Arkham Horror: Das letzte Ritual - S.A. Sidor - E-Book

Arkham Horror: Das letzte Ritual E-Book

S.A. Sidor

0,0

Beschreibung

Die Kunst eines wahnsinnigen Surrealisten droht das Gefüge der Realität zu zerreißen. Eine Schauergeschichte über unheimliche Schrecken und Verschwörungen, angesiedelt in der beliebten Welt von Arkham Horror, dem preisgekrönten Brettspiel von Fantasy Flight Games. Der aufstrebende Maler Alden Oakes wird eingeladen, sich einer geheimnisvollen Kunstkommune in Arkham anzuschließen: der Neuen Kolonie. Als der gefeierte spanische Surrealist Juan Hugo Balthazarr die Kolonie besucht, geraten Alden und die anderen Künstler schnell den Bann des charismatischen Mannes. Auf dekadenten Partys beschwört er Illusionen herauf, die die Grenzen zwischen Albtraum und Realität verwischen. Alden kommt der Verdacht, dass Balthazarrs Rituale mehr als nur Schein sein könnten und tatsächlich darauf abzielen, diese Grenzen zu durchbrechen, um das, was dahinter lauert, freizusetzen. Alden muss handeln, doch es könnte bereits zu spät sein, um sich selbst zu retten – ganz zu schweigen von Arkham. Arkham Horror is a registered trademark or trademark of Fantasy Flight Games. © 2021 Fantasy Flight Games.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 466

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit



Ähnliche


ARKHAM HORROR

DAS LETZTE RITUAL

S.A. SIDOR

Ins Deutsche übertragen vonBERND PERPLIES

Die deutsche Ausgabe von ARKHAM HORROR: DAS LETZTE RITUAL wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Bernd Perplies; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: John Coulthart; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

ARKHAM HORROR: THE LAST RITUAL

First published by Aconyte Books in 2020

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.

Arkham Horror and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2021 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-420-3 (September 2021)

E-Book ISBN: 978-3-96658-421-0 (September 2021)

WWW.CROSS-CULT.DE

»Der Rauch hing wie Nebel in der Luft,und wenn sich die Tür öffnete,entstanden wirbelnde Schwaden aus Ektoplasma.«

F. Scott Fitzgerald, »Junger Mann aus reichem Haus«

Inhalt

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

DANKSAGUNGEN

KAPITEL

EINS

»Das letzte Mal …?«

Alden Oakes wandte sich vom Fenster ab und blickte kühl den jungen Reporter an, dessen Bleistift erwartungsvoll über dem Block schwebte. Bis jetzt hatte Oakes dessen Fragen mit einer Mischung aus Small Talk und peinlichem Schweigen geschickt umgangen.

»Ich dachte, wir könnten damit anfangen«, sagte der Reporter. Er wirkte ruhelos. Ihm saß die Deadline im Nacken.

Alden nickte und begann wieder, in der Hotelsuite auf und ab zu gehen. »Ein seltsames Wetter haben wir. Erst dichter Nebel, dann ziehen die Schwaden wie riesige, hauchdünne Schleier durch die Straßen. Und jetzt fängt es an zu regnen. Heute Morgen, auf dem ganzen Weg vom Bahnhof hierher, musste ich dieses Ding kein einziges Mal aufspannen.« Er klopfte mit dem Schirm, den er wie einen Stock benutzte, gegen das Fenster. Der Reporter hatte bemerkt, dass der berühmte Maler leicht hinkte. »Die Luft ist seltsam mild für Hochsommer. Finden Sie nicht auch?«

»Ist besser als die Hitze«, erwiderte der Reporter. Er war nicht daran interessiert, über das Wetter zu sprechen, aber was auch immer sein Gegenüber dazu brachte, sich zu entspannen und sich ihm zu öffnen, war einen Versuch wert.

Alden starrte hinaus in die Düsternis, als versuche er, Formen in den Wolken auszumachen.

»Wie fühlt es sich an, wieder in dem Hotel zu sein?«, hakte der jüngere Mann behutsam nach, während er sich fragte, ob dieser Nachmittag am Ende nichts weiter als reine Zeitverschwendung sein würde. Normalerweise gab es zwei Möglichkeiten, mit solchen Situationen umzugehen. Entweder man forcierte das Thema und riskierte, dass der Gesprächspartner dichtmachte, oder man schwieg und ließ den Druck der Stille seine Wirkung entfalten. Er hatte sich noch nicht entschieden, welchen Weg er gehen wollte.

»Der Pförtner hat mich gegrüßt, als wären wir alte Bekannte«, sagte Alden.

Der Regen glitt an der Scheibe hinunter.

Der Reporter traf seine Entscheidung. Um wortkargen Menschen Geschichten aus der Nase zu ziehen, hatte er schon zahlreiche Stunden an weit weniger angenehmen Orten als dem luxuriösen Silver Gate Hotel verbracht. Er konnte es sich leisten, umgeben vom Komfort eines teuren Zimmers ein wenig Zeit totzuschlagen. Also ließ er seinen Bleistift auf den Notizblock fallen, trat vom Schreibtisch des Hotelzimmers zurück und stieß einen leisen Seufzer aus. Obwohl der Schreibtisch klein war, war er angenehmer als sein überfüllter Arbeitsplatz beim Arkham Advertiser, wo er sich den Platz mit einem Sportreporter teilen musste, der ständig am Essen war und überall Kaffeeringe und Donutkrümel hinterließ. Wenn der Maler den Schüchternen spielen wollte, würde er einfach abwarten und nichts sagen. Er blickte an dem Künstler vorbei auf die trübe, graue Aussicht der Innenstadt von Arkham.

Alden stieß sich vom Fenster ab und lächelte. Mit kerzengeradem Rücken setzte er sich auf die Couch, die Hände auf den Knauf des zwischen seinen Knien eingeklemmten Regenschirms gestützt. Er beugte sich vor und schaltete eine Lampe ein, die Licht in den trotz der Mittagsstunde merklich dunkler gewordenen Raum warf. »Bereit?«

»Ja, Mr. Oakes, wann immer Sie es sind.« Sieg! Er schnappte sich den Bleistift.

Ergeben sank Alden in die blassgrünen Samtsofakissen und schloss die Augen. »Das letzte Mal, als ich das Silver Gate Hotel gesehen habe, brannte es. Ich brannte auch, oder zumindest mein Jackett, bevor mich ein Feuerwehrmann aus Arkham zu Boden riss und im Gras wälzte, um die kleinen Flammen zu ersticken, die meinen Rücken emporleckten. Ich kam mit dem Schrecken davon, wie man so schön sagt.«

»Sie sind ein Glückspilz«, sagte der Reporter. Jetzt, wo der Ball ins Rollen gekommen war, musste er ihn nur noch am Laufen halten. Vielleicht würde doch noch eine anständige Geschichte dabei herauskommen. Immerhin war das tragische und mysteriöse Feuer im Silver Gate im vergangenen Jahr die größte Schlagzeile in Arkham gewesen. Aber Alden Oakes war nur ein kleiner Teil davon, eine Fußnote über eine lokale Prominenz. Noch dazu ein prominenter Maler.

»Ich bin mir sicher, dass mich manche Leute für einen Glückspilz halten«, erwiderte Alden und blickte ihn vielsagend an.

Der junge Mann runzelte verwirrt die Stirn. Wäre es ihm lieber gewesen, sein Hintern wäre in Flammen aufgegangen?

Alden fuhr fort: »Die Suite hier, die ich für meine Rückkehr gebucht habe, hat die Katastrophe unbeschadet überstanden. Sie hat schwere Rauchschäden erlitten, wie das ganze Haus. Man würde das nie vermuten, wenn man das jetzige Aussehen des Gebäudes betrachtet, oder? Die sauber geschrubbten Ziegel, vom Regen abgewaschen, der blanke Marmorboden in der Lobby, der wie ein riesiges Schachbrett glänzt, und die Vasen voller weinroter Rosen und weißer Calla-Lilien. Was für eine Verwandlung! Ja, sie haben ein wahres Wunder vollbracht, indem sie das Hotel in etwas mehr als einem Jahr wieder in Betrieb genommen haben.«

Der Reporter machte sich eilig Notizen. »Die große Wiedereröffnungsgala ist für morgen geplant. Sind Sie überrascht, dass die Hotelbesitzer Sie eingeladen haben?«

»Warum? Wegen der Gerüchte? Wegen meiner Verhaftung?« Aldens Stimme wurde lauter. »Nichts wurde je bewiesen. Andeutungen und müßige Spekulationen. Die Presse hat bloß Theorien aufgestellt, um mehr Zeitungen zu verkaufen. Leute wie Sie.« Er zügelte seine Wut und gewann die Kontrolle über sich zurück. »Andere haben sie natürlich beeinflusst. Die Ärzte sagten, ich bräuchte Ruhe. Ich litt unter körperlicher und geistiger Erschöpfung. Nein, ich fühle mich nicht schuldig an dem, was mit dem Hotel passiert ist. Aber ich gebe zu, dass es eine Überraschung war, die Einladung zu erhalten. Wer sind übrigens die Besitzer? Wissen Sie das?«

