch von Fichte, Schelling u. a. beeinflußt, begründet aber eine neue Weltanschauung auf idealistischer Grundlage, einen metaphysischen Voluntarismus mit pessimistischem Charakter, als Gegensatz zu Hegels optimistischem Panlogismus. Mit Kant bestimmt er die Außenwelt als solche, die Welt der Raumdinge als phänomenal, als Erscheinung eines Dinges an sich. Zugleich aber hält er, im Gegensatz zu Kant, eine Metaphysik für möglich, die – auf Grund der innern Erfahrung – das Wesen des Ding an sich selbst zu bestimmen vermag.

Die Philosophie ist »Wissenschaft in Begriffen« und fußt auf lebendiger Anschauung des Weltinhaltes, welchen sie begrifflich darstellt, als eine Art der Kunst, als »Mittleres von Kunst und Wissenschaft, oder vielmehr etwas, das beide vereinigt«. »Nur in Begriffen (d.h. durch die Vernunft) läßt sich das Ganze übersehen, und das Wiesen der Welt... in Begriffen auszudrücken und so die Anschauung an einem ändern Stoff (den Begriffen) zu wiederholen, ist diejenige Kunst, welche Philosophie heißt.« Die Aufgabe der Metaphysik ist es nicht, die Erfahrung zu überfliegen, sondern sie von Grund aus zu verstehen, indem äußere und innere Erfahrung die Hauptquelle der Erkenntnis ist. Durch »Zusammenbringen der äußern mit der innern Erfahrung« und Verständnis der gesamten Erfahrung, Auffindung des Sinnes und Zusammenhanges dieser sucht, die Metaphysik (der Natur, des Schönen, der Sitten) das Ding an sich als das in der Erscheinung sich Darstellende zu erfassen. Der metaphysische Trieb erwächst aus der Verwunderung des Menschen über sein Dasein.

Die Erkenntnistheorie Sch.s bildet zunächst die Aprioritätslehre Kante in psychologisierender Weise weiter. Die Anschauungs- und Denkformen sind apriorisch und subjektiv, sie gelten nur für die Welt der Erscheinungen, die als solche keine wahre (absolute) Wirklichkeit hat, sondern eine Art Illusion (»Schleier der Maya«, »Phantasmagorie«, »Gehirnphänomen«) ist (Illusionismus). Das A priori ist die Art und Weise, wie der Prozeß objektiver Apperzeption im Gehirn vollzogen wird. Kant hat die »Kritik der Gehirnfunktionen« geliefert. Das Gemeinsame aller apriorischen Formen der Erkenntnis und des Seins enthält der Satz vom Grunde, das Grundgesetz geistiger Verarbeitung des Erfahrungsmaterials, der allgemeinste Ausdruck für die Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit, für die apriorischen Relationen des Erkenntnisgehaltes. »Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen untereinander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehen, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grunde in seiner Allgemeinheit ausdrückt.« Dieser Satz gilt a priori, aber nur für mögliche Erfahrungen, für Erscheinungen, für Einzelnes, nicht für Ganze des Seins. Je nach der Art der Objekte nimmt der Satz verschiedene Gestalten an, er hat eine »vierfache Wurzel« bezieht sich auf das Sein und Werden, auf das Erkennen und Handeln. 1. Satz vom Grunde des Werdens: »Alle in der Gesamtvorstellung, welche den Komplex der erfahrungsmäßigen Realität ausmacht, sich darstellenden Objekte sind hinsichtlich des Ein- und Austrittes ihrer Zustände, mithin in der Richtung des Laufes der Zeit, durch ihn miteinander verknüpft.« »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt, so muß ihm ein anderer vorhergegangen sein, auf welchen der neue regelmäßig, d.h. allemal, so oft der erstere da ist, folgt. Ein solches Folgen heißt Erfolgen und der erstere Zustand ist die Ursache, die zweite die Wirkung.« 2. Satz vom Grunde des Erkennens: dieser besagt, »daß, wenn ein Urteil eine Erkenntnis ausdrücken soll, es einen zureichenden Grund haben muß«. 3. Satz vom Grunde des Seins: »Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Teile in einem Verhältnis zueinander stehen, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen anderen bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dieses Verhältnis Lage, in der Zeit Folge.« 4. Satz vom Grunde des Handelns (Gesetz der Motivation): »Bei jedem wahrgenommenen Entschluß, sowohl anderer als unser, halten wir uns berechtigt, zu fragen, Warum?, d.h. wir setzen als notwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen.«

