Archaikon - Ulrike Maier - E-Book

Archaikon E-Book

Ulrike Maier

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Beschreibung

Das autarke Land Archaikon, irgendwo verortet in Europa, atmet den reinen Glauben. Das Motto „Gebet und Arbeit“, wird mit Inbrunst gelebt und gelehrt. Das Männervolk empfindet sich als die Krone der Schöpfung, so jedenfalls wird es von der Obrigkeit suggeriert. Kain, ein schlichter Wirtssohn, erfährt, dass er ein „Auserwählter“ ist und soll auf einer geheimnisvollen Insel dem Herrn des Himmels noch inbrünstiger dienen dürfen. Giohm, ein Ritter der Ordensbrüder, wird angewiesen, Kain in seinem Heimatort abzuholen. Auf dem Weg zur Insel werden beide entführt. Dies ist der Beginn einer atemlosen Reise zweier Männer, die ihr Land nachhaltig verändern und Geheimnisse aufdecken werden. Religiöse Vorstellungen, die wörtlich genommen manches Mal abstrus klingen und bedingungsloser Glaube werden in einer abenteuerlichen Geschichte hinterfragt. Der Leser wird in eine bizarre Story hinein gesogen, sollte stählerne Nerven besitzen und vielleicht stellt er fest, dass in Archaikon manches fremd, aber nicht unwahrscheinlich ist.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

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Epilog

Impressum

Prolog

Barfuss hockte sie in einer engen Höhle. Die trockene, eisige Kälte, die vom blanken Felsboden aufstieg, fühlte sie nicht, denn ihr eigener Körper brannte durch höllische Schmerzen. Wild floss ihr das Blut durch die Adern, um alle Funktionen ihres Körpers aufrecht zu erhalten. Die Frau gebar.

Zu stöhnen traute sie sich nur verhalten und so presste sie ihre Kiefer zusammen und ließ alle Kraft in den Unterleib fließen. Es war ihr erstes Kind und sie konnte auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen. Schlicht beängstigend empfand sie den ganzen Vorgang und zudem war sie alleine. Es war als herrsche ihr Körper über sie, als wüsste er exakt was zu tun wäre. Das Kind wollte heraus, sandte seine Signale und die werdende Mutter reagierte anscheinend nur.

„Du musste es zulassen, wehre dich nicht dagegen, öffne dich dafür, dann wird es leichter!“, riet man ihr einst und darauf konzentrierte sie sich. Ließ sie all den qualvollen Schmerz zu, dann war es vielleicht schnell vorbei.

Aber was nur geschah mit ihr? Sie drohte zerrissen zu werden, ein Schmerz, der nicht auszuhalten war. Niemand überlebte diese Qual, dachte sie in einer Pause, aber rasch legte sich der Schleier der nächsten Wehe über ihre verzweifelten Gedanken.

Sie sah nicht hinab. Sie krallte ihre Finger in die schroffen Wände der Höhle und versuchte zu atmen. Nur noch zu atmen. Alles an ihr und in ihr schmerzte, sogar die Zahnwurzeln.

Wie lange sie da kauerte und kämpfte, wusste sie nicht, aber die letzte Wehe entlockte ihr einen animalischen Schrei. Plötzlich war es vorbei. Wie davon wehender Rauch wurde die Geburt schon zur Vergangenheit. Sie hatte es geschafft und blickte zitternd auf den Boden. Da lag es!

Blutig und verschmiert, verschrumpelt und es erinnerte sie an eine neugeborene Maus. Hässlich war das Ding, aber in diesem Augenblick wurde sie dennoch zur Mutter. Liebe durchströmte sie unwillkürlich, bemächtigte sich ihrer und Cäcilia hob das Neugeborene vorsichtig auf. Das war der Moment als das Kind registrierte, dass die Monate in Wärme, Wasser und Geborgenheit vorbei waren. Es schrie, was die Lungen hergaben und die junge Frau lächelte erleichtert. „So ist es Recht, begrüße das Leben mit einem Schrei.“

Sie barg es an ihrem Busen, wärmte es und half ihm bald bei seinem ersten Schluck Nahrung.

Monströs lautende Wörter nannte man ihr. Biestmilch! Kolostrum!

Dabei gab die Mutter ihrem Neugeborenen damit die erste Portion Widerstandskraft. Die dickflüssige, gelbliche Vormilch, die vor Antikörpern für das ungeschützte Lebewesen nur so strotzte.

Das Baby nuckelte noch reichlich unbeholfen und sie schmunzelte über das ungewohnte Gefühl an ihrer Brust. Inzwischen hatte sie sich auf den Hintern plumpsen lassen, die Schenkel gespreizt. Ihr blutigdunkler, feuchter Rock verhinderte, dass ihre geweitete Scham sichtbar war.

Kraft durchströmte sie plötzlich, als habe sie nicht eben geboren. Es war die Energie des Triumphes und ihr Verstand arbeitete glasklar. Sie nagte die Nabelschnur durch und presste den Teil am Bauch ihres Kindes zusammen, bis er verklebte.

Sie nahm nun alle Gerüche wahr, die sie umfingen. Blut, ihren Darminhalt, ein Gemisch von Feuchtigkeit, Metall, Stein, Schleim und dazwischen der süße Duft ihres Neugeborenen.

Sie lächelte immer noch.

Einmal noch bescherte ihr der Unterleib die Qual einer

heftigen Wehe. Die Nachgeburt, kindskopfgroß, glitt mit einem platschenden Geräusch aus ihr heraus. Das hatte sie gewusst

und erwartet und nun war es Zeit die Höhle zu verlassen.

Dies war nur eine unabwendbare Unterbrechung ihrer Flucht gewesen.

Inzwischen hatte sie das einigermaßen gesäuberte Kind eingewickelt und kam mit tauben Beinen auf die Füße. Griff nach ihrem Bündel. Sie fühlte sich schmutzig, sehnte sich nach einem warmen Bad, aber all diese Sehnsüchte nutzten nichts.

Ein Mädchen hatte sie geboren und gab ihren Verfolgern nun einen zweiten gewichtigen Grund sie zu töten. Aber sie war nun Mutter und der Instinkt das Kind innig zu lieben ließ keine Zweifel aufkommen. Es war ihr Mädchen, ihre Tochter und sie würde es mit ihrem Leben verteidigen. Keinen Moment lang bedauerte sie das Geschlecht.

Sie verließ die karge Höhle und machte sich auf den Weg. Wohin wusste sie nicht, es sollte nur weit weg von ihrer Heimat Archaikon sein.

Als sie Stunden später die Hufschläge ihrer Verfolger hörte, fasste sie einen Entschluss. Der Schöpfer im Himmel möge ihr Kind beschützen, sie konnte es nicht mehr. Nachdem Cäcilia ihre Tochter ablegte, sie ein letztes Mal küsste und segnete, eilte sie rasch davon, um ihr Versteck zu schützen.

Kurz darauf wurde sie von vermummten Reitern eingeholt, gestellt und mit einem Schwerthieb enthauptet. Die Männer, uniform gewandet, hatten so wenig Mitgefühl für diese Frau übrig, dass ihnen bei der Toten entging, dass sie kurz zuvor entband.

1

Der Gefesselte stand ein paar Meter entfernt von Giohm Sigsohn, dem stattlichen Großmeister, der eben aus dem Sattel glitt. Er reichte die Zügel seines Pferdes einem anderen Mann weiter und zog im Gehen die Lederhandschuhe aus. Währenddessen bellte er ein paar kurze Befehle nach rechts und links seinen Männern zu und löste damit hektische Betriebsamkeit aus.

Es war noch früher Abend, aber zu spät, um weiter zu reiten und somit musste seine Truppe eine weitere Nacht hier lagern.

Inzwischen erreichte der große Uniformierte mit dem grauen Igelhaarschnitt den Gefangenen, der schwer atmete. Sigsohn, der den Unglücklichen weit überragte, riss seinen Kopf an den langen Haaren nach hinten, damit er ihm ins Gesicht sehen konnte. Offensichtlich war ihnen ein sehr junges Exemplar in die Fänge geraten.

„Name?“

Wie erwartet schwieg der Gefragte und Giohm ließ rasch den verfilzten Haarschopf los und holte mit der anderen Hand aus, um ihm eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Ehe sich der Geschlagene erholen konnte, wiederholte Sigsohn seine Frage.

„Dein Name, du Abschaum!“

Der Gefangene, dem die Tränen in den Augen standen, stammelte etwas mit einem Mund, der sich Staub trocken vor Angst anfühlte.

„Ich höre dich nicht!“, knurrte der Großmeister.

„Joel!“, stieß der junge Mann aus.

„Wie alt?“

„Das weiß ich nicht.“

Giohm nickte missgestimmt. „Und deine Taufnummer?“

Joel schwieg.

„Hast keine, was?“

„Ja“, gab der Gefangene zu.

„Besitzt du irgendein Papier, mit dem ich etwas anfangen kann?“

„Nein!“, fauchte Joel.

Der Großmeister gab den Namen und das vermeintliche Alter, sechzehn bis etwa achtzehn, weiter und Raban, der alles mitverfolgte, sah in einem Register nach. Dann schüttelte er den Kopf.

„Eine Frage habe ich noch“, meinte Sigsohn plötzlich beinahe versöhnlich. „Bist du ein Hexensohn?“

Nun trat Stolz in Joels Augen. „Ja, das bin ich!“

„Gut“, sagte Giohm mit Triumph in der Stimme, „dann können wir auf die Probe verzichten.“ Er griff nach seinem Messer, ein Blick von ihm genügte und zwei seiner Untergebenen stießen Joel auf die Knie. Der Junge senkte den Kopf. Nun da seine Haare das Gesicht verdeckten, verzerrten sich die Züge des Gefangenen wieder angstvoll.

