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Giftige Geheimnisse in Oberösterreich! Im humorvoll-skurrilen Krimi »Auf dem Gipfel ist Ruh'« ermittelt Oberst Benedikt Kordesch aus Wien zum 2. Mal – mit dem Blick für scheinbar Unbedeutendes und dem Herz am rechten Fleck. Normalerweise bestimmt er die Schlagzeilen – jetzt droht er selbst eine zu werden: Bernhard Kolin ist tot, Milliardär und Herausgeber von Österreichs größter Boulevardzeitung. Weil die Politik mit den Kolins gut kann, ist für Oberst Benedikt Kordesch größtmögliche Diskretion angesagt. Doch nur einen Tag später stirbt auch Kolins Mutter. Wie ihr Sohn wurde sie durch Gift vom Blauen Eisenhut vergiftet. Kordesch reist sofort nach Oberösterreich, wo die ganze Familie des ermordeten Medienmoguls wie jedes Jahr die Pfingsttage verbringt. Tatsächlich gibt es eine Menge schmutziger Geheimnisse. Und einen Hotelgast, der mit den Kolins noch eine Rechnung offen hat. Aber irgendetwas sagt Oberst Kordesch, dass die Lösung des Falls weit komplizierter ist..., Originelle Fälle und typisch österreichischer Humor: die Krimi-Reihe für alle, die es etwas hintersinniger und schräger mögen Der Österreicher Simon Ammer bietet in seinen Krimis mit trockenem Humor und herrlichen Landschaften die perfekte Urlaubslektüre für Fans von Thomas Raab oder Wolf Haas. Seinen ersten Fall löst der liebenswert-wunderliche Oberst Kordesch im Österreich-Krimi »Das Paradies war früher schöner«.
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
Simon Ammer
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Normalerweise bestimmt er die Schlagzeilen, jetzt droht er selbst eine zu werden: Bernhard Kolin ist tot, Milliardär und Herausgeber von Österreichs größter Boulevardzeitung. Weil die Politik mit den Kolins gut kann, ist für Oberst Benedikt Kordesch größtmögliche Diskretion bei den Ermittlungen angesagt. Doch nur einen Tag später stirbt auch Kolins Mutter. Wie ihr Sohn wurde sie durch Gift vom Blauen Eisenhut getötet. Kordesch reist sofort nach Oberösterreich, wo die ganze Familie des ermordeten Medienmoguls wie jedes Jahr die Pfingsttage verbringt. Tatsächlich gibt es eine Menge schmutziger Geheimnisse. Und einen Hotelgast, der mit den Kolins noch eine Rechnung offen hat. Aber irgendetwas sagt Oberst Kordesch, dass die Lösung des Falls weit komplizierter ist …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Glossar
Austriazismen, Wiener Ausdrücke
Abweichende Schreibungen oder Artikel
Redewendungen
Eigentlich war Snežana Šubić, die Kordesch gerne Schneeflocke nannte, seine liebste Kollegin. An diesem Tag, einem Donnerstag im Mai, hörte er sie allerdings im Büro nebenan in einem fort auf und ab rennen. Gerade redete sie mit sich selbst: »Wo sind jetzt wieder die Perlenohrringe, jebem ti?«
Ihre Nervosität übertrug sich auf Oberst Benedikt Kordesch. Dabei war es die Hochzeit von Snežanas Schwester und nicht ihre eigene, die am Samstag bevorstand. Den Freitag hatte sie sich zwar freigenommen, doch schon am Donnerstag hielt sie offenbar nichts mehr in ihrem Bürosessel. Alle paar Minuten lief sie in Kordeschs Büro und fragte ihn etwas anderes.
Seit einer Stunde versuchte er, sich auf die Statistik vor ihm zu konzentrieren und die Werte in den Tabellen zu addieren. Doch bald erschien Snežana wieder in der Tür. Sie zeigte auf ihre Ohrringe: »Oder findest du die besser?«
Um zwei Uhr am Nachmittag reichte es ihm. Als er sich gerade zwischen drei Lippenstiften entscheiden sollte, schaute er sie streng an und sagte: »Schneeflocke, du gehst jetzt nach Hause. Da kannst du in Ruhe alles anprobieren. Ich melde dich um fünf bei der Zeiterfassung ab.«
Sie starrte ihn fragend an und entgegnete ihm: »Du willst mich doch nur loswerden.«
»Du hast mich wieder einmal durchschaut«, sagte Kordesch und zwinkerte. »Wir sehen uns am Dienstag. Du wirst sehen, es wird eine super Hochzeit und du wirst die zweitschönste Schneeflocke von allen sein.«
»Warum nicht die schönste?«
Benedikt Kordesch reichte es. Alles, was er sagte, war falsch.
»Die Schönste muss die Braut sein, jebem ti!«, sagte er und stand aus dem Bürosessel auf. »Du kannst ihr doch nicht den Tag vermiesen, an dem sie sich ihr restliches Leben vermiest.«
Snežana umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Aus nächster Nähe musste er die Düfte aller bereits ausprobierten Parfums auf einmal inhalieren. »Schönes Wochenende, du alter Grantscherben! Das werde ich dir nie vergessen.«
Kordesch atmete auf, als sie weg war. Er setzte sich wieder, streckte sich in seinem Bürostuhl aus und starrte einfach in die Luft. Zwei, drei Minuten saß er reglos so da, dann hörte er, wie die Tür aufging. Wieder kam Snežana in sein Büro. »Ich hab was vergessen. Die Mappe auf meinem Schreibtisch muss noch heute zu Frau Dr. Adrian zur Begutachtung. Kannst du das machen?«
»Was muss ich tun?«
»Einen Fahrradboten bestellen und ihm die Mappe geben. Die Adresse von Dr. Adrian steht auf dem Post-it, das auf der Mappe klebt«, sagte Schneeflocke.
»Dr. Adrian«, sagte er und legte die Stirn in Falten. »Ist das die groß gewachsene, schlanke Dame mit den blauen Augen und den guten Manieren, die hier schon öfter was abgeholt hat?«
»Ja, das ist sie. Kannst du dich erinnern? Im Februar war sie mal bei dir. Und kurz vor Ostern war ich schon im Urlaub und sie hat Unterlagen für ein Gutachten abgeholt«, sagte Snežana. »Sie sagt immer, du bist ein Ritter, der ins Mittelalter gehört, sich aber in die Neuzeit verirrt hat.«
»Sagt sie das?«
»Ja! Du hältst ihr immer die Tür auf und nimmst ihr den Mantel ab.«
Natürlich konnte Kordesch sich erinnern; besonders an den letzten Karfreitag. Da war er alleine im Büro gewesen. Diese Dr. Adrian war am Nachmittag gekommen und hatte eine Mappe abgeholt. Kordesch wollte selbst gerade gehen. Und dann gingen sie beide den Kai entlang. Frau Dr. Adrian sagte, dass sie bis zu ihrem nächsten Termin noch Zeit habe, und fragte ihn, ob er mit ihr ein Gläschen in der Stadt trinken wolle. Davon hatte er Snežana wohlweislich nichts erzählt.
Kordesch hatte Ja sagen wollen, dann aber zog er sich mit einer Notlüge aus der Affäre und ging alleine nach Hause. Warum, wusste er nicht. Er mochte diese Dame. Aber er wusste genau, dass er bei einer solchen Gelegenheit zu schwitzen beginnen oder ein Glas umstoßen oder etwas Unbedachtes sagen würde. Die Gastritis war damals gut unter Kontrolle und er fürchtete, sie würde vom Sekt oder Wein sofort wiederkommen. Meist wurde ihm ja schon übel, wenn nur der saure Geruch von Weißwein in seine Nase stieg. Nein, Kordesch war einfach nicht gemacht für solche Abenteuer. Und vor allem: Worüber sollte er sich mit einer Juristin unterhalten?
Der Witz dieser Geschichte war, dass Kordeschs Gastritis ab dem nächsten Tag schlimmer wütete als je zuvor. Wieder ging er zu allen Ärzten und hörte dieselben Sätze, die er schon seit Jahren kannte: »Wir müssen wohl eine Magenspiegelung machen«; »Vielleicht sollten Sie Ihre Ernährung umstellen«; »Haben Sie es schon einmal mit traditioneller chinesischer Medizin versucht?«
»Und warum kommt sie nicht her, um die Mappe abzuholen?«, fragte Kordesch.