Die Anschauungsformen, Raum und Zeit, sind apriorisch-subjektiv, »selbsteigene Formen des Intellekts«. Der Raum ist eine »vor aller Erfahrung dem Intellekt einwohnende Form«, er ist »a priori unmittelbar anschaubar«. Ebenso die Zeit, die ein transzendental Ideales ist, nur im erkennenden Subjekt entspringt, der »bloßen Vorstellung und ihrem Apparat« angehört. Die Zeit ist psychologisch »unser eigener, ungestört fortschreitender, mentaler Prozeß, die Form unserer Apperzeption«. Ebenso phänomenal, ideal ist die Bewegung als solche. Die mathematische Erklärung und Gewißheit fußt auf dem Satz vom Grunde des Seins, auf Anschauung; die Geometrie auf der Relation der Teile des Raumes, die Zahl auf dem Nexus der Zeitteile. Sch. lehrt ferner die Intellektualität der Anschauung, welche schon ein unbewußtes (konkretes) Denken enthält, schon »Erkenntnis der Ursache aus der Wirkung« ist. Die Sinnesempfindung bezieht der Verstand mittels des Kausalprinzips auf ihre Ursache, »welche eben dadurch in Raum und Zeit... sich darstellt als Gegenstand der Erfahrung, materielles Objekt, im Raum durch alle Zeit beharrend, dennoch aber auch als solches immer noch Vorstellung bleibt, wie eben Raum und Zeit selbst«. Zur Anschauung eines Objekts kommt es also erst durch eine (unmittelbare, nicht begrifflich-logische) Beziehung der Eindrücke auf eine in den Raum versetzte Ursache (vgl. Helmholtz, Fick, Zeller).

Das Denken ist wie der Intellekt überhaupt ein »Akzidens des Willens«, eine Willensfunktion. Der Wille ist der »Ursprung und Beherrscher« des Intellekts, er ist metaphysisch, der Intellekt nur seine Erscheinung, »Gehirnphänomen« (wobei das Gehirn selbst die Erscheinung des Willens ist). Der Wille steckt schon hinter den Assoziationen der Vorstellungen, er bringt Einheit in sie. Die Denkgesetze sind »metalogische« Wahrheiten, d.h. Bedingungen aller formalen Wahrheit, alles Logischen. Formal wahr ist ein Urteil, welches dem Satz vom Grunde genügt, materielle Wahrheit ist die Übereinstimmung zwischen Urteil und Anschauung; die materielle Wahrheit ist entweder empirische oder transzendentale oder metaphysische Wahrheit. Von den zwölf Kategorien Kants, deren Zahl einem Hange zur architektonischen Symmetrie entspringen, sind elf zu streichen. Die einzige wirkliche Kategorie, die »Form und Funktion des reinen Verstandes«, die sich nicht wegdenken läßt, ist die Kausalität. Sie ist Bedingung objektiver Erfahrung, schon in der Anschauung wirksam. »Ursache« ist niemals ein Ding, stets eine Veränderung (aktualer Kausalbegriff). Die Ursache im engeren Sinne ist der Zustand der Materie, der, indem er einen anderen mit Notwendigkeit herbeiführt, selbst eine ebenso große Veränderung erleidet, wie die ist, welche er verursacht (Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung). Im Organischen treten die Ursachen als Reize (ohne äquivalente Gegenwirkung) auf, im Handeln als Motive, welche nur unter Voraussetzung eines inneren Triebes (des Charakters) wirken. »Bei jedem wahrgenommenen Entschluß sowohl anderer als unser selbst, halten wir uns berechtigt, zu fragen: Warum? d.h. wir setzen als notwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist, und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen.« Die Einwirkung des Motivs wird nicht bloß von außen und mittelbar, sondern zugleich von innen, ganz unmittelbar erkannt. »Hier stehen wir gleichsam hinter den Kulissen und erfahren das Geheimnis, wie, dem Innersten Wesen nach, die Ursache die Wirkung herbeiführt: denn hier erkennen wir auf einem ganz anderen Wege, daher in ganz anderer Art. Hieraus ergibt sich der wichtige Satz: die Motivation ist die Kausalität von innen gesehen.« Die Materie als solche (als Erscheinung) entsteht aus der Vereinigung von Raum und Zeit, ist wie diese »Vorstellung«. Ihrem Charakter nach ist sie »Wirken«, Kausalität, die »objektivierte, d.h. nach außen projizierte Verstandesfunktion der Kausalität selbst«. Die Materie manifestiert sich nur durch ihre Kräfte; sie selbst als Abstraktum ist form- und eigenschaftslos, absolut träge und passiv, das unter allem Wechsel der Qualitäten und Formen Beharrende. Die Materie ist nicht Gegenstand, sondern Bedingung der Erfahrung, das durch die Formen unseres Intellekts notwendig herbeigeführte bleibende Substrat der Vorgänge im Raum, das wir nicht mehr wegdenken können, wenn sie einmal gesetzt ist. Alle Materie ist »nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstande«, kein Ding an sich.

