Art Hunter - Gestohlenes Herz - Alia Cruz - E-Book

Art Hunter - Gestohlenes Herz E-Book

Alia Cruz

4,6

Beschreibung

Sie sind Kunstdiebe und nennen sich die 'Art Hunter'. Doch sie stehen auf der Seite des Gesetzes und stehlen im Auftrag von Museen, um Sicherheitslücken aufzudecken. Das Besondere daran? Jeder von ihnen ist mit einer ganz speziellen Fähigkeit ausgestattet. Kunstdiebe planen die Mona Lisa zu stehlen. Art Hunter Christophe Ledoux wird daher als Wachmann in den Louvre eingeschleust. Dort trifft er auf die Touristenführerin Claire und die Funken sprühen auf Anhieb. Doch ihre Liebe steht unter keinem guten Stern, denn Christophe muss seine wahre Identität vor ihr verbergen und Claire hütet ein tödliches Geheimnis. Als die Mona Lisa gestohlen wird, glaubt Claire, dass Christophe der Dieb sei und ist tief enttäuscht von ihm. Als sie jedoch in tödliche Gefahr geraten muss sie sich entscheiden ob sie ihrem Herzen, oder ihrem Verstand folgen soll.

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Gestohlenes Herz

Art Hunter 1

Alia Cruz

Gestohlenes Herz – Art Hunter 1

Alia Cruz

© 2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864436253

ISBN eBook-mobi: 9783864436260

ISBN eBook-epub: 9783864436277

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Prolog

Hongkong, 7 Jahre zuvor …

Christophe glitt mit der Hand über seinen feuchten Nacken. Das Klima in Hongkong war nicht sein Ding, dennoch hatte er sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. So frei, so gelöst. Euphorie war das richtige Wort dafür. Am liebsten hätte er einen Luftsprung gemacht und wäre aus dem Schatten herausgetreten, um wahllos ein paar Leute zu umarmen. Er lächelte. Ganz schlechte Idee. Aber seinem Boss Théo würde er gleich einen Kuss auf die Wange drücken und dessen Frau auch. Nein, von Théos Frau sollte er lieber die Finger lassen, wenn ihm was an seiner Gesundheit lag. Die beiden waren ein unglaubliches Paar. Er hatte sie beobachtet, während sie sich auf den Raub vorbereiteten. Dieser völlige Einklang, in dem sie zusammenarbeiteten, war etwas ganz Besonderes.

Christophes Hände waren feucht, nicht nur wegen der Aufregung, die sich immer noch nicht gelegt hatte. Das Klima machte ihm mehr zu schaffen, als er erwartet hatte. Eine Dunstglocke hing über der Stadt. Er freute sich auf Paris. Wer hätte gedacht, dass er sich überhaupt noch mal über etwas freuen würde? Sie hatten ihn bei seinem letzten Kunstdiebstahl erwischt. Er wäre fast im Gefängnis gelandet. Aber dann war Théo in Begleitung eines Anwaltes in der Untersuchungshaft erschienen und jetzt durfte er Kunstdiebstähle begehen, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen. Ganz legal. Die Frage war nur, woher hatten sie gewusst, dass er diese außergewöhnliche Fähigkeit besaß? Irgendwann würde Théo es ihm sicher verraten, wenn sie länger gemeinsam in dem Schloss in Chantilly lebten.

Er sah nach oben. Théo seilte sich geschickt an der Hinterseite des Hochhauses ab. Elegant wie eine Raubkatze landete der Hüne mit dem langen, blonden Haar neben ihm und grinste. Was für ein Leben. Wie im Film. Gleich der erste Auftrag hatte ihn nach Hongkong geführt. Allerdings hatte er ihn nicht ausführen dürfen. Er durfte nur hier unten rumstehen. Er war schließlich noch in der Ausbildung und musste sich bewähren. Aber die gesamte Planung stammte von ihm. Stolz erfüllte ihn. Pascale, ein weiteres Mitglied der Art Hunter, und er hatten den Rembrandt gefälscht. Dann hatte Christophe den Raub in den Geschäftsräumen des chinesischen Kunstsammlers geplant und Théo und dessen Frau Vivienne führten ihn gerade durch. Den nächsten Raub, besser gesagt Auftrag, würde er sicher selbst begehen dürfen. Das war so viel besser als das Scheißleben früher.

Théo hielt ihm grinsend die Papprolle entgegen, die er während des Abseilens an seinem Körper befestigt hatte. Da war ein echter Rembrandt drin. Natürlich würden sie den an die Bosse der Sicherheitsfirma übergeben, für die sie arbeiteten. Schade, aber für solche Bilder gab es heutzutage kaum einen Markt mehr. Ihre Aufgabe war es, die Sicherheitsmängel aufzudecken. Ihre Bosse würden diese Mängel dann beheben.

Christophe sah nach oben. Vivienne hätte laut seinem Zeitplan jetzt unten ankommen müssen. Von ihr war nichts zu sehen. Länger konnten sie nicht warten. Wo blieb sie nur? Der Wachmann im Gebäude würde bei seiner Runde gleich in Viviennes Nähe kommen. Am hinteren Teil des Gebäudes war auf dem Boden niemand zu erwarten, aber man konnte nie wissen, ob nicht doch mal jemand vorbeikam. Das Leben pulsierte auf der anderen Seite des riesigen Bürogebäudes. Christophes Euphorie nahm langsam ab.

Théo sah nach oben. „Verdammt, wo bleibt sie?“

Christophe wollte etwas erwidern, aber ihm blieb das Wort im Hals stecken, als ein Schuss durch die Nacht peitschte. Weit entfernt, aber der Knall war von oben gekommen. Aus der zwanzigsten Etage? Aus der Etage, wo Vivienne sich hinter Théo hätte abseilen müssen?

„Scheiße.“

Théo wurde blass. Christophes Magen verkrampfte sich. Euphorie wurde zu Panik. Kopflos drückte Théo Christophe die Papprolle in die Hand und lief um das Gebäude herum. Er starrte seinem Chef kurz hinterher und wachte dann endlich auf. Wer sagte überhaupt, dass es Vivienne war, die in Schwierigkeiten steckte? Wenn Théo jetzt in dieser schwarzen Einbrecherkluft vorn beim Pförtner reinmarschierte, vermasselte er den ganzen sorgfältig geplanten Auftrag.

Christophe hechtete hinterher.

