Auf dem Weg - Sabine Claus - E-Book

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Sabine Claus

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Beschreibung

Spazieren als Lebenskunst Ein einfacher Spaziergang kommt uns so selbstverständlich vor, dass oft vergessen wird, welch regenerierende Kraft, Inspiration und kleines Glück uns Auf dem Weg erwarten. In Zeiten von Digitalisierung und Erlebnissport wirkt Spazierengehen fast schon anachronistisch. Und genau deshalb ist die Zeit reif, ihn wieder neu zu entdecken: Mit ihren Streifzügen durch Psychologie und Medizin, Literatur und Geschichte erkundet Sabine Claus die positive Wechselwirkung von Gehen, Denken und Fühlen. So lässt sich erfahren, warum wir beim Spazieren kreativer werden, einfacher Probleme lösen können, achtsamer sind, Resonanz erleben oder uns entspannter fühlen. Auf 20 einladenden Spaziergängen sensibilisiert sie für die vielfältigen Potenziale alltäglicher kurzer Reisen zu Fuß, auf denen sich der Mensch und die Außenwelt Schritt für Schritt zusammenfinden. Spazieren ist zugleich ein Gang in die Welt und ein Gang nach Innen. Dafür bedarf es nichts weiter, als einen Fuß vor die Tür zu setzen. Ein Teil des Erlöses aus diesem Buch kommt dem Verein Jordsand (www.jordsand.de) zugute, der sich seit über 100 Jahren für den See- und Küstenvogelschutz sowie für den Naturschutz an der Nord- und Ostseeküste einsetzt. Umfrage zum Spazierengehen: Warum, wann, wo und wie gehen Sie spazieren? Bitte nehmen Sie an der Umfrage rund um das Thema Spazieren teil. Zeitbedarf fürs Ausfüllen: 5 Minuten. Die Ergebnisse der Umfrage werden einmal jährlich auf dieser Homepage veröffentlicht. Vielen Dank fürs Mitmachen! Hier geht es zur Umfrage: https://sec.psycho.unibas.ch/kppt/index.php/238551?lang=de

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Sabine ClausAuf dem Weg20 Spaziergänge für das seelische Wohlbefinden

Über dieses Buch

Spazieren als Lebenskunst 

Ein einfacher Spaziergang kommt uns so selbstverständlich vor, dass wir oft vergessen, welch regenerierende Kraft, Inspiration und kleines Glück uns auf dem Weg erwarten. In Zeiten von Digitalisierung und Erlebnissport wirkt Spazierengehen fast schon anachronistisch. Und genau deshalb ist die Zeit reif, es wieder neu zu entdecken: Mit ihren Streifzügen durch Psychologie und Medizin, Literatur und Geschichte erkundet Sabine Claus die positive Wechselwirkung von Gehen, Denken und Fühlen. So erfahren wir, warum wir beim Spazieren kreativer werden, einfacher Probleme lösen können, achtsamer sind, Resonanz erleben oder uns entspannter fühlen. 

Auf 20 einladenden Spaziergängen sensibilisiert die Autorin für die vielfältigen Potenziale alltäglicher kurzer Reisen zu Fuß, auf denen der Mensch und die Außenwelt Schritt für Schritt zusammenfinden. Spazieren ist zugleich ein Gang in die Welt und ein Gang nach Innen. Dafür bedarf es nichts weiter, als einen Fuß vor die Tür zu setzen. 

Ein Teil des Erlöses kommt dem Verein Jordsand zugute, der sich seit über 100 Jahren für den See- und Küstenvogelschutz sowie für den Naturschutz an der Nord- und Ostseeküste einsetzt.

Sabine Claus, Master of Advanced Studies in Coaching & Organisationsberatung, begleitet Menschen und Unternehmen in Veränderungs- und Entwicklungsprozessen.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto / Illustrationen: Britta Rungwerth, www.rungwerth-design.de

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-906-7

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-923-4 (EPUB), 978-3-95571-925-8 (PDF),  978-3-95571-924-1 (MOBI).

Für Giulia & Emilio auf ihren Wegen

„Vor allem hab’ Zeit und nimm Umwege. Lass dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Kehr ein, wo du Lust hast, und gönn dir die Sonne.“

(Peter Handke: Über die Dörfer1)

Einleitung

„Ich teile mit, dass ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr genau um wie viel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, den Hut auf den Kopf setzte, das Schreib- oder Geisteszimmer verließ, die Treppe hinunterlief, um auf die Straße zu eilen. (…) Alles, was ich erblickte, machte mir den angenehmen Eindruck der Freundlichkeit, Güte und Jugend. Rasch vergaß ich, dass ich oben in meiner Stube soeben noch düster über ein leeres Blatt Papier hingebrütet hatte. (…) Freudig war ich auf alles gespannt, was mir auf dem Spaziergang etwa begegnen oder entgegentreten könnte.“2

(Robert Walser, deutsch-schweizerischer Schriftsteller)