Denn wir dürfen, betont Sch., niemals vergessen: die Welt raum-zeitlicher Objekte ist als solche nur ideell, phänomenal, nur unsere Vorstellung (d.h. kategorial verarbeiteter, allgemeingültiger Erfahrungsinhalt, nicht etwa ein Phantasma). Objekt, Erscheinung und Vorstellung sind bei Sch. synonyme Begriffe: »Erscheinung heißt Vorstellung und weiter nichts: alle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt ist Erscheinung.« Die Welt ist Vorstellung, d.h. sie ist nur in Beziehung auf wahrnehmende Subjekte. Ein Objekt an sich ist ein Unding. Kein Objekt ohne Subjekt, kein Subjekt ohne Objekte, beide sind Korrelate, setzen einander voraus. Unsere Objekte sind (als solche) Vorstellungen, unsere Vorstellungen sind selbst die Objekte, nicht Bilder solcher. »Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung, und eben deswegen und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt: d.h. sie hat transzendentale Idealität.« Zugleich hat sie empirische Realität; das Objekt ist zwar nicht Ding an sich, aber es ist als empirisches Objekt real. »Zwar ist der Raum nur in meinem Kopf; aber empirisch ist mein Kopf im Raum.« Die Vorstellung ist das Ursprüngliche, welches in Objekt und Subjekt zerfällt. Das Subjekt ist dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird. Es ist der »Träger der Welt«, die Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts. Das empirische Subjekt ist nur Erscheinung, durch den Organismus bedingt. Das »reine Subjekt des Erkennens« hingegen wird niemals Objekt, ist zeitlos, überindividuell, willenlos, unerkennbar, Korrelat der »Idee«, dem Satz vom Grunde nicht unterworfen, ewig. Das Subjekt erkennt sich nur als ein Wollendes, nicht, als ein Erkennendes; es gibt kein Erkennen des Erkennens. Das Erkannte in uns ist nicht das Erkennende, sondern das Wollende. »Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend.« Und diese Erkenntnis wird für Sch. zum Schlüssel, der den Zugang zum »Ding an sich«, zur Metaphysik eröffnet. Die Welt der Objekte, in welcher Vorstellungen nach dem Prinzip des Satzes vom Grunde verknüpft sind und wo alle Zergliederung und Verknüpfung immer wieder nur Vorstellungen, Erscheinungen findet oder setzt, hat außer dieser Außen- noch eine Innenseite die dem, was wir in uns als Willen finden, analog ist.

Das Ding an sich, das Innerste Wesen der Welt ist Wille (im weitesten Sinne als Streben, Trieb). »Ding an sich... ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden.« Die Vorstellung, das Objekt ist die Erscheinung, die Sichtbarkeit (»Objektität«) des Willens, welcher das Innerste, der Kern jedes Dinges ist und in jeder Naturkraft erscheint. Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt noch denkbar. »Wenn also die Körperwelt noch etwas mehr sein soll, als bloß unsere Vorstellung, so müssen wir sagen, daß sie außer der Vorstellung, also an sich und ihrem innigsten Wesen nach, das sei, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden.« So wie unser eigener Leib (als Objekt-Vorstellung) die Objektität unseres Willens ist, so sind auch die übrigen Körper als Erscheinungen eines Willens zu deuten. Nur muß beachtet werden, daß wir durch innere Erfahrung zwar das Wiesen des Seins erfassen, nämlich daß es Wille ist, nicht aber adäquat diesen Willen an sich erkennen, weil ja unsere Anschauung mit der subjektiven Form der Zeit und der Kausalität behaftet ist. All sich ist der »Wille« (als Grund des Wollens) raum- und zeitlos, grundlos, frei von aller Vielheit, einheitlich, unteilbar, ganz in jedem Wesen. Die Vielheit der Individuen ist nur Erscheinung, bedingt durch Raum und Zeit, das »principium individuationis«. Die Individuation ist nur als Vorstellung, nicht an sich vorhanden; jedes Individuum als solches ist nur ein »kurzer Traum« des Willens. Der Wille hat an sich weder einen Grund, noch ursprünglich ein Ziel, er ist nur auf sich gerichtet, ist »endloses Streben« ohne Ziel, ohne Grenzen, zunächst »blinder Drang und erkenntnisloses Streben«, eine »finstere treibende Kraft« (vgl. Böhme, Schelling). Er ist »Wille zum Leben«, zum Dasein, der sich in den Organismen, im Menschen eine Organisation schafft, mit der nun auf einmal einerseits der Intellekt, anderseits die Welt als Vorstellung da ist.