Als er die Eingangshalle erreichte, hatte Théo bereits den Pförtner außer Gefecht gesetzt. Gott, hier waren überall Kameras, gleich würde es von Polizei wimmeln. Christophe wollte sich gar nicht ausmalen, was das für ihn selbst bedeutete. Würde er dann wieder im Knast landen, wenn das hier schief ging? Und warum berief sich Théo nicht auf die Sicherheitsfirma? Als Théo wie wild auf die Knöpfe am Aufzug einhämmerte, hatte Christophe ihn erreicht. Die Aufzugtüren öffneten sich. Die zwanzig wurde so heftig gedrückt, dass er befürchtete, Théo würde sich den Daumen brechen.

„Wir sind nicht bewaffnet, Théo. Wer weiß, was uns da oben erwartet.“ Wo er die Vernunft hernahm, wusste er selbst nicht.

Der Blick aus Théos stahlblauen Augen bohrte sich in seinen. „Vivienne ist mein Leben. Du kannst im Aufzug warten.“

Da fehlte nur noch das Wort Feigling. War er das? Wahrscheinlich ja. Vielleicht war er für diesen Job sowieso nicht geeignet.

Als sich die Aufzugtüren öffneten, stieg er mit aus. Im nächsten Moment wünschte er sich, er wäre dringeblieben. Vivienne lag eigenartig verrenkt gegen eine Wand gelehnt. Ihre schwarze Lederkluft war mit Blut durchtränkt. In ihrem Bauch klaffte ein Riesenloch. Das Erste, was Christophe dachte, war, welche Waffe so einen Schaden anrichten konnte. Der zweite Gedanke war die Bitte, ihre Augen zu schließen. Diese wunderschönen, großen, braunen Augen starrten ins Leere mit einem Entsetzen in ihrem Gesicht, dass es einem durch Mark und Bein ging. All diese Gedanken konnten nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, denn sie zerstoben, als Théo einen animalischen Schrei ausstieß. Er stürzte zu seiner Frau, riss sie in seine Arme und schrie.

Ein Lachen ertönte vom Ende des Ganges. Zwei maskierte Männer schritten langsam auf sie zu. Théo richtete sich auf und wollte sich in blinder Wut auf die Typen stürzen.

Jemand schrie: „Nein!“

Erst ein paar Sekunden später registrierte Christophe, dass er es selbst war. Er wartete auf den Schuss, denn die beiden Kerle waren bewaffnet, aber sie ließen Théo kommen. Das Ganze hatte was Persönliches, als hätten sie es auf Théo und Vivienne abgesehen. Aber wie konnte das sein?

Ihn beachtete niemand. Théo war über zwei Meter groß, aber die anderen beiden waren zu zweit. Die Waffen schienen sie nicht benutzen zu wollen, aber sie hatten Schlagringe und einen Baseballschläger. Es war also wirklich etwas Persönliches. Sie wollten Théo totprügeln.

Christophe näherte sich Vivienne. Théo hielt sich ganz gut, er war ein guter Kämpfer, aber zwei waren zu viel für ihn. Während er versuchte, dem etwas größeren Typen einen Kinnhaken zu verpassen, traf der andere Théo an der Hüfte. Immer weiter drosch er auf Théos linkes Bein ein. Christophe hörte etwas brechen. Théo versuchte, weiterzukämpfen, doch er ging zu Boden. Das Bein trug ihn nicht mehr. Und dann tat Christophe etwas, was er nie hatte tun wollen. Er stürzte sich in den Kampf. Das ließ die beiden Schläger zu ihren Waffen greifen. Alles ging furchtbar schnell. Ehe Christophe sich versah, lag er mit einem der Angreifer auf dem Boden. Ein Schuss löste sich. Zum Glück hatte er es geschafft, das Handgelenk seines Angreifers auf dessen eigenen Bauch zu richten. Nummer zwei stürzte sich mit einem Messer von hinten auf ihn. Im letzten Moment griff er nach der Waffe des toten Angreifers und schaffte es, sie abzufeuern.

Es dauerte eine Weile, ehe Christophe die Welt um sich herum wieder richtig wahrnahm. Théo schien die Schmerzen nicht zu bemerken, aber wenn Christophe sich den Schaden ansah, mussten sie fürchterlich sein. Sein Boss musste ins Krankenhaus. Er wollte seine Hände auf Théos zerstörtes Bein legen und einen Teil der Schmerzen übernehmen. Zu irgendwas musste seine Gabe doch gut sein, aber Théo wehrte ihn ab.

„Nicht. Ich muss zu Vivienne.“

Er schleppte sich zurück zu seiner Frau. Christophe starrte auf die beiden toten Männer. Die Waffe, die er dem sterbenden Typen abgenommen hatte, lag schwer in seiner Hand. Langsam legte er sie auf den Boden. Der andere hatte jetzt auch ein Loch im Bauch. So wie Vivienne, und er war genauso mausetot.

Er hatte zwei Menschen getötet. Ein irres Lachen wollte seine Kehle hinaufsteigen. Aber er riss sich zusammen, nahm die Skimasken der beiden ab. Ob Théo sie schon einmal gesehen hatte? Aber das würden sie alles hinterher klären müssen. Er ging zu seinem Boss, aus dessen Händen ein kleines Licht leuchtete. Das war also die Fähigkeit von Théo. Er konnte heilen. Aber das würde nicht funktionieren. Sie war tot. Heilen konnte man nur die Lebenden. Da Théo Christophe nicht weiter beachtete, legte er nun seinerseits die Hände an Théos Bein. Mein Gott! Ihm wurde schwarz vor Augen. Wie konnte Théo nur so seelenruhig dasitzen? Der Schmerz musste ihn umbringen. Er saugte immer mehr von dem Schmerz auf und registrierte entfernt, dass sich die Aufzugtüren öffneten. Ob das die Polizei war? Er konnte nicht mal mehr den Kopf drehen. Übelkeit und Schmerz überwältigten ihn, und Christophe wurde ohnmächtig.

1

Chantilly, am heutigen Tag

Christophe legte den Pinsel beiseite und wischte sich mit der Hand über sein Gesicht. Dann sah er, dass seine Hände voll mit grüner Farbe waren. Na toll, dann hatte er jetzt Ölfarbe im Gesicht. Passte hervorragend zum Fußboden. Den hatte er auch schon vollgekleckert. Das Chaos musste er dringend beseitigen, er hatte keine Lust, dass der Butler wieder eine Beschwerde bei Théo hinterließ. Das teure Parkett im Schloss durfte schließlich nicht unter seiner Malerei leiden.

Er betrachtete sein Werk. Zufrieden war er nicht. Landschaftsmalerei lag ihm nicht, aber er hatte mal was Neues ausprobieren wollen. Passte auch besser zu seinem Image als Aktmalerei. Die hätte besser zu seinem Kumpel und Kollegen Jules gepasst. Aber der malte keine Frauen, sondern verführte sie lieber.