Snežana stampfte mit einem Fuß auf. »Bene, nerv mich nicht. Ich habe andere Sorgen. Sie kann nicht von zu Hause weg, ich glaube, weil ihr Enkelkind bei ihr ist. Bitte, bitte, ruf einfach einen Fahrradboten. Wenn die Unterlagen nächsten Mittwoch nicht im Parlament sind, bin ich tot.«
»Ist ja gut!«, sagte Kordesch. Als Schneeflocke vom Enkelkind von Frau Dr. Adrian gesprochen hatte, hätte er am liebsten laut aufgelacht. Da hatte Snežana etwas falsch verstanden. Dr. Adrian war ein paar Jahre jünger als er und bestimmt noch keine Großmutter. Aber Lachen war jetzt das Falsche. Snežana war nervös. Kordesch blieb todernst und sagte: »Ich mach das. Du kannst dich zu hundert Prozent auf mich verlassen.«
»Vergiss nicht darauf! Ich schreib dir deswegen noch ein SMS«, sagte Snežana. »Schönes langes Wochenende!«
Sie ging ein zweites Mal. Er wartete noch einige Minuten, ob sie nicht noch einmal zurückkam. Dann ging er nach nebenan. Ihr Schreibtisch war so penibel aufgeräumt, dass Kordesch sich sofort für das Chaos auf seinem Schreibtisch genierte. Auf Snežanas Computertastatur lag eine schwarze Aktenmappe mit einem großen Post-it darauf: Dr. Franziska Adrian, Colloredogasse 35, 1180 Wien.
Plötzlich war ihm nicht mehr danach, im Büro zu bleiben. Er würde die Abmeldung von der Zeiterfassung für Snežana und sich am nächsten Tag nachtragen. Er nahm die Mappe unter den Arm und ging.
Wie jeden Tag ging Kordesch auf dem Nachhauseweg die Berggasse entlang, überquerte den Donaukanal am Oskar-Morgenstern-Platz und ärgerte sich wieder einmal, dass er sich seit Jahren nicht fünf Minuten Zeit nahm, um zu googeln, wer dieser Oskar Morgenstern gewesen war. Wie jeden Tag ging er auf der Rossauer Brücke die Stufen zum Donaukanal hinunter. Und wie jeden Tag spazierte er auch an diesem Donnerstag den Treppelweg entlang. Trotz der Jahreszeit war es nicht wirklich warm. Kordesch richtete sich beim Anziehen nach dem Kalender und nicht nach dem Thermometer, trug eine leichte Hose und ein T-Shirt und fror. Er war nicht sicher, ob bei der Hochzeit am Samstag neben der menschlichen Schneeflocke nicht vielleicht auch wirkliche Schneeflocken auftauchen würden. In den vergangenen zwei Wochen hatte es fast jeden Tag geregnet. Von der Sonne keine Spur.
Das Pfingstwochenende stand bevor. Kordesch wusste nicht, was er mit dem kommenden Samstag und Sonntag anfangen sollte. Und dann kam auch noch der Pfingstmontag dazu, an dem er ebenfalls frei hatte. Beängstigend! 147 Überstunden hatte er angesammelt. Das bedeutete, dass er sich fast vier Wochen freinehmen könnte – eine noch beängstigendere Vorstellung.
Er wollte sich auf eine der Parkbänke setzen, aber an jeder, an der er vorbeiging, hatte er etwas auszusetzen. Die eine war ihm zu dreckig. Vor der anderen stand ein Baum, der ihm die Aussicht verstellte. Denn Kordesch saß gerne da und sah zu, wenn eines der Passagierschiffe stromaufwärts vorbeifuhr. Er wollte die nächste Bank nehmen, die war perfekt. Doch als er näher kam, sah er, dass jemand dort Die Sonne liegen gelassen hatte, die Boulevardzeitung,das Revolverblatt, wie Kordesch sie nannte. Er ging schnell weiter, schaffte es aber nicht, dabei die Schlagzeile nicht zu lesen: Hitler lebte bis 1980 in Südwestafrika.
Sein Magen krampfte sich zusammen. Die chronische Gastritis quälte Kordesch seit Wochen. Wie gut, dass er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. Er blickte in den Himmel. Noch dunklere Wolken waren aufgezogen. Er blieb stehen. Heute muss es sein, sagte er zu sich selbst. Seit einem Jahr nahm Kordesch sich vor, in das kleine Geschäft am Franz-Josefs-Kai zu gehen. Eigentlich nahm er sich seit einem Jahr vor, dort Autohandschuhe aus braunem Leder zu kaufen, seit er manchmal wieder mit einem Auto fuhr. Vor allem aber gab es dort Schirme, schöne englische Regenschirme mit Holzgriff. Und dieser Tag war der richtige. Er würde in das Geschäft gehen und sich den teuersten und edelsten Schirm aussuchen.
Eigentlich hatte er schon sein ganzes Leben vorgehabt, sich einmal einen schönen englischen Schirm zu kaufen, aber seine Frau Ulli hatte ihm das Vorhaben immer wieder ausgeredet. Er würde doch damit nur an einem Regentag außer Haus gehen, den Schirm in einem Kaffeehaus in den Schirmständer stecken und dann, weil es inzwischen aufgehört hatte zu regnen, auf dem Heimweg nicht mehr daran denken und ihn liegen lassen. Und schon wären hundertfünfzig Euro beim Teufel und er würde sich nur Vorwürfe machen. Jahrelang hatte Ulli den Schirmkauf verhindert. Aber inzwischen waren die beiden schon seit sechs Jahren geschieden.
Kordesch brauchte nur ein paar Minuten, bis er das Geschäft erreicht hatte. Er blieb davor stehen und atmete tief ein, als plötzlich sein Handy läutete. Oberstaatsanwältin Krakauer war am Apparat.
»Kordesch, sind Sie in Wien?«
»Ich stehe gerade am Franz-Josefs-Kai. Ich wollte mir heute in diesem Schirm-Geschäft einen Regenschirm …«
»Keine Details, Kordesch!«, sagte Krakauer. »Können Sie zu mir kommen?«
»Wann?«
»Jetzt!«, sagte Wiltrud Krakauer. »Gleich zu mir rauf!«
Es hatte zu nieseln begonnen. Er überlegte kurz, die Straßenbahn zu nehmen, dann aber beschloss er, zu Fuß zu gehen. Der Regen wurde stärker.
Kordesch verfluchte sich selbst. Immer, immer hatte er das falsche Gewand an, die falschen Schuhe und die falsche Ausrüstung dabei. Nie würde er einen englischen Schirm in der Hand halten – zumindest nicht, wenn es regnete. Sein ganzer Körper war ihm sein Leben lang im Weg. Vielleicht sollte er zu einem Chirurgen gehen und sich gleich den gesamten Magen entfernen lassen. Dann wäre Schluss mit der Gastritis.
Durchnässt kam Kordesch im Justizzentrum an. Bei der Sicherheitsschleuse stand eine Schlange. Nun hatte er es auch noch zu einer Verspätung gebracht. Er wusste, dass Krakauer das nicht goutieren würde. Bestimmt wird ihr erster Satz eine Rüge fürs Zuspätkommen sein, dachte er.
Doch die Staatsanwältin war gar nicht in ihrem Büro. Auf ihrem Schreibtisch sah er eine Mappe liegen, auf der »BKo« stand. Etwa zehn Minuten saß er herum und betrachtete die Fotos von Wiltrud Krakauers Hund, einem Husky, die in kleinen Stehrahmen auf dem Schreibtisch standen. Immerhin gefielen Kordesch an Huskys die schönen blauen Augen. Sonst mochte er Hunde nicht. In seinem nassen Gewand wurde ihm langsam kalt.