Der Wille erscheint in jeder Naturkraft. Kraft ist an sich Wille. Die Kraft, d.h. das, was einer Ursache immer die Wirksamkeit verleiht, ist als. solche grundlos und ist die unmittelbare Objektität des Willens. Auf der niedrigsten Stufe erscheint der Wille als allgemeine Naturkraft, als Schwere, Undurchdringlichkeit usw., dann als physikalische Sonderkraft, als Elastizität, Magnetismus usw. Die Materie ist ebenfalls Erscheinung des Willens. Eine höhere Stufe der Objektivation des Willens ist der Organismus. In ihm wirken physikalische und chemische Kräfte, aber was diese zusammenhält und lenkt, ist die »Lebenskraft«, welche ihre Wirkung modifiziert. Diese Lebenskraft ist nun an sich Wille. Dieser treibt die verschiedenen Lebensformen nacheinander hervor, ohne daß aber eine Evolution besteht. Die Zweckmäßigkeit der Organismen ist eine Folge der in ihnen sich bekundenden Einheit des Willens und der »Idee«. Durch den Organismus erst ist der Intellekt gesetzt, der im Menschen zum Bewußtsein und Selbstbewußtsein aufsteigt. Der Intellekt ist »Gehirnphänomen«. aber das Gehirn ist hier selbst als Erscheinung des Willens gemeint, so daß der Intellekt Willensfunktion ist und als solche denn auch zunächst durchaus im Dienste des Lebens und der Praxis steht. Der Materialismus ist einseitig, wenn er auch (Cabanis u. a.) mit Recht die Bedingtheit psychischer Prozesse durch organische betont; er ist aber die »Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts«. Seele und Leib sind zwei Wahrnehmungsweisen einer und derselben Wirklichkeit, die einander entsprechen, so daß in diesem Sinne Psychisches und Physisches einander (ohne Wechselwirkung) parallel gehen, weil sie ja im Grunde identisch sind. Der Leib ist die Objektität, der sichtbare Ausdruck des Willens, das Auge z.B. der Ausdruck des Willens zum Sehen, die Genitalien der Ausdruck des Geschlechtstriebs usw. Der Leib nun ist uns »auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort, »Wille«, bezeichnet«. Die Aktion des Leibes, die äußere Handlung ist nichts anderes als der objektivierte, in die Anschauung getretene Akt des Willens. »Mein Leib und mein Wille sind eins«, der ganze Leib ist der »sichtbar gewordene Wille«. Die Willenshandlung geht nicht der Bewegung voran, sondern ist das An sich derselben, ist mit ihr zugleich; beide sind »eins und dasselbe, auf doppelte Weise wahrgenommen; was nämlich der inneren Wahrnehmung (dem Bewußtsein) sich als wirklicher Willensakt kundgibt, dasselbe stellt sich in der äußeren Anschauung, in welcher der Leib objektiv dasteht, sofort als Aktion desselben dar«. Im Psychischen ist der Wille das Treibende, Leitende, Einheit Stiftende, er setzt den Intellekt in Bewegung, sobald er ihn einmal erzeugt hat, während er ursprünglich unbewußter Wille ist. Die Gefühle sind Willenszustände. Der Wille ist an sich, als intelligibler Willenscharakter frei, als empirisches Wollen und Handeln determiniert (vgl. Kant, Schelling). Die (transzendentale) Freiheit ist Unabhängigkeit des Willens vom Satz vom Grunde, von allen Formen der Erscheinung. Daß wir so und so sind, das ist schließlich grundlos, durch nichts determiniert als durch den in uns erscheinenden Urwillen selbst, der unseren unveränderlichen Charakter bildet,. Aus diesem aber, bzw. aus den Motiven, folgt alles mit psychologischer Notwendigkeit; die Freiheit liegt im Sein, nicht im Handeln (»operari sequitur esse«). »Jeder Mensch handelt nach dem, wie er ist, und die demgemäß jedesmal notwendige Handlung wird, im individuellen Fall, allein durch die Motive bestimmt.« »Der Mensch tut allezeit nur, was er will und tut es doch notwendig. Das liegt aber daran, daß er schon ist, was er will; denn aus dem, was er ist, folgt notwendig alles, was er jedesmal tut.« Verantwortlich ist der Mensch durch seinen Charakter, durch seine transzendentale Freiheit; vermöge denen alle Taten des Menschen sein Werk sind. – Unsterblich ist nicht das empirische Individuum als solches, sondern der zeitlose, universale, einheitliche Wille in ihm, der das Wesen eines jeden zu einem unvergänglichen macht.

Der einheitliche Wille, dessen raum-zeitliche Erscheinungen die Individuen sind, objektiviert sich auf verschiedenen Seinsstufen, und diese nennt Sch. Ideen. Sie sind die »Musterbilder« der Individuen, die »ewigen Formen« der Dinge, zeit- und grundlos wie der Wille selbst, »nicht selbst in Zeit und Raum, das Medium der Individuen, eintretend, sondern feststehend, keinem Wechsel unterworfen, immer seiend, ungeworden«. Die Einzeldinge sind nur getrübte Erscheinungen der Ideen, die in ihnen nicht rein zum Ausdruck kommen. Die niedrigsten Objektivationsstufen des Willens sind die allgemeinen Naturkräfte. Die Erkenntnis der Ideen erfolgt, wenn wir nicht mehr die Erscheinungen am Leitfaden des Satzes vom Grunde verfolgen, nicht nach ihrem Warum usw. ragen, sondern nur in ruhiger Kontemplation auf ihr Was schauen. Mit dem Subjekt ist in diesem Moment eine Wandlung erfolgt: es ist nicht begehrend, sondern interesseloses, unegoistisches, reines, allgemeines Subjekt des Erkennens. Dies ist der ästhetische Zustand, den die Kunst vermittelt. Sie geht auf die Erfassung der Ideen und die Mitteilung dieser Erkenntnis, die vom Willen ganz losgerissen ist. Die Kunst »wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt«. Sie »reißt das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Strom des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich: und dieses Einzelne, was in jenem Strom ein verschwindend kleiner Teil war, wird ihr ein Repräsentant des Ganzen, ein Äquivalent des in Raum und Zeit unendlich Vielen«. Schön ist jedes Ding als »Ausdruck einer Idee« (spekulative Gehaltsästhetik). Die verschiedenen Künste unterscheiden sich durch das Material, an welchem sie Ideen zum Ausdruck bringt (Bildende Kunst, Poesie, Musik). Zweck der schönen Baukunst ist die »Verdeutlichung der Ojektivation des Willens auf der niedrigsten Stufe seiner Sichtbarkeit, wo er sich als dumpfes, erkenntnisloses, gesetzmäßiges Streben der Masse zeigt und doch schon Selbstentzweiung und Kampf offenbart, nämlich durch Schwere und Starrheit«. Das Trauerspiel (Tragische) zeigt den Willen in seinem Zwiespalt mit sich selbst in furchtbarer Größe und Deutlichkeit. Eine ganz eigene Stellung nimmt die Musik ein. Sie ist nicht die Abbildung einer Idee, sondern mehr, nämlich »eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, so wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht«. Die Musik ist also das unmittelbare Abbild, der Ausdruck des Willens selbst und deshalb von so mächtiger Wirkung. Im Grundbaß kommen die niedrigsten Stufen der Willensobjektivation zum Ausdruck, in der Melodie das Leben und Streben des Menschen. Das Genie ist »vollkommenste Objektivität«, Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntnis, der Kontemplation frei vom Dienste des Willens, die Fähigkeit, »klares Weltauge« zu sein.