Es geht uns heute so gut wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Und doch erleben wir Stress, körperliche Probleme, Einsamkeit, Selbstzweifel und seelische Krisen. Technisierung, Kapitalismus und Beschleunigung bestimmen unsere moderne Lebensform. Unsere Alles-ist-möglich-Mentalität weckt hohe Erwartungen: Man muss mitmachen, auf dem Laufenden bleiben, immer up to date sein. Ständige Selbstoptimierung wird zur Norm. Möglichst viel, möglichst schnell, möglichst speziell – mit nur wenigen Mausklicks kein Problem. Wir vergleichen uns unbarmherzig mit anderen und versuchen, mit dem Tempo der digitalisierten Welt Schritt zu halten. Dabei werden nicht wir immer schneller, sondern die Dinge um uns herum. Das macht müde. Zur Erholung lenken wir uns ab: Wir können aus einer unüberschaubaren Fülle von Informationen, Freizeitaktivitäten und Bildungsmöglichkeiten wählen. Die Zerstreuung in der digitalen Welt ist via Handy und Co. jederzeit möglich. Wir fliegen in die entlegensten Winkel dieses Planeten in der Hoffnung, für eine Weile Abstand zu bekommen und uns vom täglichen Lauf im Hamsterrad zu erholen. Vor Ort verlangen wir als Erstes nach dem WLAN-Passwort und wundern uns, dass wir nicht „runterkommen“ können. Zu sehr ist das Getriebensein, ist das Schaffenwollen in uns drin. Und wenig später landen wir wieder im Alltag, um dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben.

Ich möchte mit meinem Buch einen deutlichen Kontrapunkt setzen zu dieser Beschleunigung, dem Abhaken nicht enden wollender To-do-Listen, dem zwanghaften Streben nach Wachstum und immer neuen Höhepunkten auf der Suche nach dem Glück. Es soll unsere erhitzten Gemüter ein wenig beruhigen und dazu einladen, Spazieren als praktische Lebenskunst wiederzuentdecken: als eine Möglichkeit der umsichtigen Erkundung unserer Umwelt, der Selbsterkundung, des Sammelns von Momenten, des Sinnierens, des heiteren Genusses, der Kreativität. Dieses Buch ist ein Plädoyer für diejenige Form von Bewegung, die tief in uns Menschen angelegt ist. Für die „Vermessung der Welt“ mit unserem ureigenen Maß: dem menschlichen Schritt.

Sind Sie selbst bereits Spaziergängerin oder Spaziergänger? Dann wissen Sie um die unvergleichliche Qualität dieser Fortbewegung und möchten diese allenfalls noch besser verstehen. Oder wünschen Sie sich, neue Aspekte rund ums Spazieren kennenzulernen? Warum interessiert Sie das Thema? Möchten Sie eine einfache und jederzeit praktizierbare Methode finden, um

zu entspannen?

die Natur zu erleben?

den Kopf freizubekommen?

etwas für Ihre Gesundheit zu tun?

die Lösung für ein Problem zu finden?

Ihre Kreativität anzuregen?

die Welt mit neuen Augen zu sehen?

überraschende Perspektiven zu entdecken?

Abstand zu gewinnen?

achtsamer zu werden?

sich selbst zu coachen?

zu genesen?

sich zu amüsieren?

kleine Auszeiten zu nehmen?

eine wohltuende Gewohnheit (wieder) in Ihr Leben zu bringen?

Ein Spaziergang ist ein Quell heilsamer Impulse und kann dies alles und vieles mehr bewirken.

Spazieren ist eine relevante Nebensächlichkeit. Relevant, weil Spazieren in fast jeder Lebenslage guttut (zumindest nicht schadet). Nebensächlich, weil es eine solch alltägliche Beschäftigung darstellt, der viele von uns regelmäßig nachgehen. Jeder von uns macht hin und wieder einen Spaziergang: zur Mittagszeit durch den Park, eine Runde um den Block oder am Wochenende in der Natur. Ein Spaziergang kostet nichts, ist umweltfreundlich und muss nicht groß geplant oder vorbereitet werden. Spaziergänge werden (noch) nicht lautstark beworben und man benötigt weder Ausrüstung noch einen Kurs oder gar ein Diplom.

Relevant ist das Spazieren außerdem, weil es uns auf unspektakuläre Weise wacher werden lässt. Beim Spazieren in Gesellschaft schenken wir unseren Weggefährten unmittelbare Aufmerksamkeit. Wir bewegen uns, während wir miteinander sprechen, ohne dabei ständig die Tastatur oder das Touchpad zu bedienen. Dass ein Spaziergang heilsame Wirkung entfalten kann, wird dabei unterschätzt. Dabei ist er ganz ohne Nebenwirkungen und Belastung der Krankenkassen.