Die Tür ging auf, Krakauer trat ein, grüßte nicht, sondern befahl der Sekretärin durch die offene Tür, niemanden einzulassen und keine Telefonate durchzustellen. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte sie. »Ich muss Ihnen zuallererst einen heiligen Eid abnehmen: Von dem, was ich Ihnen jetzt sage, erfährt bitte niemand etwas. Und mit niemand meine ich niemand.«
»Frau Staatsanwältin«, sagte Kordesch. »Wem sollte ich ein Geheimnis verraten? Der Altglas-Sammlung in meiner Wohnung? Oder meiner alten Freundin, der chronischen Gastritis?«
»Den Monolog eines selbstmitleidigen Singles sparen Sie sich bitte für nächste Woche auf«, sagte Krakauer. »Ich brauche Sie jetzt als Ermittler! Ich verstehe sowieso nicht, warum Sie da drüben so gerne den Bürohengst machen. Geht mich auch nichts an.«
Benedikt Kordesch war früher viele Jahre Kriminalpolizist gewesen, hatte aber im Jahr 2017 im Bundeskriminalamt eine Stelle in der Abteilung für Kriminalprävention und Opferhilfe angenommen. Es war ein Bürojob. Die Oberstaatsanwältin sagte immer, er würde noch als Papiertiger sterben. Sie hielt Kordesch weiterhin für einen geborenen Ermittler. Im Juli 2024, in einer Zeit großer Personalknappheit, hatte sie im Innenministerium angesucht, Kordesch zur Aufklärung einer Mordserie am Millstätter See einsetzen zu dürfen. Nun schien sie wieder einen Sonderermittler zu benötigen.
»Ich sage es Ihnen gleich: Ihr Chef hat mir schon grünes Licht gegeben. Ich darf Sie für ein paar Tage haben. Und ich brauche Sie, Kordesch!«, sagte Krakauer.
»Ich sehe schon: Da liegt ein Akt über mich auf Ihrem Schreibtisch«, sagte er.
Die Staatsanwältin sah kurz verwirrt drein. Dann lächelte sie: »Ach so. Nein, nein. ›BKo‹ – das heißt nicht Benedikt Kordesch. Das heißt: Bernhard Kolin.«
»Ein Mord?«, fragte er.
»Weiß ich noch nicht«, sagte sie. »Hören Sie gut zu: Er ist tot.«
»Was? Bernhard Kolin? Der Chef der Sonne?«, fragte er. »Wissen Sie, wie die heutige Schlagzeile lautet?«
»Ich lese den Dreck nicht«, sagte die Staatsanwältin. »Kordesch! Niemand darf es vorerst erfahren. Hermann Kolin … Sie wissen schon … der alte Kolin … er hat heute angerufen. Nicht beim Innenminister, sondern beim Bundeskanzler.«
»Beim Bundeskanzler …«, sagte Kordesch.
»Ja, der hat sich heute bei mir gemeldet«, sagte Krakauer. »Er glaubt eben auch, dass er die Krone der Schöpfung ist.«
»Ich dachte, er ist eine Schöpfung der Krone.«
Die Staatsanwältin blickte ihn fragend an.
»Hat nicht neulich eine Zeitung enthüllt, dass er der Bastard einer adeligen Familie ist?«
»Genug, Kordesch!«, sagte Wiltrud Krakauer. »Bleiben wir bei der Sache. Hermann Kolin will nicht, dass irgendetwas nach außen dringt.«
»Na, so was? Ich dachte, die Sonne ist immer geil auf Todesmeldungen.«
»Sparen Sie sich Ihren Zynismus!«
Die Staatsanwältin stand auf und ging zum Fenster. Kordesch bewunderte die Krakauer und ihre stets tadellose Haltung. Es war nicht einfach, wenn man beständig von zwei Ministern unter Druck gesetzt wurde. Aber mit Hermann Kolin war noch weniger zu spaßen. Kolin hatte als junger Mann die Sonne gegründet und in wenigen Jahren zur marktführenden Boulevardzeitung des Landes gemacht. Solange er die Zeitung leitete, musste jeder Bundeskanzler sich einmal im Monat mit ihm in seinem Lieblingscafé treffen und die Regierungspolitik mit ihm abstimmen. Inzwischen war die Sonne ein milliardenschwerer Konzern. Seitdem Hermann Kolin sich mit Mitte siebzig offiziell zurückgezogen hatte, leitete sein ältester Sohn Bernhard Kolin das Imperium. Kordesch überlegte. Müsste es hatte geleitet heißen? Egal. Bernhard Kolin galt machtpolitisch als schwach. Immer wieder gab es Tratsch, dass seine Frau Nora die eigentliche Kraft in der Konzernleitung sei.
»Wie ist er denn gestorben?«, fragte Kordesch.
»Das wissen wir nicht«, sagte die Staatsanwältin. »Darum geht es ja: Ich brauche mehr Informationen. Er ist beim Wandern zusammengebrochen.«
»Zusammengebrochen … Wo?«
»Beim Pießling-Ursprung.«
»Wo?« Kordesch lachte. »Er hat doch vor Kurzem erst den Kilimandscharo bestiegen mit seinem Habschi, diesem Baumeister da … Wie heißt der …? Und jetzt stirbt er am … am was?«
»Der Pießling-Ursprung befindet sich im Toten Gebirge.«
»Im Toten Gebirge«, wiederholte Kordesch.
Die Staatsanwältin ging vom Fenster zurück zu ihrem Bürosessel, setzte sich und klopfte ungeduldig auf den Tisch: »Also, zur Sache! Jedes Jahr zu Pfingsten kommt die ganze Familie in Vorderstoder in einer Pension zusammen, um den Geburtstag von Irmgard Kolin, der Frau von Hermann Kolin, zu feiern. Das geht von Donnerstag bis Montag. Dieses Jahr war Bernhard Kolin schon am Dienstag vor Ort, angeblich, um Dinge zu organisieren. Mit ihm waren der Rosenberger …«
»Der Staatssekretär?«
»Genau. Und der Cermak von der … Wie heißt diese Zeitung?«
»Der Propagandaminister der Regierung«, sagte Kordesch. »Ich fasse es nicht, die treffen sich wirklich privat!«
»Es gab da vor Kurzem den Chatskandal. Wissen Sie davon?«
»Erzählen Sie es mir lieber noch mal.«
»Also, Nora Kolin, Bernhard Kolins Frau, hat dem Staatssekretär Rosenberger per Chat geschrieben, dass sie sich mehr Förderungen von der Regierung erwartet. Dann machte sie dunkle Andeutungen, dass sie sonst nicht so positiv über die Regierungspolitik berichten würde. Sie selbst sagt, das sei ein Missverständnis.«
»Klar! Ein Missverständnis!«, sagte Kordesch.
»Dann herrschte auf beiden Seiten Verstimmung«, sagte Krakauer. »Bernhard Kolin soll das applaniert haben.«
»Bei einem zweitägigen Gelage vielleicht?«, fragte Kordesch. »Ist der Minister noch vor Ort?«
»Staatssekretär«, korrigierte die Krakauer Kordesch. »Nein! Rosenberger und Cermak sind heute Vormittag abgereist. Jetzt sind alle Familienmitglieder in Vorderstoder. Und heute Mittag hat die Familie gemeinsam eine Wanderung zum Pießling-Ursprung gemacht. Da ist es passiert.«
»Das heißt, er ist erst vor Kurzem gestorben?«
»Heute circa um viertel drei«, sagte Krakauer. »Die Leiche ist schon auf dem Weg nach Linz.«
»Das ist schlecht!«
»Nein, das ist gut. Lassen Sie mich doch einmal ausreden, verdammt!«, herrschte Krakauer Kordesch an. »Sie fahren nach Linz. In geheimer Mission sozusagen. Reden Sie mit dem Gerichtsmediziner. Ich will seine Einschätzung, ob es wirklich ein Unfall war.«
»Heute?«
»Morgen«, sagte Krakauer. »Also, ich glaube einfach nicht, dass Bernhard Kolin beim Spazierengehen umfällt. Außer …«
»Außer er hat sich die Birne weggeblasen.«
Die Staatsanwältin streckte beide Arme von sich.
»Und das will der Alte zudecken«, sagte Kordesch. »Hat er keine anderen Sorgen, wenn der Kronprinz gerade die Patschen gestreckt hat?«
»Mir kommt das sehr seltsam vor. Die Kolins haben immer die brave Familie abgegeben. Bernhard Kolin galt als sehr solide. Im Gegensatz zu den anderen Journalisten ist er nie bei diesen Koks-Partys dabei gewesen.«
»Also Fremdeinwirkung.«
Krakauer stand mit großer Geste auf. Dabei warf sie eine kleine Statue um, die auf ihrem Schreibtisch stand. Sie bückte sich und stellte sie wieder an ihren Platz.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Das passiert mir ständig.«
»Die Göttin der Gerechtigkeit ist sowieso blind«, sagte Kordesch. »Sie wird nicht gegen Sie aussagen!«
»Also zu Bernhard Kolin: Die Rettung hat nur weitergegeben, dass vermutlich eine Vergiftung vorlag. Kolin soll vor dem Tod mehrmals erbrochen haben. Aber das ist alles, was ich bisher habe«, sagte Krakauer. »Kordesch, ich brauche Ihre Einschätzung. Aber bitte: keine Chatnachrichten an mich. Niemals. Und in aller Klarheit: Wir ermitteln nicht.«
»Noch nicht!«
»Ich möchte, dass wir zuerst ein klares Bild haben«, sagte Krakauer. »Finden Sie mehr heraus. Ich kriege da einen super Forensiker: Professor Munzenrieder. Der schaut sich das genau an.«
»Wo?«
»In Linz. Das hab ich doch schon gesagt! Uhrzeit und Adresse schicke ich Ihnen im Laufe des Abends. Schalten Sie das Handy wieder ein!«, sagte Krakauer. »Und ziehen Sie sich was Trockenes an. Sie böckeln wie ein Hund. So finden Sie nie eine Frau.«
»Ich suche auch keine«, sagte Kordesch.