Der Reporter schüttelte den Kopf. »Da wird ein ziemliches Geheimnis drum gemacht. Die Verwaltungsgesellschaft führt das Tagesgeschäft. Aber der juristische Papierkram ist undurchsichtig, eine Pyramide von Firmen, meist europäisch. Die Steuern werden von einer anonymen Treuhandgesellschaft gezahlt. Das ist alles, was ich ausgraben konnte …«

»Sparen Sie sich die Mühe. Sie werden nichts finden.« Alden winkte ab. »Spielt auch keine Rolle.«

»Aber sie wollten Sie hier haben.«

»Meine Anwesenheit wurde verlangt.« Alden beugte sich vor. »Ich habe gerade eine Galerieausstellung in New York beendet. Ich habe kein richtiges Zuhause mehr, nicht in Amerika. Ich hatte überlegt, ob ich nach Frankreich zurückkehren oder ein paar Monate in Südamerika verbringen sollte, um Frösche und Orchideen am Amazonas zu malen. Ich hatte sogar schon einen Raddampfer mit einer kleinen Mannschaft gemietet, der mich in den Dschungel bringen sollte.«

»Und doch sind Sie hier.« Der junge Mann schüttelte ungläubig den Kopf. Eine Reise in den Amazonas-Dschungel! Das war wirklich ein Ort, an dem die Geschichten an den Bäumen hängen mussten wie Bananenstauden, reif zum Pflücken. Ein Journalist könnte ein dickes, fettes Buch darüber schreiben. »Warum haben Sie so eine Reise aufgegeben, wenn ich fragen darf? Ich würde die Chance sofort ergreifen.«

»Für ein Abenteuer braucht man keinen exotischen Ort. Man braucht nur die richtige Einstellung …«

Was zum Teufel sollte das bedeuten? Nun, der junge Reporter war nicht hier, um sich über Auslandsreisepläne zu streiten. »Reden Sie weiter, Mr. Oakes«, bat er. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Keine Sorge. Wie war noch mal Ihr Name?«

»Andy. Andy Van Nortwick.«

»Nun, Andy, gestatten Sie mir, Ihnen eine Frage zu stellen. Was glauben Sie, wie alt ich bin?«

Froh, dass sich die Stimmung des Künstlers gebessert hatte, kniff Andy ein Auge zu und musterte seinen Gesprächspartner. Oakes war schlank, seine blasse Hautfarbe grenzte an Schwindsucht, abgesehen von einer pfenniggroßen, erhabenen Narbe auf seiner linken Wange. Er trug ein Menjou-Bärtchen. Sein Haar fiel in einer sandfarbenen blonden Welle von einer hohen aristokratischen Stirn zurück. Und sein maßgeschneiderter Londoner Anzug sprach für einen teuren Geschmack. Aber seine Augen verrieten ihn. Sie sahen wässrig und alt aus, gezeichnet von Sorgenfalten, schlaflosen Nächten und Bedauern. »Ich bin kein Hellseher vom Rummel oder so, aber ich schätze mal, dass Sie um die fünfzig sind. Das ist eine schöne runde Zahl. Fünfzig sage ich.«

»Ich bin neunundzwanzig. Mein Geburtstag war vor zwei Wochen.«

Der Reporter wurde rot. »Es tut mir leid, Mr. Oakes. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Alden holte ein goldenes Zigarettenetui und ein Banjo-Taschenfeuerzeug heraus. Er bot dem Reporter eine Zigarette an, dann zündete er beide an.

»So sieht man aus, wenn man in Abenteuer verstrickt wird, Andy.«

Alden zwinkerte und ließ sich wieder auf das Sofa sinken. Er blies eine Rauchfahne in die Suite. Der Moment war Andy sehr unangenehm. Peinlich berührt starrte der Reporter des Arkham Advertiser auf seinen Notizblock. Er schrieb erst seit weniger als einem Jahr für die Zeitung. Davor hatte er sie mit dem Fahrrad ausgetragen. Er war begierig darauf, irgendeine Geschichte zu schreiben, die bedeutsamer war als der Hund von Mrs. O’Reilly, der verschwunden war, nachdem er den Milchmann von ihrer Veranda gejagt hatte. Im Stillen verfluchte er sich dafür, noch so grün hinter den Ohren zu sein. Ein echter Trottel. Er war nicht wie die zynischen altgedienten Schmocks, die ihre schmutzigen Finger in jedem politischen Skandal hatten. Die schrieben Geschichten aus Gefälligkeit oder als Rache. Er dagegen hatte keine Hintergedanken. Keiner zog an seinen Fäden. Jedenfalls noch nicht. Er wollte bloß die Wahrheit erzählen. Als er wieder aufblickte, war Aldens Gesichtsausdruck ihm gegenüber sanfter geworden.

»Es war nicht einfach, diesen Ort zu betreten, nach dem, was mir hier das letzte Mal passiert ist«, gestand der Maler. »Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich an der Rezeption eincheckte und meinen Schlüssel bekam. Sie haben den Fahrstuhlführer wie eine falsche Palastwache ausstaffiert. Echt seltsam. Ich hatte fast Mitleid mit dem armen alten Kerl, der da auf seinem Hocker saß.«

»Ich habe ihn auch gesehen«, sagte Andy und lächelte. »Ich wette, es wird langweilig, den ganzen Tag in dieser Kiste zu sitzen und auf und ab zu fahren.«

»Ganz sicher«, pflichtete ihm Alden bei. »Liegt es an mir oder kommt Ihnen das Hotelpersonal auch so entsetzlich fröhlich vor? Ich frage mich, wie viele von ihnen vor dem Feuer hier gearbeitet haben. Ich bin recht früh eingetroffen, um dem Ansturm zu entgehen. Die meisten der extra eingeladenen Galagäste kommen erst heute Abend oder heute Nacht an. Als die Aufzugkabine hochfuhr, spielte ich an meinem Zimmerschlüssel herum und begutachtete den Messinganhänger. Er ist geformt wie die Fassade des Silver Gate, nur in klein. Hier, sehen Sie sich das an.« Alden holte seinen Zimmerschlüssel aus der Tasche und warf ihn Andy zu.

»Er ist schwer«, sagte Andy, bevor er ihn zurückgab.

»Das Feuer hat im zwölften aufgehört. Die Löschschläuche kamen nie bis hier rauf.« Alden tippte die Zahl auf dem Schlüssel an. »1481. Mein Zimmer für heute Nacht. Ich bin eingetreten und habe die Kette hinter mir eingehakt. Nur Rauch ist in der Nacht des Infernos in 1481 eingedrungen. Eine Menge davon. Nachdem ich mich eingeschlossen hatte, schnüffelte ich herum. Wie ein Basset, der einer Duftspur folgt, bin ich auf alle viere gegangen, habe aber nichts weiter als gewaschene Bettwäsche und einen Hauch von Zitronenölholzpolitur entdeckt. Der neue Teppich fühlt sich anders an, weicher, als ich ihn in Erinnerung habe. Sie haben frisch gestrichen. Die neue Farbe ist furchtbar trist, weniger satt und cremig als das Original. Der Durchschnittsmensch würde den Unterschied nicht bemerken. Aber ich schon. Ein Abriss wäre vielleicht die bessere Alternative gewesen. Noch mal von vorn anfangen. Ich nehme an, es ging nur um die Kosten. Sie haben sich entschieden, die Dinge zu vertuschen, aber die Rückstände sind immer noch da. Sie lauern unter der Oberfläche. Andeutungen und Echos. Bevor Sie an meine Tür geklopft haben, habe ich Rauch im Badezimmer gerochen. Ich war mir sicher, dass ich ihn gerochen habe. Flüchtig, aber deutlich, nicht der Geruch von Zigaretten, sondern beißender, erstickender Qualm … Ich habe nachgeschaut, aber ich konnte keine bleibende Spur ausmachen, bloß einen blassen Dunst, der aus der Badewanne aufstieg. Seltsam.«

Der Reporter konnte nicht anders, als tief durchzuatmen.

»Jetzt riechen Sie nichts mehr, oder, Andy?«

»Absolut nichts, Mr. Oakes.«

»Vielleicht spielt es mir einen Streich«, sagte Alden. »Das Hotel, meine ich. Oder vielleicht etwas anderes …« Der Maler wirkte einen Moment lang verloren, unkonzentriert. Er legte den Kopf schief, als lausche er auf ein gedämpftes, fernes Geräusch. Doch dann kehrte er zurück. »Die Möbel wirken solide, elegant und doch standardmäßig: ein Bett, eine Kommode und ein Nachttisch. Das gemütliche Sofa und die Sessel, der ordentliche kleine Schreibtisch, an dem Sie sitzen und meine Geschichte aufschreiben. Meine Version der Ereignisse, die sich zugetragen haben … was mit mir passiert ist …«

»Was ist mit Ihnen passiert? Es war mehr als ein schlimmes Feuer, nicht wahr?« Andys Augen funkelten.

