Auerbach und die alten Spione - Ernst Walter - E-Book

Auerbach und die alten Spione E-Book

Ernst Walter

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Beschreibung

Wien in den ersten Jahren nach dem Kalten Krieg ist ein Tummelplatz ehemaliger Agenten des Warschauer Pakts, die unter dem Schutz und mit Beteiligung russischer Diplomaten ein gigantisches Verbrechen planen. Korrupte Beamte bis in höchste Regierungskreise, gierige Geschäftemacher und Bankiers sind willfährige Helfer der verbrecherischen Bande. Sie wird geführt von einem ehemaligen Spitzenmann des polnischen Geheimdienstes, dem jedes Mittel recht ist, um ans Ziel zu kommen – Mord, Erpressung, Bestechung – er schreckt vor nichts zurück. Durch Zufall gerät der Gesellschaftskolumnist Franz Auerbach mitten hinein in die Vorbereitungen des großen Coups und bekämpft die skrupellosen Banditen gemeinsam mit einigen wenigen aufrechten Polizisten und einem geheimnisvollen Polen, der die entscheidenden Hinweise gibt. Die Spirale der Gewalt dreht sich immer schneller und letztendlich kann er nur durch seinen Tod sein Überleben sichern. Eine spannende Fiktion, die angesichts der aktuellen Ereignisse und speziell der Rolle Russlands und seiner Geheimdienstaktivitäten realer ist, als uns lieb sein kann.

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Seitenzahl: 999

Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Ernst Walter 2025

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Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Buch dargestellten Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebend oder tot, ist zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

3.Auflage, überarbeitet und aktualisiert

Email: [email protected]

Cover design by: Walther Mayrhofer, www.canva.com, www.depositphoto.com

„Auerbach und die alten Spione“

von

Ernst Walter

1.Teil

1. Kapitel

„Alles eitel Wonne“

Das Fest hatte noch nicht so richtig begonnen. Heinz, mein Fotograf und ich waren eigentlich etwas zu früh. Die Gäste absolvierten gerade die Gratulationstour, das Buffet – italienisch – war noch unversehrt im Originalzustand.

In letzter Zeit waren die Buffets immer italienisch. Gott sei Dank, denn die Wiener Schnitzel-, Schweinsbraten-, Fleischlaberl – und Kraut – und Erdäpfelsalatorgien waren nicht mehr auszuhalten gewesen.

Das Fest (Clubbing im Originalton der Einladung) diente der Zelebrierung des 50. Geburtstages eines Szenedinosauriers - Wirt, Sänger, Schauspieler, Frauenheld (nur wenige außer mir wussten, dass Carlo, bürgerlich Karl Wasicek, auch schwul sein konnte) – der in sein Lokal gebeten hatte.

Und alle, alle waren sie gekommen, die lieben Kollegen von der Bühne, die sangesfreudigen Mitstreiter aus der Musikszene, Balletttänzer, Choreographen, Autoren, Politiker und Wirtschaftsleute, die sich so gerne im Glanz der Kunst sonnen, ebenso wie die gewissen Rechtsanwälte und Ärzte.

Und ich natürlich auch, mit Heinz, meinem Fotografen. Wir beide, wir gehörten zu jedem dieser Events.

Ich war damals nach einer langjährigen Berg- und Talfahrt durch die Wiener Zeitungswelt, die mich als Lokal-, Gerichtssaal-, Sport- und sogar politischen Redakteur gesehen hatte, bei meiner bis dahin öffentlichkeitswirksamsten Tätigkeit angelangt. Ich war, je nach Betrachtungsweise Skandalreporter, Dreckschleuder, Adabei oder, wie ich mich am liebsten bezeichnete, Gesellschaftskolumnist.

Ich war also der Mann mit der Hand am Puls der (High)-Society, der die (neu)gierige Öffentlichkeit mit kleinen Dosen über das Leben der Stars und derer in ihrem Dunstkreis versorgte. Ich ließ diesen Informationsfluss über Bussi-, Bussi- und Hi-Hi, Ha-Ha-Ereignisse nicht versiegen und gab alltäglich kleine, wohlinszenierte Geschichtchen aus der Glitzerwelt via Tageszeitung zum Besten.

Heinz, mein Fotograf und ich waren gerne gesehen bei all diesen Zusammenkünften, egal ob Geburtstagsfeiern, Vernissagen, Premieren, Bälle, Soireen, Clubbings oder gar den jüngst neu dazugekommenen Outings. Das war eine spezielle Form der Unterhaltung, bei der ein Hauptdarsteller Leute einlädt, um ihnen etwas über sich zu erzählen, was alle ohnehin längst gewusst und es nur aus Rücksicht auf den Outisten nicht weitererzählt hatten.

So wurden eine Reihe von Schwulen und Lesben stadtbekannt, Aidskranke deklarierten sich ebenso wie EhebrecherInnen.

Manchmal wurden auch Abwesende geoutet, natürlich ebenfalls als Schwule, Lesben oder Infizierte und manchmal waren es gar keine Outings, sondern schlichte Verleumdungen.

Als Sodomit, Päderast oder Voyeur hat sich übrigens bis jetzt noch keiner geoutet – das macht immer noch der Staatsanwalt.

Wir, Heinz, mein Fotograf und ich, waren jedenfalls immer dabei – und gerne gesehen, was in unserem Beruf keine Selbstverständlichkeit ist. Die Kunst liegt im richtigen Filter – nur das darf ins Freie, was autorisiert ist, was die Objekte unserer Tätigkeit auch tatsächlich lesen wollen am nächsten Tag, auch wenn es sich dabei um ein kleines Skandälchen handelt. Solange der Filter funktioniert, erzählen sie viel über sich, alles über andere – daraus folgt die Regel Nummer Eins: "Schreibe nie, was du von Dritten erfahren hast und vom Betroffenen nicht bestätigt wurde.

Ausnahme: Der Hofnarr – ihn hält sich die Gesellschaft, er wird ausgeliefert, er darf zerzaust werden, bloßgestellt, verlacht, verspottet und meist sonnt er sich auch noch in seinem vermeintlichen Ruhm, ist er doch überall willkommen. Er ist der Blitzableiter, er ist das Futter für die hungrige Journaille, der Schwamm, aus dem man die Geschichten drückt. Die Hofnarren tanzen selten länger als ein, zwei Saisonen. Wenn der Schwamm trocken wird, wandert er in die Mülltonne. Nur ganz wenige schaffen es länger und manchen gelingt es ein Leben lang, ihre dicke Haut zum Markt zu tragen.

Für die Hofnarren gelten keine Spielregeln, sie sind Freiwild. Sie beklagen sich auch nicht – außer sie sehen sich länger als eine Woche nicht in der Zeitung, und ist es auch nur auf einem Gruppenbild in der letzten Reihe (Zitat: „Da, dieser Smokingärmel, das bin ich!“).

Sie zeigen aber nur übersteigert die Begierden der anderen, denn in den meisten schlummert der Reiz, sich wiederzufinden in der Zeitung, ihren Namen zu lesen, zitiert oder gar interviewt zu werden oder ihr Gesicht zu sehen, schlicht öffentlich zu sein, bekannt und damit interessant.

Das Wichtigste aber ist das Foto und darum war ich bei meinen Auftritten immer begleitet von einem Blitzlichtgewitter, ausgelöst durch Heinz, meinen Fotografen. Er war damals schon viele Jahre im Geschäft, er kannte alle und ihm entging nichts, aber an seine Blitze waren sie so gewöhnt, dass sich niemand verstellte und keiner sich beirren ließ bei dem, was er gerade tat. Man wusste, erscheinen würden nur untadelige Bilder, die zu den Geschichten passen, die ich schrieb.

Dieses jahrelange Einlullen seiner Opfer brachte ihm aber Schnappschüsse ein, die im Falle ihrer Veröffentlichung die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert hätten. Oft, wenn wir in seinem Labor saßen, dachten wir uns Geschichten und Titel zu den Bildern aus, die nie erscheinen würden.

Da war das Foto, auf dem man den alternden Filmproduzenten schräg von hinten sitzen sah, neben ihm seine junge Frau, eine sehr blonde Schönheit und daneben den bekannten Schauspieler K., ihre Hand auf seinem Oberschenkel, die Fingerspitzen gefährlich nahe am Reißverschluss. Der Titel, der sich angesichts der unverkennbaren Ausbuchtung anbot: „K., ein Rechtsträger!“

Bei einem Straßenfest fotografierte Heinz in die Menge, die sich tanzend und singend zu früher Morgenstunde vergnügte. Im Hintergrund küsste der bekannte Kommunalpolitiker F. seinen Sekretär auf den Mund. Titel: „Warmer Sommer im Rathaus“.

Solche und viele andere Bilder lagerten in Heinz´ Archiv, ganz zu schweigen von den harmlosen Nasenbohr-, Kratz-, Gähn- und Schlafshots, die eigene Alben füllten. Heinz hatte daran aber nur technisches Interesse. Ihn faszinierte die Tatsache, was er alles auf Zelluloid bannen konnte, ohne es versteckt zu tun, und diese Technik wollte er unentwegt perfektionieren. Es war, als ob er nur ein Auge zum Fotografieren benutzte, während das andere unablässig nach den verbotenen Motiven Ausschau hielt, die er dann mit einer blitzschnellen, nicht erkennbaren Bewegung ablichtete. Er war davon besessen und jedes neue Bild erfüllte ihn mit Stolz.

Vor allem das letzte Foto, das er einige Tage vor besagtem Fest geschossen hatte. Wir waren bei einer Premierenfeier in Grinzing, Heurigenseligkeit unter Kastanienbäumen. Heinz ließ blitzen und erwischte, genau zwischen zwei tanzenden Paaren, im Halbdunkel den gegen einen Baum pinkelnden Hauptdarsteller. Der feine Strahl glänzte im Lichtschein wie eine kleine Kaskade und verlieh der Szene etwas Barockspringbrunnenartiges. Heinz glühte vor Freude, als er mir sein Kunstwerk zeigte (Titel: „Feuchtfröhliches Treiben nach Premiere“).

Wir waren aber nicht nur Filter, sondern auch Transporteure. Man versuchte, über unsere Kolumne bekannt zu werden, bekannt zu machen und uns zu benutzen.

Eine besonders hartnäckige Dame war zum Beispiel die Gräfin M., eine Vertreterin der Aristo-Szene, die sich durch zahlreiche Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten aller möglichen Vereine und Gruppierungen hervortat und sich bei uns unterrepräsentiert fühlte.

Sie inszenierte beinahe jede Woche irgendein Ereignis, das stets nach gleichem Muster ablief. Man traf sich in einem Lokal oder angemieteten Festsaal, Gräfin M. begrüßte ohne große Variationen die zunehmend spärlicher anwesenden Gäste, erklärte die Ziele weitgehend unbekannter, manchmal auch etwas obskurer Vereine, die es zu unterstützen galt, stellte einen Nachwuchs- oder schon jenseits seines Zenits stehenden Künstler vor, der für die Unterhaltung zu sorgen hatte, und rief zur Spendierfreudigkeit auf. Die bewies sich darin, dass man für das vorbereitete Buffet einen Obolus zu leisten hatte, der den Wert der Mahlzeit deutlich überstieg.

Aufgrund immer kleiner werdenden Publikums konnte man sich vorstellen, dass die Erträge für die Bedürftigen recht mager ausfielen. Anfänglich hatten wir mehrmals über diese Veranstaltungen berichtet, waren aber mangels spektakulärer Ereignisse dann den Einladungen der Gräfin nicht mehr nachgekommen.

Das schwindende Medieninteresse, der galoppierende Teilnehmerschwund und das damit wohl verbundene Defizit in ihrem Wohltätigkeitsbudget veranlassten sie zur Intensivierung ihrer Bemühungen.

Eines Tages fand ich eine Karte mit handschriftlicher Einladung zum Tee auf meinem Schreibtisch in der Redaktion vor, verbunden mit der Bitte um unbedingtes Erscheinen.

Der Zweck der Einladung war mir klar, neugierig auf die Mittel sagte ich telefonisch zu und erschien pünktlich in ihrer Wohnung im ersten Bezirk, unweit der Kärntner Straße. Das Palais, das tatsächlich der Familie ihres verblichenen Mannes gehört hatte, war längst verkauft, besagte Wohnung war ihr geblieben, neben nicht unerheblichem Barvermögen und einigen Immobilien, die ihr der Graf M. einige Jahre zuvor neben dem Titel hinterlassen hatte. Sie war deutlich jünger als ihr Gemahl, der sie als Sekretärin eines Geschäftsfreundes kennengelernt, sie als solche ab - und kurz darauf als Ehefrau geworben hatte.

Sie empfing mich zurückhaltend, aber nicht unfreundlich in einem einfachen, sehr geschmackvollen Leinenkostüm, sonnengelb, mit dazu passenden, flachen Schuhen – eine Mittvierzigerin, brünett, gepflegt, sehr attraktiv. Sie führte mich in eine kleine Bibliothek, wo wir an einem Tischchen in schönen Biedermeierstühlen Platz nahmen. Zum ausgezeichneten Tee reichte sie Kekse. Ohne lange Umschweife kam sie gleich zur Sache: „Herr Redakteur, mir missfällt es außerordentlich, dass Sie meine Einladungen ignorieren und es nicht der Mühe wert finden, die eine oder andere Zeile unseren Bemühungen zu widmen Gutes zu tun und Geld zu sammeln für jene, die es dringender brauchen als wir. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es den Lesern Ihres Blattes nicht schaden würde, neben all den Lächerlichkeiten und geschmacklosen Oberflächlichkeiten, die Sie ihnen vorsetzen, manchmal auch Berichte über erbauliche Dinge zu Gesicht zu bekommen. Ich beabsichtige, das sage ich ganz offen, im Falle eines unbefriedigenden Ergebnisses unseres Gespräches eine Unterhaltung mit Ihrem Chefredakteur anzustreben, den ich ebenso wie den Herausgeber Ihrer Zeitung persönlich kenne! Ich werde nächste Woche eine Soiree veranstalten, zur Unterstützung des Vereines „HIV-positiv“ und würde es sehr schätzen, Sie dort begrüßen zu dürfen.“

Ohne sie zu unterbrechen, hatte ich mir ihre kleine, offenbar wohl vorbereitete Rede angehört. Nachdem sie fertig war, erhob ich mich und machte Anstalten, mich zu verabschieden. „Gnädige Frau, Ihre guten Absichten in allen Ehren, aber meine Leser interessieren sich nur dann für Ereignisse, wenn dabei Besonderes geboten wird. Wenn aber jemand mehrmals im Monat Veranstaltungen durchführt, die als einzige Sensation massiven Teilnehmerschwund aufzuweisen haben, bin ich sogar verpflichtet, auch meinem Herausgeber gegenüber, sie unerwähnt zu lassen. Es tut mir leid, ich darf mich verabschieden!"

„Herr Redakteur“, sie war sitzen geblieben, ihre Schultern waren kaum merklich nach unten gesunken, ihre Augen hatten den herrischen Ausdruck verloren und das Gesicht war weicher geworden. „Herr Redakteur, verzeihen Sie, ich habe mich dumm benommen, aber ich dachte, vielleicht nützt der aristokratische Zorn. Ich bin in einer beinahe verzweifelten Lage. Nach dem Tod meines Mannes hat man mir in unseren Kreisen sehr rasch die kalte Schulter gezeigt, Einladungen blieben aus, man übersah mich fast. Ich dachte, durch Wohltätigkeit und ein bisschen Publicity würde ich mir Anerkennung holen und ein geachtetes Leben führen können, aber die Gesetze sind streng, bürgerlich bleibt bürgerlich. Anfangs, als es ja noch etwas Echo in den Zeitungen gab, mussten sie wohl oder übel kommen, aber sie spendeten so wenig, dass die Kosten kaum gedeckt wurden. Das Geld für die Unterstützungswürdigen kam beinahe ausschließlich von mir. Ich konnte sie ja nicht mit leeren Händen fortschicken und enttäuschen. Dann kamen immer weniger, ich musste sparen, die Buffets, die Künstler – alles war nicht mehr so glanzvoll, also blieben sie erst recht weg. Ich will mich aber nicht geschlagen geben. Es geht mittlerweile gar nicht mehr um mich und meine Position, ich übersiedele demnächst nach Italien, jetzt will ich ihr Geld für die Armen und Behinderten. Ich dachte, mit Hilfe der Medien kann ich sie zwingen, zum Kommen und zum Spenden, aber ich hab´s wohl nicht richtig gemacht, verzeihen Sie bitte – ich bringe Sie jetzt hinaus.“

Etwas verdattert verabschiedete ich mich und ging nachdenklich zum nächsten Würstelstand. Bei einer Burenwurst mit süßem Senf fasste ich einen Entschluss. Zu jener Zeit hatte ich die besondere Ehre, die Wochenendausgabe unserer Zeitung mit einem längeren Artikel über ein allgemeines, nicht unmittelbar aktuelles, aber gesellschaftlich relevantes Thema zu bereichern.

Am Samstag nach meinem Besuch bei der Gräfin erschien folgender Beitrag:

Wohltäter haben´s schwer!

Seit geraumer Zeit beobachte ich die Bemühungen der Gräfin M., Witwe nach dem bekannten Immobilienmakler Graf Karl M., mit diversen Veranstaltungen (wir haben mehrfach berichtet), unterstützungswürdigen Vereinen, Gruppen, aber auch Einzelpersonen zu helfen. Es war ihr Plan, die Wohlhabenden dieser Stadt periodisch bei klassischer Musik, Diskussionen, Vorträgen und kulinarischen Köstlichkeiten zusammenzuführen und über freiwillige Spenden Bedürftige zu unterstützen.

Von zuverlässiger Quelle aus dem Freundeskreis der Gräfin habe ich nun erfahren, dass sie enttäuscht ihre karitative Tätigkeit einzustellen gedenkt.

Da ihre Ideen auf Langfristigkeit und Kontinuität aufbauten und sie hoffte, einen philanthropischen Kulturkreis aufbauen zu können, musste sie haushalten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, die ja in erster Linie den Armen und Behinderten zukommen sollten, und war nicht in der Lage, jedes Mal absolut Sensationelles auf die Beine zu stellen. Trotzdem war der Standard hoch und der Kreis sollte ja aus sich heraus leben und die Teilnehmer auch sich gegenseitig bereichern durch gemeinsames Werk.

Es war wohl der falsche Weg in dieser Zeit, die ständig nach Neuem giert, man blieb aus, die Spenden flossen immer zögernder, obwohl die Erwartungen bescheiden waren, blieben sie unerfüllt.

So wird die Veranstaltung nächsten Freitag im Café Landtmann, zugunsten des Vereines „HIV-positiv“, wohl die letzte ihrer Art sein (wir werden darüber berichten).

Wieder ist ein Versuch, unspektakulär Hilfe zu leisten, fehlgeschlagen.

Ohne allzu große Erwartungen fuhren Heinz und ich am folgenden Freitag zum Café Landtmann, aber da ich es in meiner Samstag-Glosse, über die ich mich selbst ein wenig wunderte, angekündigt hatte, wollten wir vom Abgesang der Gräfin berichten.

Es war kaum möglich, den Saal zu betreten, nur die Blitze aus dem Fotoapparat von Heinz bahnten uns den Weg an der Wand entlang bis ungefähr in die Mitte des großen, völlig überfüllten Raumes. Sie stand schon am Rednerpult, ruhig, souverän und gelassen. Freundlich begrüßte sie die Gäste, ohne auch nur mit einem Wort ihre große Zahl zu würdigen. Kurz, aber mit viel Wärme beschrieb sie Tätigkeit und Ziele von „HIV-positiv“ und verwies auf den ihr nachfolgenden Redner, der, selbst infiziert, seine verbleibende Zeit der Betreuung von Leidensgenossen widmete.

Dann stellte sie eine junge, sehr hübsche Pianistin aus der Slowakei vor, die für die musikalische Umrahmung sorgen würde und bat um einen Unkostenbeitrag, wieder ohne jede Anspielung auf die Vergangenheit oder gar auf meinen Artikel, was mich ein wenig ärgerte.

Abschließend gab sie ihren Entschluss bekannt, die Veranstaltungsreihe zu beenden und ihren Haushalt nach Venedig verlegen zu wollen, des günstigeren Klimas wegen. Den donnernden Applaus gefasst und würdevoll entgegennehmend, trat sie vom Pult.

Heinz schoss seine Fotos und eine halbe Stunde später verließen wir den Schauplatz ihres Triumphs, ohne dass ich Gelegenheit gefunden hatte, mit ihr zu sprechen.

Am nächsten Tag erschien ein kurzer Bericht auf meiner täglichen Halbseite, unterlegt mit einem Heinz´schen Foto von der Gräfin am Rednerpult, in dem ich Bewunderung für ihre Tatkraft und Bedauern über ihren Fortgang zum Ausdruck brachte.

Wenige Tage später erhielt ich eine Einladung, handschriftlich und freundlich, zum Tee. Diesmal achtete ich sogar ein wenig mehr als üblich auf meine Kleidung, zog ein frisches Hemd an, putzte meine Schuhe und erschien pünktlich und rasiert an ihrer Tür.

„Es ist offen“, tönte es von drinnen als Reaktion auf mein Läuten. Ich trat ein und erblickte sie mitten von Übersiedlungskartons und Koffern, sie trug ein weißes T-Shirt und Jeans, beides wesentlich besser geeignet als das Kostüm vom letzten Mal, ihre beachtlichen Formen zu betonen.

Sie kam auf mich zu, lächelnd, vielleicht auch ein wenig wegen meines Äußeren, schüttelte mir die Hand und sagte „Fünfhunderttausend Schilling Reinerlös – ist das nicht phantastisch?“

Ich pflichtete ihr bei und wir setzten uns auf zwei Kartons zu einem mit Zeitungen übersäten Tisch. „Meine Haushälterin ist schon in Venedig“, entschuldigte sie sich und servierte Tee und Kuchen selbst. Dann schwärmte sie über den erfolgreichen Abend, erzählte von den vielen Gästen, und dass man sie mit Komplimenten überhäuft hatte und zum Bleiben bewegen wollte.

„Diese falsche Bande“, war alles, was ihr dazu über die Lippen kam. Sie machte keine Bemerkung zu meinem Artikel und plauderte weiter über Venedig und ihr neues Leben, fern der Wiener Aristokratie - sie wollte studieren. Italienisch oder Literatur oder beides.

Trotz der angeregten Unterhaltung stieg langsam so etwas wie Enttäuschung in mir hoch – ganz unschuldig war ich ja auch nicht an der erfreulichen Entwicklung. Zwei Stunden später hielt ich es für angebracht, mich zu verabschieden, und stand auf, sie folgte mir zur Tür.

Ich wollte ihr gerade Glück wünschen, da trat sie auf mich zu, Mund und Augen lächelten, sie umarmte mich und gab mir einen langen, zärtlichen Kuss. Sie presste ihre vollen, kühlen Lippen auf meine und ich dachte und wünschte, die Zeit bliebe stehen. Etwas außer Atem trat sie einen Schritt zurück und sagte „Danke schön“.

Wir standen uns gegenüber, hielten uns einige Zeit an den Händen und ich blickte ihr tief und fragend in die Augen. Lächelnd hielt sie meinem Blick stand und schüttelte ganz leicht den Kopf – ich verließ sie, ging in mein Lieblingslokal und bestellte eine Flasche Wein. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen, aber wir schreiben uns manchmal. Sie treibt ihre Studien und lebt das geruhsame Leben einer unabhängigen, selbständigen Frau. Sie hat nicht wieder geheiratet.

*****

Das Fest kam also langsam in Schwung. Carlo, das Geburtstagskind strahlte und gefiel sich als umschwärmter Mittelpunkt. Er stand neben dem Flügel, der extra für diesen Abend ins Lokal gebracht worden war, neben ihm seine derzeitige Flamme, ein knabenhaftes, zierliches Wesen, schwarze, ganz kurz geschnittene Haare, schwarzer Lidstrich, dunkelrote, fast violette Lippen, helles, blass geschminktes Gesicht, schwarzes T-Shirt, schwarze Lederhose, eng anliegend und der unvermeidliche Brillant im Nasenflügel.

Sie lehnte an der Wand und blickte ziemlich lustlos durch die vorbeidefilierenden Gratulanten, entrückt und gelangweilt. Ein Gegensatz zwischen ihr und dem exaltierten, stets lachenden, braun gebrannten und hochgewachsenen Gastgeber, wie er größer nicht hätte sein können.

Er hatte sie bei einem Theaterabend in der Vorstadt kennengelernt. Sie war ihm in der Pause aufgefallen, als sie mit dem Rücken zur Bühne im Kies saß – es war eine Freiluftaufführung von „Der zerbrochene Krug“ – und vor sich hin starrte. Er sprach sie an: „Na, was ist los mit Dir, gefällt Dir das Stück nicht?“

Sie blickte auf, musterte ihn ziemlich gelangweilt und sagte mit einer überraschend tiefen Stimme: „Es geht“.

Ihre großen, dunklen Augen in dem blassen, schmalen Gesicht und ihr zarter Körper faszinierten ihn, er reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Sie hatte kleine, schmale Hände – fast wie ein Kind. „Ich nehme dich mit, nachher.“ Ihr Blick ging durch ihn hindurch: „Von mir aus.“

Seit dem, das war vor ungefähr drei Monaten, war sie bei ihm. Carlo hatte mir das am Vortag erzählt, als ich bei ihm zu Mittag aß, um das Procedere des Festes mit ihm zu besprechen.

Obwohl um einiges älter als ich, war er seit vielen Jahren mein Freund. Seine Anfänge als Schauspieler fielen mit meinen journalistischen Kindertagen zusammen und wir liefen uns schon damals immer wieder und gerne über den Weg.

Als er dann vor mehr als zehn Jahren sein Lokal „Carlo´s“ eröffnet hatte, wurde ich Stammgast. Vor allem seinetwegen mit seinen zahllosen Geschichten über Gott und die Welt, die mir den Einstieg in den Job als Gesellschaftsberichterstatter wesentlich erleichterten, aber auch wegen des Lokales selbst. Es war eine gelungene Mischung aus Bar und Restaurant, gemütlich, überschaubar, höchstens zehn Tische, nette Bedienung, gut sortierter Weinkeller, zehn verschiedene Grappa- und achtzehn Whiskysorten. Das Wichtigste aber waren die Küche und Hans Stupic, der ihr vorstand.

Ein Koch aus Italien, genauer gesagt aus dem Collio, jenem hügeligen Landstrich zwischen Udine und Goerz, im Norden begrenzt durch Berge, im Süden durch das Meer, der geprägt ist von einer einzigartigen Mischung slowenischer, italienischer und österreichischer Tradition. Diese Dreifaltigkeit der Nationen hat eine Kochkunst entstehen lassen, die ihresgleichen sucht, die sich auszeichnet durch deftige, würzige Speisen, fruchtige, schwere, aber staubtrockene Weißweine und raue, starke Grappe.

Dieser Hans Stupic nun war ein typischer Vertreter seiner Heimat. Er verstand sich prächtig auf herzhafte Nudelgerichte, Wildspeisen und Geflügel, diverse Gemüsestrudel und Carpaccios, auf die Verwendung von Rucola (vorher bei uns nur als Hasenfutter bekannt), ebenso wie von Parmesan als Begleiter zahlreicher köstlicher Kompositionen. Wann immer man der Küche durch Verena, der ebenso hübschen wie kompetenten Kellnerin aus Tschechien, die längst zum Inventar gehörte, Lob aussprechen ließ, erschien Hans, ein kleiner, kräftiger Mann mit den derben Händen eines slowenischen Weinbauers und dem roten Gesicht, noch zusätzlich aufgeheizt von den heißen Platten seiner Zauberwerkstatt, die zerdrückte Kochhaube leicht nach vorne geschoben, grinsend in der Schwingtür zum Speisezimmer: „Hat geschmeckt, Franzi?“ Ein enthusiastischer Applaus ließ sein Grinsen sich über das gesamte Gesicht verteilen: „Freit mich serr, danke scheen!“ So gut er kochte, so schlecht sprach er immer noch Deutsch.

So war es auch damals. Gerade hatte ich Hans nach einer herrlichen Geflügelterrine und Rehragout mit Bandnudeln meinen Beifall gezollt, begleitet von sieben oder acht anderen Gästen, und wendete mich meinem Fingerhut voll heißem, pechschwarzem Espresso und einem Schluck Grappa in einem hohen, schmalen Glas zu, als Carlo an meinen Tisch kam und mir von seiner seltsamen Freundin zu erzählen begann.

Er hatte sie also mit nach Hause genommen, vor drei Monaten, nachts. Scheinbar willenlos war sie ihm gefolgt, hatte gegessen und getrunken, was er ihr angeboten hatte und beinahe nichts gesprochen. Ihr Blick war nicht einzufangen – unstet und in die Ferne gerichtet, starrte sie überall hindurch.

Er war beeindruckt von ihr, er empfand sie als mysteriös, schön und irgendwie auch ein wenig angsteinflößend. Doch sie war absolut friedlich und scheinbar dankbar für die Bleibe, sie schlief in einem kleinen Gästezimmer, sie räumte auf, machte Frühstück und las alles, was sie finden konnte in Carlos Bücherregalen – von Grillparzer bis Grisham. Den ganzen Tag lag sie zusammengerollt auf seinem Lederdiwan und las.

Er versuchte es anfangs oft, wahrscheinlich zu oft, wie er meinte, sie anzusprechen, auszufragen, wer sie war, woher sie kam, ob sie jemand vermisste, wenn sie bei ihm war.

Ihre Antworten waren einsilbig, sie sagte nur, sie heiße Manuela, sei aus Wien und allein, und volljährig sei sie auch, wie um ihn zu beruhigen. Er unterließ seine Fragerei mit der Zeit und gab sich mit dem Zustand zufrieden, wie er war.

Sie begrüßten sich, wünschten sich „Guten Morgen“ und „Gute Nacht“, und außer „Milch?“ Oder „Bitte, das Brot“ und „Danke“ gab es kaum nennenswerte Konversation, trotzdem schienen beide den Zustand zu genießen.

Carlo war glücklich, weil er sie gerne um sich hatte, weil er sie gerne betrachtete, auch begehrte, wie er zugab, aber da sie auf ihn wirkte, wie die Hauskatze, die zwar immerzu da war und sich am Sofa räkelte, aber ihre Mitbewohner schon vor langer Zeit hat wissen lassen, dass sie nicht gestreichelt werden wolle, unterließ er jeden diesbezüglichen Versuch.

Sie schien ihm dankbar dafür zu sein, denn obwohl sie in gewisser Weise schön war, strahlte sie keine sexuelle Energie aus, sie wirkte wie eine, die rasten wollte nach einer langen, anstrengenden Reise, liegen, schlafen, sich erholen.

Nur am zweiten oder dritten Tag ihres Aufenthaltes bei Carlo war sie einen halben Tag verschwunden und mit einer kleinen Reisetasche zurückgekehrt, offenbar mit Kleidung, vorwiegend schwarz, die sie peinlich sauber hielt und nach dem Waschen in ihrem Zimmer zum Trocknen aufhängte.

„Giftelt sie vielleicht?“ , fragte ich Carlo. „Nein, sicher nicht. Ihre Haut ist sauber, keine Einstiche, ihre Augen sind klar, manchmal trinkt sie ein Glas Wein mit mir, schweigend, versteht sich, aber sie raucht nicht einmal.“

„Hat sie Geld?“, wollte ich wissen. „Anscheinend schon, ich habe sie gefragt, ob sie welches braucht. „Ich brauche nichts“, hat sie fast lächelnd gesagt, „nur Deinen Teil beim Einkaufen.“ Sie kauft ein, legt einen Zettel in die Küche, mit meinem Anteil – das gebe ich ihr - das ist alles.“

„Und wie soll das weitergehen?“

„Ich habe keine Ahnung, morgen nehme ich sie mit zu meiner Geburtstagsfeier, wer weiß, vielleicht gefällt es ihr da. Bisher waren wir ja nur selten gemeinsam weg, zwei-, dreimal im Carlo´s. Dort ist sie, glaube ich, ganz gerne. Weißt du, ich will ihr einfach Zeit lassen – mir liegt viel an ihr und mit jedem Tag, den sie bei mir ist, fühle ich mich wohler. Ich bin mehr zuhause als früher, ich lebe ruhiger und habe keine saublöden Affären.“

Es war ziemlich offensichtlich, dass ihr Carlo´s im Normalbetrieb besser gefiel, Carlo offenbar auch, denn manchmal musterte sie ihn irgendwie verwundert von der Seite, wenn er wieder einmal mit einer Schönen der Gesellschaft besonders heftige Geburtstagsbussis austauschte und schlüpfrige Bemerkungen machte.

Sie selbst wurde ganz unterschiedlich behandelt. Die Damen, von denen jede Zweite mindestens einmal mit Carlo im Bett gewesen war, ignorierten sie weitestgehend. Sie taten so, als würde sie gar nicht zu ihm gehören, sondern nur zufällig in seiner Nähe stehen, obwohl Carlo sie fast allen mit: „Das ist Manuela“ vorstellte. Manche, die wenigstens den Schein wahren wollten und offensichtlich zur Hälfte der Unbefleckten gehörten, ließen ein indifferentes „Hallo“ vernehmen, nur ganz wenige reichten ihr die Hand mit „Grüß dich, ich bin Karin!“ Oder „Tschau – ich heiße Sonja“.

Sie reagierte entsprechend der Behandlung, übersah jene, welche sie übersehen hatten, erwiderte den jeweiligen Gruß derer, die gegrüßt hatten und stellte sich mit „Ich bin Manuela“ bei den Handschüttlerinnen vor. Insgesamt konnten sie nichts mit ihr anfangen und wunderten sich maßlos über Carlo.

Anders die Männer, die offenbar ein wenig von dem spürten, was ihn so faszinierte. Sie begrüßten sie alle von herzlich bis überschwänglich, wohl auch ein wenig aus Solidarität mit Carlo. Sie seien schon neugierig gewesen, hätten von ihr gehört, wie ihr das Fest gefalle, sie witzelten über das Alter von Carlo und machten kleine Komplimente.

Sie setzte ihren Ferne-Blick auf, war einsilbig, lächelte nicht und vermittelte den Eindruck, dass sie eigentlich nur Carlo zuliebe hier sei, allerdings ohne wirklich unfreundlich zu sein. Auch mir gelang es nicht, ihr ein Lächeln zu entlocken: „Hallo, ich bin Franz Auerbach, Carlo nennt mich Franzi, wir sind alte Freunde, stimmt´s Carlo?“

Er legte mir den Arm um die Schulter und sagte, zu Manuela gebeugt: „Und ob das stimmt, seit Jahr und Tag sitzt er hier, lobt Hans über den grünen Klee, dass er ganz größenwahnsinnig wird und immer mehr Geld von mir will, dabei ist Franzi der Einzige, der ihn so lobt“ – was natürlich ein blöder Witz war.

Sie mustere mich kurz, gab mir ihre kühle, wirklich sehr kleine Hand mit erstaunlich festem Druck und sagte nur: „Guten Abend, ich mag auch, wie Hans kocht.“

Carlo hatte mir schon am Vortag erzählt, dass Hans der bisher Einzige war, der sie zum Lachen gebracht hatte – als sie nämlich das zweite Mal in Carlo´s waren, erschien er noch dem Essen, um zu fragen, ob alles in Ordnung gewesen sei: „Waren Herr Scheff und scheene Freilein zufrien?"

Über das Gesicht von scheenem Freilein huschte so etwas wie ein kleines Schmunzeln und sie antwortete für beide: „Waren serrr zufrien!“

Carlo blickte sie verblüfft von der Seite an, damit hatte er nicht gerechnet und wertete diesen Gefühlsausbruch als Hoffnungsschimmer.

Nach Beendigung seiner Erzählung und der Vertilgung mehrerer Grappas wendeten wir uns endlich der bevorstehenden Geburtstagsfeier zu. Er reichte mir die Gästeliste und ich überflog sie. Hinter den Namen, deren Träger ihr Kommen zugesagt hatten, waren rote Haken, die Absagen waren durchgestrichen. Es würden zirka achtzig Personen erscheinen. Ich suchte nach dem Namen, der mich am meisten interessierte. Da las ich ihn auch schon, ein rotes Häkchen neben sich: „Ulla Dietgers".

Sie stand nämlich auf meinen Wunsch hin auf der Liste. Die beiden kannten sich zwar gut genug, dass sie sich über die Einladung nicht wundern musste, aber ich hatte Carlo darum gebeten.

Sie war eine junge Schauspielerin, die nach einigen Kleinrollen in Fernsehserien kürzlich ihr erstes Bühnenengagement an einem renommierten Theater erhalten hatte.

Bei der Premierenfeier, bei der Heinz und ich natürlich nicht fehlen durften, war sie mir erstmals aufgefallen.

Als wir eintraten, natürlich wie fast immer bei dieser Art von Festlichkeit bei einem Heurigen, saß sie an einem langen Tisch gemeinsam mit ihren Kollegen aufgefädelt für die Fotografen und zog meine Blicke sehr rasch auf sich. Eine blonde, hochgewachsene junge Frau, ich schätzte sie auf fünf- bis siebenundzwanzig, mit langen, dichten Haaren, vom Typ Vollblutweib, festes sonnengebräuntes Fleisch an Armen und Beinen, einen nicht zu übersehenden Busen, groß und doch stabil, ein Gesicht, herzförmig mit hohen Backenknochen, dunklen Augen und einem sehr vollen Mund. Sie war kaum geschminkt und machte auf Naturschönheit in einer einfärbigen, lachsroten, kurzärmeligen Bluse und schwarzen Jeans.

Nachdem der offizielle Teil vorbei war, unterhielt ich mich mit einigen der Schauspieler über die Premiere und ihre Gefühle dazu, natürlich befragte ich sie auch zum Debüt ihrer Kollegin; die Antworten ließen tief blicken.

Der Hauptdarsteller, dessen Geliebte sie gespielt hatte: „Ein echtes Talent, herzerfrischend jung und direkt, diszipliniert bei den Proben, konzentriert während der Vorstellung, kein bisschen nervös - und eine Augenweide“, schloss er zwinkernd.

Die weibliche Hauptrolle (die betrogene, aber schließlich obsiegende Ehefrau): „Recht talentiert, beim ersten Auftritt waren wir doch alle ein wenig verspannt, aber das legt sich und dann wird sie sicher eine passable Schauspielerin im leichten Fach."

Die junge Kollegin: „Ich hätte sie zwar nicht für diese Rolle besetzt, da ist sie zu wenig zierlich und zart dafür, aber sie hat sich ganz gut aus der Affäre gezogen."

Also war sie gut!

Mit ihr selbst führte ich natürlich auch ein kurzes Gespräch: „Frau Dietgers, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Debüt, wie fühlen Sie sich jetzt?"

„Danke, ich fühle mich wundervoll, ich darf in einem herrlichen Theater unter einem phantastischen Regisseur mit zauberhaften Kollegen spielen, ich habe keinen Hänger gehabt – Herz, was willst du mehr?"

„Wie sind Ihre weiteren Pläne?"

„Heute feiern, ab morgen meine nächsten Auftritte möglichst perfekt absolvieren – und auf neue Rollen hoffen."

„Das heißt, Sie wollen uns in Wien erhalten bleiben?"

„Natürlich, ich bin hier aufgewachsen, habe hier gelernt und studiert und möchte gerne hier leben und arbeiten."

Sie lächelte glücklich, fast ansteckend, ein Mensch, rundherum zufrieden und genau mein Typ.

Nächsten Tag erschien folgender Artikel in meiner Halbseite:

„Fröhliches Fest nach Premiere"

Beim Heurigen F. in Neustift fanden sich gestern abends Darsteller, Regisseur, Autor und prominente Gäste nach der ersten Vorstellung des Stückes „Der Wahn und die Herzlichkeit" zur Premierenfeier ein. Der donnernde Applaus und die „Standing Ovations" des bekannt kritischen Publikums der Josefstadt gaben der Direktion recht, das Erstlingsstück des jungen Autors Xaver Franz auf den Spielplan gesetzt zu haben.

Die Stimmung nach der Vorstellung war dementsprechend gut, die Gäste feierten ausgiebig und sprachen begeistert dem kalten Buffet und den Weinen zu.

Im Mittelpunkt stand nach ihrem Debüt Frau Ulla Dietgers, die bezaubernde junge Schauspielern, die durch ihre Präsenz nicht nur am Gelingen des Theaterabends, sondern auch des Festes wesentlich Anteil hatte.

Sie wird dem hiesigen Publikum erhalten bleiben, da sie gerne weiterhin in Wien spielen möchte, sofern ihr entsprechende Rollen angeboten werden – nach ihrem Debüt besteht daran wohl kaum ein Zweifel."

Als Foto wählte ich eines, auf dem sie, den Arm des Hauptdarstellers um ihre Taille gelegt, lachend den Presseleuten zuprostet und die weibliche Hauptrolle im Hintergrund gerade noch zu erkennen war – dazu folgender Text:

„Die strahlende Debütantin Ulla Dietgers mit den Hauptdarstellern Franz M. rechts und Monika K. links hinten."

Heinz, der mich nun auch schon einige Zeit kannte, schmunzelte angesichts meiner Bildwahl und meinte nur: „Die gefällt Dir wohl?" Er war sich natürlich unserer Möglichkeiten bewusst, manche Dinge ins rechte Licht zu rücken und uns dadurch ein wenig Zuwendung zu erarbeiten.

Wir waren aber stillschweigend einig, diese beinahe magischen Chancen nur ganz sparsam einzusetzen, auch um mit der Redaktion keine Probleme zu bekommen. Viele beneideten uns um unseren Job und warteten auf eine Gelegenheit, uns bei Max Schreiber (kein Künstlername, sondern purer Zufall), dem Chefredakteur, anzuschwärzen.

Der war ein Reporter alter Schule mit heutzutage geradezu anachronistischen Moralvorstellungen und persönlichen Verquickungen in der Berichterstattung hätte er unerbittlich geahndet – es hieß also, vorsichtig zu sein.

Aber wie gesagt, manchmal nutzten wir unsere Möglichkeiten schon.

Es war zirka ein Jahr davor, wir waren bei einer Vernissage. Die Frau eines Stadtrates stellte eigene Keramiken aus - vom künstlerischen Standpunkt kaum erwähnenswert, eine der vielen Politikerfrauen auf dem Ich-Trip. Manche spielten Bridge oder Golf, die weniger sportlichen hatten Affären, manche outeten sich, manche pushten ihre Männer zu politischen Höchstleistungen – diese hier töpferte.

Pflichtschuldig und vollzählig (und deshalb waren auch wir hier), ohne Rücksicht auf unterschiedliche Parteizugehörigkeit, kamen die Politmänner, um sozusagen durch kollektive Aufmerksamkeit ihr meist schlechtes Gewissen den Frauen gegenüber abzubauen. Die Damen waren aus Solidarität gekommen und um sich nachher in diversen Zirkeln und Meetings über die „Scherben" der Frau L. mokieren zu können.

Alle waren sie gekommen und heuchelten Bewunderung: „Nein, wie sie das kann!", „Ach, wie sie das nur macht, so nebenbei!", „Bewundernswert, und das trotz der Kinder!", „Würde dich das nicht auch interessieren, Schatz?"

Heinz fotografierte wie wild, und obwohl ich normalerweise nicht darauf achtete, fiel mir auf, dass er sehr häufig den Clan des Bürgermeisters im Visier hatte. Dieser war nach einer kurzen Eröffnungsrede und einigen Gläsern Sekt unter Hinterlassung von Frau Bürgermeister und Gefolge wieder entschwunden – es täte ihm so leid, aber die Termine – wer sollte das besser verstehen, als die Frau eines Leidensgenossen?

Dass mir überhaupt auffiel, wen Heinz so ausdauernd ablichtete, deutete schon darauf hin, dass er seine sonst übliche Vorsicht beim Motivfang außer Acht gelassen hatte, und das wiederum deutete darauf hin, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Ich betrachtete die Gruppe eingehender und schon bald keimte in mir ein Verdacht auf. Neben dem Pressesprecher und den beiden Sekretären des Bürgermeisters und seiner Gattin waren auch Verena M., die Leiterin des Bürgerforums, sowie deren Tochter, ein hochgewachsenes, schwarzhaariges Mädchen, zweiundzwanzig Jahre alt und als Szenenachwuchs nur unter „die schöne Caroline" bekannt, vertreten. Sie war eine Gazelle – lange Beine, extrem schlank, kleine feste Brüste, graziler Hals, große dunkle Augen, aufgeworfene, für meinen Geschmack etwas zu laszive Lippen, sehr elegante Bewegungen, selbstbewusstes Auftreten. Alles in allem ein Laufstegtyp, sehr bemüht, den Sprung vom diesbezüglich etwas provinziellen Wien auf das internationale Parkett der Modewelt zu schaffen, massiv unterstützt von ihrer Frau Mama, die ihre Position ausnutzte, um der Tochter regelmäßige Auftritte in der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Ich hatte bisher kaum Notiz von ihr genommen und es auch nicht für notwendig erachtet, ihr einige Zeilen zu widmen, außer vielleicht manchmal bei Gästeaufzählungen ihren Namen zu nennen, aber Bild hatten wir bis dahin keines von ihr veröffentlicht.

Am nächsten Tag brachte Heinz die Fotos in die Redaktion, und ich begann sie durchzublättern. Mein Verdacht wurde schon beinahe zur Gewissheit – als Unbeteiligter hätte man annehmen können, die Politprominenz sei zusammengetroffen, um der schönen Caroline zu huldigen – so oft war sie abgelichtet.

Da am Vorabend außer der Vernissage in Wien nichts los gewesen war, hatte ich vor, mehrere Bilder abzudrucken, denn sehr viel Spektakuläres hatten meine Gespräche nicht ergeben.

Heimtückisch wählte ich den Bürgermeister bei der Eröffnung, die Künstlerin mit ihrem Ehemann und ein Foto mit einigen Exponaten. Heinz schien nicht ganz zufrieden mit der Auswahl, immer wieder versuchte er, meine Aufmerksamkeit auf Abbildungen des Bürgermeisterclans zu richten, vornehmlich auf solche, wo die schöne Caroline besonders gut zur Geltung kam und davon gab es etliche.

Ich mimte den Uninteressierten, tat, als ob ich nicht verstehen würde. Heinz wurde immer unruhiger und vehementer in seinen Überzeugungsversuchen. Er meinte, selten sei das Gefolge des Bürgermeisters so komplett, die Frau des Stadtoberhauptes so vorteilhaft, der Pressesprecher, den wir beide nicht ausstehen konnten, so miserabel getroffen wie auf diesem oder jenem Foto.

Ich konnte ein Schmunzeln nicht mehr unterdrücken: „Und die schöne Caroline gefällt Dir gar nicht?" Er wurde rot, er, der alte Zeitungsfuchs und Schwerenöter wurde rot wie ein kleiner Bub, den man beim Lügen erwischt hatte – „Doch, wieso? Du glaubst doch nicht, das ist ....."

„Also gut", sagte ich, „wir nehmen den Pressesprecher als viertes Bild, wir brauchen von Caroline ja nichts zu erwähnen."

„Ach, weißt du", meinte Heinz, „die Leser werden doch sicher wissen wollen, wer da neben ihm steht – und so schlecht sieht sie ja wirklich nicht aus."

Ich schaute ihn grinsend an und schließlich lachte er: „Tu mir bitte den Gefallen. Ich treffe mich morgen mit ihr, ich habe sie bei Charly (ebenfalls Fotograf) kennengelernt – sie würde sich so freuen, hat sie gemeint, wenn wir sie bei unserem Bericht erwähnen könnten, textlich und bildlich. Wenn ich das mit dem Freuen richtig verstanden habe, dann würde ich mich, glaube ich, auch sehr freuen – also sei so gut."

Am darauffolgenden Tag erschien der Artikel über die stadträtliche Keramikerin mit den vier Bildern, wobei das letzte untertitelt war:

„Caroline M.. , das schöne Wiener Model auf dem Sprung zur internationalen Karriere, flankiert vom Pressesprecher des Bürgermeisters, der gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe scheint."

Am Abend danach trafen uns Heinz und ich bei einer Buchpräsentation; er sah ziemlich blass und übernächtig aus, aber der Kreis, den er mit Daumen und Zeigefinger formte, sagte alles.

Zwei Monate und ebenso viele Erwähnungen in unserer Glosse dauerte die Liaison, dann verließ Caroline Wien Richtung Brüssel unter Zurücklassung eines vorübergehend unglücklichen Heinz und drei Alben mit „schöne Caroline – Fotos".

Diesmal war also ich der Ertappte – „Ja", sagte ich „die gefällt mir!" Dann rief ich Carlo an und bat ihn, sie zu seinem Geburtstags-Clubbing einzuladen. Ich wollte sie näher kennenlernen und unter Umständen meine medialen Möglichkeiten zum beiderseitigen Nutzen ausspielen.

Nachdem das Gratulationsdefillee vorbei und die Geschenke – vom alten Wein bis zum Scherzkondom – ausgepackt waren, wendete ich mich wieder den Gästen zu, die in Gruppen ums Buffet herum standen oder es sich an den Tischen bequem gemacht hatten. Ich wollte diesen Abend doppelt nutzen. Erstens musste von einem derartigen Event am nächsten Tag ein Bericht, prall gefüllt mit Fotos der ausgelassenen Gesellschaft erscheinen. Heinz war schon emsig am Werk. Der Artikel musste gespickt sein mit den neuesten Verlobungs- und/oder Scheidungsgerüchten und zweitens wollte ich meiner Lieblingsschauspielerin einen besonderen Stellenwert durch Aufnahme in meine Serie „Wer ist Wer in Wien" verleihen.

Gut präpariert von Carlo, dem Allwissenden, näherte ich mich alsbald dem Prominentenanwalt W.. Über ihn wurde gemunkelt, dass seine Liaison mit der schönen Boutiquenbesitzerin Z. in Auflösung begriffen sei, weil man die Z. in letzter Zeit mehrmals mit dem Textilgroßhändler L. beobachtet hatte, einmal sogar eng umschlungen beim Verlassen der „Salon-Bar".

Tatsächlich war W. auch alleine erschienen und stand in einer Gruppe mit anderen Yuppie-Anwälten (Markenzeichen Rossschwänzchen) und deren Frauen/Freundinnen.

„Guten Abend, Herr Doktor W., wie geht es Ihnen? Heute ganz alleine?" Er drehte sich zu mir um, offensichtlich nicht so begeistert, mich zu sehen, wie sonst, und blickte etwas sauertöpfisch drein: „Ist das etwa verboten, Herr Auerbach?"

„Ich bitte Sie, natürlich nicht; aber wie man Ihnen sicherlich schon hinterbracht hat, gibt es Trennungsgerüchte um Sie und Frau Z. – und wenn Sie dann tatsächlich zu so einem Ereignis alleine auftauchen, muss ich im Interesse der Öffentlichkeit schon nachfragen. Ich meine, es geht ja um eine viel beachtete Beziehung ....!"

Er strich sich ein wenig nervös durchs Haar und schien sich unbehaglich zu fühlen. „Frau Z. ist wie ich vielbeschäftigt, und wenn wir unsere Termine nicht immer so koordinieren können, dass wir gemeinsam ausgehen, heißt das noch lange nicht, dass wir uns trennen wollen!"

„Aber für Herrn L., den bekannten Geschäftsmann, scheint sie immer Termine frei zu haben."

„Herr Auerbach, Frau Z. ist eine selbständige Person, der ich nicht vorzuschreiben habe, mit wem sie ausgeht – ich habe aber vollstes Vertrauen zu ihr." „Gar nicht eifersüchtig, Herr Doktor?"

„Ich möchte jetzt keine Kommentare mehr dazu abgeben." „Das ist schade, aber bitte gestatten Sie eine letzte Frage. Stimmt es, dass Frau Z. aus Ihrer gemeinsamen Wohnung in Hietzing ausgezogen ist?" Es war geraten. Verblüfft starrte er mich an: „Woher ........, kein Kommentar. Guten Abend."

Während des Gespräches hatten wir uns ein paar Schritte von seinen Kollegen entfernt. Jetzt drehte er sich um, begleitet von meinem „Danke schön, Herr Doktor, netten Abend noch!", und steuerte wieder auf sie zu, um ein Lächeln bemüht. Jemand sagte etwas zu ihm, was ich nicht verstand, alle lachten laut – er schien verlegen zu sein.

Unauffällig beobachtete ich ihn weiter. Nach einigen Minuten eilte er zur Theke und bat Verena ums Telefon. Hastig wählte er eine Nummer. Ungeduldig klopfte er mit den Fingern aufs Holz der Bar, lange wartete er, aber es schien sich niemand zu melden.

Er legte auf, blickte unschlüssig um sich, ging wieder auf seine Freunde zu, dann drehte er sich um, suchte Carlo, fand ihn im Gespräch mit einem jungen Tänzer von der Staatsoper, trat auf ihn zu und wechselte einige Worte mit ihm.

Sie schüttelten sich die Hände, er ging schnurstracks zum Ausgang und Carlo sah ihm verwundert nach. „Was war denn mit unserem Herrn Rechtsanwalt?"

„Ich weiß nicht so recht, er hat irgendetwas von nicht wohl fühlen gesagt und dass er heim möchte – irgendwie komisch."

„Gar nicht komisch", lachte ich und erzählte ihm von dem Gespräch und meinem Volltreffer.

Die Stimmung wurde immer lockerer, Carlo ließ die Korken knallen, langsam begann sich der harte Kern derer zu formieren, die bis in die Morgenstunden feiern würden. Tische wurden zusammengeschoben, Gruppen, Grüppchen und Pärchen bildeten sich - jetzt war Heinz´sche Jagdzeit. Die Aufmerksamkeit und die Zurückhaltung der Gäste begannen, unterstützt durch Alkohol und gute Stimmung, abzuebben und der eine oder andere Kuss, manch tiefer Blick in ebensolches Dekolleté, manche Hand auf manchem Knie, all das war jetzt zu sehen und gab Aufschlüsse über neue Konstellationen und neuen Stoff für meine Kolumne. Nach einem kurzen Gespräch mit einem Jungstar des aktuellen Musicals über seine derzeitige Arbeit und weiteren Plänen wendete ich mich endlich dem wahren Objekt meiner Begierde zu.

Sie saß, sichtlich gut gelaunt, in einer Runde von Bühnenleuten. Man scherzte über die letzten Neuigkeiten an der Staatsoper, schadenfroh und eifersüchtig zugleich (keiner der Anwesenden gehörte zum Ensemble). Sie war strahlender Mittelpunkt in einem langen, dunkelblauen Kleid mit einem Schlitz auf der rechten Seite, der sich erst weit über dem Knie schloss. Als einzigen Schmuck trug sie eine zweireihige Perlenkette, die sich eng um ihren Hals legte und dazu passende, goldene Ohrringe mit jeweils einer großen Perle. Ich nahm zwei Gläser Sekt von einem Tablett an der Bar und trat seitlich hinter sie.

„Entschuldigen Sie, Frau Dietgers, darf ich Sie einen Moment stören?" Sie blickte sich um und schenkte mir ein freundliches Lächeln, als sie mich erkannte: „Oh, Herr Auerbach, Sie sind auch hier" , und dann, nach einer kurzen Pause, „Natürlich, Sie sind ja überall, wo Rauch aufsteigt."

Ich reichte ihr eines der Sektgläser, sie blickte um sich, als wollte sie mich auffordern, mich zu setzen. Da an ihrer Seite keine freien Stühle waren, stand sie unvermittelt auf und hängte sich bei mir ein. „Kommen Sie, wir suchen uns einen freien Tisch. Ich muss mich ja bei Ihnen noch für Ihren netten Artikel bedanken, so freundlich haben nicht alle berichtet."

„Ehre, wem Ehre gebührt", antwortete ich und hob mein Glas: „Auf Ihr Wohl!" Wir prosteten uns zu, tranken einen Schluck und setzten uns auf zwei freie Barhocker, unweit vom Geburtstagskind und seinem schweigenden Schatten.

„Ich habe ein Attentat auf Sie vor", begann ich, „Sie wissen vielleicht, dass ich periodisch Personen des öffentlichen Interesses in einer Serie, die „Wer ist Wer in Wien" heißt, vorstelle. Es wäre schön, wenn ich Sie als Nächste präsentieren könnte. Was meinen Sie, habe ich da eine Chance?"

Natürlich kannte sie diese Serie, sie wusste auch sicherlich, dass schon längere Zeit keine junge Schauspielerin mehr darin berücksichtigt worden war, einmal, weil sich keine so zwingend angeboten hatte und zum zweiten, weil ich sorgfältig selektieren und Personen aus vielen verschiedenen Sparten vorstellen musste, damit ich durch angebotene Vielfalt den Leser bei der Stange hielt.

Die Darstellung war immer dieselbe. Einer kurzen einleitenden Beschreibung des Werdeganges mit etwaigen bisherigen Höhepunkten folgte ein Fragebogen mit zehn stets gleichen Fragen, die ich gemeinsam mit einem Meinungsforscher ausgearbeitet hatte und von denen man annehmen konnte, dass sie die Masse der Leser am brennendsten interessierten.

Den Abschluss bildeten dann einige provozierende Fragen, auf die spontan zu antworten war.

„Glauben Sie denn, dass ich von so großem öffentlichen Interesse bin?" Kokett blickte sie mich von der Seite an, ihr Unterton war weniger zweifelnd als geschmeichelt.

„Davon bin ich überzeugt. Wir müssten uns allerdings ausreichend Zeit dafür nehmen, ich brauche ja jede Menge Hintergrundinformationen."

Sie war einverstanden und so vereinbarten wir für den übernächsten Abend, der war nämlich spielfrei für sie, eine Zusammenkunft bei Carlo.

Wir prosteten uns noch einmal zu und dann erhob ich mich. „Ich darf mich verabschieden, wünsche noch einen schönen Abend und gute Unterhaltung." Sie gab mir die Hand und erwiderte: „Ich bleibe nicht mehr lange. Wissen Sie, wenn man den ganzen Tag unter Schauspielern ist, muss man sie nicht auch noch die Nacht um sich haben. Ich werde ein bisschen mit Ferry plaudern und dann fahre ich heim – gute Nacht."

Ferry, das war das Faktotum des Wiener Theaterlebens – ein Privatier, der seinen Lebensunterhalt aus den Zinsen einer Erbschaft bestritt, die ihm ein völlig unbekannter Onkel aus Südafrika hinterlassen und die ihn veranlasst hatte, seinen Beruf als höherer Bankangestellter sofort aufzugeben.

Seit mehr als einem Jahrzehnt frönte er damals schon den Künsten, insbesondere der Sprechbühne – es gab keine nennenswerte Aufführung in den großen Theatern des deutschsprachigen Raumes, die Ferry nicht gesehen hatte. Dass er für alle Wiener Bühnen Besitzer von Abonnements war, verstand sich von selbst, und dass er im Lauf dieser langen Zeit eine Reihe von Bekanntschaften in der Theaterszene geschlossen hatte, ebenso.

Er war mittlerweile zu einem anerkannten Fachmann und gefürchteten Kritiker geworden, der sich zwar nie in irgendwelchen Medien äußerte, dessen Urteil aber durchaus Gewicht hatte.

Man erzählte die Geschichte von dem berühmten Charakterdarsteller M., der nach einer Premiere in den durchwegs positiven Kritiken schmökernd seinem Agenten die bange Frage stellte: „Und was hat Ferry gesagt?"

Seine ständige Präsenz führte dann schließlich auch dazu, dass er fixer Bestandteil aller wesentlichen Festivitäten wurde, bei denen Theaterleute einluden.

Mit ihm also wollte sie plaudern – das deutete wirklich darauf hin, was Carlo behauptet und ich nicht geglaubt hatte, dass sie tatsächlich keinen Lover hatte.

Nachdem ich mich auch von Carlo mit einer enthusiastischen Umarmung und von Manuela mit einem schweigenden Händedruck verabschiedet hatte, winkte ich Heinz und deutete ihm mit einer Handbewegung, dass ich zu gehen beabsichtigte. Er nickte mir nur kurz zu und blitzte weiter – er schien noch nicht genug zu haben. Ich machte mich auf den Heimweg, rundherum zufrieden.

Ich war nie von zuhause ausgezogen. Ursprünglich wohnte ich mit meinen Eltern in dem Zinshaus im 18. Wiener Gemeindebezirk, in der Nähe der Währinger Straße. Mein Vater war Elektriker bei den Wiener Verkehrsbetrieben und überstand den Stromstoß nicht, der ihn traf, als er auf dem Dach einer Tramway stehend, mit dem Kopf die Oberleitung berührte. Ein unachtsamer Kollege hatte vergessen, sie stromlos zu schalten. Damals war ich vierzehn. Meine Mutter jobbte als Kellnerin in einer Bowlinghalle, was sie verdiente, reichte gerade für unseren Unterhalt, zusammen mit meiner Waisenrente.

Ich besuchte das Gymnasium – so recht und schlecht. Nach der Matura, die ich mir erst bei einem herbstlichen Wiederholungstermin erkämpft hatte (das Lateinische war nie mein Fach gewesen – ich hasse alles Tote), versuchte ich mich der Reihe nach beim Studium von Medizin, Wirtschaftswissenschaften und Geographie, jeweils nur ein Semester, aber nichts davon war die Erfüllung. Viel lieber war mir das Herumhängen in der damals gerade wild wuchernden Beiselszene des ersten, fünften und sechsten Bezirkes. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel verdiente ich mir durch Kellnern und Plattenauflegen ebendort.

Nachdem das Studium der Beiseln mich auch nicht mehr ausgelastet hatte, suchte ich mir einen richtigen Job und ging zur Zeitung.

Als ich neunundzwanzig war, verlor ich meine Mutter. Ein betrunkener Tramwayfahrer war zu schnell gefahren. In einer Kurve entgleiste der Triebwagen und fiel um. Meine Mutter wurde hinausgeschleudert und starb noch an der Unfallstelle, alle anderen Insassen, auch der Fahrer, kamen mit dem Schrecken davon.

Die Verkehrsbetriebe hatten uns kein Glück gebracht.

Nun hatte ich plötzlich eine Wohnung ganz für mich alleine. Da es sich um eine sogenannte „Mieterschutzwohnung" handelte, was soviel heißt, dass der Zins, für den Hausherrn ruinös, für den Mieter angenehm niedrig, nicht erhöht werden kann, beschloss ich, sie zu behalten.

Die Toilette, ebenso wie das Fließwasser – die altbewährte Bassena – wurden in die Wohnung verlegt. Neben dem somit aus Vorzimmer und Gang entstandenen Bad verfügte ich über eine kleine, zentral gelegene Küche, von der aus man in Wohnzimmer und Kabinett gelangte. In Letzterem schlief ich von Kindheit an und traktierte seit einigen Jahren meinen Flipperautomaten, ein Exemplar der ersten Stunde – alles mechanisch.

Im Wohnzimmer, das früher gleichzeitig auch als Elternschlafzimmer gedient hatte, residierten meine stummen Hausgenossen in ihrem Aquarium. Kleine Süßwasserfische bewegten sich in einem Gewirr aus Wurzeln, Steinen, Wasserpflanzen und Algen, meistens ein wenig ungepflegt, aber anscheinend nicht unzufrieden, wie ich aus der erstaunlich niedrigen Mortalitätsrate schloss.

Den Rest der Wohnung benötigte ich, abgesehen von wenigen, aber gemütlichen Sitzgelegenheiten, einem kleinen Fernseher und einem kombinierten Ess - und Schreibtisch für meine Bücher. Ich las gerne und alles und womöglich zur selben Zeit.

Als chronisch ungeeignet für jede Art von Hausarbeit lieferte ich einen erheblichen Anteil meines Einkommens bei Ludmilla ab, einer slowakischen Perle ukrainischen Ursprungs, die mit ihrem ständig betrunkenen Ehemann Oleg und einer Kinderschar zwei Stockwerke ober mir wohnte und sich um alle Belange meines Haushaltes vom Einkaufen über Bettenmachen und Wäsche waschen kümmerte.

Mein Tagesablauf unterschied sich grundlegend von dem normaler Zeitgenossen, da die Einsätze hauptsächlich abends oder am Wochenende untertags stattfanden. Daher schlief ich meist bis Mittag, um nach einem ausgiebigen, fast rituellen Frühstück in die Redaktion zu fahren und meine Texte abzuliefern, die ich immer dort erst verfasste. Ich brauchte diesen Trubel und die Hektik des allgegenwärtigen Zeitdruckes.

Mein Privatleben gestaltete sich relativ einfach. Nachdem anfängliche Versuche, ernsthafte Beziehungen von längerer Dauer einzugehen, durchwegs sehr rasch an meinem Beruf und den damit verbundenen Tücken zeitlicher und gesellschaftlicher Art zerbrochen waren, begnügte ich mich lange Zeit mit mehr oder weniger befriedigenden One-Night-Stands und mied alle Kontakte, die mehr hätten ergeben können.

Als stiller Beobachter meiner selbst musste ich mich daher ein wenig über meine Bemühungen um Ulla Dietgers wundern.

Der Bericht über das Geburtstagsfest las sich so:

„Bella Italia bei Carlo´s"

„Der bisherige gesellschaftliche Höhepunkt des heurigen Sommers fand gestern im In-Lokal Carlo´s auf der Freyung im ersten Bezirk statt. Eine der schillerndsten Gestalten der Wiener Kunst-, Kultur- und Gastronomieszene, Karl (besser bekannt als Carlo) Wasicek, lud zum Geburtstagsclubbing. Bei köstlichem italienischen Buffet aus der eigenen Küche (Meisterkoch Hans Stupic hatte sich wieder einmal selbst übertroffen) delektierten sich an die hundert geladenen Gäste.

Das Geburtstagskind, übrigens in Begleitung einer geheimnisvollen Schönen in extravagantem Outfit, wurde überhäuft mit teils wertvollen (z.B. eine Flasche Mouton-Rothschild, Jahrgang 1944 vom Filmproduzenten Maximilian M.), teils originellen (100 rosarote Kondome mit seinem Namen von Gräfin Puppi A.) Geschenken.

Carlo revanchierte sich mit mehr als 200 Flaschen speziell für diesen Anlass abgefülltem Prosecco extra brut (trocken) von seinem Lieblingsweingut aus Friaul und erlesenen Spirituosen aus den hintersten Winkeln seines Kellers.

Die fröhliche Gästeschar feierte bis in die frühen Morgenstunden in ausgelassener Stimmung. Nur wenige verließen vor Mitternacht das Fest, unter ihnen Dr. W., der Prominentenanwalt, dessen vielbeachtete Beziehung mit der Boutiquenbesitzerin Andrea Z. kurz vor ihrer Auflösung steht und dem daher offenbar nicht nach Feiern zumute war. Unter den Gratulanten gesehen haben wir weiters Frau Ulla Dietgers, die gefeierte Debütantin aus der Josefstadt, fröhlicher Mittelpunkt einer großen Gruppe von Schauspielerkollegen.

Die Primarärzte Prof. Z. und Sch., der Doyen der Wiener Rechtsanwälte, Dr. P., Stadtrat Fritz H. als Vertreter des im Ausland weilenden Bürgermeisters, Franz Z. und Karl V., Mitglieder des Staatsopernballetts sowie der junge Musicalstar Harald O., derzeitiger Hauptdarsteller von „Die Schöne und das Biest", waren ebenfalls unter den Gästen.

Für einen kleinen Wermutstropfen sorgte der bekannte Designer Fernando Ch., der offenbar vom Prosecco animiert, vor dem Lokal eine Rauferei mit einem Taxifahrer inszenierte, die durch eine Funkstreifenbesatzung geschlichtet werden musste (hatte mir Heinz berichtet).

Ansonsten kann man wirklich von einem gelungenen Fest sprechen, dass wieder einmal die Fähigkeit Carlo Wasiceks, solche Events auszurichten, mehr als bestätigt hat – herzliche Glückwünsche auch von dieser Stelle."

Aus den zahlreichen Fotos von Heinz wählten wir Carlo und Manuela, gemeinsam mit Gratulanten, Ulla und einen Kollegen mit dem Untertitel: „Die bezaubernde Schauspielerin Ulla Dietgers mit ihrem Kollegen Joachim S. von der Josefstadt", sowie eine Aufnahme vom Buffet. Das Bild von Katherina F., der TV-Serienheldin, die mit zielsicherer Hand dem Avantgarderegisseur Gregor E. während eines langsamen Tanzes zwischen die Beine griff, wanderte ebenso ins Archiv von Heinz, wie der Schnappschuss vom volltrunkenen Ferry, den man zum Abschluss des Festes auf der Theke aufgebahrt hatte, eine brennende Kerze in den gefalteten Händen, den Mund vom Schnarchen weit geöffnet.

Der weinschenkende Produzent landete in der Abteilung „Kratzer" (am Po) und der Frisurendesigner Francesco bei den Nasenbohrern – insgesamt eine beachtliche Ausbeute für Heinz, die ihn zu Recht stolz machte.

Am Nachmittag vor dem vereinbarten Treffen erreichte mich ein böser Anruf vom Anwalt Dr. W., der mir alle möglichen Rechtsmittel androhte, falls ich weiterhin die Unwahrheit über ihn und Frau Z. verbreitete.

Nichts von alledem sei wahr, alles in bester Ordnung, er verlange Richtigstellungen. Da ich in der Zwischenzeit ein sehr aufschlussreiches Telefongespräch mit der Dame geführt hatte, die ich ja ebenfalls schon von früheren Begegnungen kannte, nahm ich seine Drohungen nicht sehr ernst und schwafelte etwas von Pressefreiheit und Informationspflicht.

Sie war nämlich wirklich ausgezogen und bestätigte auch ihr durchaus freundschaftliches Verhältnis zum Textilgroßhändler G., das sich aus einer überaus angenehmen Geschäftsbeziehung entwickelt hätte. Sie bat mich um vorläufiges Stillschweigen, da sie ihre Angelegenheiten neu ordnen wollte, versprach aber gleichzeitig, mir als Erstem grünes Licht zur Veröffentlichung zu geben – ich war ja auch nicht ganz ohne Konkurrenz.

Nachdem ich meinen Beitrag für den nächsten Tag, einen Bericht über eine Sportlerehrung in Salzburg, abgegeben hatte, machte ich mich auf den Weg zu Carlo´s. Es war zwar noch viel zu früh, aber ich saß lieber untätig in meinem Stammlokal bei einem guten Glas Brunello, als in der verrauchten Redaktion. Der einzige wirkliche Nachteil an meinem Job – ich war überzeugter Nichtraucher.

Entgegen seiner Gewohnheit saß Carlo schon im Lokal und der traurige Blick der etwas glasigen Augen und die hängenden Schultern verhießen nichts Gutes.

Da noch keine Gäste anwesend waren, rief er mir schon durchs Lokal zu: „Sie ist weg, Franzi, sie ist weg!" Wen er meinte, war nicht schwer zu erraten. „Seit wann?", fragte ich und setzte mich zu ihm. Während er mir in ein bereitstehendes Glas aus einer halbleeren Grappaflasche einschenkte, seines war noch voll, begann er zu erzählen:

„Gestern Früh, ich glaube, es war so um halb sechs, fuhren wir vom Fest nach Hause, das heißt, Manuela fuhr. Ich war ziemlich abgefüllt, zwar weit entfernt von einem Vollrausch, aber sie hatte fast nichts getrunken, war praktisch nüchtern.

Ich war so gut aufgelegt, es war ja auch wirklich lustig gewesen, ich war richtig gut drauf. „Hat es Dir denn gar nicht gefallen?", fragte ich sie. „Doch, eigentlich schon, aber ....." „Was, aber?" „Nun, ich mag´s halt nicht, wenn du dich zum Affen machst, für diese Idioten." Ich war gekränkt. „Was heißt Affen, was heißt Idioten – ich bin eben jemand, der gerne lacht und Späße macht, und die Idioten sind zum Teil meine Freunde, zum Teil lebe ich von ihnen, weil sie bei mir essen oder mir Arbeit geben, und alle sind wirklich keine Idioten." Ich redete mich ein wenig in Rage: „Aber wenn man natürlich nur herumsitzt und böse dreinschaut und sich an keinem Gespräch beteiligt, dann macht man sich selbst zum Außenseiter und muss die anderen als Idioten beschimpfen."

Sie sagte darauf nichts und fuhr ruhig weiter, die Rechte am Schaltknüppel. Ich beruhigte mich auch gleich wieder und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich hatte sie ja wirklich nicht kränken wollen, und eigentlich hatte sie ja auch nicht ganz unrecht – jedenfalls legte ich meine Hand auf ihre und wollte sie streicheln, sie entzog sie mir aber sofort und lenkte von da an mit beiden Händen. Ich sagte, sie solle nicht beleidigt sein, ich hätte es nicht so gemeint – aber sie hat nicht reagiert.

Als wir dann in der Wohnung waren, wollte ich sie in die Arme nehmen und an mich drücken, da ist sie ganz steif geworden und wollte mich wegstoßen. Ich habe sie festgehalten und versucht, sie zu küssen – da hat sie mir eine Ohrfeige gegeben, ziemlich fest sogar, mit ihrer kleinen Hand.

Verdattert habe ich sie losgelassen und mich entschuldigt, aber da war sie schon auf dem Weg in ihr Zimmer und hat sich eingeschlossen. Ich bin ihr nachgegangen und hab durch die Tür nochmals gesagt, wie leid es mir täte – keine Reaktion.

Ich habe mit gedacht, sie wird sich schon beruhigen und bin schlafen gegangen. Am Nachmittag bin ich aufgewacht, mit einem ziemlichen Brummschädel. Wie ich in die Küche gehe um ein Kopfwehpulver, finde ich den Zettel."

Er nahm ein zerknülltes Blatt, offensichtlich von einem Notizblock abgerissen, aus seiner Sakkoseitentasche und reichte ihn mir. „Du bist auch nicht besser als alle anderen. M.", war alles, was darauf stand, in einer schönen Schrift, mit steilen, eng aneinandergelegten Buchstaben.

„Zuerst habe ich gedacht, sie hat sich halt geärgert und will mich erschrecken, aber dann habe ich gesehen, dass sie alles aufgeräumt hatte und ihre Sachen verschwunden waren. Sogar ihr Bett hat sie abgezogen und die Bettwäsche gewaschen. Ich habe gewartet, herumtelefoniert, ob sie wer gesehen hätte, hier im Lokal vielleicht – nichts.

Die ganze Nacht war ich wach, ich habe gehofft, dass sie vielleicht anruft – nichts.

Franzi, ich bin so ein Idiot, ich habe ja genau gewusst, dass sie Zeit braucht, aber nein, ich Trottel muss zudringlich werden!" Er war wirklich verzweifelt, ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben, den Weiberhelden.

Ich wollte gerade ein paar tröstende Worte von mir geben, als ich hinter uns ein fröhliches „Guten Abend" vernahm – Ulla, für mich war ich schon per du mit ihr, war gekommen, pünktlich zwar, aber doch etwas ungelegen.

Ich sprang auf und begrüßte sie, Carlo erhob sich mühsam, „Ach, ihr seid wohl verabredet, na, ich muss sowieso fort, macht´s gut!"

„Wir reden morgen weiter, Carlo", rief ich ihm nach. Er machte eine müde Handbewegung. „Ist schon okay!", und verschwand in der Küche.

„Was ist denn mit ihm los?" , Sie hatte ihre Augenbrauen fragend hochgezogen, was sehr attraktiv aussah.

„Liebeskummer hat er, der Arme!" – dabei ließ ich es bewenden. Regel Nummer zwei: Erzähle nicht weiter, was du vielleicht einmal verwenden kannst!

Ich merkte ihr an, dass sie gerne mehr erfahren hätte, und bemühte mich um eine Überleitung: „Hat es noch lange gedauert, vorgestern ...., das heißt, eigentlich gestern?"

„Ach nein, nachdem Ferry schon ziemlich blau war und nur mehr berühmte Kussszenen der Weltliteratur nachspielen wollte, bin ich bald nach Ihnen heimgefahren."

Ich schilderte die Aufbahrungsszene, was lautes Gelächter bei ihr hervorrief, verschwieg aber die Fotos. Stattdessen gab ich vor, Carlo hätte es mir erzählt. Beiläufig fragte ich dann: „Wo wohnen sie eigentlich?" Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt für eine junge, bildhübsche Schauspielerin, gab sie zur Antwort: „Na, bei meinen Eltern. Wir haben ein Haus in Klosterneuburg, da habe ich eine kleine Dachwohnung." Also schien Carlo wirklich recht gehabt zu haben.

In der Zwischenzeit hatte Verena die Reste von Carlos Selbstmitleidsgrappa entfernt, die Speisekarte gebracht und die Aperitifbestellung aufgenommen – ein Glas Frizzante für Ulla und ein kleines Bier für mich.

Ich schlug vor, erst in Ruhe das Essen auszusuchen und danach sozusagen mit der Arbeit zu beginnen.

Wir vertieften uns in die Karten, prosteten uns mit den inzwischen servierten Getränken zu und bestellten schlussendlich.

Ulla entschied sich für Knoblauchcremesuppe mit gebratenen Brotwürfeln, Kaninchenbraten mit Polenta und Bandnudeln und Eis zum Dessert; ich wählte das Carpaccio vom Rind mit geriebenem Parmesan. Tagliatelle mit Pilzen und Zitronensorbet. Dazu empfahl die versierte Verena eine Flasche Dolcetto.

Da alle Speisen frisch zubereitet wurden, hatten wir Zeit, unser Interview zu starten.

Ich legte ein kleines Aufnahmegerät auf den Tisch – „Muss das sein?", fragte sie, meinen elektrischen Freund argwöhnisch betrachtend. „Es muss nicht, aber es ist bedeutend bequemer – außerdem erscheint nichts, was Sie nicht gelesen haben."

„Na gut, versuchen wir´s, wissen Sie, ich habe sowas noch nie gemacht, aber wenn Sie weiter so schreiben, wie die letzten Male, muss ich ja wahrscheinlich nichts befürchten." Diese Worte waren von einem entwaffneten Lächeln begleitet.