„Wenn alle an unseren, den einen Schöpfer glauben würden, dann hätten wir Frieden. Dann wären wir alle Brüder. Dann müsste ich jetzt nicht dieses tierartige Wesen Joel töten, der unseren Frieden stört!“, rief Giohm feierlich. Alle seine fünfzig Männer mitsamt den Knechten harrten an der Stelle aus, an der sie gerade standen und senkten ehrfürchtig die Köpfe.

„Ein solches Wesen zu töten ist unumgänglich. Aber der Herr sieht es mit Wohlwollen, wenn wir einen Ungläubigen vom Angesicht seiner heiligen Erde tilgen. Ich bin nur sein Werkzeug und richte nach seinem Willen. Aber!“, Giohm sah ernst in die Runde seiner uniformierten Männer. „Macht es dem Objekt nicht schwer, das ihr töten müsst. Macht es schnell und sauber.“ Er fixierte noch während er sprach, ruckartig das Kinn des Knienden mit einer Hand und setzte die Waffe an der gewaltsam überstreckten freigelegten Kehle an. Der Schnitt war tief, Blut spritzte aus der klaffenden Wunde und Giohm brach

Joel zusätzlich das Genick. Dann ließ er ihn los. Joel fiel schon tot mit einem dumpfen Laut zu Boden. Die Innenseiten der Hose waren an den Schenkeln feucht.

„Verbrennt ihn weitab vom Lager! Aber behaltet die Umgebung

im Auge. Wir sind in diesen Wäldern nicht alleine!“

2

In der großen Küche der Gaststätte Zum Wilddieb quoll Dampf aus riesigen Kochtöpfen. Die metallene Türe zum Hof hinaus stand weit auf und die Kälte, die draußen herrschte, senkte die schweißtreibende Hitze drinnen ein wenig. Männer eilten hin und her und es roch nach Geschlachtetem, Sauerkraut und frisch gebackenem Brot.

Dieser neunzehnte März war Josef Sigsohns fünfzigster Namenstag und heute ruhte die Arbeit in seiner

Zimmermannswerkstatt. Zusammen mit seinen beiden Söhnen bereitete er ein Essen vor, wobei ihn die Belegschaft des Wilddiebs unterstützte. Zwei Schweine waren geschlachtet worden und nun kochte das Bauch- und Kopffleisch mitsamt den Innereien. Der Jubilar erwartete abends die ganze Dorfgemeinschaft und trotz der vielen Arbeit, die noch getan werden musste, gönnte man sich nun eine Schnapspause. Jonas und Joshua, seine beiden Söhne, verteilten kleine schlichte Gläser und Josef selbst schenkte den Selbstgebrannten aus. Die Männer hatten rot verschwitzte Gesichter, trugen teilweise Lederschürzen und versammelten sich jetzt in einem Kreis im Hinterhof. Sie warteten bis Josef alle bedient hatte, schwatzten und lachten und hoben dann ihre Gläser auf die Gesundheit des Spenders. Auch die Knechte wurden dabei nicht vergessen und Sigsohn dankte all seinen Helfern.

„David, der Herr möge es dir hoch anrechnen“, betonte Josef aber besonders die Unterstützung durch den schnauzbärtigen, großen Wirt des Wilddiebs und der nickte, kippte rasch den Schnaps durch seine Kehle und sein Adamsapfel hüpfte. Josef wollte sofort nachschenken, aber David winkte ab. „Noch viel zu tun“, meinte er und stürmte wieder in die überdimensionale Küche.

Josef wandte sich auch ausdrücklich noch Kain Davidsohn zu, der die Schweine geschlachtet hatte und noch Blutspuren von den Händen bis zu den Ellbogen aufwies. „Danke dir, mein Junge und all euch anderen, die mithelfen dieses Fest auf die Beine zu stellen.“

Kain lächelte schmal, beinahe schüchtern.

Der Fünfzigjährige nickte jetzt seinen Söhnen zu und seinem Vater, der auf einen Stock gestützt, das Geschehen beobachtete und bisher vor allem gute Ratschläge erteilte. Dann wurden alle Gläser mit einem lautstarken Spruch auf Josef geleert und Jonas sammelte sie nach und nach wieder ein.

Josef Sigsohn blieb einen Moment alleine und lächelte vergnügt in sich hinein. Er hatte wahrlich gute Söhne und Freunde. Alle waren heute sehr bemüht und fleißig.

Sein Blick, den er nun hob, erfasste Kain und Jonas, die kichernd noch einen Schnaps einschenkten und sich zu prosteten.

Ein Kopf und ein Arsch, fuhr es Josef durch den Sinn. Schon immer waren sein Sohn und Davids Jüngster wie Kletten. Gleichaltrig, zusammen groß geworden und unzertrennlich, seit der Herr sie erschuf. Neunzehnjährige, muskulöse Kerle und im vollen Saft der Jugend stehend.

Der breitschultrige Zimmermann kam ins Sinnieren, während er den beißenden Geschmack des Schnapses auf der Zunge genoss. Er hatte zwei Söhne durch die Gnade des Herrn erhalten. Joshua, der Ältere, zeichnete sich durch einen erfolgreichen akademischen Werdegang aus, während der Jüngere handwerklich geschickt war und in seine Fußstapfen trat. Jonas war auf dem Weg ein exzellenter Zimmermann zu werden und Josef glaubte sogar, er werde ihn an Geschicklichkeit übertreffen.

„Fünfzig Jahre schon“, sagte Sig ein wenig melancholisch, der neben seinen Sohn humpelte.

Josef nickte wehmütig. „Ja, Vater, so ist es.“

Sig legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schien zu schrumpfen, war er doch früher ebenso groß wie sein Sohn. Nun aber musste er den Arm anheben. „Ein gutes Stück des Weges hast du nun schon zurückgelegt, aber glaub mir, das ist die beste Zeit. Die Buben sind erwachsen, wohlgeraten und nun sind sie an der Reihe. Du kannst dich zurücklehnen.“

Josef lachte:„Du hast dich nie zurückgelehnt, Vater, und das werde ich auch nicht tun. Ich werde in der Werkstatt stehen, bis ich dort sterbe.“

„Ja, aber verpasse den Zeitpunkt nicht, alles deinem Sohn Jonas zu übergeben. Der Alte muss wissen, wann es Zeit für den Jungen wird.“

Josef langte nach Sigs Hand, die noch auf seiner Schulter ruhte. „Ich werde tun, was du getan hast.“

Sein Vater nickte. Er hatte sich beizeiten aus dem Geschäft zurückgezogen, arbeitete zwar nach wie vor, aber sein Sohn war der Chef. Inzwischen aber war er gesundheitlich so

angeschlagen, dass er kaum mehr in die Werkstatt ging. Er kümmerte sich so gut es ging mit dem Knecht um den Haushalt.

Melancholie und Zufriedenheit durchströmten nun den Zimmermann und er bekam feuchte Augen, alleine dadurch, dass er die Wärme seines Vaters Hand auf der Schulter spürte und die beiden jungen Menschen beobachtete, die fröhlich am Schlachttisch herum alberten.

Durch einen scharfen Ruf wurde die Idylle zerrissen. „Kain, Arschloch, wo bleibst du, verdammt noch mal!“

David stand in der Türe zur Küche wie eine Erscheinung, umgeben vom Dunst, der immer noch herauswallte. Josef sah, wie Jonas Freund herumfuhr und schon Entschuldigungen ausstoßend zu seinem Vater eilte. Der verpasste ihm eine Ohrfeige und Jonas sah betroffen zu Josef hinüber. Der verzog den Mund und wich dem Blick aus. Sig seufzte und löste sich von ihm. Niemand sagte mehr etwas und Josef entschuldigte Davids ruppige Art insgeheim. Der Wirt stand unter Stress und in der Küche des Wilddiebs herrschte immer schon ein rauer Ton.

Es gab noch viel zu tun. Die rührselige Pause war vorbei, der Schnaps getrunken.

Nach der Abendmesse füllte sich der rustikale Gastraum. Kinder, Jugendliche und Erwachsene schnatterten durcheinander und ließen sich Kesselfleisch und das frische, duftende Brot schmecken. Mit Salz und Pfeffer konnte jeder selbst nach Geschmack die Schweinsohren, Rüssel, Zunge, Herz und Nieren würzen. Dazu tischten Davids Knechte heißes Sauerkraut auf. Für die Jüngeren gab es für den Durst mit Wasser verdünnten Himbeersirup, die Älteren hielten sich an das dunkle Bier und für ihre Verdauung leerten sie mehrere Gläser Zwetschgenschnaps. Selten genug kamen sie in diesen Genuss. Alkohol durfte nur an Namenstagen ausgeschenkt werden und dann auch nur, wenn kein wichtiger Feiertag anstand. Vierzehn Tage

vor heiligen Festen und genauso viele danach sollten zur Askese genutzt werden.

Der Schultheiß verspätete sich und somit wartete man mit den obligatorischen Glückwunschreden für den Gastgeber. Ein Geschenktisch bog sich schon unter allerlei Gaben, die die Gäste mitbrachten und ein Mann spielte versonnen Heimatlieder auf einem Akkordeon.