Die Kunst befreit uns für kurze Zeit von der Unruhe des Lebenswillens, sie ist ein »Quietiv« und ein Palliativ, ein Beruhigungsmittel, welches freilich nur zeitweise hilft. Die Unseligkeit des Lebenswillens bleibt bestehen. Die Basis alles Willens ist Bedürftigkeit, Mangel, Schmerz oder aber Langeweile, zwischen denen das Leben wie ein Pendel hin und her schwingt. Lust ist nur momentanes Aufhören von Unlust, alles Glück nur negativer Art, jedes Leben ein Leiden. Der rastlos strebende Wille ist nie zu befriedigen. »Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens.« Das Streben hat kein Ziel, das Leiden kein Maß; die Welt ist ein »Jammertal«. Daher ist der Optimismus eine »wahrhaft ruchlose Denkungsart«, der extremste Pessimismus ist gerechtfertigt. Als Erzeugnis des blinden Willens ist die Welt durchaus schlecht, eine schlechtere Welt kann es gar nicht geben, sie könnte nicht bestehen. Die Welt selbst ist das Weltgericht, sie leidet an ihrem eigenen Willen, aus eigener Schuld. Je mehr die Einsicht in das Wesen der Welt erwacht, also je höher die Intelligenz wird, desto größer wird das Leiden, von dem zunächst mir die Kunst auf Augenblicke erlöst.

Dieser metaphysische Pessimismus liegt nun auch der Ethik Sch.s zugrunde. Diese ist Mittleidsmoral, erwachsend aus der Einsicht in die Wesensgleichheit, Identität aller Leidenden, aller Wesen, durch welche Einsicht der ursprüngliche Egoismus überwunden wird. Das Mitleid ist das Fundament der Moral, das einzige echt sittliche Motiv, die »echte, d.h. uneigennützige Tugend«, die Basis aller freien Gerechtigkeit und Menschenliebe. Moralischen Wert hat nur die aus Mitleid geborene Handlung. Mitleid ist Teilnahme am Leiden eines Anderen. Dieser aber ist an sich eins mit uns selbst (»tat twam asi« – dies alles bist du, wie die indische Lehre lautet). Im anderen leiden wir selbst. Hier ist die Scheidewand, welche die Wesen trennt, aufgehoben und das Nicht ich gewissermaßen zum Ich geworden. Aus der Durchschauung des Erscheinungscharakters der Individualität geht die Gerechtigkeit und die Güte der Gesinnung hervor, das Mitleid, die reine Liebe.

Indem nun aber der Mensch in allen Wesen sein eigenes Ich und in allein Leiden sein eigenes Leiden erkennt, schaudert ihm vor allem Leben und dessen Genüssen (vgl. Buddha). Der Wille wendet sich nun gegen sich selbst, bejaht das (individuell-leibliche) Leben immer schwächer, er ist durch Erkenntnis hellsichtig geworden und verneint das Leben. Selbstmord nützt nichts, denn der Tod trifft dann nur die Erscheinung des Willens, nicht diesen selbst. Hingegen erlöst uns immer mehr vom Leben die Askese in allen ihren Arten (Armut, Kasteiung, Keuschheit usw.), die den Lebenswillen abschwächt, ertötet. Kommt dann der Tod, so trifft er auf einen schon fast ganz erloschenen Willen. »Für den, welcher so endet, hat zugleich die Welt geendet.« Für uns ist dieses Nirwana das Nichts, während es an sich das Höchste, unsere Welt aber nichts ist. Die Verneinung des Willens zum Leben, diese »Selbstaufhebung des Willens«, diese jähe Wendung des Willens gegen sich selbst, ist ein Akt der (durch Erkenntnis geleiteten) Freiheit des Willens; hier ist der einzige Punkt, wo seine Freiheit unmittelbar in die Erscheinung tritt.

Anhänger Sch.s sind mehr oder weniger D. Ascher, E. du Mont, E. O. Lindner, Tauschinski, Th. Stieglitz, J. C. Becker, Frauenstädt, Richard Wagner, Bahnsen, Mainländer, A. Bilharz, C. Peters, R. Köber, P. Deußen u. a., ferner sind von ihm beeinflußt, Fortlage, Hellenbach, du Prel, Noiré, Hamerling, Schellwien u. a., weiters E. v. Hartmann, Wundt, Paulsen, Nietzsche, Ribot u. a.