In diesem Moment dachte er an Dr. Franziska Adrian. Und die Mappe in seinem Rucksack. Hoffentlich war sie im strömenden Regen nicht nass geworden.
»Ach, Kordesch«, sagte die Staatsanwältin. »Wann geben Sie endlich zu, dass jemand Ordnung machen muss in Ihrem Leben? Wollen Sie denn mit sechzig immer noch Angst davor haben, im Supermarkt ein Joghurt zu kaufen? Was ist denn mit Ihrer Kollegin im Büro?«
»Die ist dreiundzwanzig. Sie glaubt, dass Bruno Kreisky ein Habsburg-Kaiser war und dass ich als Kind mit der Postkutsche in die Schule gefahren bin.«
»Na ja«, sagte Krakauer. »Ein bisschen wirken Sie ja wirklich, als kämen Sie aus dem vorvorigen Jahrhundert.«
Die Staatsanwältin wusste, welches Thema der beste Rausschmeißer war. Kordesch ging, ohne sich zu verabschieden. Im strömenden Regen schlenderte er nach Hause.
Noch nie im Leben hatte Kordesch einen Fahrradboten gerufen. Er wusste gar nicht, wie das ging. Er beschloss, die Mappe selbst zu dieser Frau Dr. Adrian zu bringen. Colloredogasse 35, neben dem Türkenschanzpark, war eine vornehme Adresse. Er zog die schwarze Anzughose und ein weißes Hemd an. Dann kam ihm die Verkleidung albern vor und er zog sich wieder um: braune Cordhose, T-Shirt und Pullover. Damit fühlte er sich am wohlsten. Er hoffte, dass er nach dem Duschen nicht mehr »böckelte«, wie die Staatsanwältin gesagt hatte. Kordesch gefiel, dass Krakauer dieses Wort verwendet hatte, aber eine Frechheit war es schon, ihm so etwas ins Gesicht zu sagen.
Ein Zauntor führte in einen kleinen Vorgarten. Kordesch drückte die Klinke. Es war offen. Er durchquerte das Gärtchen und stand vor dem Hauseingang. Auf der Gegensprechanlage an der Haustür gab es vier Knöpfe. Neben dem Knopf links oben stand der Name Adrian. Kordesch läutete. Eine weibliche Stimme sagte: »Ja, bitte?«
»Benedikt Kordesch von der Kriminalprävention«, sagte er. Da nicht sofort eine Antwort kam, fügte er unsicher hinzu: »Ich bin der Kollege von Snežana Šubić und bringe …«
»Hochparterre«, sagte die Stimme über die Gegensprechanlage. Der Türöffner brummte.
Im Hochparterre gab es nur eine Tür, die einen Spalt weit offen stand. Kordesch blieb davor stehen und klopfte an. Er hörte eine Kinderstimme. Eine Erwachsenenstimme rief: »Ich komme schon.«
Kordesch hielt die Mappe bereit. Da wurde die Tür von innen aufgemacht und Franziska Adrian stand vor ihm. Sie war so groß wie er. In diesem Moment kam sie ihm sogar noch größer vor. Sie lächelte und er schaffte es nur kurz, in ihre blauen Augen zu schauen. Dann musste er aus Verlegenheit auf den Boden vor sich blicken.
»Na, so was. Das ist aber eine schöne Überraschung«, sagte Frau Dr. Adrian.
Kordesch hielt ihr stumm die Mappe hin.
»Ah ja, Sie bringen den Schmonzes fürs Parlament«, sagte sie und nahm die Mappe. »Tausende Statistiken, Hunderte Gutachten und dann gibt es wieder keine Gesetzesänderung.«
Sie lächelte nicht. Sie schaute ihn an, ohne einmal zu blinzeln. Schön, dass sie das Wort Schmonzes verwendet hatte wie Kordeschs Wiener Großmutter, von der er diese alten Wörter noch kannte.
»Ich wollte ja schon einmal …«, sagte sie, »… ich wollte Sie mal überreden, mit mir ein Gläschen zu trinken. Aber ich habe Sie damals wohl in die Flucht geschlagen. Ich wollte nur sagen: Jetzt könnten wir das nachholen.«
»Ich möchte auf keinen Fall stören«, sagte er.
»Sie stören nicht«, sagte sie. Sie trat zur Seite und öffnete die Tür ganz. Kordesch machte zwei Schritte ins Vorzimmer. »Meine Enkelin ist noch da, aber die wird gleich abgeholt. Bitte lassen Sie die Schuhe an!«
Kordesch hatte sich gerade gebückt, um die Schuhe auszuziehen. Er ließ es sein, blickte um sich und staunte. Das Vorzimmer war riesig, bestimmt dreißig Quadratmeter und damit so groß wie seine gesamte Wohnung. Die Enkelin, dachte Kordesch. Snežana hatte also nichts falsch verstanden.
»So eine schöne Wohnung!«, sagte er.
»Aber Sie haben sie doch noch gar nicht gesehen«, sagte Frau Dr. Adrian.
»Wissen Sie, ich wohne allein«, sagte Kordesch. »In einer sehr kleinen Wohnung. Noch dazu Neubau. Ich bin so viel Platz nicht gewohnt.«
Und er meinte, was er da sagte, auch wenn sie es wahrscheinlich nur für Höflichkeit hielt. Dr. Adrian ging vor ins Wohnzimmer. Auch dieses Zimmer wirkte auf Kordesch leer. Es gab ein kleines Bücherregal, einen Fernsehapparat mit einem Couchtisch und zwei Fauteuils und einen großen Esstisch, an dem ein kleines Mädchen saß.
»Lina, das ist Herr Kordesch«, sagte Dr. Adrian. »Der ist von der Polizei. Sag Hallo zu ihm.«
»Oh, bist du ein Inspektor?«, fragte die Kleine.
»Nein, ich bin ein Oberst«, sagte Kordesch.
»Ein Oberst«, sagte Lina und lachte. »Ein Schlagoberst. Hast du das gehört, Croco? Er ist ein Schlagoberst.« Den letzten Satz hatte sie zu einem kleinen grün-weißen Stoffkrokodil gesagt, das sie in der linken Hand hielt.
»Das Krokodil heißt Croco?«
»Er ist kein Krokodil. Er ist mein Kind, du Schlagoberst!«, sagte die Kleine.
»Sei nicht frech, Lina«, sagte Dr. Adrian. »Einen Moment, Herr Kordesch, ich hole ein Glas für Sie.«
Die kleine Lina nahm das Stoffkrokodil, das magnetische Vorderpfoten hatte, und klippte es an den Kragen von Kordeschs Pullover: »Schau, er kann sich anhalten.«
»Toll«, sagte er.
»Ja, er mag dich«, sagte sie.
»Er mag mich?«, sagte er. »Das ist gut. Ich mag ihn auch. Es gibt nicht viele so freundliche Krokodile.«
Dr. Adrian kam zurück. »Trinken Sie Sauvignon blanc?«
»Sehr gerne«, antwortete Kordesch höflich. »Aber ich bleibe nicht lange.«
»Kein Stress«, sagte sie. »Lina wird jeden Moment abgeholt. Ich bin gleich wieder da.«
»So, jetzt will er aber wieder zu dir«, sagte Kordesch, nahm das Stoffkrokodil von seinem Kragen und stellte es auf den Tisch vor Lina.
»Croco will jetzt schlafen«, sagte sie. »Aber, wenn du in der Welt der Alleinigkeit bist, kannst du ihn immer aufwecken und mit ihm reden.«
Kordesch war überrascht von der Formulierung, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment hörte er, wie die Türglocke läutete. Dr. Adrian rief: »Lina, die Mama ist da.«
Die Kleine sprang auf und rannte ins Vorzimmer. Zwei Stimmen waren zu hören, dann ging die Tür zu.
Dr. Adrian kam mit zwei Gläsern, einer Weinflasche und einem Weinkühler wieder. »Das war meine Tochter. Ich muss sie immer gleich stampern, sonst belagert sie mich stundenlang.« Mit schnellen Handgriffen entkorkte sie die Flasche. Überhaupt war sie sehr sicher und elegant in allem, was sie tat.
»Oh, sie hat Croco vergessen«, sagte Kordesch. Er zeigte auf das Stoffkrokodil.
»Ach, egal! Das Luxuskind hat Tausende Stofftiere«, sagte sie. »Es wird ihr nicht einmal auffallen.«
»Sie ist sehr süß«, sagte er. »Geht sie schon in die Volksschule?«
»Nein, sie ist viereinhalb«, sagte sie. »Sie ist nur so groß wie wir alle. Bestimmt wird sie über zwei Meter. Meine Tochter hat auch eine Wohnung hier im Haus, wissen Sie. Aber die Kleine ist oft bei mir. Der Vater der Kleinen lebt nicht bei mehr mit meiner Tochter zusammen. Der ist gleich nach der Geburt tschari gegangen.«
»Ach, wie schön, dass Sie noch diese alten wienerischen Wörter verwenden«, sagte er.
»Danke. Meine Tochter findet das ja peinlich. Sie ist wie ihr Vater. Eine geschichtslose Generation wächst heran.«
»Das ist wirklich schade.«
»Ja, sagen Sie es nur: Ich bin nicht nur eine Oma, ich schaue auch schon so aus wie eine und rede wie eine.«
Kordesch wollte protestieren, denn es stimmte gar nicht, aber da sagte Dr. Adrian schon: »Mit neunzehn bin ich schwanger geworden. Und dann hab ich mich entschieden, das Kind zu kriegen. Ich war zwanzig, als Amalia auf die Welt kam.«
»Das ist doch …«, sagte Kordesch. »Das ist doch unglaublich lebensbejahend.«
»Ja, das andere Leben habe ich bejaht«, sagte Franziska Adrian. »Das eigene war damit für Jahre vorbei. Na gut, dann war es ausgestanden und Amalia erwachsen. Und was macht sie? Sie wird auch mit neunzehn schwanger. Aber Sie sind jetzt nicht da, um sich mein Gejammer anzuhören. Trinken wir!«
»Auf Croco!«, sagte Kordesch. Dr. Adrian lachte. Beide stießen die Gläser aneinander und tranken.
»Was sagen Sie zum Wein?«, fragte sie.
Kordesch wusste nichts über Weine und wollte auch nichts darüber wissen. Menschen, die sich in diesem seltsamen Fachjargon über den Geschmack von Weinen unterhielten, waren ihm immer suspekt gewesen. Er selbst konnte nur Weißwein von Rotwein unterscheiden.
»Ein typischer Weißwein«, sagte Kordesch. Er musste verschweigen, dass sich sein Magen schon beim Geruch der sauren Flüssigkeit verkrampfte.
Dr. Adrian lachte. »Sie sind ein Mensch mit Manieren. Ein wahrer Ritter. Das ist mir gleich aufgefallen.«
Frau Dr. Adrian gefiel Kordesch. Auch ihr Lachen mochte er. Er konnte es nicht glauben. Sollte es tatsächlich wahr sein, dass Benedikt Kordesch hier ohne sein Zutun in eine Romanze geraten war?
»Ich mag es auch nicht, wenn über Weine gefachsimpelt wird«, sagte sie.
»Animierendes Aromaspiel mit markantem mineralischem Akzent …«, sagte Kordesch.
»Ach, dieses vertrottelte Palaver! Das heißt alles nichts«, sagte Dr. Adrian. »Und bei der Polizei müsst ihr jetzt so viel einsparen, dass Botendienste von Beamten im Rang eines Oberst durchgeführt werden?«
»Also, meine Kollegin, Frau Šubić …« Kordesch nahm das Stoffkrokodil vom Tisch und klippte es wieder an den Kragen seines Pullovers. »Sie ist … sagen wir es so … sehr pedantisch. Ich musste ihr hoch und heilig versprechen, dass Sie diesen Schmonzes hier persönlich überreicht bekommen.«
»Aha! Na bitte! So streng ist sie mir gar nicht vorgekommen. Ich habe übrigens Muscheln gemacht«, sagte sie. »Vielleicht wollen Sie mit mir neben dem Plaudern ein wenig essen? Sie mögen doch hoffentlich Muscheln?«
Kordesch hasste Calamari, Oktopus, Shrimps, Austern und alles, was aus dem Meer kam. Es stank und ihm ekelte davor. Aber er war irgendwie bezaubert und konnte auch jetzt nicht Nein sagen.
»Ja, gerne«, sagte Kordesch. »Aber bei Muscheln bin ich – wie beim Wein – kein Experte.«
»Lassen wir das doch mit dem Sie«, sagte Dr. Adrian. »Franziska.«
»Benedikt.«
Sie prosteten einander nochmals zu. Dann verschwand Franziska in der Küche. Kordesch hatte die anderen Räume nicht gesehen, aber sie waren bestimmt noch schöner als das Vorzimmer. Die gesamte Wohnung musste wohl zwischen einhundertfünfzig und zweihundert Quadratmeter groß sein.
Franziska kam mit einem Servierwagen zurück. Sie stellte eine Salatschüssel und zwei Schalen auf den Tisch. Dann servierte sie die Teller mit den Muscheln, einen leeren Teller und setzte sich.
»Lass es dir schmecken!«, sagte Franziska.
»Mahlzeit!«
Kordesch wartete, um zu sehen, wie Franziska die Muscheln aß. Sie nahm eine in die Hand, öffnete sie, aß die Muschel und legte die Schale auf den leeren Teller. Kordesch machte es ihr nach. Es schmeckte zwar nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Trotzdem trank er nach jeder Muschel einen großen Schluck Wein. Sein Glas war bald leer.
»Ich schenke dir nach«, sagte Franziska. »Also, wo wohnst du denn, wenn ich fragen darf.«
»In der Werdertorgasse.«
»Wow, erster Bezirk! Ich kenne die Werdertorgasse.«
»Gegenüber dem Spielwarengeschäft Bannert, da wohne ich«, sagte Kordesch. »Allerdings ist meine Wohnung vierunddreißig Quadratmeter groß.«
»Und zu wievielt seid ihr da?«, fragte Franziska.
»Da bin nur ich«, sagte Kordesch.
»Das war ein Scherz.«
»Ich und die vielen Stofftiere, die ich Kindern wegnehme.«
»Das Krokodil steht dir aber ausgezeichnet.«
»Und du? Du bist Rechtsanwältin«, sagte Kordesch und hasste sich für diese dumme Nachfrage.
Franziska aß eine Muschel nach der andern, Kordesch versuchte, wenigstens halb so schnell zu sein wie sie, um nicht unhöflich zu wirken.
»Ich war es früher«, sagte Franziska. »Ich bin Strafrechtsexpertin. Und jetzt arbeite ich fast ausschließlich als Gutachterin. Du bist Kriminologe?«
»Ich war früher Kriminalpolizist«, sagte Kordesch. »Aber ewig hält man das nicht aus. Das heißt: Ich habe es schon ausgehalten. Aber meine Frau …«
Ob es die Muscheln waren oder der Wein, Kordesch wurde ganz heiß im Gesicht.
»Das verstehe ich. Aber man kann nicht das ganze Leben auf einen Partner Rücksicht nehmen«, sagte sie. »Weißt du, ich bin seit fünf Jahren geschieden. Der … also … mein Ex … ich habe ihn hinter mir gelassen. Ich habe auch wieder meinen alten Namen angenommen. Weiß Gott, wie ich es so lange ausgehalten habe, Oberbillig zu heißen! Der Oberbillig war wirklich oberbillig. Oberbillig und untreu.«
Kordesch fühlte plötzliche Übelkeit. Er rang kurz nach Luft. »Ich bin auch geschieden«, sagte er. »Seit sechs Jahren.«
»Jahrelang habe ich damit gekämpft«, sagte Franziska und blickte Kordesch in die Augen. »Aber eines Tages hab ich es getan. Ein Stampf in den Toches und weg war er. Sag, ist alles gut bei dir?«
»Ja, warum?«, fragte Kordesch.
»Du wirst gerade ganz rot im Gesicht.«
»Wirklich?«, fragte Kordesch. »Entschuldige. Wo ist das Badezimmer?«
»Am Eingang die erste Tür rechts.«
Kordesch stand auf. Das Essen stand ihm bis zum Hals, sein Körper glühte. Er ging ins Vorzimmer, öffnete die erste Tür und schloss sie hinter sich. Er betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken. Tatsächlich waren seine Stirn und sein Gesicht bis zur Nase ganz rot. Der Ausschlag hatte bald seine Lippen und sein Kinn erreicht. Er drehte das kalte Wasser auf, ließ es in seine Hand rinnen und kühlte sein Gesicht.
Kordesch stützte sich mit beiden Händen auf die Waschmuschel und atmete schwer. Oberbillig, dachte er, wo habe ich den Namen schon gehört? Er wagte es nicht, sich im Spiegel anzuschauen. Es klopfte an der Tür.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Franziska. »Darf ich reinkommen?«
»Aber sicher«, sagte er.
Franziska öffnete die Tür. Sie kam ihm plötzlich größer vor als er selbst.
»Jetzt bist du auf einmal kreidebleich«, sagte sie. »Willst du dich hinlegen?«
»Nein, nein«, sagte er.
»Verdammt, das waren die Muscheln«, sagte sie. »Dabei sind das gute Muscheln vom Brunnenmarkt.«
Kordesch wurde noch übler. Ausgerechnet vom Markt. Vor Kurzem hatte er erst eine Studie gelesen, dass auf den Wiener Märkten mehr als fünfundneunzig Prozent aller Fische und Meerestiere nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Temperatur gekühlt wurden. Sie verwesten sozusagen in der Auslage.
»Musst du …?«
»Nein! Nein, alles gut. Bitte ruf mir nur ein Taxi«, sagte Kordesch. Er blickte in den Spiegel. Tatsächlich war er ganz blass, doch von seiner Stirn lief wieder eine rote Linie über sein Gesicht. Sie bewegte sich schnell nach unten. Bald war er wieder knallrot im Gesicht.
»Ich bin so deine dumme Gans«, sagte Franziska. »Du darfst keine Muscheln essen, aber du wolltest es aus Höflichkeit nicht sagen.«
»Du kannst nichts dafür.«
»Hast du eine Allergie?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Nun war Franziska aufgeregter als er. Er durfte sich davon nicht anstecken lassen und musste ruhig bleiben und außerdem sein Handy immer bei sich tragen, denn er erwartete noch einen Anruf von der Staatsanwältin. Aber wie sollte er in diesem Zustand am nächsten Tag nach Linz fahren?
»Lass mich dich wenigstens mit dem Auto nach Hause bringen«, sagte Franziska.
»Nein, das geht schon«, sagte Kordesch. »Ich kotze lieber in ein Taxi als in dein Auto. Das ist auch dir lieber, glaub mir.«
Mit letzter Konzentration holte er sein Mobiltelefon vom Esstisch. Franziska bestellte währenddessen ein Taxi. Sie sah sehr zerknirscht aus, als sie sagte: »In vier Minuten ist es da!«
Noch verzagter wirkte sie, als Kordesch die Wohnung verließ. Sie blieb an der Tür stehen und verabschiedete sich. Als er die Treppe hinunter zum Hauseingang ging, spürte er, dass sie ihm immer noch nachblickte.
Der Taxifahrer musterte Kordesch während der ganzen Fahrt im Rückspiegel. Er dachte bestimmt, dass er einen Betrunkenen an Bord hatte, der jeden Moment sein Auto vollkotzen könnte. Einmal war Kordesch das passiert, als er sehr jung gewesen war und in Wien einen Freund besucht hatte. Der Taxifahrer hatte damals einen Riesenaufstand gemacht, bis Kordeschs Kumpan ihm hundert Schilling für die Wagenreinigung zugesteckt hatte. Danach war er fluchend weitergefahren und Kordesch hatte am Rande des Stadtparks weitergekotzt. Damals war er aber stockbetrunken gewesen. An diesem Tag hatte er nur verdorbene Brunnenmarktmuscheln gegessen.
Vielleicht aber schaute der Taxifahrer auch nur so komisch, weil Kordesch immer noch das Stoffkrokodil an seinem Kragen trug. Es war ihm die längste Zeit nicht aufgefallen.
Kordesch ließ sich an der Salztorbrücke absetzen und ging noch ein Stück zu Fuß. Nach ein paar Schritten in der frischen Luft war ihm leichter. Vielleicht ist alles schon vorbei und ich war nur hysterisch, überlegte er. Er dachte an Franziska. Sie hatte ihm eigentlich gefallen in ihrer ruhigen, eleganten Art. Er sollte ihr ein SMS schreiben, dachte er und ging weiter bis zur Haustür.
Dann machte Kordesch einen Fehler. Er nahm den Lift, und als er bei seiner Wohnungstür ankam und aufsperrte, spürte er schon, wie alles hochkam. Zum Glück hatte er eine kleine Wohnung und schaffte es gerade bis zum WC. Wäre er jetzt in Franziskas Wohnung gewesen, hätte er mitten ins Vorzimmer gespieben. Es wollte nicht aufhören. Da läutete das Handy.
»Kordesch«, sagte die Staatsanwältin Krakauer. »Haben Sie kurz Zeit?«
»Ja, sagte Kordesch. »Ich bin nur gerade …«
»Es klingt so komisch«, sagte sie. »Sind Sie zu Hause?«
»Ich bin am Klo. Ich habe …«
»Keine Details«, sagte Krakauer. »Also, Sie gehen morgen ins Universitätsklinikum. Um zehn! Weisen Sie sich nicht aus. Sie gehen zu Professor Munzenrieder und sagen, dass ich Sie schicke. Niemand darf davon erfahren.«
»Ist das etwas Illegales?«
»Passen Sie auf: Ich sage es nur Ihnen und Sie vergessen es gleich wieder«, sagte die Staatsanwältin. »Die Korruptionsstaatsanwaltschaft hatte Kolin schon im Visier. Wir müssen mit Sicherheit wissen, dass kein Fremdverschulden vorliegt. Haben Sie verstanden?«
»Gut, ich melde mich morgen.«
»Keine E-Mails an mich«, sagte Krakauer. »Keinen offiziellen Kontakt in dieser Sache.«
»Ja, ja!«
»Mögen Sie Leberkäse?«, fragte Krakauer. »Dann können Sie zu Mittag in Linz zum Leberkäs-Pepi gehen. Sehr empfehlenswert. Der hatte sogar einmal eine Filiale in London und ist laut Experten …«
»Ich muss auflegen«, sagte Kordesch. Es ging schon wieder los. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Morgen also mit Lebensmittelvergiftung nach Linz, dachte er. Er kniete auf der kleinen flauschigen Matte vor seiner Klomuschel und zog seinen Pullover aus. Dann kotzte er ein zweites Mal. Er wischte den Mund mit Klopapier ab und sah, dass nicht nur der Pullover, sondern auch das Stoffkrokodil neben ihm auf dem Boden lag.
»Sei froh, dass du bei mir bist, Croco«, sagte Kordesch. »Bei mir bekommst du nicht so einen Scheiß zum Fressen wie dort oben.«
Nach einem weiteren Schwall wusch er sich den Mund und putzte die Zähne. Dann nahm er einen Kübel aus dem Klo mit, stellte ihn zum Nachttisch und legte sich ins Bett. Mit letzter Kraft schaffte er es, die Zugverbindungen nach Linz zu checken. Der Railjet um 7:55 Uhr kam um 9:28 Uhr in Linz an. Das sollte reichen.
Auf dem Rücken liegen war keine gute Idee. Aber die Bauchlage war noch schlimmer. Kordesch drehte sich zur Seite, obwohl er wusste, dass er in Seitenlage nicht schlafen konnte. So aber war ihm weniger schlecht. Er hielt Croco in der Hand.
Ein SMS kam: Lieber Benedikt, es tut mir so unendlich leid. Du hast wegen mir nur Zores. Ich mache mir solche Vorwürfe. Gerne bringe ich Dir morgen etwas aus der Apotheke vorbei. Das ist das wenigste, was ich tun kann. Zerknirscht, Deine F.
Also, heute Lebensmittelvergiftung, morgen Dienstreise und jetzt auch noch eine anhängliche Person auf dem Hals, dachte Kordesch. Und das alles nur wegen dieser blöden Mappe. Er schrieb zurück: Muss morgen leider auf Dienstreise. Bitte nimm es nicht tragisch. Du kannst nichts dafür. Ich habe Deine Gastfreundschaft sehr genossen. LG B.
Kordesch wusste genau, wie das mit dem Nachrichten-Schreiben war – es würde kein Ende nehmen. Und wirklich kam so schnell eine Antwort, dass er sich fragte, wie Franziska diesen Text in so kurzer Zeit hatte tippen können.
Haha, der war gut. Ich bring Dich halb um die Ecke und Du redest von Gastfreundschaft! Ich will Dich nicht aufhalten. Aber ich habe eine Bitte: Meldest Du Dich morgen bei mir?
Ich schreib Dir. Aber bitte, ruf nicht an! Ich hasse telefonieren.
Das trifft sich gut. Ich telefoniere auch nicht gerne.
Er machte ein Selfie, wobei er Croco mit der linken Hand ins Bild hielt. Dann schickte er es Franziska mit der Nachricht: Jetzt ist das Krokodil Deiner Enkelin bei mir geblieben.
Franziska schrieb zurück: Das ist gut. Es wird auf Dich aufpassen.
Es ist ein Er!
Na dann! Schlaft gut, Ihr beiden!
Professor Munzenrieder war ein angenehmer Mann, der sofort zur Sache kam: »Es tut mir leid, dass ich noch einen halben Tag brauche. Ich bin ziemlich sicher, dass es eine Vergiftung ist. Ein Alkaloid, wahrscheinlich Strychnin. Ich muss ein paar spezielle Tests machen. Ich melde mich noch vor 16 Uhr, okay? Bleiben Sie in der Stadt?«
»Nein«, sagte Kordesch. »Haben wir sein Handy?«
»Ja, das ist hier«, sagte Munzenrieder und übergab Kordesch ein iPhone. »Der Akku war übrigens völlig leer. Ich musste es zuerst aufladen. Ich komm nicht rein … Passcode.«
»Jetzt machen Sie schon unsere Arbeit«, sagte Benedikt Kordesch lachend und notierte sich die Information. Er hatte wie immer ein Notizheft dabei. Seine größte Freude war es, die ersten Zeilen auf die erste Seite eines neuen Hefts zu schreiben.
»Morgen kommt eine Kollegin von Ihnen«, sagte Munzenrieder. »Kriminaltechnikerin. Vielleicht kann sie es entsperren.«
»Haben wir sonst noch etwas von ihm?«, fragte Kordesch.
»Seinen Rucksack«, sagte Munzenrieder. »Und ich glaube, ich weiß schon, wie das Gift in seinen Körper gekommen ist. Schauen Sie hier.«
Auf dem Nirosta-Wagen, auf den Professor Munzenrieder zeigte, stand eine Trinkflasche aus Edelstahl, wie man sie in Geschäften für Outdoor-Equipment bekommt.
»Diese Trinkflasche steckte in der Außentasche seines Rucksacks«, sagte Munzenrieder. »Und das Wasser, das er da drinnen hatte, enthielt das Gift.«
»Gut«, sagte Kordesch. »Die Kollegin soll sich die Flasche anschauen … Fingerabdrücke und so weiter. Wo ist der Rucksack?«
Munzenrieder zeigte auf einen Rucksack, der vor einem Spind stand. Kordesch nahm Latex-Handschuhe und holte den gesamten Inhalt heraus: eine winzige Erste-Hilfe-Tasche, verschiedene Kleidungsstücke, eine Kunststoffdose, in der sich drei Müsliriegel befanden, ein Etui mit einer Sonnenbrille und ein Paar Handschuhe, die offensichtlich zum Klettern oder Bergsteigen gebraucht wurden. Es gab kein Notiz- oder Adressbuch. Die Brieftasche war in Bernhard Kolins Hose gewesen und lag ebenfalls auf dem Nirosta-Wagen. Sie enthielt einige Kredit- und Bankomatkarten, Kundenkarten, Bargeld und drei Rechnungen: eine von einer Tankstelle in Öd, wo Kolin offenbar am Dienstag getankt hatte. Zwei andere, ältere, von einer Trafik und einem Postamt in Wien. Nirgends wichtige Hinweise.
»Zeigen Sie mir bitte, wo sich die Trinkflasche befand«, bat Kordesch.
Munzenrieder nahm die Trinkflasche von Bernhard Kolin. Auf beiden Seiten des Rucksacks waren Netztaschen. In die von ihm aus linke steckte er die Flasche. Also befand sich die Flasche für jemanden, der den Rucksack auf dem Rücken trug, rechts.
Der Gerichtsmediziner fasste seine weiteren Ergebnisse schnell zusammen. Bernhard Kolin hatte weder Alkohol noch Reste irgendwelcher Drogen im Blut. Seine Organe und auch seine Leber waren laut dem Forensiker in tadellosem Zustand. Das einzig interessante Detail war, dass die Handflächen und die Innenseite des rechten Unterschenkels Hämatome, kleine Hautabschürfungen und unter der Haut Holzpartikel aufwiesen. Kordesch notierte alles.
»Können wir von Fremdeinwirkung ausgehen?«, fragte er.
»Ich würde sagen: Ja. Außer …«
»Außer?«
»Außer er hat sich in suizidaler Absicht selbst vergiftet«, sagte Munzenrieder. »Das glaube ich allerdings nicht.«
»Weil?«
»Weil er sich da für einen langen qualvollen Tod entschieden hätte.«
»Wie lange vorher wurde das Gift verabreicht?«
»Also, minimal zwanzig Minuten, maximal fünfundvierzig Minuten, würde ich jetzt sagen«, sagte der Professor. »Aber bitte geben Sie mir die paar Stunden. Ich schwöre, ich kümmere mich mit Hochdruck darum. Ihre Frau Staatsanwältin führt ja ein sehr strenges Regiment.«
Ob das Warten die Staatsanwältin erfreuen würde oder nicht, Kordesch musste ihr mitteilen, dass es noch kein Ergebnis gab. Der Anruf dauerte nur zwei Minuten. Krakauer nahm die Auskünfte wie immer stoisch zur Kenntnis. Aber Kordesch war ein wenig aufgebracht. Er hatte alles liegen und stehen lassen, um nach einer schrecklichen Nacht mit wenig Schlaf und viel Übelkeit hierherzufahren. Nun stellte sich die ganze Aktion als sinnlos heraus. Krakauer hätte das alles selbst und nur telefonisch mit Professor Munzenrieder klären können.
Um 11:32 Uhr ging der Railjet zurück nach Wien. Der Routenplaner gab für den Fußweg zum Hauptbahnhof eine Gehzeit von 28 Minuten an. Zwar war Kordesch fast immer schneller, als das Navi angab, doch er war vom Vortag geschwächt und rief daher ein Taxi. Im Zug erhielt er ein SMS von Franziska: Lieber Benedikt! Ich hoffe sehr, dass es Dir heute besser oder (noch besser) wieder gut geht. Bitte, nimm nochmals meine Entschuldigung an. Deine F.
Das Erste, was Kordesch tat, nachdem er das SMS gelesen hatte, war, das Stoffkrokodil aus seinem Rucksack zu nehmen. Er steckte es in die Brusttasche seines Sakkos, sodass Croco herausschauen konnte.
Kordesch saß in der sogenannten Ruhezone, aber rechts und links von ihm schnatterten und telefonierten die Menschen ohne Zurückhaltung. Wenn in Österreich irgendwo QUIET ZONE steht, lesen die Österreicher QUIETSCHZONE und führen sich auf wie Kindergartenkinder, dachte er. Kordesch hasste die Fahrgäste in seinem Abteil. Er nahm sein Notizbuch und schlug die zweite Seite auf. Er schrieb: FRANZISKA. Sollte er ihr antworten?
Während seiner Überlegungen schlief er ein. Er erwachte in Meidling und hatte zuerst Mühe, sich zurechtzufinden. So störend konnte das Quietschen in der Quietschzone also gar nicht gewesen sein. Auf seinem Handy sah er kein weiteres SMS von Franziska, dafür drei entgangene Anrufe von der Staatsanwältin. Er beschloss, nicht zurückzurufen, und stieg am Hauptbahnhof aus. Er ging durch die Haupthalle und fuhr die erste Rolltreppe hinunter ins Zwischengeschoß. Dort sah er zufällig, als er nach links blickte, eine Filiale vom Leberkäs-Pepi. Da rief sie schon wieder an – das vierte Mal.
»Frau Staatsanwältin!«, sagte Kordesch. »Nach Linz zu fahren, ist sinnlos. Hier am Hauptbahnhof gibt es auch einen Leberkäs-Pepi.«
»Kordesch, warum gehen Sie denn nicht ran? Haben Sie Ihre Mailbox abgehört?«
»Nein.«
»Aber warum denn nicht?«, sagte Krakauer. »Sie müssen sofort losfahren. Wir haben eine zweite Leiche.«
»Was?«
»Irmgard Kolin«, sagte die Staatsanwältin. »Die Frau von Hermann Kolin. Sie ist vorhin zusammengebrochen und vor einer halben Stunde gestorben. Vermutlich vergiftet. Professor Munzenrieder beginnt mit der Obduktion, sobald er die Leiche hat.«
»Wo ist das passiert?«, fragte Kordesch.
»In Vorderstoder«, sagte die Staatsanwältin. »Ich habe Ihnen das gestern doch alles erklärt. Die Familie ist – wie jedes Jahr um diese Zeit – für ein Wochenende in Vorderstoder. Sie müssen sofort dorthin. Nehmen Sie sich vom Hauptbahnhof ein Auto. Pension Lechner in Vorderstoder. Ihr Zimmer ist reserviert. Wir sprechen weiter, wenn Sie fahren, dann erkläre ich Ihnen alles. Bitte schauen Sie, dass Sie weiterkommen.«
»Ich habe nicht einmal etwas zum Anziehen mit«, sagte Kordesch.
»Das besorgen Sie bitte dort«, sagte Krakauer. »Kaufen Sie sich von mir aus drei Maßanzüge und mieten Sie sich einen Rolls-Royce. Koste es, was es wolle. Ich zahle alle Rechnungen.« Sie legte auf.
Vorderstoder. Kordesch wusste nicht, wo das war. Er tippte es in die Navigations-App auf seinem Handy ein. Ergebnis: 2 Stunden und 36 Minuten mit dem Auto. Er rief die Staatsanwältin zurück: »Das ist mir zu weit. Das geht nicht.«
Zwanzig Minuten später saß Kordesch neben Krakauer im Auto. Sie fuhr, nahm aber alle paar Minuten mit der Freisprechanlage ein Telefonat an. Manche davon hätte Kordesch wohl nicht mithören sollen.
In einer längeren Pause seufzte sie und schlug mit der Hand fest auf das Lenkrad: »Mein Gott, Kordesch, was ich jetzt alles zu tun hätte! Aber nein, der sensible Herr Kriminalpolizist lässt sich von mir zum Tatort fahren wie mein Enkel zum Flötenunterricht. Wann wird denn endlich ein Mann aus Ihnen?«
»Sie könnten ruhig dankbarer sein«, sagte Kordesch. »Ich habe nur diesen kleinen Rucksack bei mir für einen Tagesausflug. Ich fahre sofort für Sie in dieses Vordergestöber – oder wie es heißt. Ich habe nichts. Nicht einmal eine zweite Unterhose habe ich mit.«
»Danke für die detailgetreue Schilderung. Kaufen Sie sich dort von mir aus zehn Unterhosen aus Haspelseide. Aber jetzt konzentrieren wir uns auf den Fall.«
Kordesch hatte schon fünfzehn Jahre zuvor mit Krakauer zu tun gehabt und sie immer geschätzt. So bissig der Ton auch gelegentlich war, so groß war das Vertrauen, das zwischen ihnen herrschte. Sie hatte sich in Krisen schon damals stets vor die ermittelnden Kollegen gestellt und große Loyalität bewiesen. Dann war sie aufgestiegen, während er die Kriminalpolizei verlassen hatte. Aber sie hatte sich an den schwierigen, zwänglerischen, aber auch hartnäckigen Ermittler erinnert und ihn im vergangenen Jahr wieder eingesetzt. Und das mit Erfolg. Sie wusste, wie man mit ihm umzugehen hatte. Und sie war vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, von dem er sich Frechheiten wie den Hinweis auf sein Single-Dasein oder auf seine Phobien gefallen ließ.
Die Staatsanwältin schilderte, was geschehen war. Vor dem Mittagessen hatte Hermann Kolin einen Spaziergang gemacht und war daraufhin in das Zimmer zurückgegangen, wo er seine Frau auf dem Boden liegend fand. Er rief die Rettung. Aber Frau Kolin verstarb noch im Rettungsauto, wahrscheinlich an einer Vergiftung. Das werde die Autopsie zeigen, die gerade in Linz stattfinde. Jedenfalls habe sie beim Frühstück dasselbe gegessen wie Hermann Kolin.
Oberstaatsanwältin Krakauer trichterte Kordesch ein, niemand von seinen Ermittlungen zu erzählen. Es dürfe auch auf Wunsch Kolins kein weiterer Polizist anwesend sein. Die lokale Polizei wisse von der Sache nichts.
»Schauen sich Kriminaltechniker wenigstens den Ort an, wo sie vergiftet wurde?«
»Sie starb im Rettungswagen.«
»Aber das Hotelzimmer? Können wir die Techniker schicken?«
»Nein«, sagte Krakauer. »Nur Sie wissen davon. Nur Sie und ich!«
»Hotelpersonal?«
»Negativ. Dort arbeitet nur Frau Lechner mit ihrer Tochter. Die beiden machen alles. Familienbetrieb. Und es gibt auch nur acht Zimmer. Es darf dort niemand etwas von uns erfahren. Haben Sie das gehört, Kordesch? Niemand!«
So war das also. Die Politik tanzte nach der Pfeife des Herrn Zeitungsherausgebers im Ruhestand.
»Der Innenminister spielt das Wunschkonzert des Medienzaren?«, sagte Kordesch. »Ist doch nicht zu fassen! Geht das überhaupt? Ist das nicht gesetzeswidrig?«
»Wir wissen doch gar nicht, ob sie getötet wurde.«
»Munzenrieder hält eine Selbsttötung schon bei Bernhard Kolin für sehr unwahrscheinlich«, sagte Kordesch. »Und jetzt eine zweite Leiche. Worauf wollen Sie denn warten?«
»Eben deswegen müssen Sie so schnell wie möglich dorthin«, sagte Krakauer. »Untersuchen Sie den Tatort. Aber Techniker anfordern, das ist zu riskant. Da dringt etwas durch.«
»Nur, weil es der Herr Kolin ist?«, zischte Kordesch. »Will er die Aufklärung verhindern? Es geht um seinen Sohn und seine Frau, verdammt noch mal!«
»Hören Sie jetzt auf! Frau Lechner gibt Ihnen eine Liste mit den Gästen«, sagte Krakauer. »Mit der Ausnahme von zwei Zimmern ist die Pension mit Familienmitgliedern der Kolins belegt. Zuerst brauche ich von Munzenrieder die klare Bestätigung der Fremdeinwirkung. Nachdem das jetzt aber die zweite Leiche in zwei Tagen ist, kann man die Selbstmordtheorie wohl streichen.«
»Das habe ich doch vorhin gemeint! Gab es denn jüngst irgendwelche Streitigkeiten, Prozesse, Umstrukturierungen oder Krisen bei der Sonne?«
»Wie gesagt: Nora Kolin, die Schwiegertochter von Irmgard und Hermann Kolin, ist vor ein paar Monaten ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten. Die sogenannte Chat-Affäre«, sagte Krakauer. »In Insiderkreisen heißt es, dass der Alte darüber sehr aufgebracht ist, dass der junge Kolin aber den Streit mit der Regierung wieder beigelegt hat. Nur jetzt ermittelt die Korruptionsstaatsanwaltschaft. Da ist man nervös geworden und ruft schon mal beim Bundeskanzler an.«
»Der hat wirklich viel Erfahrung mit Korruption«, sagte Kordesch.
»Aber das erklärt den Tod von Irmgard Kolin nicht«, sagte Krakauer. »Und gerade ihr Sohn Bernhard hat immer sehr zurückhaltend …«
»Moment!«, sagte Kordesch. »Bernhard Kolin ist doch der Chef. Oder eher: Er war der Chef. Wer leitet denn jetzt die Zeitung nach seinem Tod?«