Hochwürden Habakuk gesellte sich zu Joshua, Josefs ältestem Sohn, der vor einer großen Karriere zu stehen schien. Der Dorfpfarrer von Benedikten war ein kleiner Mann, etwas untersetzt mit einer großporigen, lilafarbenen Nase. Er verhehlte nicht, dass er sich am Festtagsbier erfreute. Habakuk gab wie so oft all das zum Besten, was er in der letzten Zeit gelesen hatte. Wollte Joshuas Meinung dazu hören, der höflich lauschte und hie und da einen vermeintlich klugen Satz von sich gab.

Währenddessen beobachtete Josefs Ältester, wie Mavin Davidsohn eintrat, eine beinahe leidende Miene präsentierend. Wie er wusste, kam Kains Bruder heute Mittag erst mit dem Zug an, wechselte vermutlich nur die Kleidung und eilte helfend in die Gaststube. Er sah jetzt kurz nach dem Rechten, schnauzte leise einen Knecht an und verschwand wieder durch die Schwingtüre in die Küche.

Joshua hörte von dort David fluchen, aber es ebbte ab, als sich die Flügel wieder schlossen. Auch der Dorfpfarrer schwieg kurz, schüttelte tadelnd den Kopf, aber bevor er wieder dort das Gespräch anknüpfen konnte, wo er unterbrochen wurde, erschien völlig überraschend Giohm Sigsohn. Josefs wesentlich jüngeren Bruder hatte man nun gar nicht erwartet und alle Aufmerksamkeit richtete sich euphorisch auf den Großmeister der Ritterbrüder. Der Mann, dessen kurzes Haar frühzeitig ergraute, war meist sehr beschäftigt und lebte schon lange in der Hauptstadt Archaikons. War Josef im Alter etwas auseinander gegangen, so wirkte Giohm athletisch, schlank, ohne ein Gramm Fett. Er besaß ein breites Kreuz und schmale Hüften und das überaus kantige Gesicht war von gesunder Farbe. Seine schmalen Lippen wirkten grimmig, aber die stahlblauen Augen konnten, war Giohm bester Laune, schalkhaft lächeln.

„Herr Giohm!“, entfuhr es mehreren überrascht.

Heute lächelten auch seine Lippen. „Da staunt ihr, was!“, lachte er aufgekratzt und überreichte seinem verblüfften Bruder Josef ein Geschenk. „Für deinen runden Namenstag. Fünfzig! Ist das zu fassen!“

„Ja, also nein!“ Josef war so gerührt über den Überraschungsgast, dass ihm die Worte versagten. Er umarmte Giohm lange und sie klopften sich gegenseitig auf die Rücken.

„Danke. Dein Kommen ist das größte Geschenk!“

„Na, nun übertreib mal nicht, alter Junge.“

Dann gab Josef seinen Bruder frei und der kämpfte sich mit den üblichen drei angedeuteten Wangenküssen durch die Menge der vielen Leute aus dem kleinen Dorf Benedikten. Sein Ziel war sein Vater, der in einem bequemen Lehnstuhl saß und von Jonas mit Essen und Trinken versorgt wurde.

Sig lächelte milde, als Giohm sich zu ihm herunter beugte.

„Ich freue mich sehr, mein Junge!“, flüsterte Sig.

„Ja, ich mich auch“, entgegnete er leise und der gestandene Mann fühlte sich ein paar Sekunden lang wieder wie ein Kind. Sein Vater roch dezent nach Rasierwasser. „Geht’s dir gut?“

„Ja, jetzt und hier sowieso.“

Jonas brachte beiden einen Krug Bier, aber begegnete seinem beinahe unbekannten Onkel ungewöhnlich schüchtern und wortkarg. Sie wechselten ein paar Worte, aber Jonas blickte meist zu Boden, als fände er keinen Draht zu diesem überaus prominenten Mann, der mit ihm verwandt sein sollte. Auch Joshua wirkte ein wenig beklommen, aber Giohm drückte ihn kurzerhand an seine harte Brust. „Ich freue mich, dich bald in der Hauptstadt begrüßen zu dürfen. Es wird dir im Palastviertel gefallen. Dort arbeiten nur die edelsten und tüchtigsten Männer!“

Joshua, der zu Gesichtsröte neigte, konnte es nun wieder nicht verhindern. Er spürte die verräterische Hitze im Gesicht. „Ja“, hauchte er.

„Ich bin wahrlich stolz auf dich!“, fügte Giohm an.

Sein Neffe, der Akademiker, nickte gerührt und der eintreffende Schultheiß ließ alle aufhorchen. Mit tragender Stimme entschuldigte er sich, seine einzige Kuh habe gekalbt. Erfolgreich und darauf gab es erneut einen Schnaps und viel Gelächter. Gleich begannen die Glückwunschreden für den Jubilar. Jonas wandte sich leise an seinen Bruder Joshua. „Du meine Güte, der Großmeister in unserem Dorf!“

„Er ist hier aufgewachsen.“

„Nicht zu glauben, dass er Vaters Bruder ist! Er wirkt so anders, so fremd.“

„Er lebt in einer ganz anderen Welt, Jonas“, murmelte Joshua. Mit zwölf Jahren, so hieß es, wurde Giohm vom Ritterorden als Knappe aufgenommen. Sig, ihr Großvater, sprach manches Mal davon. Was der Großmeister aber weit weg von hier wirklich machte, wusste der Alte nicht. Giohm besuchte das verschlafene Nest Benedikten vielleicht jedes Jahrzehnt einmal und sie selbst hielten sich von der prunkvollen Hauptstadt fern.

Jonas, der beim letzten Besuch Giohms kaum acht Jahre alt war, lächelte schmal. „Mein Onkel wird Kain umhauen, falls er endlich hier auftaucht. Er bewundert die Ritter!“

„Du doch auch“, schnaubte Joshua belustigt.

„Das kann so einer wie du nicht verstehen. Geh zu Mavin, der ist auch so ein Studierter! Staubtrocken und unromantisch!“

Joshua wandte grinsend den Blick ab, als der Schultheiß endlich zu seiner Rede anhub und es leiser wurde. „Josef Sigsohn“, so begann er, „ist ein unbescholtener Bürger, fleißig und rechtschaffen, ein begnadeter Zimmermann, ein unverzichtbarer Bariton im Kirchenchor, Vater von zwei wohlgeratenen Söhnen und Mitglied des Dorfrates.“ Er führe ein Gott gefälliges, bescheidenes Leben und für all das streifte

ihm der Bürgermeister zum Dank einen wuchtigen Goldreif über den Ringfinger seiner rechten Hand. Man applaudierte lautstark und Hochwürden Habakuk stimmte Großer Gott wir loben dich an und in der Gaststube hallte es nur so von kräftigen Männerstimmen wider.

Währenddessen traten David und seine Söhne aus der Küche, behutsam, um den Lobgesang nicht zu stören. Der Wirt war wie meist rot glühend auf den Backen und tupfte ein paar Schweißtropfen von der Stirn und aus dem Schnauzer. Kain dagegen wirkte etwas bleich, aber er nickte schmal lächelnd seinem Freund Jonas zu, der ihm dezent zuwinkte.

Hochwürden selbst sprach dann noch einige Sätze, frei weg von der Leber wie es seine Art war, und verglich das Leben des Zimmermanns mit dem eines Baumes, der ihm den Rohstoff für seinen schönen Beruf lieferte. In Joshuas Ohren verhallte die Stimme des Pfarrers zu einem Rauschen, denn er verlor sich im Anblick Kains. Sein sanft gelocktes dunkelblondes Haar erschien ein wenig feucht, leidlich gekämmt. Er trug nur ein Unterhemd, eine helle Hose und eine verschmierte knielange Küchenschürze, über den Hüften verschnürt. Seine Füße steckten in einfachen Clogs und er überragte die meisten der Anwesenden. Joshua schluckte ein wenig, als er die muskulösen Schultern des Wirtssohnes feucht glänzen sah.

Nachdem das Lied endete, eilte Jonas mit zwei Bierkrügen zu seinem Freund hinüber und die beiden prosteten sich zu, während sie miteinander tranken. Joshua wandte sich leise seufzend ab, denn er beneidete sie wie so oft um ihre Freundschaft. Er, der meist alleine blieb, versuchte nun doch mit Mavin Davidsohn ins Gespräch zu kommen.

Der Abend nahm seinen Lauf, wurde lustiger und geselliger und Großmeister Giohm war bester Laune, glücklich zuhause zu sein und es fiel allen bald schwer, ihn als eine gewichtige Autorität zu begreifen. Er war wieder nur ein Sohn des Dorfes, der hier aufwuchs und viele uralte Kindheitsgeschichten wurden zum Besten gegeben. Es war als offenbare sich der Kern des Mannes, dem das Leben mehr und mehr Schalen verpasste, bis er zu dem hochgeschätzten Anführer des Ordens der Ritterbrüder emporstieg. Geheimnisumwittert waren seine Tätigkeiten und auch jetzt, nachdem er Bier getrunken hatte, wurden seine Worte nicht hemmungslos. Giohm hatte sich stets unter Kontrolle. Jederzeit und er offenbarte nur das, was er beabsichtigte.

Als er nun auch von der wuchtigen Torte naschen wollte, die bedenklich schrumpfte, begegnete er Kain Davidsohn. Giohm befand sich auf der einen Seite des Tisches und Davids Sohn kam ihm mit einer weiteren Schüssel Nachtisch auf der anderen Seite entgegen. Er stellte sie ab und unwillkürlich trafen sich ihre Blicke, verfingen sich ineinander und in Sekundenbruchteilen maßen sie sich. Kain sah einen Mann, dem das Leben schon die eine oder andere Falte ins Gesicht schnitzte. Stahlblaue Augen. Erhaben wirkte der Ritter und nie zuvor traf er auf solch einen einschüchternden und imposanten Menschen. Er hörte natürlich schon von der Anwesenheit des Großmeisters, sah ihn auch von weitem und senkte nun kapitulierend als Erster die Lider. Respektvoll und verunsichert. Giohm aber erschien dieser Blickkontakt mit dem jungen Unbekannten wie eine Ewigkeit, wie Zeitlupe, aus der er verdutzt wieder erwachte.