SCHRIFTEN: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1813; 2. A. 1847; 3. A. 1864. – Über das Sehen und die Farben, 1816: 2. A. 1854; 3. A. 1869. – Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819; 2. A. 1844; 8. A. 1891. – Über den Willen in der Natur, 1836; 2. A. 1854; 3. A. 1867. – Die beiden Grundprobleme der Ethik, 1841; 2. A. 1860. – Parerga und Paralipomena, 1851; 2. A. 1862. – Aus dem Nachlaß: Aphorismen zur Lebensweisheit; Philos. Anmerkungen; Neue Paralipomena; Einleitung in die Philos.; Balthazar Gracians Handorakel (alles hrsg. von Grisebach, Univ.-Bibl.). – Memorabilien, Briefe und Nachlaßstücke, hrsg. von Frauenstädt und Lindner, 1863. – Edita und Inedita Schopenhaueriana, hrsg. von Grisebach, 1888 (mit Bibliographie). – Briefe, 1893 (hrsg. von Schemann), 1904 (hrsg. von Grisebach, Univ.-Bibl.). – Gespräche u. Selbstgespräche, hrsg. von Grisebach, 1898; 2. A. 1902. – Sämtliche Werke, hrsg. von Frauenstädt, 6 Bde., 1873-74 u. ö., 1907; hrsg. v. Grisebach, 6 Bde. (Univ.-Bibl.); 1905 hrsg. v. R. Steiner, 12 Bde., 1894 f.; hrsg. von Deußen, I, 1911. – Vgl. LABAN, Die Schopenhauer-Literatur, 1880. – FRAUENSTÄDT, Briefe über die Sch.sche Philosophie, 1854; Sch.-Lexikon, 1871. – R. SEYDEL, Sch.s System, 1857. – R. HAYM, A. Sch., 1864. – W. GWINNER, Sch.s Leben, 1878. – VENETIANER, Sch. als Scholastiker, 1873. – R. KÖBER, Die Philosophie Sch.s, 1888. – HERTSLET, Sch.-Register, 1891. – K. FISCHER, A. Sch., 1893, 3. A. 1908. – R. LEHMANN, S., 1894. – GRISEBACH, Sch., 1897. – MÖBIUS, Über Sch., 1899; 2. A. 1904. – J. VOLKELT, A. Sch., 1900; 3. A. 1907 (Frommans Klassiker der Philos.). – KOWALEWSKY, Sch. und seine Weltanschauung, 1908. – RIBOT, La philos. de Schopenhauer, 12. éd. 1909. – BOSSERT, S., 1905. – RICHERT, Sch., 1905. – SIMMEL, Sch. u. Nietzsche, 1907. – G. FR. WAGNER, Enzyklopäd. Register zu Sch.s Werken, 1909. – RUYSSEN, Sch., 1911.

Aphorismen

Einleitung

Das Glück ist kein leichtes Ding. Nur sehr schwer finden wir es in uns und anderswo gar nicht.

Chamfort

Ich nehme den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten Sinne, nämlich in dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen, die Anleitung zu welcher auch Eudämonologie genannt werden könnte: sie wäre demnach die Anweisung zu einem glücklichen Dasein. Dieses nun wieder ließe sich allenfalls definieren als ein solches, welches, rein objektiv betrachtet, oder vielmehr (da es hier auf ein subjektives Urteil ankommt) bei kalter und reiflicher Überlegung, dem Nichtsein entschieden vorzuziehen wäre. Aus diesem Begriffe desselben folgt, daß wir daran hingen, seiner selbst wegen, nicht aber bloß aus Furcht vor dem Tode; und hieraus wieder, daß wir es von endloser Dauer sehen möchten. Ob nun das menschliche Leben dem Begriff eines solchen Daseins entspreche, oder auch nur entsprechen könne, ist eine Frage, welche bekanntlich meine Philosophie verneint; während die Eudämonologie die Bejahung derselben voraussetzt. Diese nämlich beruht eben auf dem angeborenen Irrtum, dessen Rüge das 49. Kapitel im 2. Bande meines Hauptwerkes eröffnet. Um eine solche dennoch ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehen müssen von dem höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet. Folglich beruht die ganze hier zu gebende Auseinandersetzung gewissermaßen auf einer Akkommodation, sofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen, empirischen Standpunkte bleibt und dessen Irrtum festhält. Demnach kann auch ihr Wert nur ein bedingter sein, da selbst das Wort Eudämonologie ur ein Euphemismus ist. – Ferner macht auch dieselbe keinen Anspruch auf Vollständigkeit; teils weil das Thema unerschöpflich ist; teils weil ich sonst das von andern bereits Gesagte hätte wiederholen müssen.

Als in ähnlicher Absicht, wie gegenwärtige Aphorismen, abgefaßt, ist mir nur das sehr lesenswerte Buch des Cardanus de utilitate ex adversis capienda erinnerlich, durch welches man also das hier gegebene vervollständigen kann. Zwar hat auch Aristoteles dem 5. Kapitel des 1. Buches seiner Rhetorik eine kurze Eudämonologie eingeflochten: sie ist jedoch sehr nüchtern ausgefallen. Benutzt habe ich diese Vorgänger nicht; da Kompilieren nicht meine Sache ist; und umso weniger, als durch dasselbe die Einheit der Ansicht verloren geht, welche die Seele der Werke dieser Art ist. – Im allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt, und die Toren, d. h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer dasselbe, nämlich das Gegenteil, getan: und so wird es denn auch ferner bleiben.