»Eines Tages werden Sie ein guter Reporter sein, Andy. Sie haben, wie man so schön sagt, die Nase dafür. Ich frage mich, ob Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass alles, was ich gesehen und erfahren habe, wahr ist.«

»Lassen Sie es drauf ankommen.« Andy klopfte die Asche seiner Zigarette ab und leckte sich über die trockenen Lippen.

»Ich habe eine Flasche Gin in meiner Tasche«, sagte Alden. Schnell stand er auf und ging zum Kleiderschrank. Er nahm einen roten Krokodillederkoffer herunter und stellte ihn auf die Gepäckablage. Dann zog er einen kleinen Schlüssel an einer Halskette hervor, die er unter seinem Hemd trug, und öffnete die Verschlüsse. Aus dem Koffer holte er eine Flasche geschmuggelten Gin, einen Shaker und ein paar Gläser hervor. Er ließ den Koffer offen stehen. »Geben Sie mir mal den Eiskübel, ja? Durstig?«

Andy fand einen vollen Eiskübel, der auf dem Nachttisch schwitzte. Er brachte ihn dem Maler.

»Ich trinke nicht während der Arbeit«, sagte er. »Meinem Chef würde es nicht gefallen, wenn ich gegen das Gesetz verstoße.«

»Bewundernswert«, entgegnete Alden. »Aber der Martini ist für mich. Für Sie ist Gingerale in der Schreibtischschublade.« Alden warf ihm einen Flaschenöffner zu. Als beide Männer ihre kalten Getränke hatten, setzten sie sich wieder auf ihre Plätze. Alden hob seinen Martini zu einem Toast. »Auf was sollen wir trinken?«

»Die Wahrheit?«

Alden schüttelte den Kopf. »Zu viel Verantwortung. Wie wär’s mit: meine Sicht der Dinge?«

»Auf Ihre Sicht der Dinge«, sagte Andy. Er nippte an seinem Gingerale.

Alden nahm einen großen Schluck Gin. »Das ist alles, was ich Ihnen bieten kann. Genau genommen alles, was jeder von uns bieten kann. Nina würde mir zustimmen. Sie würden ihr gefallen.«

»Wer ist Nina?«, fragte Andy.

»Sie ist eine sehr gute Freundin«, antwortete Alden. »Ich werde später noch zu ihr kommen. Sie hat einen ziemlich großen Anteil an dieser ganzen rätselhaften Geschichte. Auch eine Schriftstellerin, meine Nina. ›Alden, wenn wir beide den Leuten nicht sagen, was los ist, wer dann?‹, würde sie sagen.«

»Sie klingt wie jemand, den ich gern kennenlernen würde.«

Alden lächelte wehmütig. »Nina ist im Moment nicht hier, um uns zu helfen. Ihre Stärke sind die Worte, meine die Farben … Bleistifte und Pinsel, Farben, Leinwand. Sie wäre Ihnen eine viel bessere Quelle gewesen. Aber stattdessen müssen Sie eben mit mir vorliebnehmen. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hunger bekommen. Wir können den Zimmerservice rufen. Austern Rockefeller und Krabbencocktails. Setzen Sie es auf die Hotelrechnung.«

»Klasse. Ich habe noch nie wie ein reicher Mann gespeist.«

Alden setzte seinen Martini ab, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden. Er ließ das Feuerzeug dramatisch klicken und sagte dann: »Mein neugieriger Reporterfreund, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Dinge richtigzustellen. Ich werde alles preisgeben: die schreckliche Wahrheit der Ereignisse, wie sie sich wirklich zugetragen haben, sogar die unfassbar skandalösen Details und die grausamsten, abscheulichsten Fakten. Aber Sie müssen wissen, dass für mich alles schon lange vor jener schrecklichen Nacht im Silver Gate Hotel begann.«

Andys Bleistift bewegte sich mechanisch über das leere Blatt und füllte die Zeilen.

So begann Alden seine Geschichte.

KAPITEL

ZWEI

Im vorletzten Sommer … also jetzt vor etwa zwei Jahren, war ich gerade damit beschäftigt, am Strand von Cannes zuzusehen, wie die heiße Sonne im kalten, glitzernden Meer unterging, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief.

»Oakesy!«

Nun, mein richtiger Name ist Wilfred Alden Oakes. Aber mein Vater, der berühmte Industrielle, Philanthrop und so weiter, wird immer der einzige Wilfred Oakes sein. Alle nennen mich Alden. Bis auf eine Person. Noch bevor ich ihn durch die langen Schatten auf dem Sand schreiten sah, wusste ich, dass es Preston Fairmont war, der auf mich zukam. In der einen Hand hatte er ein Martiniglas und mit der anderen winkte er, als wolle er ein Taxi rufen.

»Oakesy! Hier drüben! Ich kann nicht glauben, dass du es bist. Was machst du denn in Frankreich?«

Ich saß in einem Korbstuhl neben einem kleinen Lattentisch in einem Strandcafé und ruhte meine Beine aus, nachdem ich den ganzen Tag die gewundenen, gepflasterten Gassen der Altstadt, Le Suquet, auf der Suche nach frischen Inspirationen durchwandert hatte. Preston griff nach dem Stuhl mir gegenüber und zog ihn vom Strand weg. Meine Tasche mit den Pinseln und Farben fiel vom Sitz, aber sie ging nicht auf. Preston schob sie aus seinem Blickfeld. Gut gelaunt und braun gebrannt setzte er sich hin und schenkte mir ein breites Grinsen.

»Was trinkst du da?«

»Einen Rose Cocktail«, sagte ich.

»Prächtig.«

Preston machte die Kellnerin auf sich aufmerksam. Er hatte eine Art an sich, die den Serviceleuten immer auffiel. Er strahlte Reichtum aus. Die Kellnerin schob einen weiteren Untersetzer auf meinen Tisch.

»Voulez-vous quelque chose à boire?«

»Ich nehme einen davon«, sagte Preston und deutete auf meinen Drink.

Die Kellnerin nickte lächelnd, aber Preston hatte sich bereits von ihr abgewandt und blickte auf die tiefblauen Wellen, auf die Leute, die sich im Sand räkelten, und schließlich, als wir wieder allein waren, auf mich. Trotz meiner Überraschung, ihn zu sehen, war mir sein spröder Charme sofort wieder vertraut.

»Wie geht es dir, Preston?«, fragte ich.

»Großartig, ich habe den Tag damit verbracht … ich weiß nicht … herumzulaufen? Ich werde dieses Ortes nie überdrüssig.«

»Bleibst du lange?« Ich versuchte, neutral zu klingen. Es war schon eine Weile her, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, und das hatte gewisse Gründe. Preston und ich teilten eine bewegte gemeinsame Vergangenheit und viele Freunde. Ich gab mich gern der Illusion hin, dass ich einzigartig auf der Welt sei. Er machte das schwieriger.

Er schüttelte den Kopf. »Ich reise morgen ab. Ich segle in der Frühe. Deshalb ist es ja so perfekt, dass ich dich gerade jetzt getroffen habe. Ich habe versucht, dich zu erreichen. Du bist verflixt schwer zu fassen, Oakesy.«

»Ich war den ganzen Sommer hier«, sagte ich, blinzelte und schirmte meine Augen ab.

»Am Strand? Kein Wunder, dass du seit Ewigkeiten keine Ausstellung mehr hattest.«

Ganz beiläufig gelang es ihm, mit seinem Kommentar meinen Stolz zu verletzen.

Prestons Cocktail traf ein.

Ich bestellte einen weiteren und bat um die Rechnung, in der Hoffnung, unsere Begegnung auf eine erträgliche Länge zu beschränken. »Beim Malen geht es nicht bloß darum, Geld zu verdienen und auszugeben. Das Handwerk zu lernen braucht Zeit. Ich bin in diesem Jahr gewachsen, aber meinen eigenen Stil zu finden war schwieriger, als ich anfangs gedacht ha…«

»Künstler schmeißen einfach die besten Partys«, unterbrach mich Preston. »Ich wette, du warst auf mehr als nur ein paar davon.«

Preston Fairmont war selbst kein Amateur im Schmeißen von Partys. Während unserer Studienzeit an der Miskatonic-Universität war er eine Legende gewesen. Angefangen hatte er an der Universität von Chicago, aber seine mangelnde Ernsthaftigkeit als Student veranlasste seine Eltern, ihn näher zu sich zu holen. Also wechselte er nach einem Jahr widerwillig an die MU. Als wir uns als Klassenkameraden ein Zimmer teilten, war er als Gastgeber noch ein Anfänger und eifrig damit beschäftigt, sich zu etablieren, wobei er unterschiedlichste Strategien im gesellschaftlichen Umgang genauestens untersuchte. Während des Großen Krieges sprachen wir darüber, zur Marine zu gehen, weil wir die Uniformen mochten. Die Mädchen taten das auch, zumindest vermuteten wir das. Das Meer hatte etwas Romantisches, aber auch unvermittelt Greifbares an sich. Aus demselben Grund habe ich immer gern an Orten am Meer gemalt.