Der bedeutendste Ordensmann der Ritterbrüder war ein Meister des Verhehlens und selten sah man ihm an, was in ihm vorging. Auch er nahm jetzt Einzelheiten seines Gegenübers wahr, die sich wie ein Brandzeichen unbewusst, dennoch unlöschbar einprägten. Ein kantig geschnittenes Gesicht registrierte er, dominiert von einem sehr außergewöhnlichen Mund. Die Oberlippe wirkte wie der breit gestauchte, von einer feinen Feder gezeichnete Buchstabe M und die Untere war voll, was diesem jungen Gesicht Verletzlichkeit und dennoch Sinnlichkeit verlieh. Sein Kinn war rund, aber nicht weich. Die hohen Wangenknochen verdrängten die Augen scheinbar in den

Hintergrund, was sie mit langen Wimpern zu verhindern suchten. Zudem fielen, anscheinend mit dem Kamm fruchtlos gebändigte, wirre Stirnhaare hinein. Ein kleiner blutiger Riss zeigte sich auf der linken Wange. Vermutlich schnitt er sich beim Rasieren. Wie ein Pfeil bohrte sich dieser Anblick in Giohms Herz. Aber nur ein Mundwinkel zuckte, sonst blieb sein Gesichtsausdruck unberührt.

Dann war der Augenblick vorüber. Giohm trat zu seinem Bruder Josef, der etwas nervös wirkte, da er nun vorhatte ein paar Worte des Dankes zu sagen. Er vergaß nach dem Namen des Jungen zu fragen, dessen Anblick ihn so außerordentlich faszinierte.

Kain dagegen verschwand wieder in der Küche und riss sich die Schürze vom Leib. Knechte waren mit putzen und dem Abwasch beschäftigt und David hatte sich inzwischen wie Mavin unter die Gäste gemischt. Nun war auch seine Arbeit beendet und er verließ den Raum durch die offene Metalltüre hinaus in den dunklen Hinterhof, wo nur noch die hölzernen Schlachtgerüste standen. Es roch noch flüchtig nach Blut. Katzen huschten wie Schattentiere, hoffend auf Leckerbissen, durch die Dunkelheit. Hier atmete er erst einmal erlöst auf.

3

Auch Giohm suchte alsbald nach frischer Luft und ein wenig Einsamkeit. Es war ihm, als müsste er sich von dem deftigen guten Essen erholen, von vielschichtigen Emotionen und tausenderlei Gesprächen. Es war eine andere Welt, als die, in der er sonst lebte, die asketisch, zölibatär und streng geregelt war. Eine beneidenswerte Welt war das hier, zweifellos, aber dennoch nicht die Seine.

Er lächelte schmal und sog den Duft seiner Kindheit ein. Die vielen Ställe, die jedem Haus angeschlossen waren, entließen Tier- und Mistgeruch. Die Märznacht war kalt, aber sie schmeckte nicht mehr nach Winter. Der Frühling sandte schon seine Vorboten und er spürte sie.

Giohm machte ein paar Schritte, sah über seine Schulter an dem riesigen Gebäude hinauf, das sich hinter ihm erhob. Das Wirtshaus lag am Marktplatz, der Mittelpunkt des Ortes, in der Nachbarschaft zur Kirche und dem Haus des Schultheißen. In der Chronik des Dorfes war zu lesen, dass Benedikten einst eine Postkutschenstation war und nur in den warmen Monaten angefahren wurde. Im Winter stand dieses Gebäude leer und diente wohl menschlichem Abschaum wie Wilddieben als Unterkunft. Lange waren diese Zeiten vorbei, aber die Wirtschaft galt als ältestes Haus des Dorfes.

Inzwischen war der Fortschritt auch hier zögernd angekommen. Hochwürden Habakuk besaß sogar ein Telefon, wie er Giohm im Laufe des Abends stolz erklärte. Man nutzte es selten, aber die jungen Messdiener mussten es abwechselnd bewachen, damit ja kein Anruf ungehört blieb.

Nun grinste Giohm. Sicher wurde damals ein Fest arrangiert, vielleicht hier im Wilddieb, um diese neue Errungenschaft zu feiern. Dann schalt er sich als überheblich. Immerhin stammte auch er aus Benedikten, sowie sein Bruder Josef und sein Vater Sig. Es waren alles rechtschaffene, fleißige Männer, wenn es sie auch herzlich wenig interessierte was in der Hauptstadt vor sich ging.

Er wanderte ein wenig umher, auf den Spuren seiner Vergangenheit. Er kannte jeden Winkel, jede Gasse, in der er sich als Junge herumtrieb. Giohm verschloss seinen warmen Mantel ein wenig mehr und war versucht die Kirche zu betreten. Aber als er näher trat, vernahm er Flüstern aus den vielen Schatten, die nur von einer trüben Straßenlaterne ein wenig in Schach gehalten wurden. Er blieb stehen, lauschte, bewegte sich nicht. Es war nicht seine Absicht, es war mehr die blanke, menschliche und spontane Neugierde etwas von dem Getuschel zu verstehen. Bemerkt wurde er anscheinend nicht und als er den Kopf etwas senkte, als könnte er so besser horchen, begann er Wortfetzen zu verstehen. Er presste die Lippen

zusammen, denn es waren Liebkosungen, Schmeicheleien und Unanständiges.

„Magst du das, mein Lieber, wenn ich dich da unten streichle, ja magst du das?“ Eine tiefe Stimme sprach gerade, jung noch. „Mach weiter! Ja, reib mich fester!“

Der andere antwortete nicht oder Giohm hörte es nicht. Er vernahm nur heftiges Atmen und spekulierte, dass der andere ebenso erregt war. Der Ritterbruder war wie erstarrt, aber bemerkte es nicht. Er blieb fasziniert stehen, aufsteigende Hitze im Gesicht und nicht in der Lage seinen Lauschangriff zu beenden.

„Ich wollte, ich könnte besser sehen!“, keuchte die erste Männerstimme.

Der andere sagte wohl wieder nichts.

„Ja, ich beeile mich ja, aber ich bin schon so…“, dann folgte ein langes unterdrücktes Stöhnen und Giohm begriff, was geschehen war. Dann dauerte es nicht lange und es klang wie ein Schluchzen, das nur langsam verebbte. „Danke dir, du machst es so gut.“ Es kicherte. „Wir sind beide gleichzeitig gekommen…“,

„Ach da bist du!“

Giohm fuhr herum, er spürte, dass sich seine Manneszier erhoben hatte und fühlte sich ertappt. Sein Neffe stand hinter ihm.

„Ja“, sagte Giohm und verspritzte etwas Speichel. Er hatte ihn vor Erregung nicht geschluckt.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Joshua besorgt.

„Ja ja, alles in Ordnung, ich bin nur erschrocken.“ Er horchte, nun war es still, aber er meinte die Anwesenheit der beiden lüsternen Männer fühlen zu können.

„Sig will nach Hause. Er möchte, dass du ihn heimbringst, damit ihr die Schlafstätte für dich herrichten könnt. Oder“, der schmale, feingliedrige Neffe stockte, „ist das zuviel verlangt, ich meine ein Knecht könnte auch…“,

„Kein Problem. Natürlich bringe ich Vater heim und kann mir ein Bett selbst beziehen“, lächelte Giohm nun und fühlte sich wieder gefestigt.

Kurz bevor sie den schweren alten Einlass des Gasthofes erreichten, eilte Mavin Davidsohn an ihnen vorbei. Er schien aufgebracht und registrierte sie kaum. Giohm wechselte einen fragenden Blick mit Joshua.

Sig, seinem Vater, war es nicht nach Schlaf. Er wünschte sich seinen Jüngsten nur ein paar Augenblicke für sich zu haben. Ein Gespräch zwischen Vater und längst erwachsenem Sohn, die sich selten sahen. Es blieb bei Oberflächlichkeiten, denn beide waren sich entfremdet. Sie empfanden herzliche Gefühle füreinander, aber aussprechen konnten sie diese nicht. Giohm erfuhr so manchen Dorftratsch, einiges über den Gesundheitszustand des knapp Achtzigjährigen, lobende Worte über den Bruder Josef und seine Söhne. Sie tranken eine Tasse frisch aufgebrühten Tees zusammen, schwiegen auch lange gemeinsam und trennten sich dann mit guten Wünschen für die Nacht. Giohm erklärte, dass er sich noch einmal zum Wilddieb aufmachte. Solche Feste dauerten meist bis in den Morgen und danach ging man gemeinsam in die Andacht, die um sechs Uhr gehalten wurde. Er lechzte danach jede Minute auszukosten, die er in Benedikten war.

Josef bot ihm erfreut einen Platz neben sich an. In der Schenke war zufriedene Ruhe eingekehrt und es brannte nur noch ein Licht über der Theke und über dem Stammtisch. Der war noch voll besetzt. Inzwischen ließ David, der Wirt, es zu, dass sich jeder der übrig gebliebenen Gäste selbst mit Getränken bediente und eine Strichliste weiter führte. Abrechnen würde er morgen dann mit Josef und seinem besten Freund machte er einen guten Preis.