Es klopfte. „Monsieur Christophe?“

Shit. Der Butler. „Ich bin beschäftigt.“ Er suchte nach einem Lappen, der noch nicht voller Farbe war.

Die dünne Stimme des alten Herrn erklang wieder vor der Tür. „Monsieur Théo wünscht, Sie in seinem Büro zu sprechen.“

Gut, der Typ kam nicht rein. „Ich bin in ein paar Minuten da.“ Er hörte die sich entfernenden, schlurfenden Schritte. Christophe verschob die Reinigung des Fußbodens auf später und ging ins Badezimmer, um sich zu säubern. Théo ließ man nicht warten. Irgendwie war es schon lustig, sie waren alle gestandene Männer, aber der Butler und vor allem Théo, hatten sie im Griff. Vielleicht sollte er um ein eigenes Atelier bitten. Genug freie Zimmer gab es in Schloss in Chantilly. Die bescheidene Herberge hatte um die zweihundert Räume. Christophe hatte immer noch nicht alle gesehen, obwohl er schon seit sieben Jahren hier residierte. Damals war er siebenundzwanzig gewesen und der riesige Sandsteinkasten mitten in der Picardie, nicht weit von Paris entfernt, hatte ihn ordentlich beeindruckt.

Er brauchte einige Minuten, bis er alle Farbe von Gesicht und Händen abgewaschen hatte. Speiseöl war das beste Mittel. Zeit zum umziehen blieb nicht mehr. Also machte er sich auf den Weg ins Erdgeschoss.

Die Tür zu Théos Büro war geöffnet. Der Rest der Art Hunter hatte sich ebenfalls im Raum versammelt. Pascale, wie immer in Anzug und perfekt gestylt, saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem der antiken Sessel. Dahinter stand sein Bruder Maurice, der das Gegenteil von ihm war. Nicht nur seine Narben und Tätowierungen unterschieden ihn von seinem Bruder. Auch diesen grimmigen Gesichtsausdruck, sowas wie Maurices Markenzeichen, würde Pascale wohl nicht hinbekommen. Clement lehnte wie immer ein wenig abseits an der Wand und beachtete die anderen nicht weiter. Jules, mit dreißig Jahren der Jüngste unter ihnen, hatte sich auf den großen, antiken Holztisch gesetzt, was ihm einen bösen Blick von Théo einbrachte. Wie immer störte es Jules nicht. Christophe musste grinsen. Jules hatte vergessen, erwachsen zu werden, aber warum auch nicht?

Théo hatte sich hinter dem Schreibtisch postiert. „Na endlich, Christophe!“

Christophe ließ sich nicht von Théos herrischem Tonfall beirren. Er kannte seinen Boss zu lange, um nicht zu wissen, dass da doch irgendwo ein netter Mensch in ihm steckte. In letzter Zeit tauchte dieser Mensch zwar nur noch selten auf, aber nach allem, was Théo erlebt hatte, war das wohl kein Wunder.

„Wir haben einen neuen Auftrag.“

„Und warum müssen wir alle antanzen?“ Jules wirkte ungeduldig.

Wahrscheinlich hatte er wieder eine Verabredung. Aber es war tatsächlich ungewöhnlich, dass Théo alle Art Hunter zusammentrommelte. Normalerweise lief das Prozedere folgendermaßen ab: Die Sicherheitsfirma, für die sie arbeiteten, suchte einen von ihnen aus. Théo informierte denjenigen, half bei der Planung eines Kunstdiebstahls, und dann war der Art Hunter auf sich gestellt. Christophe konnte die Exponate schon gar nicht mehr zählen, die er in verschiedenen Museen oder Privatsammlungen gestohlen hatte, um Sicherheitsmängel aufzudecken. Nach der Rückgabe des Exponates und dem Bericht, bekamen dann ihre Oberbosse den Auftrag, diese Sicherheitslücken zu schließen. Alle wurden großzügig entlohnt, und solange es keinen Auftrag gab, konnte jeder der Art Hunter hier im Schloss ein sorgenfreies Leben genießen.

„Ihr müsst alle antanzen, weil ich es sage.“ Théos Tonfall implizierte mal wieder, dass man ihm keine Fragen stellte und ihm auch nicht widersprach. „Unser nächster Auftrag ist anders. Es wird nichts gestohlen.“

Christophe sah, dass nicht nur er selbst die Stirn runzelte. Jeder im Raum hatte nichts anderes gelernt, als Diebstähle zu begehen. Sie waren Kunstdiebe, auch wenn sie auf der Seite des Gesetzes standen. Jetzt wurde Théo nicht mehr unterbrochen. Er hatte die volle Aufmerksamkeit von allen.

„Es wird ein Undercover-Job. Einer von euch wird sich als Mitarbeiter in den Louvre begeben, und zwar als einer der Wachleute. Es gibt Hinweise, dass die Mona Lisa gestohlen werden soll. Dieses Mal wird nichts gestohlen, sondern einer von euch wird das Verbrechen verhindern.“

Théo hinkte um seinen Schreibtisch herum. Langsam schritt er durch den Raum. Blieb vor jedem von ihnen kurz stehen. Clement wäre vielleicht am besten geeignet für diesen Job. Er zog sich nicht nur an wie ein Soldat, er benahm sich auch so.

„Unsere Bosse von der Sicherheitsfirma haben niemanden bestimmt. Es liegt an mir, zu wählen, wem von euch ich diesen Job am ehesten zutraue.“ Théo sah jedem kurz in die Augen.

Christophe fragte sich, auf wen die Wahl fallen würde. Er hoffte nicht auf ihn selbst. Undercover? Zwischen Wachleuten im Louvre? Spionieren? Das war nicht sein Ding. Er war ein Einzelgänger. Nicht so sehr wie Maurice oder Clement, aber wenn es um seine Arbeit ging, wollte er nicht im Team arbeiten, geschweige denn, sich unter Leute mischen und sich mit ihnen arrangieren müssen. In diesem Leben konnte man sich nur auf sich selbst verlassen.

Théo ging wieder zu seinem Schreibtisch. „Christophe. Es ist dein Job. Der Rest kann gehen.“

Jules ließ sich vom Tisch gleiten. „Das hast du doch vorher gewusst, und dafür lässt du uns hier antanzen.“

Théo grinste schief. „Nein, ich hatte dich in der engeren Auswahl.“

Mehr sagte er nicht dazu. Er wartete, bis alle anderen den Raum verlassen hatten, dann winkte er Christophe heran.