Nun, keiner von uns meldete sich freiwillig zum Kampf und der Krieg endete im Herbst nach unserem Schulabschluss. Zu diesem Zeitpunkt war Preston bereits ein Kenner der Partyszene und ein Gastgeber von epischem Ruf. Ich dilettierte bloß am Rand solcher Veranstaltungen. Lieber verbrachte ich meine Zeit damit, in einem Atelier Farbe auf Leinwände zu klatschen oder eine Staffelei durch die Landschaft zu schleppen.

»Warum hast du versucht, mich zu erreichen?«, erkundigte ich mich.

»Es ist mir peinlich, das zu sagen.«

»Unmöglich«, sagte ich. Preston hatte ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das ihm schon in die Wiege gelegt worden war. »Ich habe noch nie erlebt, dass dir etwas peinlich war.«

»Du wirst es verstehen, wenn ich dir verrate, warum.«

»Schieß los.«

»Ich werde heiraten.« Preston lächelte verlegen.

»Glückwunsch! Das ist doch kein Grund zur Aufregung. Auf dein Wohl!«

Ich freute mich aufrichtig für den alten Knaben, aber das Gefühl wurde schnell im Keim erstickt.

»Und zwar Minnie Devane«, fügte Preston hinzu.

Das leere Glas glitt mir aus den Fingern und fiel vom Tisch in den Sand. Glücklicherweise war sein Ersatz jede Sekunde fällig. Das war also der Knackpunkt. Minnie Devane war am College mal mehr, mal weniger meine Freundin gewesen, außerdem meine Verlobte und Ex-Verlobte, meine Inspiration und die erste Frau, die ich je zu lieben geglaubt hatte. Ich könnte ein ganzes Buch über Minnie schreiben, aber danach müsste ich es verbrennen, um nicht wegen Verstoßes gegen die Sittengesetze verhaftet zu werden. Nicht, dass Minnie selbst obszön gewesen wäre. Sie war wie eine Spiegelscherbe. Klein und glänzend und wenn man nicht aufpasste, konnte sie einen verletzen. Sie spiegelte Dinge in einem wider, die man lieber nicht so genau unter die Lupe nehmen sollte. Ich hatte mich seinerzeit in Minnie verliebt, weil sie eine kluge, freche Art zu reden hatte und eine wilde, schnelle, flirrende Art, durch den Raum zu wirbeln und jeden in Schwung zu bringen. Sie war voller Wärme und Energie.

Manchmal explodierte diese Energie. Und Menschen wurden verletzt.

»Du und Minnie?« Es schien so unmöglich, und doch, schlimmer noch, so offensichtlich.

Ich hob das Glas auf und rieb es sauber.

»Ist das nicht großartig?«, meinte Preston. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Dunkle Flecken verunzierten seine Hemdbrust. Er verschränkte und entfaltete in einem fort seine Arme. Seine Hände waren wie ein Paar Vögel, die er am Wegfliegen hindern wollte. Ich bemerkte, wie er bleich wurde, gleich einem Mann, der kurz vor der Ohnmacht steht. War er so nervös, es mir zu sagen? Ich hätte nicht gedacht, dass meine Meinung für Preston von besonderer Bedeutung gewesen wäre.

»Wann ist der große Tag?«

»Oh, nicht vor dem nächsten Sommer. Ich … wir haben ein Jahr Zeit zu planen«, sagte er.

Natürlich hallte der Schock über diese Nachricht noch nach. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Aber es fiel mir schwer, einen guten Grund zu finden, um Einspruch zu erheben oder mich gar schlecht zu fühlen. Ich mochte Preston. Und ich mochte Minnie. Warum sollte ich mich nicht für sie freuen?

»Ich weiß nicht, ob es dir darum ging, Preston«, sagte ich, »aber meinen Segen hast du.«

Je mehr ich über die beiden als Paar nachdachte, desto mehr sah ich, dass sie besser zueinander passten, als Minnie und ich es je getan hatten. Ich war zu eigenbrötlerisch, um zu ihren ausgeprägt geselligen Persönlichkeiten zu passen.

Preston und Minnie. Sie so in einem Atemzug zu nennen war etwas, an das ich mich nicht so schnell gewöhnen würde.

»Oakesy, das ist wirklich anständig von dir. Ich bin erleichtert.« Er sah allerdings nicht erleichtert aus. Er scharrte mit seinen Füßen unter dem Tisch und begutachtete gelegentlich den Fortschritt seiner Grabungsarbeiten. Er sah noch schlimmer aus als eben, als er die große Hochzeitsbombe hatte platzen lassen. War da noch mehr? »Du bist ein Pfundskerl. Wir hatten gehofft, du würdest nicht zu verletzt sein.«

»Ich bin froh, dass ihr euch gefunden habt. Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich Minnie wirklich frustriert habe. Der einsame Künstler, der in seinem eigenen Kopf lebt. In einer imaginären Welt. ›Aber in deiner Welt regnet es immer‹, hat sie gesagt. ›Das ist das Problem.‹ Vielleicht war ich einfach zu eigenartig für sie.«

»Das hat sie mir auch erzählt.«

Ach, tatsächlich?

Offen gesagt waren Preston und Minnie die Art von Menschen, die typischerweise taten, was sie wollten. Wenn sie Unannehmlichkeiten hatten, versuchten sie vielleicht, das Ganze wieder in Ordnung zu bringen, damit die Dinge für sie glatter liefen. Aber sie waren kaum der Typ Mensch, der nachts wach lag und sich über die Auswirkungen seines Handelns auf seine Umwelt Gedanken machte. Ich fühlte mich auf eine seltsame Art und Weise geehrt.

»Minnie und ich hoffen inständig, dass du zur Hochzeit kommst. Sie findet in Arkham statt.«

Die unerwartete Einladung brachte mich ins Wanken. Sicher, irgendwann würde ich mich daran gewöhnen, dass meine alte Flamme einen Collegekumpel von mir heiratete, aber wollte ich dabei sein, wenn das passierte?

Preston blickte über meine Schulter an mir vorbei. Seine Mundwinkel zuckten im Anflug eines nervösen Lächelns. Ich drehte mich um, um zu schauen, was er ansah. Es war eine Frau mit einem Sonnenschlapphut, der eine rosa Schleife hatte. Entweder weil Preston sie angestarrt oder weil ich mich so abrupt umgedreht hatte, senkte sie die breite Krempe des Hutes und verbarg sich darunter, um unserer Aufmerksamkeit zu entgehen.

Er griff über den Tisch und packte mein Handgelenk. Sein Blick war flehend. Ich hatte Mitleid mit ihm. »Bitte sag, dass du kommen wirst«, bat er. Warum verhielt er sich so verzweifelt?

»Ich werde zur Hochzeit kommen.« Ich hatte Zeit, mich darauf einzustellen, und er wollte mich ja unbedingt dabeihaben.

Sein Gesicht verzog sich zu einem strahlenden, breiten Grinsen. »Das ist prächtig! Sie werden sich so freuen!«

»Sie? Wer sind sie?«, fragte ich verwirrt.

Preston hielt inne, dann zuckte er mit den Schultern. »Nur Minnie und ich. Niemand sonst.«

»Und was ist mit der Frau, die hinter mir sitzt? Mit dem Sonnenhut?« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Ich habe gesehen, wie du sie angelächelt hast.« Dabei drohte ich mit dem Finger. »Minnie wird deine volle Aufmerksamkeit und strengste Ergebenheit erwarten, falls du das nicht schon bemerkt hast.«

Preston schluckte trocken. »Nun, sie ist die Einzige für mich.«

»Guter Mann! Schon im nächsten Sommer wirst du die Göttin Minnie anbeten!«, scherzte ich.

»Ha!« Sein lauter Ausruf erschreckte die Strandbesucher um uns herum.

Die Kellnerin kam endlich mit unseren Getränken. Nachdem ich die Rechnung unterschrieben hatte, tat ich so, als würde ich meinen Stift versehentlich fallen lassen, damit ich einen zweiten, besseren Blick auf die Frau mit dem Schlapphut werfen konnte. Aber sie war fort.

Während ich mich bückte, fiel mein Blick zufällig unter den Tisch. Während unseres Gesprächs war Preston aus einem seiner weißen Schuhe geschlüpft und hatte mit seinem Zeh etwas in den Sand gezeichnet. Eine becherartige Form, die auf einem Dreieck balancierte. Darin befanden sich zwei Ovale. Neben den Becher, und weniger gut zu erkennen, hatte er eine dreizinkige Gabel gemalt.

Wirklich bizarr, dachte ich.

Während ich versuchte, den Sinn der auf dem Kopf stehenden Symbole zu ergründen, zog Preston seinen Fuß durch den Sand und verwischte sie. Anfangs hatte er so sehr wie der alte Preston gewirkt, aber jetzt bemerkte ich sein Unbehagen. Vielleicht rüttelte die bevorstehende Hochzeit an seinen Grundfesten. Minnie hatte diese Wirkung auf manche Leute.

»Wann hast du vor, zurück nach Arkham zu reisen?«, fragte mich Preston, als ich mich aufsetzte.

»Ich habe keine offiziellen Pläne. Ich werde noch eine Weile in Frankreich bleiben. Ich hatte gehofft, eine Reise entlang der spanischen Küste zu machen. Meine Mutter möchte, dass ich Weihnachten zu Hause bin. Warum fragst du?«

»Minnie und ich schmeißen eine Verlobungsparty. Das Datum steht noch nicht fest. Wahrscheinlich im Haus meiner Eltern im Französischen Viertel oder vielleicht in der Lodge. Wir möchten, dass du kommst. Wir haben viele neue Freunde, die bei der Hochzeit dabei sein werden. Du solltest sie vorher kennenlernen. Faszinierende Gruppe. Bohemien, genau nach deinem Geschmack. Arkham hat heutzutage eine lebhafte Kunstszene, zumindest hat mir das Minnie erzählt.«

»Das klingt faszinierend«, sagte ich. Seit wann strömten Bohemiens nach Arkham? »Welche Künste praktizieren sie?«

Das braun gebrannte Sinnbild guter Gesundheit war einer aschfahlen Blässe gewichen. Er kippte sein Getränk hinunter und lutschte am Eis. Ich begann mir Sorgen zu machen, dass er sich plötzlich krank fühlen könnte.

»Alles in Ordnung, Kumpel?«

»Ich fürchte, ich habe gestern Abend zu viele Schnecken gegessen«, erwiderte er und wischte sich über die feuchte Stirn.

»Und hinterher ein paar Flaschen Schampus zu viel?«

Preston lächelte. »Du kennst mich, alter Freund.«

Das hatte ich zumindest angenommen.

Er bat mich, eine Rückkehr nach Arkham im Herbst in Betracht zu ziehen. Er und Minnie müssten mit den Planungen für ihre Hochzeitsparty beginnen. Und waren die Herbstbäume in unserer Stadt in Neuengland nicht wunderschön bunt? Könnte ich nicht etwas näher an meinem Geburtsort finden, das sich zu malen lohnte?

»Auf jeden Fall solltest du nach Hause kommen, bevor alle Blätter weg sind«, sagte er.

»Ich werde mein Bestes geben.«

Meine Antwort schien ihn nicht ganz zufriedenzustellen, aber wir schüttelten uns die Hände (seine fühlte sich an wie ein kaltes Ding, das am Strand angespült worden war) und sagten au revoir.

Unsere Kellnerin kam vorbei und ich bestellte einen Absinth.

Meine Nerven fühlten sich gereizt an, mein Inneres war in Aufruhr. Ohne wirklichen Grund schienen alle meine Sinne aufs Äußerste geschärft zu sein. Es war, als ob ich nur von Kaffee und Zigaretten leben würde.

Das Wasser glitzerte in verschlungenen, metallisch anmutenden Mustern. Ich bemerkte eine Segelyacht, die draußen in der Bucht vor Anker lag, näher am Strand als alle anderen. Sie war nicht die größte. Ihre schlanken weißen Linien lagen nur knapp über dem Wasser wie eine treibende Eisscholle.

Aus einem Impuls heraus schnappte ich mir schnell einen Bleistift und einen Block und begann, sie zu skizzieren.

Auf das Vordeck trat eine Gestalt, die nur als Silhouette zu erkennen war. Geschlechtslos, alterslos – aus dieser Entfernung und im schwindenden Licht betrachtet hätte es jeder Mensch auf dem Planeten sein können. Ich wusste nicht, was meinen Blick auf sie lenkte. Aber ich konnte nicht wegsehen. Die Gestalt glitt vom Bug bis zum Heck der Yacht. Es musste ein Seemann sein, der Taue trägt, sagte ich mir. Lange Ranken gingen vom eigentlichen Körper aus und wurden ins Meer geworfen. Die Gestalt schien zu vibrieren. Eine optische Täuschung. Die Reflexion des Wassers spielte mit den üppigen Schatten. Mein Mund fühlte sich trocken an und ich schmeckte Salz. Ein Anflug von Übelkeit durchlief mich wie eine Schallwelle, die aus der Mitte der Bucht kam. Meine Hand zitterte, während ich lange, ununterbrochene Linien auf das Papier zeichnete und versuchte, das Seltsame, das ich sah, festzuhalten.

Der Horizont teilte sich in Schichten: Dunkelblau, Indigo, Lila, Violett und Rauchgrau.

Die Bucht von Cannes wurde zu einer Glasscheibe.

Die Taue, wenn es denn Taue waren, wurden eingeholt. Die Gestalt streckte sich und wurde um die Hälfte größer. Der Seemann oder Fischer, diese Verzerrung einer menschlichen Gestalt, trug auch etwas auf dem Kopf.

Riesige Stacheln, in der Art einer Krone, eine dunkle Ansammlung von bajonettartigen Fortsätzen.

So sahen sie jedenfalls aus.

Dann veränderte sich das Licht und weicher schwarzer Flaum schien aus der Luft selbst zu sprießen. Die Yacht wurde zu einem normalen Segelschiff, das zwischen Dutzenden von anderen vor Anker lag.

Ich sah niemanden an Bord.

Die Nacht war angebrochen. Ich blickte mich um, als wäre ich in meinem Sessel eingeschlafen und gerade aufgewacht. Das Meer kam wieder in Bewegung und die funkelnden Lichter der Cafés und Hotels, die die Uferlinie säumten, spiegelten sich darin. Die Leute unterhielten sich und nippten an Aperitifs oder Tassen Kaffee.

Alles wirkte normal.

Welche Eigentümlichkeit auch immer kurz über die Bucht hinweggezogen war, es war vorüber.

Ich betrachtete die Stelle, an der Preston vor weniger als einer Stunde gesessen hatte. Vielleicht war er eine Fata Morgana gewesen, eine Erscheinung, ein Produkt meiner Fantasie, im Traum zum Leben erwacht. Ich nahm meine Tasche aus dem Sand und stand auf, um meinen Skizzenblock wegzupacken. Ich schwankte und fühlte mich schwindelig. War das der Alkohol? Oder der Beginn eines Fiebers?

Zu lange in der Sonne, entschied ich.

Wie benommen ging ich in mein Hotel zurück. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und machte mir nicht einmal die Mühe, mich auszuziehen, sondern schlief bis zum Morgen durch.

Bei Tagesanbruch wachte ich sofort auf. Das Zimmer war stickig, aber ich fühlte mich wie neugeboren, voller Energie. Ich sah vielleicht aus wie tot, aber, Junge, Junge, in mir brodelte es. Nach dem Frühstück sagte ich dem Hotelmanager, dass ich die Rechnung begleichen wolle. Plötzlich war da der Gedanke, dass ich Cannes sofort verlassen müsse. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen außer mir selbst gegenüber, also folgte ich diesem unerklärlichen Drang, neugierig darauf, wohin er mich führen würde. Ich kaufte eine Karte von Spanien und mietete ein Auto. Ich gab mir den ganzen Monat August Zeit, um mich auf meine Rückkehr nach Arkham vorzubereiten. Hätte mir jemand, als ich hinunter zur Strandpromenade gegangen war, um einen Drink am Meer zu nehmen, gesagt, dass ich meine Pläne ändern und vorzeitig auf Umwegen in die USA zurückkehren würde, nun, ich hätte ihm vielleicht geglaubt. Aber wenn man mir gesagt hätte, dass der Grund dafür eine Hochzeitseinladung von Preston und Minnie sein würde, hätte ich demjenigen ins Gesicht gelacht.

Klar, ich hätte auch Nein sagen und in Frankreich bleiben können. Manchmal habe ich mich gefragt, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich das getan hätte. Wäre ich dann da, wo ich heute bin? Und wie wäre es gewesen, ohne all die Gerüchte zu leben, die mich unweigerlich verfolgen? Die schrecklichen Todesfälle, alles, was wir in jener Nacht im Silver Gate gesehen haben, alles, was in jenem unheilvollen Chaos auftauchte …

Aber solches Denken ist mehr als sinnlos.

Ich hatte Ja gesagt.

Und nichts, was danach kam, kann jemals wieder geändert werden.

KAPITEL

DREI

Ich fuhr die Küste entlang und verabschiedete mich mit jedem Kilometer von Frankreich. Ich hatte nur wenig Gepäck dabei, den meisten Platz in meinem schnittigen gelben Renault nahmen meine Malerutensilien ein. Ich fuhr gefährlich. Ich bin nie ein besonders guter Fahrer gewesen und habe keinerlei Orientierungssinn.

Irgendwo zwischen Toulon und Marseille flog meine Karte aus dem Fenster und die Bergwinde rissen sie in eine Schlucht. Aber wie sollte ich mich schon verfahren? Ich behielt einfach das Meer zu meiner Linken und fuhr weiter, schlängelte mich durch die steinigen Massive, bis es dunkel wurde. Dann suchte ich nach einem Ort, an dem ich eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett für die Nacht bekommen würde.

Es waren keine Dörfer in Sicht. Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Ich erwog, anzuhalten, um ein Nickerchen zu machen, aber die Nebenstraßen waren viel zu schmal. Ich wollte nicht am Kühlergrill eines rasenden Lieferwagens hängend aufwachen.

Um mich zu beschäftigen, machte ich mir Gedanken über Arkham.

Warum war ich fortgegangen? Was hatte ich verpasst? Wie würde die Stadt aussehen, wenn ich zurückkehrte?

Ich bin in Arkham geboren. Meine Familie war reich und gesellschaftlich anerkannt, obwohl meine Eltern älter wurden und Wilfred, mein Vater, die Leitung seiner Firma größtenteils an seine jüngeren Mitarbeiter abgegeben hatte. Er verdiente sein Geld vor allem in der Metallgewinnung und der Chemie. Ich habe nie verstanden, was seine Nordstadt-Fabriken im Einzelnen produzieren, und es hat mich auch nicht interessiert, mehr darüber zu erfahren. Vaters Leben kam mir unerträglich langweilig vor. Er ordnete die Künste irgendwo unter Sport und knapp über Kinderspielereien ein. Ich wusste, dass der Krieg gut für die Firma gewesen war, gut für meine Familie, so schrecklich das auch klingen mag. Meine Mutter, Pearl, hatte ihre Wohltätigkeitsarbeit. Dabei war sie nicht übermäßig daran interessiert, Menschen zu helfen. Sie engagierte sich eher für öffentliche Einrichtungen wie Parks und Museen.

Ich werfe ihr das nur bedingt vor. Denn ohne Zweifel entstand meine Leidenschaft für die Malerei, als ich eines Abends während eines Benefizdinners gelangweilt in eine Ausstellungshalle wanderte. Die Gemälde sprangen mich geradezu an. Solche Farben! Zum ersten Mal konnten meine Augen wirklich sehen und ich zitterte. Es war wie eine religiöse Epiphanie ohne die Religion. Oder anders ausgedrückt: Mein Gott war die Kunst. In diesem Augenblick entschied ich, welche Richtung mein Leben nehmen sollte. Ich muss das tun, dachte ich mit der Klarheit eines Eiferers. Ich werde schöne Dinge erschaffen. Ich wollte, dass meine Arbeiten in Museen hingen. Ich wollte, dass Menschen wie meine Mutter und ihre Freunde Spendenaktionen organisierten, um die Bilder auszustellen, die ich eines Tages malen würde, und im Gegenzug würde ich Menschen helfen, ihrem tristen, langweiligen Leben zu entkommen. Praktischerweise hatte ich einen Ausweg aus der erdrückenden Zukunft entdeckt, die vor mir lag.

Den Rest der Fahrt über fluteten Visionen von Arkham mein Gehirn und ehe ich mich’s versah, färbte sich die Welt blau, dann golden und schließlich in ein fast blendendes sonniges Weiß.

Ich war in Spanien nicht auf der Suche nach irgendwelchen erhebenden oder einzigartigen Erfahrungen. Ich wollte einfach nur entspannen. Daher mietete ich mich in einer Pension im Zentrum von einem der vielen Fischerdörfer an der Küste ein. Ich besuchte Kirchen und schlenderte durch die steilen, gewundenen Straßen, verloren in einem Labyrinth aus malerischen Häuschen. Wie in weiten Teilen des Mittelmeers waren die Gebäude, an denen ich vorbeikam, weiß getüncht, mit roten Ziegeldächern und hohen Fenstern, die in den heißesten Stunden des Tages gegen die Sonnenstrahlen verschlossen waren. Katzen jeglicher Couleur schliefen in den Schatten und beäugten mich mit trägem Desinteresse. Ich bewegte mich bewusst langsam und spürte, wie ich mich an die unerwartete Ankündigung meines alten Mitbewohners zu gewöhnen begann, die zweifellos das gesellschaftliche Ereignis des Jahres in Arkham werden würde. Mehr und mehr erwärmte ich mich für die Vorstellung, Minnie und Preston zusammen zu sehen und an ihren fabelhaften Partys teilnehmen zu dürfen. Es war sicher schön, wieder nach Hause zu kommen.

Obwohl ich offensichtlich ein Fremder war, starrten mich die Dorfbewohner nicht an, aber sie ignorierten meine Anwesenheit auch nicht. Wenn ich sie ansprach, waren sie außergewöhnlich höflich. Ich aß meine Mahlzeiten in Restaurants, verschlang Brot, Oliven und Teller mit verschiedenen kleinen, öligen Fischen, schlürfte Schalen mit Gazpacho und trank oft noch ein Glas andalusischen Sherry, bevor ich mich in mein weiches Bett zurückzog. Ich bewegte mich in einer glückseligen Isolation. Die Sprache war wie ein Käfig, den ich mit mir trug, wohin ich auch ging. Ich konnte kein Spanisch. Niemand, den ich traf, sprach Englisch. Aber ich entdeckte, dass eine Mischung aus Französisch und Pantomime alles war, was ich brauchte, um meine Absichten zu vermitteln.

Ich habe dort mehr Bilder fertiggestellt, als ich in drei Monaten in Cannes gemalt hatte.

Sie waren zwar gut, dennoch fehlte ihnen etwas fast Greifbares, so als wäre das eigentliche Motiv weggegangen, kurz bevor ich zu malen begonnen hatte. Sie waren geprägt von Abwesenheit. Ich packte sie weg.

Preston hatte recht gehabt, als er auf meinen Mangel an künstlerischem Fortschritt angespielt hatte. Es stimmte. Ich hatte seit Ewigkeiten keine Ausstellung mehr gehabt. Ich hatte einen Punkt der Stagnation erreicht, eine träge kreative Vorhölle, in der mein Talent und ich zusammensaßen wie ein altes Ehepaar, dem die Energie zum Streiten fehlt.

Die Wahrheit über meine künstlerische Begabung ist, dass mein Leben vielleicht einfacher gewesen wäre, wenn ich in ein bisschen bessere oder ein bisschen schlechtere Verhältnisse hineingeboren worden wäre. Ich würde nie einer dieser Künstler werden, die in zerfledderten Mänteln an den Wochenenden auf der Straße an der Südküste von Kingsport sitzen und ihre Bilder verkaufen. Ich konnte niemanden abzocken, hatte kein Verkaufstalent. Ich bin reich geboren worden, also war immer Geld da. Sich unters gemeine Volk zu mischen schien mir falsch. Meine Fähigkeiten verrieten, dass ich die Techniken meisterhaft beherrschte. Was mir damals fehlte, und was ich mir wünschte, war Originalität. Ich war ein Kopierer, ein Nachahmer der Maler, die vor mir eine überlegene Vision gehabt hatten. Ich fühlte mich wie ein Betrüger.

Letztlich war ich zu dem Schluss gekommen, dass meine Malaise darin bestand, keine inspirierenden Motive zum Malen zu haben. Daher hatte ich Arkham verlassen und mich nach Europa aufgemacht. Dort angekommen, ertrank ich in Geschichte, Museen und Galerien, in Scharen umgeben von anderen Künstlern, die dasselbe taten wie ich. Welchen neuen Beitrag konnte Alden Oakes wohl leisten? Wo war meine Vision? Es war eine selbstmitleidige Perspektive, ich weiß, und wie alles Selbstmitleid wurde sie schnell ermüdend.

Sogar für mich.

Also verfiel ich ins Grübeln.

Ich malte realistische Darstellungen von Feldern, Wäldern und Meeresküsten. Obwohl technisch hervorragend, waren meine Arbeiten seelenlos. Ich hasste jedes einzelne Bild und stapelte die Leinwände in der Ecke eines Schuppens, den ich von einem Bauern gemietet hatte, nur um später festzustellen, dass er ein undichtes Dach hatte und die Bilder, die ich dort gelagert hatte, ruiniert waren. Es schien keine Eile zu geben, mehr zu produzieren. Ich mied die Gesellschaft anderer Künstler und verzichtete auf die verrauchten Kaffeehäuser und lauten, billigen Cafés. Preston hatte recht gehabt mit den Partys, aber ich ging nicht mehr hin. Dennoch hegte ich noch Hoffnung, ein ideales Thema zu entdecken, das mein inneres Potenzial freisetzen würde. Die Welt würde mir einfach ihre Aufmerksamkeit schenken müssen. Endlich würde sie sehen, dass ich etwas Einzigartiges und kraftvoll Schönes beizutragen hatte.

So sahen meine Tagträume aus.

Eines Tages beschloss ich, das Dorf zu verlassen und Richtung Süden nach Barcelona zu fahren.

Bin ich jemals dort angekommen?

Ich glaube nicht. Ich weiß, das klingt seltsam, aber ich habe meinen schrecklichen Orientierungssinn ja bereits erwähnt. Möglicherweise habe ich die weniger bekannten Außenbezirke der Stadt erreicht oder mich in ein seltsam abgelegenes Viertel verirrt. Ich sah jedenfalls keine La Rambla, kein Gotisches Viertel und keine Basilika de La Sagrada Familia, eigentlich überhaupt keine berühmten Wahrzeichen, als ich dort eintraf. Mir kam der Gedanke, dass ich versehentlich eine ganz andere Stadt besucht haben könnte. Die Gebäude drängten sich zu dicht und wirkten allesamt heruntergekommen, ganz und gar nicht das, was ich zu sehen erwartet hatte. Ich war zu dem Ort gefahren, an dem Barcelona hätte sein sollen. Aber kein Wegweiser verriet mir, ob ich tatsächlich dort angekommen war. Die Straßen, durch die ich fuhr, hatten den industriellen Charakter einer Metropole. Das Bizarre daran: Egal welche ich nahm, ich hatte immer das Gefühl, bergabzufahren. Selbst wenn ich versuchte, zurückzufahren, neigte sich der Renault nach vorn, als wäre ich in einem Trichter gefangen.

Ich sah viele Soldaten.

Sie marschierten in Gruppen an mir vorbei oder standen in Paaren herum. Ich habe nie einen gesehen, der allein unterwegs war. Ihre Uniformen waren von einem gelblichen Braun und sie trugen weiche Schirmmützen und weinrote Armbinden. Ich konnte nicht sagen, wie die Zivilisten über sie dachten, aber mich machten sie mit ihren ausdruckslosen Gesichtern und ihrer beiläufig gewalttätigen Haltung nervös. Ich suchte nach einem freundlichen, sauber aussehenden Hotel. Überall, wo ich anhielt, wurde mir gesagt: »Keine freien Zimmer.« Als ich nach Empfehlungen fragte, gaben die Angestellten an, dass in der Stadt keine Zimmer zu haben seien.

Ich parkte vor einer Bank und dachte, ich könnte hineingehen, um ein paar Francs zu wechseln und den Kassierer um eine Hotelempfehlung zu bitten. Dabei würde ich mich beiläufig erkundigen, ob diese Filiale tatsächlich in Barcelona sei. Ich bekam jedoch keine Chance dazu. Als ich die Türen zu öffnen versuchte, fand ich sie verschlossen.

Ich legte meine Hände ans Fenster und spähte hinein.

Verlassen, Licht aus. Niemand zu Hause.

Es war ein Wochentag. Da war ich mir sicher gewesen, als ich das Fischerdorf verlassen hatte.

Ich zündete mir eine Kippe an und machte einen Spaziergang. Ich merkte mir die Eigenheiten der Straße, damit ich mein Auto wiederfinden würde, wenn ich zurückkam. Drei Straßen trafen sich und bildeten sechs Ecken. In der Mitte der Kreuzung befand sich eine sternförmige Insel mit einem trockenen Springbrunnen.

Ich ging hinüber, um mir das genauer anzusehen.

Unter fauligem grünem Wasser füllten Münzen den Springbrunnen. Neugierig krempelte ich den Ärmel hoch, tauchte meinen Arm in das Becken und schöpfte eine Handvoll Münzen heraus. Ein gelber Schleimfilm bedeckte sie und sie waren unangenehm warm, wie kleine Fingerspitzen, die meine Handfläche streiften. Mit dem Daumennagel kratzte ich ein wenig Schmutz weg. Noch nie hatte ich eine so seltsame Währung gesehen. Wenn das Peseten waren, müssen sie sehr alt gewesen sein. Auf den Münzen fehlten jegliche Zahlen. Die Symbole, die sich darauf befanden, waren abgegriffen und schwer zu erkennen, aber sie stellten mir unbekannte mythologische Tiere dar. Ich ließ die Münzen zurück in das schmutzige Wasser fallen. Vielleicht war es ein lokaler Brauch, sich etwas zu wünschen und dazu diese merkwürdigen alten Münzen in den Brunnen zu werfen. Irgendwann hatte darin mal einmal eine Statue gestanden, jetzt war sie fort. Nur der leere Sockel war übrig geblieben. Ich blickte mich vom Brunnen aus um und ging die Richtungen durch, die ich einschlagen konnte.

»Ene, mene, mu …«

Ich suchte mir eine der sechs Straßen aus und lief los.

Keins der Geschäfte hatte geöffnet. Ich sah nur wenige Menschen. Wenn ich an ihnen vorbeiging, schauten sie weg. In schöner Regelmäßigkeit tauchten entlang der Straße große, gefährliche, offene Löcher im Bürgersteig auf. Die Luft, die aus diesen Gruben wehte, roch nach Abwasser. Verwundert und beunruhigt fragte ich mich, warum sie nicht abgedeckt waren, und schärfte mir ein, auf dem Rückweg vorsichtig zu sein.

Mehrere Treppen, die in die Tiefe führten, boten einen weiteren Hinweis darauf, dass ich ein Stadtzentrum von einer gewissen Größe erreicht hatte. Ich nahm an, dass sie zu einem elektrifizierten U-Bahn-System führten. Ich wusste von keinen Katakomben in dieser Region. Aber die Eingänge der Stationen trugen keine Namen, zumindest konnte ich keine finden. Das Einzige, was eine Treppe von der anderen unterschied, waren primitiv aussehende Symbole, die in Holztafeln über den unterirdischen Durchgängen eingeritzt waren. Bei näherer Betrachtung schienen diese Schnitzereien Graffiti zu sein, das Werk eines künstlerischen Rowdys mit einem Taschenmesser. Sie erinnerten mich an eine Ausstellung von alten druidischen Runen, die ich einmal im Miskatonic-Museum gesehen hatte.

Verschlossene Eisentore riegelten die Treppen ab.

Wenn sie zu einem U-Bahn-Netz gehörten, war dieses, genau wie die Banken, geschlossen.

Je länger ich das Viertel erkundete, desto mehr fiel mir auf, dass die Gebäude ringsum eindeutig im Verfall begriffen waren und ihre Bausubstanz alles andere als stabil wirkte. Risse in den Fundamenten der Gebäude und in den Fassaden ließen mich vermuten, dass die Stadt kürzlich ein Erdbeben erlebt hatte.

Die ganze Szenerie kündete von Zerfall. Das konnte unmöglich Barcelona sein!

Ich war am frühen Abend angekommen und jetzt, ein paar Stunden später, ging die Sonne im Westen unter. Das Licht schnitt durch die Gassen wie goldene Bajonette. Ich bog an einer Kreuzung ab und schaute immer wieder hinter mich, um mir das eine oder andere wichtige Detail zu merken. Zum Beispiel saß dort oben eine kopflose Puppe in einer roten Strickjacke, die sich an ein staubiges Fenster im zweiten Stock lehnte. Hier rahmten Glasbausteine das geätzte Wort Farmacia über einer Tür ein. Ein Stück weiter standen im schummrigen Laden eines Schusters Reihen von braunen Stiefeln auf einem Regal bereit. Ich hatte mir vorgenommen, dieser Spur aus Brotkrumen durch den urbanen Urwald zu folgen.

Karmesinrot überzog den zerschrammten Himmel, dessen sich auflösende Verbände bloß Wolken waren.

Ich vernahm eine Vielzahl von Stimmen, die sich aufgeregt unterhielten, und folgte ihrem Klang.

Bamm!

Ein Pistolenschuss?

Ich erstarrte.

Dann eine Abfolge lauter Explosionen. Ein Schrei. Lachende Menschen.

Eine Frau in einem schwarz-weißen Rüschenkleid rannte schräg vor mir über die Straße. Sie warf einen Blick über die Schulter und lächelte mich an, so dachte ich zumindest. Aber dann tauchte ein junger Mann mit lockigem schwarzem Haar und einer Gitarre auf dem Rücken auf und jagte ihr hinterher.

Ich folgte ihnen bis zu einem Platz.

Hier hatten sich die Bewohner des Viertels versammelt. Lange Tische und Küchenstühle säumten den Platz und zogen sich bis in die benachbarten Straßen. In der Mitte des Platzes türmte sich eine Pyramide aus alten Möbeln, Holzresten und sogar einer alten, abblätternden Tür. Familien saßen an den Tischen, tranken Wein und aßen. Kinder liefen überall herum. Neben der Pyramide hielt ein Mann eine dicke Zigarre an eine Lunte in seiner Faust und warf dann den Knallfrosch hoch in die Luft.

Bamm!

Die Kinder schrien lachend und liefen weg.