Giohm erinnerte sich gut an Micha, den Bauern des Aussiedlerhofes, der noch anwesend war und fünf andere Männer, die in diesem Jahr das fünfzigste Lebensjahr erreichten. Sie

alle stürzten sich förmlich auf den Großmeister und lauschten gespannt seinen Erzählungen über das Leben im Ritterorden, dessen wahre Geheimnisse er aber verschwieg. Nur David wirkte still, er schien müde, aber harrte als Hausherr natürlich bis zum Schluss aus.

Die anderen zog es nicht nach Hause und im entspannten Alkoholnebel wurden Anekdoten übertrieben belacht. Gegen halb sechs erhob man sich dann doch, streckte und reckte sich und bereitete sich auf die Andacht vor. Ein Knecht, der nach Mitternacht schlafen gehen durfte, war schon wieder auf den Beinen und räumte die letzten Gläser ab. David, der sich zwischendurch gewaschen und umgezogen hatte, herrschte ihn an.

„Wo ist der Morgentee, es ist noch keiner gekocht worden!“

„Den macht doch sonst Kain, Herr David, aber er ist nicht hier.“

„Dann tritt ihm in den Arsch!“

Der Knecht duckte sich ein wenig. „Aber er ist doch…krank!“

Giohm hörte den Wortwechsel und runzelte die Stirn über Davids derbe Ausdrucksweise. Aber vermutlich war der Mann einfach erschöpft und sein Sohn einer von der faulen Sorte. Er selbst war kein Vater, sollte also nicht urteilen und somit wandte er sich wieder den anderen zu, die sich in ihre Mäntel einmummelten, um in den kalten Morgen und in die noch kältere Kirche zu stapfen.

4

Giohms kurzer Aufenthalt näherte sich dem Ende, als er sich eines Briefes entsann, den ihm ein Bote des Palastes noch am Bahnhof in Archaikon zusteckte. Er öffnete ihn erst jetzt und als er die kurze Anweisung gelesen hatte, brummte er ungehalten, aber machte sich gleich auf den Weg. Sig und Josef hielten ein Mittagsschläfchen, während Jonas und Joshua in der Küche werkelten. Bevor Giohms Zug gegen acht Uhr abends abfuhr, wollten sie noch ein gemeinsames Mahl einnehmen.

Die Sonne schien mit frühlingshafter Inbrunst, als der Großmeister sein Vaterhaus verließ. Er ließ den Wintermantel zuhause und genoss die wärmenden Strahlen auf seinem Gesicht.

Sonntagnachmittag und in ganz Benedikten wurde ein wenig die Zeit angehalten. Es war noch keine Feldarbeit möglich und so herrschte ein paar Stunden Müßiggang. Niemand war auf den Gassen des Dorfes und Giohms Schritte hallten laut. Hier wurde kreuz und quer gebaut, es gab nie eine wirkliche Planung und so ergab sich ein verwinkeltes Nest mit mächtigen Gebäuden. Teilweise wirkten sie Einsturz gefährdet, windschief und verwohnt. Aber Giohm kannte die Häuser schon so, als er hier aufwuchs und vermutlich standen die Mauern noch in hundert Jahren.

Das etwa vierhundert Seelen Dorf besaß einen gewissen Charme, aber er konnte sich nicht mehr vorstellen hier zu leben. Es erschien ihm eng, jeder beobachtete jeden, jeder kannte jeden, jeder wusste alles von jedem. Man kontrollierte sich gegenseitig und über allen wachte Hochwürden Habakuk. Giohm wusste, dass der Dorfpfarrer das letzte Wort in allen Entscheidungen innehatte. Der Schultheiß und sein Rat konnten nichts ohne die geistliche Stimme beschließen und Benedikten hatte glücklicherweise einen sehr leutseligen und weltoffenen Kirchenmann. Dennoch war er Ohr und Mund des Landesvaters, der Heilige Augustinus, der Kirchenoberhaupt und Monarch in einem war. Dieses Land unterstand dem Klerus und nur ihm.

Giohm war nun hin und her gerissen. Er freute sich auf den Frühling, denn da begann die Jagd wieder, aber verspürte auch eine gewisse Traurigkeit Benedikten so schnell wieder verlassen zu müssen. Er fühlte sich wie ein Fremdkörper, der verzweifelt versuchte dazu zu gehören, aber diese Zeit war vorbei. Er war ein Ritterbruder und Benedikten nur das Dorf in dem er aufwuchs. Er besaß Wurzeln, sein Stammbaum hatte hier seinen Platz, aber er war wie ein wilder, einzelner Trieb.

Er erreichte endlich den Wilddieb, dessen uralte Pforte offen stand. Essengerüche drangen heraus, aber der Schankraum war fast leer, bis auf ein paar Kartenspieler am Stammtisch.

Giohm wurde herzlich begrüßt und auf ein Bier eingeladen, aber er lehnte ab. „Wo ist David?“

„In der Küche.“

Giohm dankte und umrundete die lange Theke um durch die Schwingtüre zu gelangen. Zwei Knechte waren dort zu Gange und wiesen ihm den Weg hinaus in den Hinterhof. David saß auf einer rustikalen Gartenbank und genoss ebenfalls die Sonne. Er trug Sonntagsstaat, hatte aber die Krawatte gelockert. Giohm setzte sich unaufgefordert neben ihn. Ein ergrauter Kettenhund blinzelte kurz, aber nahm dann doch keine Notiz, als wäre ihm Gebell zu anstrengend. Katzen räkelten sich angstfrei in seiner Nähe und alles machte einen friedlichen Eindruck.

Der Wirt sah abgehärmt aus, auch er wurde fünfzig. Viele Männer, die Zeit ihres Lebens nur arbeiteten, zeigten diesen körperlichen Verschleiß. Vielleicht lag es an Sigs guten Genen, dass Josef wesentlich jünger als der Wirt wirkte.

„Kann ich mit dir reden?“, fragte der Großmeister der Ritterbrüder, einer der Hüter des wahren Glaubens.

„Sicher, willst du etwas trinken?“

Giohm lehnte ab, verspürte plötzlich keine Lust mehr zu reden und lange saßen sie schweigend nebeneinander. David drängte ihn nicht.

„Ich erhielt einen Auftrag vom Palast“, begann Giohm dann endlich und der Wirt gab durch keine Reaktion zu erkennen, was er bei diesen Worten dachte. Er wandte nicht einmal den Kopf. Immer noch hielt er das von Falten zerfurchte Gesicht in die wohltuende Sonne.

„Man hat deinen Sohn Anton auserwählt!“

Nun drehte sich der Wilddiebwirt abrupt seinem Nachbarn zu, starrte ihn von der Seite an. „Anton?“, fragte er stumpf, als hörte er den Namen das erste Mal.

Giohm nickte, ohne ihn anzusehen.

„Warum er?“

Giohm zuckte lasch mit den Schultern. „Das ist eben so.“

Langsam wurden David die Konsequenzen bewusst. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Was sagte der Mann! Man nahm ihm den Jungen weg! Auserwählt, das bedeutete für immer! Seine Kenntnis über die Auserwählten war beschränkt. Es war mehr ein Gerücht. Aus diesem Dorf jedenfalls war noch nie jemand auserwählt worden. Zumindest kannte er keinen. Auch nicht im Nachbardorf.

David kamen unwillkürlich die Tränen. Seine momentane Erschöpfung machte gefühlsdusselig. Er konnte es nicht verhindern. „Aber ich brauche ihn doch!“

„Sieh es als Anerkennung deiner Erziehungsarbeit! Trifft die Wahl einen jungen Mann, dann ist dies ein Zeichen seiner Einzigartigkeit, seiner menschlichen Qualitäten, seines außergewöhnlich Wesens. Es ist eine Ehre, David. Du hast einen besonderen Sohn! Er ist den Oberen aufgefallen!“

Der hob nur die Schultern und grunzte abfällig. „Was soll er denn Besonderes haben?“

„Die Auswahl bleibt dem Heiligen Ratsherrn Philippus überlassen. Wie er das tut, ist sein Mysterium. Es ist nicht an mir darüber zu urteilen. Also, David, ich kann dir nichts dazu sagen. Anton ist auserwählt und damit hat es sich! Heute Abend werde ihn mit nach Archaikonstadt nehmen.“

„So rasch schon?“

„Ja, ich muss ihn jetzt sprechen. Er sollte ein paar Sachen packen und kann sich in Ruhe verabschieden. Es ist sonst gar nicht meine Aufgabe einen Auserwählten zu holen. Aber da ich gerade hier war…“, seufzte er. Sogar in seiner so seltenen freien Zeit belästigte man ihn. Dabei hatte sich Giohm auf das Wochenende gefreut. Zuhause bei seinem Vater, Bruder und dessen Söhnen zu sein nach all den Jahren. Vermutlich hatte er deshalb auch den offiziell wirkenden Brief einfach vorerst ignoriert.

Aber Anton Davidsohn konnte ja nichts dafür und Giohm musste diese lästige Pflicht nun rasch erledigen. Danach würde er

sich wieder entspannt den verbleibenden Stunden hier widmen. Das Gespräch nahm sicher nicht viel Zeit in Anspruch und er konnte durch diesen unfreiwilligen Spaziergang noch auf den Spuren seiner Kindheit wandeln. Man musste alles positiv sehen. Gutes mit Schlechtem verbinden und umgekehrt!

„Also, wo ist dein Sohn?“

David schürzte die Lippen, dann erhob er sich schwerfällig.