„Sag mal, warum ich? Hättest du nicht einen anderen nehmen können?“

Théo überlegte lange, bis er antwortete. „Weil du am anpassungsfähigsten bist. Die Leute werden dich mögen. Du musst das Vertrauen der Mitarbeiter gewinnen. Jules könnte das auch. Aber Prince Charming ist mir zu impulsiv. Pascale wäre vielleicht auch noch in Frage gekommen, aber er ist manchmal ein ziemlicher Klugscheißer, das kommt auch nicht gut. Und Clement und Maurice?“ Théo schnaubte. „Sie sind begnadete Kunstdiebe, aber nicht besonders gesellig und vertrauenerweckend.“

„Also komme nur ich in Frage.“

„Was hast du gegen den Job? Ist doch mal was Anderes.“

„Ich bin Kunstdieb und kein Agent.“

„Du bist viel mehr als das.“

Théos hellblaue Augen hatten etwas Durchdringendes. Christophe begann, sich unwohl zu fühlen.

„Warum sonst hätte dir das Schicksal ausgerechnet diese Fähigkeit zuspielen sollen?“

Christophe wusste, dass Théo damit nicht auf sein – in seinen eigenen Augen mäßiges – Talent zu malen anspielte, auch wenn sein Boss die grünen Flecken auf seinem Hemd musterte. Jeder Art Hunter hatte ein besonderes Talent. Deswegen lebten sie zusammen in diesem Schloss, nicht nur weil sie begnadete Kunstdiebe waren. Doch alle sahen ihre Gabe eher als Fluch an. Dieses spezielle Talent durfte nie bei Aufträgen benutzt werden. Das war Bedingung. Würde die Regierung, oder andere Behörden, Wind von ihren übernatürlichen Fähigkeiten bekommen, würden sie als Versuchskaninchen in irgendwelchen Laboren enden.

„Vielleicht hast du recht und ich bin der Richtige für den Job. Wann soll es losgehen?“

„Übermorgen ist dein erster Arbeitstag.“ Théo holte eine Akte aus einer Schublade. „Hier sind Dossiers über deine neuen Kollegen im Louvre. Brauchst du noch Infos zum Louvre an sich?“

„Nein, den kenne ich besser als dieses Schloss.“

„Ich weiß.“ Damit war für Théo das Gespräch beendet.

Christophe stand auf. Zeit, den Parkettboden von der grünen Farbe zu befreien.

*

Claire saß zusammengekrümmt auf der Couch. Irgendwann würden diese Schmerzen sie umbringen. Sie konnte kaum noch atmen und presste die Arme gegen den Bauch. Sie krümmte sich weiter nach vorn und glaubte, so verhindern zu können, dass die Krämpfe in den Rücken ausstrahlten. In letzter Zeit kamen die Anfälle wieder öfter. Zum Glück hatten sie sie noch nicht bei der Arbeit beeinträchtigt. Claire rang nach Atem. Beim letzten Mal war sie sogar ohnmächtig geworden.

Sie rutschte von der Couch und krümmte sich auf dem Boden zusammen. Falls sie das Bewusstsein verlor, konnte sie wenigstens nicht von der Couch fallen. Sie wartete und schaffte es, flach zu atmen. Die Schmerzen ließen nicht nach, es kam auch keine Ohnmacht. Bildete sie es sich ein, oder wurden die Attacken immer länger? Sie hatte nicht die Kraft, auf die Uhr zu sehen, also schloss sie die Augen und wartete.

Wie lange sie auf dem Fußboden lag, konnte sie nicht sagen, aber irgendwann wurde der Schmerz erträglicher und schien ihren Körper zu verlassen. Jetzt begann das Zittern. Eben war ihr noch furchtbar heiß gewesen, jetzt war ihr kalt. Eiskalt. Mühsam erhob sie sich und schwankte ins Badezimmer. Der heiße Wasserstrahl unter der Dusche tat unendlich gut. Sie blieb einige Minuten stehen und genoss es, wieder schmerzfrei zu sein und aufrecht stehen zu können. Sobald sie dazu wieder in der Lage war, seifte sie sich ein und wusch sich die Haare. Was war das bloß? Ihre Blutwerte waren in Ordnung. Das waren sie immer gewesen. Sie hatte als Kind mehr als genug Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Claire kannte diese sorgenvollen ärztlichen Blicke zu Genüge. Alle Blicke sagten nur eins: Geh zum Psychiater! Doch das kam nicht infrage. Sie war nicht verrückt. Die Schmerzen waren Realität.

Sie griff nach ihrem Handtuch und rubbelte sich vorsichtig ab. Nach so einem Anfall war ihre Haut äußerst sensibel. Es war keine Option mehr, ärztliche Hilfe zu suchen. Wer sie nicht zum Psychiater schicken wollte, nannte sie eine Simulantin. Claire kuschelte sich in ihren flauschigen Bademantel und ging zum Fenster. Es war früher Nachmittag und die Sonne schien immer noch. Der Frühling in Paris war schön. Ihrer Meinung nach zu schön. Seit drei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Sie liebte Regen. In London hatte es im Frühling immer geregnet. Das war aber auch das Einzige, was sie an England und London vermisste. Sie hatte so viele schöne Regenschirme und Regencapes im Laufe ihres Lebens gesammelt, die sie in Paris nicht wirklich benötigte. Sie versank in der wunderschönen Aussicht. Es war tausendmal besser, in Paris zu leben als in London. Regen hin oder her. Sie hatte von ihrem Appartement in einer kleinen Straße im Viertel Montmartre beste Sicht auf die Sacré Coeur. Seit zehn Jahren lebte sie in Paris, führte Touristen herum und hatte das Gefühl, immer noch nicht alles von dieser wundervollen Stadt gesehen und genossen zu haben.

Es klopfte. Sie erwartete niemanden. Neugierig öffnete sie.

„Ach, du bist es. Komm rein.“

Stephan trat zögernd über die Schwelle und drückte ihr rechts und links einen Kuss auf die Wange. „Störe ich?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Sie freute sich, ihn zu sehen. Stephan war ihr bester Freund, aber er war zurückhaltend und hatte lange gebraucht, ehe er begriffen hatte, dass er wirklich nicht störte, wenn er unangemeldet bei ihr auftauchte. Am Anfang hatte er immer brav vorher angerufen. Claire mochte es, wenn man sie einfach überfiel und zum Beispiel mit auf eine Party schleppte. „Liegt irgendwas an, Stephan?“

„Du bist schon wieder in Partylaune?“

Ja, das war sie. Immer nach so einem Anfall, denn dann würde es bis zum nächsten Mal ein wenig dauern, und sie konnte unbesorgt Spaß haben. Außerdem fühlte sie sich nach der Dusche frisch und ausgeruht. „Immer, du kennst mich doch.“

Er lachte. „Ich dachte, die Engländer seien prüde, zurückhaltend und wüssten nicht, zu leben.“

„Aber seit du mich kennst, musstest du deine Meinung revidieren?“

Er nickte.

„Vielleicht bin ich keine typische Engländerin.“

Er sah aus, als müsse er nachdenken. „Du passt sehr gut nach Paris.“

Sie strahlte ihn an. „Also? Wo geht es hin?“

„Ein Freund von mir gibt eine Party. Er ist homosexuell und es werden fast nur Schwule da sein.“

„Und du suchst eine Begleitung, damit dich niemand anmacht?“

Er lachte. Sie mochte sein Lachen. Seine strubbeligen, braunen Haare, die braunen Augen. Sie mochte fast alles an ihm. Aber sie mochte es eben nur. Von ihrer Seite war der Funke nie übergesprungen. Bei ihm war sie sich aber nicht so sicher.

„So hatte ich mir das gedacht. Wir spielen ein verliebtes Paar.“

„Das sollte klappen. Beschützen kann ich dich aber nicht. Leibwächter sind gewöhnlich größer als eine laufende Parkuhr.“

„Kleine Frauen sind mir die liebsten.“

Sie grinste. „Dir bleibt ja auch nichts anderes übrig.“ Sie spielte darauf an, dass er selbst nicht größer als einsneunundsechzig war. Damit überragte er sie mit ihren einssechzig zwar um einen halben Kopf, aber für einen Mann war das allerdings wirklich klein. Selbst in Frankreich.

Er verzog das Gesicht und versuchte, den Beleidigten zu spielen. Was ihm nicht gelang. „Als Privatdetektiv brauche ich auch keinen Beschützer. Zieh dich um.“

Lachend verschwand sie im Schlafzimmer. Das Leben war gar nicht so schlecht. Die Vergangenheit in England lag lange hinter ihr. Sie hatte sich in Paris ein schönes, neues Leben aufgebaut. Diese blöden Schmerzattacken würden sie schon nicht umbringen. Morgen hatte sie frei und konnte heute die Party genießen, und übermorgen würde sie wieder für einige Wochen die Führungen durch den Louvre übernehmen. Auch darauf freute sie sich.

2

Seine neuen Kollegen hatten sich ihm fast alle vorgestellt. Sie ahnten ja nicht, dass er sie schon kannte. Christophe hatte sich in den letzten beiden Tagen ausführlich mit jedem von ihnen beschäftigt.

Keiner hatte sich etwas zu Schulden kommen lassen. Die Tagschicht bestand aus sechs Wachleuten und die Nachtschicht aus vier Männern. Er war jetzt der sechste Mann in der Tagesschicht. Diese zehn Männer waren allerdings nur für die Etage mit der Mona Lisa zuständig. Der Louvre verfügte über Untergeschoss, Erdgeschoss und zwei Etagen. Die Mona Lisa war in der ersten Etage untergebracht, im Sektor für italienische Malerei. Genaugenommen in einem Raum in der Mitte der Etage, dem Salle des États. Christophe hatte „La Joconde“ schon so viele Male in seinem Leben angestarrt. Bis heute versuchte man herauszufinden, wen Leonardo da Vinci darstellen wollte. Das Porträt hatte er in den Jahren 1510 bis 1515 in Öl auf Holz gemalt, und vielleicht war es eine Geliebte, eine Nachbarin oder einfach nur eine flüchtige Bekannte Leonardos. Wahrscheinlich würde es nie jemand herausfinden.

Aber nicht nur die Legenden, die sich um dieses Bild rankten, waren faszinierend. Auch die Tatsache, dass es bereits ein Mal gestohlen worden war. In der Nacht zum 23. August 1911 war es passiert. Vincenzo Peruggia hatte sich im Louvre einschließen lassen. Der Spiegelmacher hatte im Museum gearbeitet und kannte sich in der Grande Galerie mit ihren vielen Spiegeln und im Salon Carré gut aus. Er nahm das Gemälde einfach von seinem Haken. Christophe lächelte in sich hinein. Das waren noch Zeiten für Kunstdiebe gewesen! Da hatte es noch keinen Alarm gegeben, keine Verkabelungen, Sicherheitskameras, geschweige denn Bewegungssensoren und was es sonst noch alles auf dem Markt gab. 1911 hatten weite Teile des Louvres noch nicht einmal elektrisches Licht gehabt. Peruggia hatte die Mona Lisa mit in eine Absteige genommen und in einem Koffer mit doppeltem Boden versteckt. Einige Zeit ruhte sie dort, bis er auf die Anzeige eines italienischen Kunsthändlers reagierte. Peruggia musste ziemlich naiv gewesen sein. Der Kunsthändler war seriös und nahm das Bild an sich. Es wurde kurz in Florenz, Rom und Mailand ausgestellt und dann nach Paris zurückgebracht. Dem Dieb wurde der Prozess gemacht. Es dauerte Jahre, bis man die Sicherheitsvorkehrungen verbessern konnte, und noch heute waren sie nicht perfekt. Das wusste Christophe nur zu gut.

Er hatte noch einmal mit Théo geredet, denn Christophe war der Ansicht, dass sie vielleicht noch jemanden für die Nachtschicht einschleusen sollten. Aber Théo hatte diesen Vorschlag rigoros abgelehnt. Von wem der Hinweis gekommen war, dass überhaupt jemand vorhatte, das womöglich berühmteste Gemälde der Welt zu stehlen, konnte Théo ihm nicht sagen. Aber Christophe vertraute Théo. Die Bosse schienen es ihm nicht gesagt zu haben. Mit Sicherheit sollten aber einer oder mehrere Leute der Tagesschicht zu den potenziellen Dieben gehören. Für Christophes Geschmack ziemlich vage, was man ihm da an Informationen gegeben hatte.

Er drehte seine Runde und hörte sich ein paar Erklärungen über die Abläufe im Museum an. Er kannte sie in- und auswendig. Er hatte selbst oft genug überlegt, wie er es anstellen könnte, die Mona Lisa mitgehen zu lassen, und in seiner Freizeit genauestens recherchiert. Schade, dass er nicht den Auftrag hatte, die lächelnde Frau zu stehlen, das hätte er in den nächsten Tagen ohne weiteres erledigen können. Die Geschäftsführung des Museums verließ sich auf ihre veraltete Sicherheitstechnik. Dieser Undercover-Auftrag wäre sicher nicht in ein paar Tagen erledigt. Wenn er Pech hatte, zog sich dieser Auftrag über Wochen hin. Na toll. Es war nicht gerade sein Traum, jeden Tag hier anzutanzen und normalen Arbeitszeiten nachzugehen.

Adolphe, der Leiter der Tagesschicht, sah ihn von der Seite an. „Du scheinst dich hier ja bestens auszukennen.“

„Ich bin gern gut vorbereitet in meinem Job.“

Adolphe nickte zufrieden. „Unsere Arbeit ist von größter Wichtigkeit. Für das Museum, für die Kunstliebhaber, für eine ganze Nation.“ Die Brust des kleinen, alten Mannes neben ihm schwoll vor Stolz an. „Komm, ich zeige dir unsere Schaltzentrale und deinen Spind.“

Christophe folgte ihm. Auf dem Gang wurden sie von einer größeren Touristengruppe aufgehalten, die sie vorbeilassen mussten. Eine Frau mit kurzen blonden Haaren und braun-grünen Augen führte die Gruppe. Für einen Moment sahen sie sich an und es schien, als stockte sie und liefe Gefahr, ihren Text zu vergessen. Dieser Moment dauerte nur eine Sekunde. Dann richtete sie den Blick auf Adolphe und nickte ihm kurz zu.

Christophe musste sich zwingen, sich wieder in Bewegung zu setzen, als die Gruppe an ihnen vorbeigegangen war.

„Das war Claire. Hübsches Ding, nicht wahr?“ Adolphe grinste, wurde aber sofort wieder ernst. „Finger weg von Besuchern und Leuten wie ihr. Sie kommt regelmäßig her. Claire arbeitet für einen englischen Reiseveranstalter und führt Touristen durch Paris.“

Verdammt, er hatte nicht vorgehabt, die Frau so offensichtlich anzustarren. Sein Starren war ihm nicht bewusst gewesen. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, ihr schon einmal begegnet zu sein. Was für ein Blödsinn.

„Keine Sorge, mein Job hat immer Vorrang.“ Das war die reine Wahrheit, auch wenn er hier den Wachmann schauspielerte. Ob er nun den Agenten mimte, oder als Auftragsdieb für die Sicherheitsfirma arbeitete. Nichts und niemand konnten ihn von seiner Arbeit ablenken.

Sie erreichten den Raum für die Wachleute. Halb Pausenraum mit Kühlschrank, Kaffeemaschine und Sitzgelegenheiten, und halb Überwachungsraum mit Monitoren, war er recht groß. Dahinter ging es in einen kleinen Flur von wo aus drei weitere Türen abgingen. Eine führte zur Toilette, die andere zu einem kleinen Raum, in dem die Spinde untergebracht waren. Die letzte Tür war der Notausgang. An den Monitoren saß Hector. Er war ebenfalls etwas älter und sah Adolphe zum Verwechseln ähnlich. Die beiden waren laut Christophes Akte Zwillinge. Lothaire drehte gerade seine Runde. Oscar stand auf seinem Posten in der Nähe der Mona Lisa und Malo lümmelte auf der Couch herum mit einem Kaffee in der Hand.

„Darf ich euch Christophe vorstellen? Er ist der Ersatz für Tristan.“

Tristan war in die Nachtschicht versetzt worden, weil diese von drei auf vier Leute aufgestockt worden war.

Hector brummelte etwas vor sich hin, hielt seinen Blick aber weiter auf die Monitore gerichtet.

Malo grinste. „Schön, wieder einen Mann mehr an Bord zu haben.“

Malo war der Jüngste von ihnen. Nicht älter als zwanzig, und sah aus wie ein Bodybuilder par excellence. Sein Gesicht war gedrungen mit einer dicken Nase und sein Stiernacken trat deutlich aus dem Ausschnitt seines Hemdes hervor.

„Ich habe mich jetzt um den Papierkram zu kümmern.“ Adolphe ging auf den kleinen Schreibtisch in der Ecke des Raumes zu.

Soweit Christophe informiert war, saßen die Zwillinge im Büro und die restlichen vier Wachleute liefen ihre Runden, wobei einer von ihnen einen Standplatz bei der Mona Lisa hatte. Dieser Jemand war Oscar. Als Erstes musste Christophe herausfinden, ob Oscar auf eigenen Wunsch hin den Sonderdienst für die Mona Lisa verrichtete. Das würde ihn dann wohl zum Verdächtigen Nummer eins machen. Malo war erst vor Kurzem zur Truppe gestoßen. Auf Empfehlung? Oder planten die Zwillinge einen Raub, nachdem sie schon seit zwanzig Jahren hier arbeiteten? Lothaire war der Älteste und bei der Beförderung zum Schichtleiter übergangen worden. Vielleicht war ein Raub seine Antwort darauf? Jede Menge Fragen, die Christophe zu klären hatte. Aber jetzt musste er sich erst einmal auf seine erste Runde begeben.

*

Claire fiel es schwer, sich zu konzentrieren, aber ihre Texte hätte sie auch im Schlaf herunterbeten können.

Also sollte es niemandem auffallen, dass ihr die blauen Augen des Mannes nicht aus dem Kopf gingen. So eine perfekte Augenfarbe hatte sie sich immer gewünscht. Nicht so ein verwaschenes braun-grün. Das war nichts Halbes und nichts Ganzes. Der Mann schien neu anzufangen, sonst hätte sich Adolphe nicht die Mühe gemacht, ihn persönlich herumzuführen. Dann würde sie ihn vielleicht öfter sehen. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer bei dem Gedanken. Wie albern war das denn? Sie hatte ihn doch nur ein paar Sekunden gesehen. Eigentlich hatte sie nur die Augen wahrgenommen. Der Rest von ihm war irgendwie verschwommen. Groß war er, das war ihr auch noch aufgefallen. Aber wer war das nicht? Sie war schließlich nur einssechzig, da war so gut wie jeder größer als sie.

Ihre Runde auf dieser Etage war beendet. Gesehen hatte sie ihn nicht noch einmal, aber ihre Touristengruppe nahm sie sehr in Beschlag. Die Leute hatten tausend Fragen. Jetzt fehlte noch die zweite Etage. Dort waren die französische, deutsche, flämische und holländische Malerei, sowie die Zeichnungen aus diesen Ländern untergebracht. Nach der Mona Lisa dauerte es meist ein klein wenig, bis sich die Leute wieder für die anderen Exponate begeistern konnten. Aber Claire hatte sich schon ein paar spannende Geschichten zurechtgelegt. Sie würde sie schon für Rubens, Rembrandt und Co. begeistern. Fast bedauerte sie es, die Etage verlassen zu müssen. Aber sie konnte ja nach Feierabend noch einmal herkommen. Warum sollte sie nicht allein die Mona Lisa in Ruhe bewundern? Das hatte natürlich nichts mit dem neuen Wachmann mit den blauen Augen zu tun. Natürlich nicht. Ganz und gar nicht.

*

Er lehnte sich zurück und rückte seine Krawatte ein Stück nach links. Sie hatte exakt in der Mitte zu sitzen.

Wie alles an seinen Platz gehörte. In diesem Büro, in seinen Häusern, in seinem Leben, in seiner Welt. Für Abnormes, für Unregelmäßigkeiten war kein Platz. So etwas würde er nie dulden. Das war seine Mission, und er würde nicht eher ruhen, bis er diese verrückte Welt ein bisschen besser, ein bisschen ordentlicher gemacht hatte. Die Akte lag exakt in der Mitte des Schreibtisches vor ihm. Er hatte einen langen Blick hineingeworfen. Alles lief nach Plan und er war davon überzeugt, dass er den Richtigen ausgewählt hatte. Die direkte Konfrontation vor sieben Jahren in Hongkong war schiefgelaufen. Er hatte danach weiter machen wollen, aber die Geschäfte waren den Bach hinuntergegangen. Er hatte sich an der Börse verspekuliert und sich erst sieben Jahre später von diesem Tiefschlag erholt. Erst jetzt war er finanziell wieder in der Lage, den Kampf gegen das Böse, gegen das Abnorme, aufzunehmen. Dieses Mal würde er alles zerstören. Und dieser Typ, der ihm aus dem Foto in der Akte entgegen starrte, würde der Erste sein. Laut Akte hieß er Christophe Ledoux. Die Akte, die ihm sein Gegenüber ausgehändigt hatte, gab nicht allzu viel her. Aber das musste sie auch nicht. Denn er wusste schließlich alles über jeden Art Hunter. Und jeder einzelne musste sterben. Damals hatte er gedacht, Théo und diese widerliche Frau zu töten, löse das Problem. Wie hatte er ahnen können, dass es noch mehr von diesen kranken Typen gab? Aber er wurde immer besser im Aufspüren von Abnormitäten. Wenn alles nach Plan lief, würde er nicht nur diesem Christophe Ledoux den Garaus machen, sondern noch einem weiteren Menschen, der keine Daseinsberechtigung hatte auf dieser Welt.

Sein Gegenüber sah ihn selbstgefällig an. „Unser Mann hat mit ihm auf jeden Fall den Richtigen ausgewählt.“

Er nickte nur. Er kannte Théo, er hatte gewusst, dass die Wahl auf Christophe fallen würde, dennoch hatte er selbst darum gebeten, ihn auszuwählen. Nur zur Sicherheit. Das würde Théo fertig machen. Christophe war vielleicht der einzige Freund, den Théo auf dieser Welt noch besaß.

Er musste sich zusammenreißen, nicht zu zufrieden auszusehen. Er hatte Théo Vivienne genommen, und seine Fähigkeit setzte Théo auch nicht mehr ein. Jetzt würde er ihm auch noch den besten Freund nehmen. Théo würde leiden. Immer wieder, bis er selbst an der Reihe war.

„Ich verlasse mich voll und ganz darauf, dass dieser Mann die Mona Lisa rettet.“ Es machte ihm Freude, den Kunstretter zu spielen.

Der Anzugträger auf dem Besucherstuhl beugte sich ein wenig vor. „Dennoch wüsste ich immer noch gern, woher Sie Ihre Informationen haben. Mein Untergebener und Koordinator Théo Leroy wäre über mehr Informationen dankbar.“

Er lehnte sich zurück. Ein gewinnendes Lächeln war jetzt angebracht. Er wusste, dass seine Körpersprache perfekt war. „Sie verstehen, dass ich Ihnen meinen Informanten nicht preisgeben kann. Ich bin ein bedeutender Geschäftsmann, Sie sollten wissen, dass Sie mir vertrauen können, Monsieur Sorel. Ich denke, wir sollten es dabei belassen.“

„Dr. Faustus, ich bitte Sie inständig …“

Er hob die Hand. „Ich kann nicht. Und ich habe jetzt noch einen Termin. Als führendes Sicherheitsunternehmen in Europa, den USA und Asien, werden Sie wohl in der Lage sein, sich um diese Sache zu kümmern.“

„Natürlich.“

„Die Unkosten übernehme ich fürs Erste, Rechnung per E-Mail an mich genügt. Ich werde mich dann hinterher mit den französischen Behörden einigen.“

„Das ist aber äußerst ungewöhnlich.“

Dr. Faustus musterte den Mann. Er musste Mitte vierzig sein, wirkte aber älter. Im Grunde war der Typ nicht von Interesse, aber nur durch diesen Gerald Sorel kam er an die Art Hunter. „Und großzügig, nicht wahr?“ Er stand auf. „Meine Sekretärin wird Sie hinausbegleiten.“

„Nicht nötig.“

Er schüttelte ihm nicht die Hand. Diese Geste war ihm zuwider. Man musste sich nicht von fremden Leuten betatschen lassen. Ein Nicken sollte genügen.

Als er allein war, schaute er noch einmal auf das Foto von Christophe Ledoux. Was die Akte verschwiegen hatte, war die Tatsache, dass der Mann ein wandelnder Schmerzabsorbator war. Was für ein Fluch diese Gabe sein musste. Er schaute genauer hin. Die kurzen schwarzen Haare bildeten einen außergewöhnlichen Kontrast zu den tiefblauen Augen. Er nahm das Foto mit spitzen Fingern aus der Akte und betrachtete die Augen genauer. Da schien so viel Schmerz in ihnen zu sein, obwohl der Mann ein Lächeln andeutete. Tja, dann wäre der Tod von Christophe Ledoux vielleicht sogar dessen Rettung.

*

Claire ging nach Hause, um sich zum zweiten Mal an diesem Tag zu duschen und umzuziehen. Wieso eigentlich? Sie hatte weder geschwitzt noch sah ihre Kleidung in irgendeiner Weise ramponiert aus. Wahrscheinlich war der neue Wachmann auch gar nicht mehr da. Wer sagte denn, dass er heute schon arbeitete? Natürlich betrieb sie diesen Aufwand nicht für ihn. Zwei Stunden war der Louvre noch geöffnet, dann also los.

Sie bahnte sich ihren Weg in die erste Etage. Sie wusste, dass nur einer der Wachleute einen festen Posten hatte. Laut Namensschild hieß er Oscar und bewachte die Mona Lisa. Der Rest bewegte sich auf der ersten Etage. Also mied sie die Mona Lisa und ließ sich treiben. Hier und da blieb sie stehen und betrachtete die Kunstwerke. Auf deren Schönheit konnte sie sich nicht konzentrieren, denn ihre Blicke glitten immer wieder durch die Räume. Ab und zu bekam sie einen der Wachmänner zu Gesicht und jedes Mal glaubte sie, mit einem kleinen Stromschlag malträtiert zu werden, aber der Mann von vor ein paar Stunden war nicht unter ihnen. Vielleicht überwachte er ja auch die Monitore. Eine Stunde trieb sie sich auf der Etage herum. Albern. Sie hatte morgen ohnehin wieder eine Führung, was wollte sie also hier?

Sie warf einen letzten Blick auf „Samuels Schatten erscheint Saul“ von Salvatore Rosa. Das düstere Gemälde hatte sie schon immer fasziniert. Am Tag vor seinem Tod sucht Saul die Hexe von Endor auf, die beschwört für ihn Samuel herauf, der in einem weißen Leichentuch vor ihm steht und ihm den Tod voraussagt. Dieses Bild schaffte es immer wieder, ihr eine Gänsehaut über den Körper zu jagen. Sie hatte sich die Frage gestellt, warum die Menschen nicht nur schöne, fröhliche und bunte Bilder faszinierten, sondern auch die, die von Schmerz, Leid und Tod erzählten. Wahrscheinlich weil Schmerz, Leid und Tod einen großen Teil des Lebens einnahmen.

Ihre Schritte verlangsamten sich. Die Gänsehaut wollte einfach nicht verschwinden, und ihr wurde kalt. Sie riss die Augen auf. Das konnte doch nicht sein. Die Schmerzwelle traf sie unvermittelt. Sie krümmte sich und keuchte. Die Menschen um sie herum nahmen keine Notiz von ihr. Gut so. Der letzte Anfall war noch nicht lange genug her. Wie konnte sie heute schon wieder einen bekommen? Die Abstände schienen kürzer zu werden. Was hatte das zu bedeuten? Die Welle ebbte ab, aber es würde sie erneut treffen. Es war noch nicht vorbei. Sie musste zur Toilette, dringend. Aus dem Museum heraus und nach Hause würde sie es nicht schaffen. Wenn sie Glück hatte, konnte sie den Anfall in der Toilette hinter sich bringen. Das Museum schloss erst in fünfzig Minuten. Ihr brach der Schweiß aus. Silberne Punkte tanzten vor ihren Augen. Gleich würde die nächste Welle kommen. Sie schaffte es gerade so bis zu den Waschräumen, sie hatte Glück, nur eine Frau wusch sich die Hände. In einer der Kabinen setzte sich Claire auf den geschlossenen Toilettendeckel. Die Hände vor den Bauch gepresst, trafen sie Schmerzen mit einer Intensität, die sie noch nicht erlebt hatte. Stöhnend rutschte sie von der Toilette und krümmte sich auf dem Boden zusammen.

*

Christophe hatte die letzten zwei Stunden auf die Monitore gestarrt. Da er derzeit das unterste Glied in der Hierarchie war, durfte er sich im Moment Mädchen für alles nennen. Wie schön. Absoluter Traumjob.

Hector hatte es an der Bandscheibe, wie Adolphe ihm erklärt hatte, und ging derzeit immer zwei Stunden früher. Daher war es Christophes Aufgabe, tagsüber in der ersten Etage herumzulatschen, und die letzten beiden Stunden die Überwachung der Monitore zu übernehmen. Adolphe hatte dies die letzten Wochen getan, konnte aber so die Zeit nutzen, in den anderen Etagen bei den weiteren Wachleuten nach dem Rechten zu sehen. Wenn wenigstens einer der anderen hier gewesen wäre, hätte er schon mal mit seiner Befragung beginnen können.

Er starrte auf die Bildschirme und spielte mit einem Kugelschreiber, als der blonde Schopf einer Frau seine Aufmerksamkeit erregte. Das war doch diese Touristenführerin von heute Vormittag. Er sah sie auf dem Bildschirm zwar nur von hinten, aber die Haltung, die kleine zierliche Gestalt, erkannte er sofort wieder. Sie schaute auf ein Bild von Rosa. Ein ziemlich düsteres, deprimierendes Gemälde. Er vergaß die anderen Monitore und hatte nur noch Augen für die zierliche Frau. Sie drehte sich um und schritt anmutig davon. Da sie gleich im Gang auftauchen musste, ruckte sein Blick zum nächsten Monitor. Da war sie schon.

Aber was war das? Sie schien Schmerzen zu haben. Für einen Moment krümmte sie sich, schien nach Luft zu schnappen. Sein erster Impuls war, aufzuspringen und zu ihr zu laufen, aber er hielt in der Bewegung inne. Er durfte seinen Posten nicht verlassen. Nichts und niemand durften ihn von seiner Aufgabe abhalten. Mühsam richtete sie sich wieder auf und ging weiter. Er verfolgte sie via Bildschirm und sah sie in der Toilette verschwinden. Vielleicht eine Magenverstimmung?

Was ging ihn das überhaupt an? Er jonglierte den Kugelschreiber und widmete sich seiner Aufgabe. Immer wieder warf er einen Blick auf den Monitor, der die Tür zur Toilette zeigte. Innen gab es keine Kameras. Frauen betraten und verließen die Toilette, sie war aber nicht dabei. Wie hieß sie noch gleich? Adolphe hatte ihm den Namen genannt. Claire, ein wunderschöner Name.

Die Tür zum Wachraum wurde aufgerissen und ein Mann in seinem Alter trat ein, einen Rucksack über der Schulter und ein Grinsen im Gesicht.

„Oh, hey! Du musst der Neue sein.“ Mit ausgestreckter Hand kam er auf Christophe zu.

„Ja, ich bin der Neue.“ Unauffällig musterte er den Mann. Groß, schlank und sehr sportlich. Er hatte ein schmales Gesicht und die braunen Haare waren ein bisschen zu lang. Ausgeprägte Unterkieferknochen traten hervor, aber die Grübchen um den Mund milderten die Züge ab, sodass er auf Frauen bestimmt ziemlich anziehend wirkte.

Leuchtend grüne Augen sahen ihn an. „Ich bin Tristan von der Nachtschicht. Leider noch nicht deine Ablösung, für die Monitore ist Vincent zuständig.“

„Der wird ja dann wohl auch gleich eintrudeln.“