Es war ein Sommerfest. Ich hatte von Bekannten in Frankreich davon gehört. Um die Sommersonnenwende war es in ganz Europa üblich, Mittsommerfeuer anzuzünden, eine Tradition, die bis ins Mittelalter oder vielleicht noch früher zurückreichte. Viele dieser Feste hatten ihre Wurzeln in alten heidnischen Ritualen. Ein harmloses, fröhliches Treiben, das angeblich böse Geister verscheuchen sollte. Wer, außer dem schlimmsten Spielverderber, könnte etwas dagegen haben, Holzhaufen zu verbrennen und mit Freunden die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen zu trinken?

Ich musste über einen lokalen Brauch gestolpert sein. Bevor ich es weiter hinterfragen konnte, bot mir die junge Frau in dem schwarz-weißen Rüschenkleid ein Glas Sangria an, das ich annahm, während ihr Verehrer sie wegführte, damit sie ihm beim Gitarrenspiel im Schatten der Pyramide lauschte.

Ich bemerkte die Soldaten, die sich unter die Zivilisten mischten. Es schien, als stammten sie aus diesen Familien. Die Ähnlichkeit zwischen den Leuten war unübersehbar. Damit ließen auch alle Sorgen nach, die ich wegen ziviler Unruhen gehabt hatte. Ich nippte an meiner Sangria, rauchte und wünschte mir, ich hätte einen Skizzenblock und meine Stifte mitgebracht. Jemand bot mir einen Stuhl an und als ich mich setzte, wurde bereits mein Glas nachgefüllt. Das nenne ich Gastfreundschaft!

Während ich darauf wartete, dass die Nacht hereinbrach und die eigentlichen Feierlichkeiten begannen, hörte ich zum ersten Mal den Namen Juan Hugo Balthazarr. Oh, ich hörte ihn nicht in dieser eindeutigen Wortfolge, sondern immer wieder hier und da geflüstert, ein insektenartiges Summen, das die Menge ansteckte. »Balthazarr, Balthazarr, Balthazzzaaarrr …«

Konnte es sich dabei wirklich um den berüchtigtsten lebenden Maler der Welt handeln?

Nein, sagte ich mir. Es musste ein häufiger Name in dieser Gegend sein.

Dennoch fragte ich mich …

Juan Hugo Balthazarr war ein Spanier, geboren in Barcelona. Man munkelte, dass er dort immer noch lebte, in den zerfallenden Ruinen eines von Mauern umgebenen gotischen Klosters. Als ich mich umsah, kam es mir so vor, als könnten einige dieser Leute an den Tischen seine Verwandten sein. Aber nein, das war nicht möglich.

Oder doch?

Balthazarr galt, vor allem seiner eigenen selbstbewussten Meinung nach, als Genie, das dazu bestimmt war, das zwanzigste Jahrhundert vor irrelevanter Kunst zu retten. Er war als unermüdlicher Experimentator bekannt, zeichnete, malte und gestaltete Skulpturen mit unglaublicher Energie und Ausdauer. Oft soll er Tage oder sogar Wochen ohne Schlaf verbracht haben, um eine seiner ungeheuerlich fantastischen Visionen zu vollenden. Kritiker feierten seine Werke entweder als revolutionär oder verachteten sie mit Inbrunst, aber alle waren sich einig, dass seine Kreationen ebenso atemberaubend wie unbeschreiblich waren. Ja, sie hatten etwas von Goya wie auch von jenen mittelalterlichen Malern, die Folterszenarien in der Hölle auf die Leinwand gebannt hatten. Insgesamt blieben Balthazarrs Einflüsse aber schwer festzumachen. Die Holzschnitte und Stiche von Gustave Doré. Die Dadaisten und der Kubismus natürlich. Aktuell war er eine treibende Kraft in der surrealistischen Bewegung. Aber er war immer sein eigener Künstler geblieben. Unvergleichlich, produktiv und dazu ein junger Mann, kaum älter als ich. Wie ich ihn beneidete! Wenn ich das Talent, das ich in mir zu haben glaubte, doch nur ebenso hätte nutzen können, wenn ich es doch nur mit genauso viel Selbstvertrauen, Stil und Gusto in die Welt tragen könnte.

Die Leute drehten ihre Stühle und blickten eine der Straßen hinunter.

Ich tat es ihnen gleich.

Ich hatte nur ein einziges Foto von Balthazarr gesehen, der es trotz seines wachsenden Weltruhmes nicht mochte, fotografiert zu werden. Er war groß und bekannt für seinen athletischen Körperbau und seinen langen, gegabelten Bart. Ich ließ meinen Blick über die Köpfe der Festivalbesucher schweifen, sah aber niemanden, der Balthazarr ähnelte. Was für eine Schande! Wenn es auf der Welt einen Künstler gab, den ich bewunderte, dann war er es.

Es hieß, er male Porträts seiner dunkelsten Träume. Er besaß ein perfektes Gedächtnis für alles, was ihm jemals passiert war, sowohl wach als auch schlafend. Manche behaupteten, er sei ein Seher.

Andere verspotteten ihn als den leibhaftigen Teufel.

In Paris hatte ich einen Mann getroffen, einen englischen Wandmaler, der schwor, dass Balthazarr ihn drei Tage lang in Hypnose gehalten habe. Als er schließlich aus seiner Trance erwacht sei, habe er nackt auf dem Außensims eines Hotelzimmerfensters in Marokko gestanden, mit einem Skorpion in der einen Hand und einem Beutel mit Halbedelsteinen in der anderen. Er habe schließlich den Skorpion fallen lassen und die Edelsteine gegen Geld eingetauscht, um ein Ticket zurück nach London zu kaufen. Als ich ihn fragte, ob er einen Groll gegen den Maler hege, lachte er und sagte, es sei das beste Wochenende seines Lebens gewesen, an das er sich nicht erinnern könne. Dann erzählte er mir, dass Balthazarr ihn immer noch verfolge.

»Inwiefern ›verfolgen‹?«, fragte ich.

»Oh, ich sehe ihn, normalerweise in Reflexionen. In Spiegeln oder Fenstern, auf der Oberfläche eines Teiches. Nie direkt, wohlgemerkt. Er steht immer irgendwo hinter mir. Dieser Bart und diese Augen! Wenn ich mich umdrehe, ist er weg. Ich glaube nicht, dass er mich bedroht. Er leistet mir bloß Gesellschaft. Ich wünschte nur, er würde bleiben.«

Mir war zu diesem Zeitpunkt keine passende Antwort eingefallen.

Der Wandmaler schien ein bisschen verrückt zu sein. Er hatte straffe, ungesund gelbliche Haut und mir fiel damals auf, dass er zwei verschiedene Schuhe trug. Einer war braun, der andere schwarz. Seine Fingernägel waren verwachsen und fleckig vom Genuss roter Pistazien, die er in jeder Tasche seiner Jacke und Hose aufbewahrte. Später hörte ich, dass er ertrunken in der Seine gefunden worden sei. Aber ich weiß nicht, ob das stimmte. Vielleicht war er auch nach England zurückgegangen. Er war ein ziemlich schräger Kerl gewesen. Die Art von Mensch, dem man alles zutrauen würde, was einem jemand über ihn erzählt. Jedenfalls bestand er darauf, dass Balthazarr ein Hypnotiseur sei und dass er, wenn er es wollte, einen Raum voller Menschen unter seine Macht bringen könne, ohne dass sie es wüssten. Ein Teil von mir liebte damals jedes wilde Detail und kümmerte sich nicht darum, ob sie wirklich passiert waren oder nicht.

Der Klang von Trommeln hallte aus einer der engeren Straßen und wurde immer lauter. Die Leute erhoben sich von ihren Stühlen und bildeten auf dem Platz einen Kreis um die Pyramide von Gegenständen, die als Freudenfeuer verbrannt werden sollten. Ich ging mit ihnen. Der Lärm war ohrenbetäubend, als die Trommler den Platz betraten. Sie trugen rustikale Kostüme. Obwohl sie schlicht waren, wirkten sie Furcht einflößend, eine Kombination aus Kapuzengewändern und Masken aus Menschenhaar, gefärbtem rotem Garn und grotesk gemalten Schlieren aus Silber, Kupfer und Gold auf rauem, geschwärztem Holz. Es war überraschend leicht zu glauben, dass es sich bei diesen Trommlern nicht um Menschen, sondern um Kobolde aus der Tiefe der Erde handelte. Die Art von Kreaturen, die am Fuß dieser eisenvergitterten Treppen gelebt haben könnten. Sie müssen ausgestopfte Handschuhe getragen haben, denn ihre Finger sahen unnatürlich krumm und unförmig aus.

Die Menge jubelte und klatschte.

Runde um Runde drehten die Trommler um die Pyramide. Schließlich tauchte eine große Gestalt in einem silbernen Gewand auf, die eine Fackel hielt.

»Balthazarr! Balthazarr! Balthazarr!«, skandierte die Menge.