Kapitel I: Grundeinteilung

Aristoteles hat die Güter des menschlichen Lebens in drei Klassen geteilt – die äußeren, die der Seele und die des Leibes. Hievon nun nichts, als die Dreizahl beibehaltend, sage ich, daß was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet, sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen läßt. Sie sind:

Was Einer ist: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.

Was Einer hat: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne.

Was Einer vorstellt: unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung Anderer ist, also eigentlich wie er von ihnen vorgestellt wird. Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.

Die unter der ersten Rubrik zu betrachtenden Unterschiede sind solche, welche die Natur selbst zwischen Menschen gesetzt hat; woraus sich schon abnehmen läßt, daß der Einfluß derselben auf ihr Glück, oder Unglück, viel wesentlicher und durchgreifender sein werde, als was die bloß aus menschlichen Bestimmungen hervorgehenden, unter den zwei folgenden Rubriken angegebenen Verschiedenheiten herbeiführen. Zu den echten persönlichen Vorzügen, dem großen Geiste, oder großen Herzen, verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der königlichen, des Reichtums u. dgl., wie die Theater-Könige zu den wirklichen. Allerdings ist für das Wohlsein des Menschen, ja für die ganze Weise seines Daseins die Hauptsache offenbar das, was in ihm elbst besteht, oder vergeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein inneres Behagen, oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat seines Empfindens, Wollens und Denkens ist; während alles außerhalb Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluß hat. Daher affizieren dieselben äußeren Vorgänge, oder Verhältnisse, jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt. Denn nur mit seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es unmittelbar zu tun: die Außendinge haben nur, sofern sie diese veranlassen, Einfluß auf ihn. Die Welt, in der jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach der Verschiedenheit der Köpfe: dieser gemäß wird sie arm, schal und flach, oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen. Während z. B. mancher den andern beneidet um die interessanten Begebenheiten, die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben: denn dieselbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefaßt, auch nur eine schale Szene aus der Alltagswelt sein. Im höchsten Grade zeigte sich dies bei manchen Gedichten Goethes und Byrons, denen offenbar reale Vorgänge zugrunde liegen: ein törichter Leser ist imstande, dabei den Dichter um die allerliebste Begebenheit zu beneiden, statt um die mächtige Phantasie, welche aus einem ziemlich alltäglichen Vorfall etwas so Großes und Schönes zu machen fähig war. Desgleichen sieht der Melancholikus eine Trauerspielszene, wo der Sanguinikus nur einen interessanten Konflikt und der Phlegmatikus etwas Unbedeutendes vor sich hat. Dies alles beruht darauf, daß jede Wirklichkeit, d. h. jede erfüllte Gegenwart, aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung, wie Oxygen und Hydrogen im Wasser. Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver, ist daher, so gut wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz ndere: die schönste und beste objektive Hälfte, bei stumpfer, schlechter subjektiver, gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und Gegenwart; gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter, oder im Reflex einer schlechten camera obscura. Oder planer zu reden: Jeder steckt in seinem Bewußtsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen. Auf der Bühne spielt einer den Fürsten, ein anderer den Rat, ein dritter den Diener, oder den Soldaten, oder den General usw. Aber diese Unterschiede sind bloß im Äußeren vorhanden, im Innern, als Kern einer solchen Erscheinung, steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so. Die Unterschiede des Ranges und Reichtums geben jedem seine Rolle zu spielen; aber keineswegs entspricht dieser eine innere Verschiedenheit des Glücks und Behagens, sondern auch hier steckt in jedem derselbe arme Tropf mit seiner Not und Plage, die wohl dem Stoffe nach bei jedem eine andere ist, aber der Form, d. h. dem eigentlichen Wesen nach, so ziemlich bei allen dieselbe; wenn auch mit Unterschieden des Grades, die sich aber keineswegs nach Stand und Reichtum, d. h. nach der Rolle richten. Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vergeht, unmittelbar immer nur in seinem Bewußtsein da ist und für dieses vergeht; so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewußtseins selbst das zunächst Wesentliche, und auf dieselbe kommt, in den meisten Fällen, mehr an, als auf die Gestalten, die darin sich darstellen. Alle Pracht und Genüsse, abgespiegelt im dumpfen Bewußtsein eines Tropfs, sind sehr arm gegen das Bewußtsein des Cervantes, als er in einem unbequemen Gefängnisse den Don Quijote schrieb. Die objektive Hälfte der Gegenwart und Wirklichkeit steht in der Hand des Schicksals und ist demnach veränderlich: die subjektive sind wir selbst; daher sie im Wesentlichen unveränderlich ist. Demgemäß trägt das Leben jedes Menschen, trotz aller Abwechslung von außen, durchgängig denselben Charakter und ist einer Reihe Variationen auf ein Thema zu vergleichen. Aus seiner Individualität kann keiner eraus. Und wie das Tier unter allen Verhältnissen, in die man es setzt, auf den engen Kreis beschränkt bleibt, den die Natur seinem Wesen unwiderruflich gezogen hat, weshalb z. B. unsere Bestrebungen, ein geliebtes Tier zu beglücken, eben wegen jener Grenzen seines Wesens und Bewußtseins, stets innerhalb enger Schranken sich halten müssen; – so ist es auch mit dem Menschen: durch seine Individualität ist das Maß seines möglichen Glückes zum Voraus« bestimmt. Besonders haben die Schranken seiner Geisteskräfte seine Fähigkeit für erhöhten Genuß ein für allemal festgestellt. Sind sie eng, so werden alle Bemühungen von außen, alles was Menschen, alles was das Glück für ihn tut, nicht vermögen, ihn über das Maß des gewöhnlichen, halb tierischen Menschenglücks und Behagens hinauszuführen: auf Sinnengenuß, trauliches und heiteres Familienleben, niedrige Geselligkeit und vulgären Zeitvertreib bleibt er angewiesen: sogar die Bildung vermag im ganzen, zur Erweiterung jenes Kreises, nicht gar viel, wenngleich etwas. Denn die höchsten, die mannigfaltigsten und die anhaltendsten Genüsse sind die geistigen; wie sehr auch wir, in der Jugend, uns darüber täuschen mögen; diese aber hängen hauptsächlich von der geistigen Kraft ab. – Hieraus also ist klar, wie sehr unser Glück abhängt von dem, was wir sind, von unserer Individualität; während man meistens nur unser Schicksal nur das, was wir haben, oder was wir vorstellen, in Anschlag bringt. Das Schicksal aber kann sich bessern: zudem wird man, bei innerem Reichtum, von ihm nicht viel verlangen: hingegen ein Tropf bleibt ein Tropf, ein stumpfer Klotz ein stumpfer Klotz, bis an sein Ende, und wäre er im Paradiese und von Huris umgeben. Deshalb sagt Goethe:

Volk und Knecht und Überwinder, Sie gestehn zu jeder Zeit, Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit.

W. Ö. Divan.

Daß für unser Glück und unsern Genuß das Subjektive ungleich wesentlicher, als das Objektive sei, bestätigt ich in allem: von dem an, daß Hunger der beste Koch ist und der Greis die Göttin des Jünglings gleichgültig ansieht, bis hinauf zum Leben des Genies und des Heiligen. Besonders überwiegt die Gesundheit alle äußeren Güter so sehr, daß wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist, als ein kranker König. Ein aus vollkommener Gesundheit und glücklicher Organisation hervorgehendes, ruhiges und heiteres Temperament, ein klarer, lebhafter, eindringender und richtig fassender Verstand, ein gemäßigter, sanfter Wille und demnach ein gutes Gewissen, dies sind Vorzüge, die kein Rang oder Reichtum ersetzen kann. Denn was einer für sich selbst ist, was ihn in die Einsamkeit begleitet und was keiner ihm geben, oder nehmen kann, ist offenbar für ihn wesentlicher, als alles, was er besitzen, oder auch, was er in den Augen anderer sein mag. Ein geistreicher Mensch hat in gänzlicher Einsamkeit, an seinen eigenen Gedanken und Phantasien vortreffliche Unterhaltung, während von einem Stumpfen die fortwährende Abwechslung von Gesellschaften, Schauspielen, Ausfahrten und Lustbarkeiten, die marternde Langeweile nicht abzuwehren vermag. Ein guter, gemäßigter, sanfter Charakter kann unter dürftigen Umständen zufrieden sein; während ein begehrlicher, neidischer und böser es bei allem Reichtum nicht ist. Nun aber gar dem, welcher beständig den Genuß einer außerordentlichen, geistig eminenten Individualität hat, sind die meisten der allgemein angestrebten Genüsse ganz überflüssig, ja, nur störend und lästig. Daher sagt Horaz von sich:

Gemmen, Marmor, Elfenbein, Thyrrhenersiegel, Gemälde, Silber, purpurgefärbte Gewänder haben so viele Menschen nicht, benötigen gar viele niemals,

und Sokrates sagte beim Anblick zum Verkauf ausgelegter Luxusartikel:

»Wie vieles gibt es doch, was ich nicht nötig habe.«

Für unser Lebensglück ist demnach das, was wir sind, die Persönlichkeit, durchaus das erste und wesentlichste; – schon weil sie beständig und unter allen Umständen wirksam ist: zudem aber ist sie nicht, wie die Güter er zwei anderen Rubriken, dem Schicksal unterworfen, und kann uns nicht entrissen werden. Ihr Wert kann insofern ein absoluter heißen, im Gegensatz des bloß relativen der beiden andern. Hieraus nun folgt, daß dem Menschen von außen viel weniger beizukommen ist, als man wohl meint. Bloß die allgewaltige Zeit übt auch hier ihr Recht: ihr unterliegen allmählich die körperlichen und die geistigen Vorzüge: der moralische Charakter allein bleibt auch ihr unzugänglich. In dieser Hinsicht hätten denn freilich die Güter der zwei letzteren Rubriken, als welche die Zeit unmittelbar nicht raubt, vor denen der ersten einen Vorzug. Einen zweiten könnte man darin finden, daß sie, als im Objektiven gelegen, ihrer Natur nach, erreichbar sind und jedem wenigstens die Möglichkeit vorliegt, in ihren Besitz zu gelangen; während hingegen das Subjektive gar nicht in unsere Macht gegeben ist, sondern, nach göttlichem Recht eingetreten, für das ganze Leben unveränderlich fest steht, so daß hier unerbittlich der Ausspruch gilt:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen