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Persönliches vom Schöpfer der »Verwandlung« und des »Prozess«
»Heute früh zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Freude an der Vorstellung eines in meinem Herzen gedrehten Messers.«
Nicht nur Kafkas weltberühmte Werke – »Prozess« oder »Schloss«, »Verwandlung« oder »Urteil« – lohnen. Seine Prosa fasziniert gerade auch im Kleinen, Persönlichen. In Tagebüchern und Oktavheften überliefert, teils wie achtlos in Briefen fallengelassen, funkeln seine Sätze durch ihre Klarheit, durch ihre bis ins Mark treffende Schonungslosigkeit und Drastik. In diesem Kafka-Lesebuch sind Prosafragmente des Prager Dichters versammelt.
»Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als in mir sie zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.«
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2025
FRANZ KAFKA
Auch du hast Waffen
Aphorismen und Tagebucheinträge
Anaconda
Sämtliche hier zusammengestellten Texte beruhen auf der Max-Brod-Ausgabe, speziell den Bänden Tagebücher 1910 – 1923 (T) sowie Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß für die Oktavhefte, die Aphorismensammlung »Er« übernommen aus Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. Die Auswahl aus den Tagebüchern ist nicht chronologisch geordnet und nur grob nach Themen zusammengefasst, da sich diese nicht ohne Weiteres einem Thema oder einer Kategorie zuordnen lassen. Die Auszüge aus den Oktavheften sind dagegen chronologisch geordnet, da die Datumszuordnung nicht immer möglich ist, ohne Angabe der Daten. Die Auswahl übernahm Joachim Michael. Orthografie und Interpunktion wurden unter Wahrung von Lautstand und grammatischen Eigenheiten für diese Ausgabe auf neue Rechtschreibung umgestellt.
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© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
Umschlagmotiv: mauritius images / Heinz-Dieter Falkenstein / imageBROKER
Satz, Layout und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-33694-3V001
www.anacondaverlag.de
Inhalt
Aus den Tagebüchern
»Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen.«
»Solange ich von meinem Bureau nicht befreit bin«
»fast bewusstlos geschrieben, fürchtete mich aber«
»Die Erziehung als Verschwörung der Großen«
»Brief von F. Schöner Morgen, Wärme im Blut«
»aus Verzweiflung über meinen Körper«
»Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre«
»Die Stimme Gottes aus einem menschlichen Mund«
Aus den Oktavheften
Erstes Oktavheft
Zweites Oktavheft
Drittes Oktavheft
Viertes Oktavheft
Fünftes Oktavheft
Er
Zürauer Aphorismen
Aus den Tagebüchern
»Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen.«
Mit Blei, seiner Frau und seinem Kind beisammengewesen, mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin. Wie viel Tage sind wieder stumm vorüber; heute ist der 28. Mai. Habe ich nicht einmal die Entschlossenheit, diesen Federhalter, dieses Stück Holz täglich in die Hand zu nehmen.
T, 17./18.5.1910
Ich werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.
T, 15.11.1910
Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muss ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es. Gerne möchte ich das Glücksgefühl erklären, das ich von Zeit zu Zeit wie eben jetzt in mir habe. Es ist wirklich etwas Moussierendes, das mich mit leichtem, angenehmem Zucken ganz und gar erfüllt und das mir Fähigkeiten einredet, von deren Nichtvorhandensein ich mich jeden Augenblick, auch jetzt, mit aller Sicherheit überzeugen kann.
(…)
Dass ich so viel weggelegt und weggestrichen habe, ja fast alles, was ich in diesem Jahre überhaupt geschrieben habe, das hindert mich jedenfalls auch sehr am Schreiben. Es ist ja ein Berg, es ist fünfmal so viel, als ich überhaupt je geschrieben habe, und schon durch seine Masse zieht es alles, was ich schreibe, mir unter der Feder weg zu sich hin.
T, 16./17.12.1910
Zweieinhalb Tage war ich – allerdings nicht vollständig – allein und schon bin ich, wenn auch nicht verwandelt, so doch auf dem Wege. Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich (vorläufig nur oberflächlich) und ist bereit, Tieferes hervorzulassen. Eine kleine Ordnung meines Innern fängt an, sich herzustellen, und nichts brauche ich mehr, denn Unordnung bei kleinen Fähigkeiten ist das Ärgste.
T, 26.12.1910
Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus. Ja, wenn es sich um Worte handeln würde, wenn es genügte, ein Wort hinzusetzen und man sich wegwenden könnte im ruhigen Bewusstsein, dieses Wort ganz mit sich erfüllt zu haben.
T, 27.12.1910
Wie durch Zauberei (denn weder äußere noch innere Umstände, die jetzt freundlicher sind als seit einem Jahr, hinderten mich) wurde ich während des ganzen freien Tages, es ist ein Sonntag, vom Schreiben abgehalten. – Einige neue Erkenntnisse über das Unglückswesen, das ich bin, sind mir tröstend aufgegangen.
T, 7.1.1911
Die besondere Art meiner Inspiration, in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um zwei Uhr nachts schlafen gehe (sie wird vielleicht, wenn ich nur den Gedanken daran ertrage, bleiben, denn sie ist höher als alle früheren), ist die, dass ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel: »Er schaute aus dem Fenster«, so ist er schon vollkommen.
T, 19.2.1911
Ich habe den unglücklichen Glauben, dass ich nicht zur geringsten guten Arbeit Zeit habe, denn ich habe wirklich nicht Zeit für eine Geschichte, mich in alle Weltrichtungen auszubreiten, wie ich es müsste. Dann aber glaube ich wieder, dass meine Reise besser ausfallen wird, dass ich besser auffassen werde, wenn ich durch ein wenig Schreiben gelockert bin, und so versuche ich es wieder.
Ich habe über Dickens gelesen. Ist es so schwer und kann es ein Außenstehender begreifen, dass man eine Geschichte von ihrem Anfang in sich erlebt, vom fernen Punkt bis zu der heranfahrenden Lokomotive aus Stahl, Kohle und Dampf, sie aber auch jetzt noch nicht verlässt, sondern von ihr gejagt sein will und Zeit dazu hat, also von ihr gejagt wird und aus eigenem Schwung von ihr läuft, wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt.
Ich kann es nicht verstehn und nicht einmal glauben. Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Umlaut (oben »stößt«) ich zum Beispiel auf einen Augenblick meinen unnützen Kopf verliere. Erster und letzter Buchstabe sind Anfang und Ende meines fischartigen Gefühls.
T, 20.8.1911
Ich glaube, diese Schlaflosigkeit kommt nur daher, dass ich schreibe. Denn so wenig und so schlecht ich schreibe, ich werde doch durch diese kleinen Erschütterungen empfindlich, spüre besonders gegen Abend und noch mehr am Morgen das Wehen, die nahe Möglichkeit großer, mich aufreißender Zustände, die mich zu allem fähig machen könnten, und bekomme dann in dem allgemeinen Lärm, der in mir ist und dem zu befehlen ich nicht Zeit habe, keine Ruhe. Schließlich ist dieser Lärm nur eine bedrückte, zurückgehaltene Harmonie, die freigelassen mich ganz erfüllen, ja sogar noch in die Weite spannen und dann noch erfüllen würde. Jetzt aber verursacht mir dieser Zustand neben schwachen Hoffnungen nur Schaden, da mein Wesen nicht genug Fassungskraft hat, die gegenwärtige Mischung zu ertragen, bei Tag hilft mir die sichtbare Welt, in der Nacht zerschneidet es mich ungehindert.
T, 2.10.1911
Beim Einschlafen ein vertikal gehender Schmerz im Kopf über der Nasenwurzel, wie von einer zu scharf gepressten Stirnfalte. Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schultern gelegt, sodass ich dalag wie ein bepackter Soldat. Wieder war es die Kraft meiner Träume, die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ. Das Bewusstsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar. Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben, was ich nur will. Dieses Hervorlocken solcher Kräfte, die man dann nicht arbeiten lässt, erinnern mich an mein Verhältnis zur B. Auch hier sind Ergießungen, die nicht entlassen werden, sondern im Rückstoß sich selbst vernichten müssen, nur dass es sich hier – das ist der Unterschied – um geheimnisvollere Kräfte und um mein Letztes handelt.
T, 3.10.1911
Nichts bringe ich fertig, weil ich keine Zeit habe und es in mir so drängt. Wenn der ganze Tag frei wäre und diese Morgenunruhe in mir bis zum Mittag steigen und bis zum Abend sich ermüden könnte, dann könnte ich schlafen. So aber bleibt für diese Unruhe nur höchstens eine Abenddämmerungsstunde, sie verstärkt sich etwas, wird dann niedergedrückt und gräbt mir die Nacht unnütz und schädlich auf. Werde ich es lange aushalten? Und hat es einen Zweck, es auszuhalten, werde ich denn Zeit bekommen?
T, 17.10.1911
Heute Nachmittag kam der Schmerz über meine Verlassenheit so durchdringend und straff in mich, dass ich merkte, auf diese Weise verbrauche sich die Kraft, die ich durch dieses Schreiben gewinne und die ich zu diesem Ziel wahrhaftig nicht bestimmt habe.
T, 1.11.1911
Ich will schreiben, mit einem ständigen Zittern auf der Stirn. Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt ins Unbestimmte, durch das Vorzimmer, wie durch eine Pariser Gasse rufend, ob denn des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstür wird aufgeklinkt und lärmt wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem kurzen Singen einer Frauenstimme und schließt sich mit einem dumpfen männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir aber von Neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.
T, 5.11.1911
Ich werde versuchen, allmählich alles Zweifellose an mir zusammenzustellen, später das Glaubwürdige, dann das Mögliche usw. Zweifellos ist in mir die Gier nach Büchern. Nicht eigentlich sie zu besitzen oder zu lesen, als vielmehr sie zu sehn, mich in der Auslage eines Buchhändlers von ihrem Bestand zu überzeugen. Sind irgendwo mehrere Exemplare des gleichen Buches, freut mich jedes einzelne. Es ist, als ob diese Gier vom Magen ausginge, als wäre sie ein irregeleiteter Appetit.
T, 11.11.1911
Sicher ist, dass alles, was ich im Voraus selbst im guten Gefühl Wort für Wort oder sogar nur beiläufig, aber in ausdrücklichen Worten, erfunden habe, auf dem Schreibtisch beim Versuch des Niederschreibens trocken, verkehrt, unbeweglich, der ganzen Umgebung hinderlich, ängstlich, vor allem aber lückenhaft erscheint, trotzdem von der ursprünglichen Erfindung nichts vergessen worden ist. Es liegt natürlich zum großen Teil daran, dass ich frei vom Papier nur in der Zeit der Erhebung, die ich mehr fürchte als ersehne, wie sehr ich sie auch ersehne, Gutes erfinde, dass dann aber die Fülle so groß ist, dass ich verzichten muss, blindlings also nehme, nur dem Zufall nach, aus der Strömung heraus, griffweise, sodass diese Erwerbung beim überlegten Niederschreiben nichts ist im Vergleich zur Fülle, in der sie lebte, unfähig, diese Fülle herbeizubringen, und daher schlecht und störend ist, weil sie nutzlos lockt.
T, 15.11.1911
Heute Abend war ich wieder voll ängstlich zurückgehaltener Fähigkeit.
T, 19.11.1911
Selbst wenn ich von allen sonstigen Hindernissen (körperlicher Zustand, Eltern, Charakter) absehe, erziele ich eine sehr gute Entschuldigung dafür, dass ich mich nicht trotz allem auf die Literatur einschränke, durch folgende Zweiteilung: Ich kann so lange nichts für mich wagen, solange ich keine größere, mich vollständig befriedigende Arbeit zustande gebracht habe. Das ist allerdings unwiderleglich.
Ich habe jetzt und hatte schon nach Mittag ein großes Verlangen, meinen ganz bangen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt, in die Tiefe des Papiers hinein, oder es so niederzuschreiben, dass ich das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen könnte. Das ist kein künstlerisches Verlangen.
T, 8.12.1911
Aus Müdigkeit nicht geschrieben und abwechselnd auf dem Kanapee im warmen und im kalten Zimmer gelegen, mit kranken Beinen und ekelhaften Träumen. Ein Hund lag mir auf dem Leib, eine Pfote nahe beim Gesicht, ich erwachte davon, aber hatte noch ein Weilchen Furcht, die Augen aufzumachen und ihn anzusehn.
Ich ziehe, wenn ich nach langer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an.
T, 13.12.1911
Sonntag zwölf Uhr mittags. Den Vormittag vertrödelt mit Schlafen und Zeitunglesen. Angst, eine Kritik für das Prager Tageblatt fertigzustellen. Solche Angst vor dem Schreiben äußerst sich immer darin, dass ich gelegentlich, ohne beim Schreibtisch zu sein, Eingangssätze des zu Schreibenden erfinde, die sich gleich als unbrauchbar, trocken, weit vor dem Ende abgebrochen herausstellen und mit ihren vorragenden Bruchstellen in eine traurige Zukunft zeigen.
T, 16.12.1911
Ein Vorteil des Tagebuchführers besteht darin, dass man sich mit beruhigender Klarheit der Wandlungen bewusst wird, denen man unaufhörlich unterliegt, die man auch im Allgemeinen natürlich glaubt, ahnt und zugesteht, die man aber unbewusst immer dann leugnet, wenn es darauf ankommt, sich aus einem solchen Zugeständnis Hoffnung oder Ruhe zu holen. Im Tagebuch findet man Beweise dafür, dass man selbst in Zuständen, die heute unerträglich scheinen, gelebt, herumgeschaut und Beobachtungen aufgeschrieben hat, dass also diese Rechte sich bewegt hat wie heute, wo wir zwar durch die Möglichkeit des Überblickes über den damaligen Zustand klüger sind, darum aber desto mehr die Unerschrockenheit unseres damaligen, in lauter Unwissenheit sich dennoch erhaltenden Strebens anerkennen müssen.
Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich, die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mit fortreißen.
T, 23.12.1911
Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück. Wenn sich auch die Prosa in der Zwischenzeit öfters von ihm entfernt, so ist sie doch schließlich, wie gerade gegenwärtig, mit verstärkter Sehnsucht zu ihm zurückgekehrt und hat sich selbst alte, bei Goethe vorfindliche, sonst aber mit ihm nicht zusammenhängende Wendungen angeeignet, um sich an dem vervollständigten Anblick ihrer grenzenlosen Abhängigkeit zu er freuen.
T, 25.12.1911
Am Morgen fühlte ich mich zum Schreiben so frisch, jetzt aber hindert mich die Vorstellung, dass ich Max am Nachmittag vorlesen soll, vollständig. Es zeigt dies auch, wie unfähig ich zur Freundschaft bin, vorausgesetzt, dass Freundschaft in diesem Sinne überhaupt möglich ist. Denn da eine Freundschaft ohne die Unterbrechungen des täglichen Lebens nicht denkbar ist, so wird, bleibe auch ihr Kern unverletzt, eine Menge ihrer Äußerungen immer wieder weggeweht. Aus dem unverletzten Kern bilden sie sich allerdings von Neuem, aber da jede solche Bildung Zeit braucht und auch nicht jede erwartete gelingt, kann selbst abgesehen von dem Wechsel der persönlichen Stimmungen niemals dort angeknüpft werden, wo das letzte Mal abgebrochen wurde. Daraus muss bei tief begründeten Freundschaften vor jeder neuen Begegnung eine Unruhe entstehen, die nicht so groß sein muss, dass sie an sich gefühlt wird, die aber das Gespräch und das Benehmen bis zu einem Grade stören kann, dass man bewusst erstaunt, besonders da man den Grund nicht erkennt oder nicht glauben kann. Wie soll ich da M. vorlesen oder gar beim Niederschreiben des Folgenden denken, dass ich es ihm vorlesen werde.
Außerdem stört mich, dass ich das Tagebuch heute früh daraufhin durchgeblättert habe, was ich M. vorlesen könnte. Nun habe ich bei dieser Überprüfung weder gefunden, dass das bisher Geschriebene besonders wertvoll sei, noch dass es geradezu weggeworfen werden müsse. Mein Urteil liegt zwischen beiden und näher der ersten Meinung, doch ist es nicht derartig, dass ich mich nach dem Wert des Geschriebenen trotz meiner Schwäche für erschöpft ansehn müsste. Trotzdem hat mich der Anblick der Menge des von mir Geschriebenen von der Quelle des eigenen Schreibens deshalb für die nächsten Stunden fast unwiederbringlich abgelenkt, weil sich die Aufmerksamkeit im gleichen Flusslauf gewissermaßen flussabwärts verloren hat.
T, 31.12.1911
Ich glaubte zum ersten Mal in meinem Leben in dieser leichten Weise aus dem Fenster einen mich nicht betreffenden Vorgang unten auf der Gasse beobachtet zu haben. An und für sich ist mir solches Beobachten aus Sherlock Holmes bekannt.
T, 5.1.1912
So vergeht mir der regnerische, stille Sonntag, ich sitze im Schlafzimmer und habe Ruhe, aber statt mich zum Schreiben zu entschließen, in das ich zum Beispiel vorgestern mich hätte ergießen wollen mit allem, was ich bin, habe ich jetzt eine ganze Weile lang meine Finger angestarrt. Ich glaube, diese Woche ganz und gar von Goethe beeinflusst gewesen zu sein, die Kraft dieses Einflusses eben erschöpft zu haben und daher nutzlos geworden zu sein.
Wenn ich jetzt am Abend zu meinen Verwandten zurückkehren werde, werde ich, da ich nichts geschrieben habe, was mich freuen würde, ihnen nicht fremder, verächtlicher, nutzloser vorkommen als mir. Dies alles natürlich nur meinem Gefühl nach (das durch keine noch so genaue Beobachtung zu betrügen ist), denn tatsächlich haben sie alle Achtung vor mir und lieben mich auch.
T, 7.1.1912
Nichts geschrieben. Weltsch bringt mir Bücher über Goethe, die mir eine zerstreute, nirgends anwendbare Aufregung verursachen. Plan eines Aufsatzes ›Goethes entsetzliches Wesen‹, Furcht vor dem zweistündigen Abendspaziergang, den ich jetzt für mich eingeführt habe.
T, 31.1.1912
Als ich damals ins Theater ging, war mir wohl. Wie Honig schmeckte ich mein Inneres. Trank es in ununterbrochenem Zug. Im Theater verging es gleich. Es war übrigens der vorige Theaterabend: ›Orpheus in der Unterwelt‹ mit Pallenberg. Die Aufführung war so schlecht, Beifall und Lachen um mich im Stehparterre so groß, dass ich mir nur dadurch zu helfen wusste, dass ich nach dem zweiten Akt weglief und dadurch alles zum Schweigen brachte.
T, 4.2.1912
Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein. Diesen Abend verbrachte ich in vollständiger Gleichgültigkeit am Familientisch, die rechte Hand an der Sessellehne der neben mir Karten spielenden Schwester, die linke schwach im Schoß. Von Zeit zu Zeit suchte ich meines Unglücks mir bewusst zu werden, es gelang mir kaum.
T, 25.2.1912
Wer bestätigt mir die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit dessen, dass ich nur infolge meiner literarischen Bestimmung sonst interesselos und infolgedessen herzlos bin.
T, 2.3.1912
Einige alte Papiere durchgelesen. Es gehört alle Kraft dazu, das auszuhalten. Das Unglück, das man ertragen muss, wenn man in einer Arbeit, die immer nur im ganzen Zug gelingen kann, sich unterbricht, und das ist mir bisher immer geschehn, dieses Unglück muss man beim Durchlesen, wenn auch nicht in der alten Stärke, so gedrängter durchmachen.
T, 8.3.1912
So verlassen von mir, von allem. Lärm im Nebenzimmer.
T, 10.3.1912
Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe, dadurch mache ich mir das zu Schreibende unerreichbar.
T, 26.3.1912
Karsamstag, Vollständiges Erkennen seiner selbst. Den Umfang seiner Fähigkeiten umfassen können wie einen kleinen Ball. Den größten Niedergang als etwas Bekanntes hinnehmen und so darin noch elastisch bleiben.
T, 8.4.1912
Zum ersten Mal seit einiger Zeit vollständiges Misslingen beim Schreiben. Das Gefühl eines geprüften Mannes.
T, 6.5.1912
Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem Roman festhalte, ganz wie eine Denkmalsfigur, die in die Ferne schaut und sich am Block festhält.
T, 9.5.1912
Trostloser Abend heute in der Familie. Der Schwager braucht Geld für die Fabrik, der Vater ist aufgeregt wegen der Schwester, wegen des Geschäfts und wegen seines Herzens, meine unglückliche zweite Schwester, die über alle unglückliche Mutter, und ich mit meinen Schreibereien.
T, 9.5.1912
Schwaches Tempo, wenig Blut
T, 25.5.1912
Nichts geschrieben.
T, 1.6.1912
Fast nichts geschrieben.
T, 2.6.1912
Arg. Heute nichts geschrieben. Morgen keine Zeit.
T, 7.6.1912
So lange nichts geschrieben. Morgen anfangen. Ich komme sonst wieder in eine sich ausdehnende unaufhaltsame Unzufriedenheit; ich bin schon eigentlich drin. Die Nervositäten fangen an. Aber wenn ich etwas kann, dann kann ich es ohne abergläubische Vorsichtsmaßregeln.
T, 9.7.1912
›Bauernfänger‹ zur beiläufigen Zufriedenheit fertig gemacht. Mit der letzten Kraft eines normalen Geisteszustandes. Zwölf Uhr, wie werde ich schlafen können?
T, 8.8.1912
Nichts, nichts. Um wie viel Zeit mich die Herausgabe des kleinen Buches bringt und wie viel schädliches, lächerliches Selbstbewusstsein beim Lesen alter Dinge im Hinblick auf das Veröffentlichen entsteht. Nur das hält mich vom Schreiben ab. Und doch habe ich in Wirklichkeit nichts erreicht, die Störung ist der beste Beweis dafür. Jedenfalls werde ich mich jetzt nach Herausgabe des Buches noch viel mehr von Zeitschriften und Kritiken zurückhalten müssen, wenn ich mich nicht damit zufrieden geben will, nur mit den Fingerspitzen im Wahren zu stecken. Wie schwer beweglich ich auch geworden bin! Früher, wenn ich nur ein der augenblicklichen Richtung entgegengesetztes Wort sagte, flog ich auch schon nach der andern Seite, jetzt schaue ich mich bloß an und bleibe wie ich bin.
T, 11.8.1912
Brief an Rowohlt.
Sehr geehrter Herr Rowohlt!
Hier lege ich die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschten; sie ergibt wohl schon ein kleines Buch. Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahl zwischen der Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönen Büchern auch ein Buch zu haben. Gewiss habe ich mich nicht immer ganz rein entschieden. Jetzt aber wäre ich natürlich glücklich, wenn Ihnen die Sachen auch nur so weit gefielen, dass Sie sie druckten. Schließlich ist auch bei größter Übung und größtem Verständnis das Schlechte in den Sachen nicht auf den ersten Blick zu sehn. Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, dass jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.