„Komm.“

Wie jedes Gebäude in Archaikon besaß auch der Wilddieb einen Hausaltar. Dieser hier befand sich in einer eisigen Nische irgendwo in den verwinkelten Gängen des Gasthauses. Giohm verlor beinahe die Orientierung. Das Heilige Buch lag auf einem hohen, schmalen Tischchen, das mit einer blütenweißen, kunstvoll gewobenen Decke behängt war. Plumpe Kerzen in massiven Ständern brannten, ein paar Frühlingsblumen standen in Glasvasen und das Bild des herrschenden Heiligen Augustinus hing eingerahmt neben einem überdimensionalen Druck des Herrn, des Vaters im Himmel, wie es Giohm schon häufig sah. Ein alter mild blickender Mann, der die Hände zum Gebet faltete und einen Heiligenschein überstrahlte sein weißhaariges Haupt.

Üblicherweise standen meist auch Abbilder von Verstorbenen auf den Altären. Der Großmeister registrierte eine schwarz-weiß Fotografie von Davids Vater, den er noch gut in Erinnerung hatte und das Bild eines Jungen. Fünfzehn mochte er sein, nicht älter, und Giohm erinnerte sich, dass Josef einst vom Ertrinkungstod eines Davidsohns berichtete. Aber er dachte nicht länger darüber nach, angesichts des jungen Mannes, der auf einer schlichten, dunkel gebeizten Kniebank kauerte, anscheinend ins Gebet versunken. Was Giohm völlig irritierte, war die Tatsache, dass er nur eine Unterhose trug. Sein Rücken war voller blutiger Striemen, die unverkennbar von einem Gürtel stammten. Er rührte sich nicht und das wenige Licht der flackernden Kerzen, ließen seinen gemarterten Körper grau erscheinen.

„Er tut Buße“, sagte David kühl, „und sie ist wahrlich notwendig. Ich lasse euch jetzt alleine. Schick ihn nachher zu mir.“ Dann verschwand er und Giohm benötigte ein paar Sekunden um diese seltsame Situation zu meistern. Es erschien ihm abartig oder, dies fuhr ihm noch durch den Sinn, war Davids Familie besonders fromm und eiferte Märtyrern nach. Kasteite sich selbst?

Jetzt schon kroch die hier herrschende Kälte am Großmeister empor und er räusperte sich. „Anton Davidsohn, nehme ich an?“

Ein kleiner Ruck ging durch den Knienden, aber er ließ den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet.

Giohm teilte ihm knapp mit, weshalb er ihn hier bei seiner Andacht störte. „Du hast gehört, was dein Vater sagte“, fügte er hinzu, „wir sehen uns heute Abend um acht am Bahnhof.“

Er wollte sich auf den Rückweg machen, besann sich aber. „Dreh dich um, Junge, damit ich dein Gesicht sehen kann. Ich will wissen, wen ich mitnehme.“

Der Kniende schüttelte mit dem Kopf, so dass die dunklen, widerspenstig gelockten Haare erzitterten.

„Tu es!“, knurrte Giohm und legte Autorität in diese Worte.

Langsam drehte Anton das Gesicht zur Seite, die Augen niedergeschlagen, die Lippen blau vor Kälte, aber es reichte dem Großmeister aus, ihn zu erkennen. Dies war also Davidsohn, der junge Mann, dessen Anblick auf Josefs Fest ihn für einen kurzen Moment irritierte!

5

„Ich selbst habe den Sarg für Wilk gefertigt“, berichtete Josef, als Giohm nachfragte. Der Zimmermann rührte in seinem starken Tee, der ihn nach dem Nickerchen beleben sollte. „Ist nun schon sieben Jahre her. Wilk ertrank im Dorfweiher und er ist nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein.“ Er lehnte rücklings am Ausguss und seine Söhne huschten geschäftig um ihn herum. Der klobige Tisch, an dem Giohm schon als Kind saß, war schon gedeckt und auch Sig erschien erfrischt.

„Wilk konnte nicht schwimmen“, warf jetzt Jonas ein. „David verbot es ihm überhaupt an den Weiher zu gehen.“

„Nicht zu unrecht“, knurrte der Vater.

„Ich kann sehr gut schwimmen“, entgegnete Jonas laut, „wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Älteren lehren es den Kleinen, das war wohl immer schon so.“

Giohm lächelte. Ja, so war es gewesen, aber es gab Väter, die den Söhnen das Schwimmen grundsätzlich verboten, mussten sich die Jungen dafür ja bis auf die Unterhose ausziehen. Das ziemte sich eigentlich nicht. Kurz dachte er an Anton, der auch nicht mehr trug.

„Jedenfalls ertrank er im seichten Wasser. Am Rand, dort wo er hätte stehen können. Kurzzeitig vermutete man sogar ein Verbrechen, aber es ließ sich nicht beweisen.“

„Tatsächlich!“, rief der Großmeister überrascht.

Alle anderen vier Männer nickten.

„Der Herr schenkte David drei Söhne und wie sagt man noch? Der Erste ist für Ihn bestimmt, der Zweite der Erbe des Vaters und der Dritte…“, Josef verstummte.

„Der Dritte wird zum Knecht des Zweiten“, vollendete Jonas den Satz bitter.

„Immerhin erhält Kain so lebenslang ein Dach über dem Kopf“, meinte Sig.

Giohm wirkte irritiert. „Wilk ist tot und gestern lernte ich Davids ältesten Sohn Mavin kennen. Dann gibt es noch Anton, aber wer zum Kuckuck ist Kain?“

Jonas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Anton ist Kain, Onkel Giohm. Niemand nennt ihn mehr Anton, seit Hochwürden Habakuk einmal bemerkte, dass Anton keinen Ton sagt und man hätte ihn besser Keinton taufen sollen.“ Er wartete ab, bis Giohm den Wortwitz zu verstehen schien. „Seither nennt man ihn K-A-I-N, so wie Abels Bruder.“ Das Lächeln verschwand so plötzlich wie es gekommen war. „Der Mörder.“

„Kann ich aus dem Gesagten schließen, dass man ihn des Mordes verdächtigte?“, fragte Giohm Stirn runzelnd. „Wollte er Wilks Platz als Erben einnehmen?“

„Grundgütiger, nein!“, zischte Jonas empört. „Er selbst ist nur schuld daran, dass der Spitzname Keinton irgendwann zu Kain mit a wurde. Er kann nur leidlich schreiben und wusste nicht wie man das Wort kein schreibt.“

Josef gab ein Grunzen von sich und Joshua grinste ein wenig in den Kochtopf, dessen Inhalt er umrührte.

„Als Erbe des Wilddiebs kam Kain nie in Frage“, erklärte der alte Sig. „Er hat nie eine Schule von innen gesehen, da David der Ansicht war, das Schulgeld lohne sich nicht für ihn. Kain ist der dritte Sohn und sein Schicksal ist vorherbestimmt. Nein, ihn verdächtigte man nicht und zudem war er erst zwölf Jahre alt, als es geschah. Er wäre nicht kräftig genug gewesen, den Bruder zu ertränken.“

„Söhne, die in einem Familienbetrieb mitarbeiten, haben nie geschadet. Sie sind loyaler als Knechte“, brummte Josef.

„Was ist mit dem Erstgeborenen?“, fragte Giohm.

Er wurde ihm in der Nacht des Namenstages vorgestellt und er erinnerte sich daran, wie aufgelöst er an ihm und Joshua vorbei eilte. Wenn Mavin wirklich dem Herrn gewidmet war, dann sollte man seine Glaubensfestigkeit und Moral noch einmal überprüfen, immerhin vergnügte er sich äußerst schändlich mit einem Mann.

Jonas schüttelte den Kopf. „Er ist auch nicht verdächtigt worden und das mit Recht. Mavin ist“, er suchte nach Worten.

„Untadelig“, sagte Josef an seiner Stelle. „Absolut.“

Da wunderte sich der Ritterbruder insgeheim, sagte aber nichts.

„Der Büttel, der extra aus der Stadt herkam, vermutete einen Fremden“, fuhr Josef fort, „aber es gab keine Fremden zu der Zeit hier und schlussendlich kein Motiv, also wurde Wilks Tod als tragischen Unfall abgehakt. David ging es lange Zeit sehr, sehr schlecht.“

Alle schwiegen dann für ein paar Minuten und fühlten es dem Wirt des Wilddiebes nach. Einen Sohn zu verlieren musste höllisch sein!

„David wurde dadurch noch launischer. Er war nie in der Lage seine Gefühle zu beherrschen“, begann dann Josef, der die wohl bekannte und teilweise gefürchtete schroffe Art seines alten Freund verteidigen wollte. „Er sagt eben, was er denkt, er brüllt, wenn er muss. Aber er hat das Herz auf dem rechten Fleck.“

Nun schnaubte Jonas.

„Ja, das hat er!“, bekräftigte sein Vater, „ich muss es ja wissen, kenne ich ihn doch so gut wie du Kain!“

„Dessen Schicksal sich nun wendet“, warf Giohm ein. „Er ist ein Auserwählter!“

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich Kain Davidsohns Berufung als Auserwählten. Hochwürden Habakuk nahm ihm noch rasch die Beichte ab und widmete ihm den Segen bei der Abendmesse. Es wurde ihm gratuliert und mit guten Wünschen der ganzen Dorfgemeinschaft brachte man ihn zum Bahnhof. Jonas gelang es nur ein paar Minuten mit seinem Sandkastenfreund alleine zu sein und er weinte bittere Tränen, als sie sich in den Armen lagen. Kain selbst stand wie unter Schock und war zu keiner Gefühlsregung fähig.

Bevor Giohm selbst den Weg zum Bahnhof antrat, machte er noch einen Abstecher in die schmucke, kleine Dorfkirche. Hochwürden Habakuk, dunkle Ränder unter den Augen, saß in der vordersten harten Holzbank und war, noch bebend von den Ereignissen dieses denkwürdigen Sonntags, in seine Gedanken vertieft.

Giohm war nun der einzige Besucher und er kniete sich in eine der hinteren Reihen. Verbarg sein Gesicht in den Händen und ließ seine Stippvisite hier Revue passieren. Giohm betete auch inbrünstig und dankte dem Schöpfer, dass er ihn zu Josefs Namenstag heim geleitet hatte. Als er wieder gestärkt aufstand, kam Habakuk auf ihn zu und reichte ihm die fleischige Hand. „Leb wohl, Giohm und hab ein Auge auf Davids Sohn.“

Der Großmeister nickte. „Nun, ich begleite ihn nur bis zum Palast, aber andere werden sich gut um ihn kümmern.“

„Er ist ein lieber Junge. Nicht der Hellste, aber er kann tüchtig arbeiten und schwingt keine langen Reden. Auf ihn konnte ich mich immer verlassen. Kain wird mir fehlen.“ Habakuk verschwieg seine Erleichterung darüber, dass Giohm ihn mitnahm. David war für seinen Geschmack ein zu strenger Vater. Unter Tränen hatte der Wirt oft seine Züchtigungen gebeichtet und Habakuk verdonnerte ihn zu langwierigen Bußen, aber geholfen hatte es nichts. Kain dagegen verzweifelte daran, dass er den Ansprüchen des Vaters nicht genügen konnte. Er kam ebenfalls häufig zur Beichte und hielt alles was David gegen ihn aufbrachte für seine eigene Schuld.

Was hätte Habakuk ihm raten können? Gegen die Macht des Vaters gab es kein Aufbegehren und Hochwürden hütete sich dem Jungen Widerstand zu empfehlen. Er riet ihm Kraft aus Gebeten zu schöpfen, seinen Vater so anzunehmen wie er nun einmal war und sich selbst auch. Er ermahnte ihn sogar, er solle den Vater noch mehr zu lieben, der doch nur aus Sorge um ihn so handelte. Aber wenn der Geistliche ehrlich war, wünschte er sich Kain helfen zu können und er vermutete nun, seine Gebete seien erhört worden.

Giohm erbat noch Habakuks Segen, nahm sein Gepäck, das er schon bei sich hatte und machte sich auf den Weg zum Sackbahnhof Benediktens. Dasselbe Gleis führte zur ehemaligen Postkutschenstation und wieder fort, bis es sich mit Gleisen traf, die den einsam gelegenen Ort mit dem ganzen Land verbanden.

Das ganze Dorf war auf den Beinen, als der Nachtzug nach Archaikonstadt einrollte. Der Dampf der pechschwarzen Lokomotive hüllte den Bahnsteig minutenlang ein.

David, Kains Vater, machte keine Szene. Er verabschiedete seinen Sohn mit den drei Wangenküssen, strich ihm emotionslos mit dem Daumen ein imaginäres Segenszeichen auf die Stirn und ließ ihn mit seinem zerschlissenen Lederkoffer stehen. Mavin, sein Bruder, war erst gar nicht erschienen. Einige der Dorfbewohner wurden da wesentlich sentimentaler und einer, weit weg und im Hintergrund stehend, weinte hemmungslos. Giohm

beobachtete, wie Kain manches Mal zu ihm hinüberschielte, aber keine Anstalten machte, zu ihm zu gehen.

„Lass uns nicht wieder zehn Jahre warten, wer weiß wie lange ich noch leben darf“, sagte Sig, der auf einen Stock gestützt, seinem Sohn die Hand zum Abschied drückte. Giohm versprach es und wechselte noch ein paar Worte mit Joshua, Josef und Jonas, der aber kaum reagierte. Sein Blick hing an Kain.

„Es wird Zeit“, sagte der Ritterbruder dann zu Davids Sohn. Bisher richtete er kein Wort an den jungen Mann. Sofort befreite sich der Neunzehnjährige von einem kleinen Blonden, strich ihm noch einmal über den Kopf und wandte sich um. Ohne zurück zu blicken, passte er sich Giohms raschem Schritt an. Sie marschierten durch ein Spalier von Dörflern und manch einer klopfte Kain auf die Schulter oder berührte ihn. Den Auserwählten, wie sie ehrfürchtig dachten!

Nur ein Gepäckstück hatte er bei sich. Er war frisch rasiert und roch sauber. Der dunkle Anzug schien älteren Datums, war schlicht und mit passender dezenter Krawatte versehen. Darüber trug er einen wollenen schwarzen Mantel und Giohm konnte sich entsinnen auch nicht viel mehr zu besitzen, als er vor vielen Jahren das Dorf verließ.

Sie erreichten ihren Waggon und der Ritterbruder bot seinem erstaunten Begleiter einen Platz im reservierten Abteil des Palastes an. Giohm dirigierte ihn einsilbig, Kain nickte nur und gehorchte anstandslos, jeglichen Blickkontakt meidend.

Die Lokomotive schob die paar Wagen aus dem Bahnhof hinaus und Liedfetzen drangen noch herein. Die Benediktener sangen einen frommen Kanon zum Abschied und Kain atmete tief durch. Nie mehr, so pochte es hinter seiner Stirn, nie mehr wirst du hierher zurückkehren dürfen!

6

Der Großmeister ließ vom Zugpersonal zwei Becher Tee kommen, die dicke Wochenendzeitung und sah gelegentlich auf seinen Begleiter, der ihm schräg gegenüber saß. Kain starrte gebannt aus dem Fenster, aber sein Gesicht verriet nicht, was er dachte. Zu sehen gab es nicht viel, nur Dunkelheit und manches

Mal die Lichter eines Ortes. In der Kreisstadt hatten sie einen längeren Aufenthalt, währenddessen mehr Waggons angehängt wurden, eine Lokomotive, die den Zug nun zog und nicht mehr schob. Männer stiegen ein, aber ihr Abteil war für weitere Fahrgäste tabu.

Nach Mitternacht dann hatte Giohm die Zeitung komplett durchgelesen samt den Anzeigen und er bot sie mit einer raschelnden Geste Kain an. Der schüttelte mit dem Kopf. Er hatte noch keine Sekunde geschlafen, denn zu viele Gedanken hielten ihn davon ab.

Giohm entsann sich, dass der Auserwählte vermutlich gar nicht lesen konnte und legte den Packen Papier etwas verlegen neben sich. „Ich hörte schon, du redest nicht viel, aber mir scheint du redest gar nichts!“, meinte Giohm, der in der Mitte der drei Plätze gegenüber saß.

Kain gähnte hinter vorgehaltener Hand. Hob nur hilflos die Schultern.

„Warst du schon einmal in der Hauptstadt?“, versuchte der Großmeister ein Gespräch anzukurbeln.

Er verneinte wortlos.

„Ist es nicht so, dass gewöhnlich die Jungs nach dem dritten Sakrament dort hinfahren? Als traditioneller Ausflug“, wunderte sich Giohm.

Kain nickte.

„Du warst nicht dabei?“

Kain nickte erneut.

So ausführlich wollte ich es nicht wissen, seufzte Giohm innerlich. „Es ist jetzt sicher schwierig für deinen Vater ohne dich auszukommen“, wechselte Giohm das Thema. „Du sollst ein tüchtiger junger Mann sein.“ Er lächelte. „Hochwürden Habakuk lobte dich sehr, Anton.“

„Kain, mein Name ist Kain!“

Giohm zuckte ein wenig zusammen, als er diese Stimme zum ersten Mal hörte. „In Ordnung, also Kain.“

„Warum ich?“, fragte er plötzlich.

Der Mann, der trotz seiner erst vierzig Jahre eisgraues Haar besaß, lehnte sich ein wenig nach vorne. „Das kann ich dir wirklich nicht beantworten. Ich weiß es nicht. Aus dem Kontor des Heiligen Ratsherrn Philippus kam die schriftliche Bitte dich mitzubringen, das ist alles.“

Damit schien Davids Sohn zufrieden und nun überfiel beide doch eine bleierne Müdigkeit. Mit verschränkten Armen schliefen sie sitzend und unruhig ein paar Stunden.

„Sind Sie wirklich der Großmeister der Ritterbrüder?“, fragte Kain plötzlich skeptisch als draußen langsam die Nacht verschwand. Diffuses Licht kleiner Deckenlämpchen erhellte das Abteil mühsam. Giohm schrak auf und sammelte Speichel im trockenen Mund. „Ja.“

Kain kannte den Anführer der Ritterbrüder nur von grobkörnigen Bildern aus der Zeitung. Dort trug er immer den schwarzen Umhang und darunter blitzten Teile des Brustharnischs hervor. Die Fotos zeigten ihn meist hoch zu Ross. Nun hatte er Mühe den in zivil gekleideten Mann mit diesem martialischen Ordensbruder in Einklang zu bringen. „Wie wird man das?“

„Nun, der Orden faszinierte mich schon als kleiner Junge. Ich vertraute auf den Schöpfer und meine durch ihn verliehenen Fähigkeiten.“

„Die Ritterbrüder faszinieren viele.“

„Dich auch?“, fragte Giohm etwas wacher. Ein Zugbegleiter brachte ihnen ungefragt Tee und erklärte, dass in einer halben Stunde das Frühstück im Speisewagen serviert wurde.

„Ja“, gab Kain zu, als sie wieder alleine waren, sich etwas aufrichteten und ein paar Schlucke tranken. Zum ersten Mal sah Giohm den jungen Mann schmal lächeln. Ein ziemlich attraktiver Bursche, dachte er, das musste man ihm lassen. „Aber das hat sich jetzt sowieso erledigt“, fügte er nun an.

„Ja“, bestätigte Giohm. „Ja, das hat es sich.“

Diese offenen, ungeschminkten Worte ließen Davidsohn wieder verstummen. Giohm unternahm keinen Versuch ihn deswegen zu trösten. Das Los eines Auserwählten war dem eines Ritters wahrhaft ebenbürtig.

Als sie beim opulenten Frühstück saßen, sagte Giohm: „Ich erwähnte noch nicht, dass wir die Fahrt für ein paar Stunden unterbrechen. Wir setzen unsere Reise in die Hauptstadt erst morgen fort.“ Er riet ihm noch sich umzuziehen, um den Anzug nachher zu schonen. Kain nickte nur, als erschien ihm alles einerlei.

Giohm lieh in einem kleinen Ort zwei Pferde aus. Dort wo das Schienennetz endete, war es immer möglich Fortbewegungsmittel für die weitere Reise zu mieten. Lange schon plante er Josefs Namenstag mit diesem weiteren Besuch zu verbinden.

Nachdem sie mit ihrem bescheidenen Gepäck aus dem Zug stiegen, ließen sie in einem Nachbargebäude zwei Pferde satteln.

„Du kannst doch reiten?“, fragte Giohm Davids Sohn.

Kain bejahte mit einem Nicken und der Ritter bezahlte den Pferdevermieter im Voraus. „Wir sind morgen früh wieder da.“

„Sicher“, brummte der nur.

In raschem Schritt verließen die beiden so ungleichen Männer den kümmerlichen Ort und verfielen dann in einen schnellen Galopp. Allerdings waren die Tiere nicht mehr die Allerjüngsten und Giohm musste das hohe Tempo drosseln, da sie schwer keuchten. „Es ist nicht sehr weit. Ich schätze etwa noch eine halbe Stunde“, erklärte der Großmeister später und schielte vorsichtig neben sich. Kain machte den Eindruck eines ausgezeichneten Reiters.

Mehr an Zwiegespräch kam nicht auf und Sigsohn dachte an den Ritter, den er nun zu besuchen beabsichtigte. Tykun war sein Vorgänger als Großmeister der Ritterbrüder gewesen und Giohm übernahm vor etwa acht Jahren sein Amt. Danach riss der Kontakt ab, denn Tykun zog es vor in sein Vaterhaus zurückzukehren. Dies war eine ungewöhnliche Entscheidung für einen Ordensbruder, aber es fand sich keine Regel in den Statuten, die dagegen sprach. Man garantierte jedem Angehörigen der Bruderschaft selbstredend lebenslange Fürsorge, aber Tykun nahm sie nicht in Anspruch.

Vor einigen Wochen erreichte Giohm einen Brief. Nach der Schneeschmelze, so bat ihn der Ruheständler, sollte er ihn doch unbedingt aufsuchen. Er müsste in einer wichtigen Angelegenheit mit seinem Nachfolger reden.

Giohm antwortete und schlug diesen Termin vor. Danach hörte er nichts mehr von Tykun und hoffte nun, der Ritter erwartete ihn heute.

Wenn er sich so umsah, zwangsläufig, da Kain nichts sprach, stellte er fest, dass sich Tykuns Vorfahren ein schönes Plätzchen Erde ausgesucht hatten. Saftige Wiesen, Obstbäume schon gespickt mit zarten Knospen auf offensichtlich fruchtbarem Land. Bald führte sie der unbefestigte Feldweg bis zu einer hohen Mauer, deren Verlauf uferlos schien. Diese war zum größten Teil von diversen Pflanzen überwuchert, die sogar am torlosen Eingangsbereich nicht kultiviert waren.

„Das ist es wohl. Reite gen Süden, schrieb mein alter Freund, und du kannst mein Haus nicht verfehlen“, meinte Giohm mehr zu sich selbst, „Haus, nun ja, das scheint mir etwas untertrieben“, und forderte den Pferden noch einen letzten Galopp ab. Der Einfahrt folgte ein einst mit Kies bestreuter breiter Pfad, aber auch er war ungepflegt. Uralte Eichen säumten ihn und Giohm stellte sich ein Heer von Knechten vor, die für die Instandhaltung eines solch weitläufigen Besitzes nötig waren.

Doch nur ein einziger Bediensteter eilte aus dem pompösen Stallgebäude, das einfache Leute als Wohnhaus bezeichnet hätten. Er nahm die Tiere in Empfang. „Herr Tykun erwartet Sie schon, gehen Sie nur hinein, meine Herren“, sagte er und Kain fielen die schlechten Zähne trotz geringem Alter auf. Dann beschrieb der Knecht ihnen den Weg und verschwand mit den nass geschwitzten Reittieren.

„Nicht übel, Herr Tykun“, meinte Giohm bewundernd, als er das gewaltige Herrenhaus betrachtete. Trotz riesiger Ausmaße und sehr solider Bauweise wirkte Tykuns Zuhause einladend. Das Gebäude bestand aus rotfarbenem Sandstein und es wurde nicht an großen Fenstern gespart. Deren Stürze waren aus weißem

Stein, was dem ganzen ein freundliches Aussehen gab, auch wenn die Farbe schon teilweise abplatzte. Zudem befanden sich auch hier Pflanzen und Büsche schon im frühlingshaften, frischgrünen Kleid. Nicht fehlen durften die Nischen, in denen Statuen von Heiligen standen. Mannsgroß und gleichmütig auf die beiden Fremden herunter blickend. Kain dagegen betrachtete Stirn runzelnd das wuchernde Unkraut, das sich zwischen Pflastersteinen breit machte.

Er folgte Giohm durch die hölzerne schwere Eingangstüre, die in eine geräumige Halle führte. Der Großmeister sah sich um, gewahrte helle Teppiche, warme Farben an den hohen Wänden und die Fenster, die großzügig Licht spendeten.

„Hallo!“, rief er dann, etwas konsterniert, da kein Diener auf den Besuch zu eilte. Eine breite Treppe führte aus der Mitte der Halle hinauf in den ersten Stock. Kain blieb mit halb offenem Mund stehen, während der Großmeister die unteren Räume abklapperte, was ziemlich lange dauerte.

„Sieht so aus, als müssten wir Herr Tykun alleine suchen“, knurrte Giohm gereizt. Er ließ noch einmal seine klare, tragende Stimme ertönen. „Herr Tykun, ich bin es, Giohm Sigsohn!“ Er bedeutete Kain ihm nach oben zu folgen. Der junge Mann nahm den Prunk und die Ausmaße dieses Herrenhauses stumm zur Kenntnis. Nicht einer in seinem Heimatdorf Benedikten besaß solch ein Gebäude.

Zuerst öffnete Giohm die Räume mit einer gewissen Zurückhaltung. Er war Gast in einem fremden Haus und sah sich verpflichtet Ritter Tykuns Privatsphäre zu wahren. Aber je länger er nach einer Menschenseele fahndete, desto unruhiger wurde er. Die wichtige Angelegenheit, die Tykun erwähnte, fiel ihm wieder ein. Wie wichtig war die? Wie brisant? Gefährlich womöglich?

Nach einigen Zimmern, die unbewohnt wirkten, erreichten sie offensichtlich Tykuns Schlafgemach. Es befand sich hinter einem Wohnraum, der nach Schreibstube aussah. Ein massiver Sekretär beladen mit Papieren, die Wände voll gestellt mit

Bücherregalen, ein erloschener Kamin und ein bequemer Stuhl schufen den Eindruck, dass Tykun hauptsächlich hier nistete.

„Beim Schöpfer!“, stieß Giohm aus, denn in dem schlichten Nebenraum lag ein Mann regungslos auf dem gemachten Bett. Er trug die ritterliche Festtagskleidung und sein Schwert ruhte längs über seinem Körper. Die Spitze zeigte auf seine Füße und die Hände, die zusätzlich einen Gebetskranz festhielten, lagen gefaltet über dem reich verzierten Knauf.

Tykun war verstorben und nach dem Geruch zu urteilen, der ihnen entgegenschlug, geschah es mindestens vor drei, vier Tagen. Das Zimmer war sehr kühl, das hemmte wohl den Verwesungsprozess, aber Giohm, der schon oft dem Tod begegnete, erkannte die Anzeichen eines nicht frisch Verstorbenen. Ein Toter verlor mit jeder Stunde das Menschliche. Was da vor ihnen lag, war gerade noch die unversehrte Hülle von Tykun, die längst verlassen war, wie der verwaiste Kokon eines Schmetterlings.

„Es tut mir so Leid, alter Freund.“ Der Ritterbruder brauchte wahrlich Zeit um das Geschehen zu begreifen, aber dann regten sich Fragen in ihm. Warum hatte der Stallknecht seinen Herrn einfach hier liegen lassen? Mehr Personal schien es doch nicht zu geben und warum hatte der dreiste Kerl ihn bei seiner Ankunft vorhin nicht informiert?

„Ich brauche ein paar Antworten!“, sagte er grimmig zu Kain, der verlegen und auch ein wenig geschockt im Türsturz stand. Giohm stapfte auf ihn zu, aber ehe der Auserwählte Platz machen konnte, schlug man ihm vor den Augen des entsetzten Großmeisters von hinten etwas über den Schädel.

7

Fünf Tage später entluden Ritterbrüder ihre Pferde aus einem Waggon, der vor dem Bahnhof hielt, an welchem Giohm und Kain am Montagmorgen ausgestiegen waren. Wiehern und Rufe erschallten und Meister Tobin, Giohms Stellvertreter, nahm seine Männer in Empfang. Der weißblonde Rittermeister war schon seit gestern hier und befragte unter anderem den Dorfbüttel Marxssohn.