Ein positiver Nebeneffekt beim Schreiben des Buches war, dass ich während dieser Zeit noch mehr als sonst spazieren gegangen bin – allein oder mit anderen, auch im beruflichen Kontext. Ich schulte meine Wahrnehmungsfähigkeit und lernte, dass ich dabei auf mein Innenleben Einfluss nehmen konnte. Vielfach wurde ich beschenkt – mit Eindrücken, Einsichten oder einfach mit Entspannung. Ich bin heute noch beglückt – und beschämt zugleich, auf Spaziergängen, die ich schon x-mal unternommen habe, so viel Unbekanntes entdeckt zu haben, was mir zuvor durchgegangen ist. Spazierengehen bereichert mein Leben, Tag für Tag aufs Neue. Das möchte ich gerne mit Ihnen teilen.

Dieses Buch ist keine Anleitung, wie man „richtig“ spazieren geht, auch kein Ratgeber. Es wäre paradox, dies anleiten oder beraten zu wollen. Und doch möchte ich nicht darauf verzichten, Ihnen die eine oder andere Idee, was man beim Spazieren so alles anstellen kann, zu vermitteln. Es wäre schön, wenn die Lektüre dieses Buches in Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ein bisschen Vorfreude auf den nächsten Spaziergang wecken würde oder auch Lust, etwas Altbekanntes wiederzuentdecken.

Im ersten Teil habe ich Wissenswertes aus unterschiedlichen Disziplinen (z. B. Geschichte, Medizin, Psychologie, Literatur) und Perspektiven zum Spazierengehen zusammengetragen.

Im zweiten Teil finden Sie praktische Anregungen, die die Theorie des ersten Teils erlebbar machen. Sie laden dazu ein, auf eigene Faust und ganz unkompliziert die hier dargestellten Zusammenhänge beim Spazieren selbst zu entdecken: 20 verschiedene Spaziergänge für Kopf und Herz ermuntern dazu, sein Augenmerk neu auszurichten, während man zu Fuß unterwegs ist.

Wir können die Kraft des Gehens für die eigene Lebensgestaltung nutzen – egal ob beim frühmorgendlichen Spaziergang in der Natur, beim Gang von der Bushaltestelle ins Büro, beim Schlendern in der Mittagspause, wenn man in der Stadt unterwegs ist, einen Behördengang zu erledigen hat oder eine Nachtwanderung wagt.

Im dritten Teil schließlich können Sie die Ergebnisse meiner kleinen Spaziergangs-Umfrage nachlesen. Ich wollte wissen, wie andere Menschen spazieren und was sie dabei erleben. Diese Erfahrungen aus erster Hand machen die zitierten wissenschaftlichen Studien fassbarer.

Wenn Sie tiefer ins Thema eintauchen, werden Sie möglicherweise wie Honoré de Balzac in seiner Theorie des Gehens ausrufen: „Oh! Die Fragen stoben nur so auf wie die Heuschrecken. Wundervolles Thema!“3 Genau so erging es mir jedenfalls, als ich mich mehr und mehr in die Materie „Spazieren“ vertiefte und ich für meine Einblicke auf unzähligen Spaziergängen ein Echo der Bestätigung suchte. Es gelang mir bis heute nicht, die vielschichtige und reichhaltige Natur von Spaziergängen vollends zu erfassen. Balzac muss es inmitten der Studien seiner Theorie des Gehens wohl ganz ähnlich ergangen sein, als er konstatierte: „Als ich alles gelernt hatte, wusste ich nichts – und ich ging!“4

Um es kurz zu halten: Machen wir uns auf den Weg. Gehen wir spazieren.

Willkommen im leichtfüßigen Vergnügen!

TEIL I: ÜBER DAS SPAZIEREN

1. Auf geht’s! Willkommen im leichtfüßigen Vergnügen

„Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.“

(Johann Wolfgang von Goethe, deutscher Dichter und Naturforscher)

Leichtfüßig – was für ein schönes Gefühl! Beschwingt schreiten wir aus, mit weitem Blick, getragen und zugleich fast schwerelos, ein ganz besonderer körperlich-seelischer Zustand. Doch wirken diese Worte – „spazieren gehen“ – heillos überholt. In Zeiten grenzenloser Mobilität haftet dem Zu-Fuß-Gehen etwas Überflüssiges oder Sinnloses an. Wir sind nicht mehr gezwungen, größere Entfernungen per pedes zurückzulegen. Gehen wurde lange als eine unnötige Zeit- und Kraftverschwendung angesehen, als eine Form des Luxus oder als nicht ganz ernst zu nehmende Bewegungsform – etwa zur Genesung nach einer Krankheit oder nach der Pensionierung.

Indem ich in diesem Buch die vielfältigen Aspekte um das enorme und doch unterschätzte Potenzial des Spazierengehens zusammengetragen habe, hoffe ich, vor allem eines beim Leser zu bewirken: Lust auf einen Spaziergang. Auf einem Spaziergang ist kaum etwas außergewöhnlich. Nur er selbst ist es. Spazieren bedeutet Eintauchen in die Gegenwart. Man erlebt, was immer gerade da ist. Spazieren ist körperlicher, gedanklicher und seelischer Akt zugleich. Es ist ein Gang in die Welt und ein Gang nach innen. Auf einem Spaziergang entsteht manchmal so etwas wie ein lebendiger Draht zwischen uns und der Welt. Schwingung entsteht, wir sind in Resonanz und unsere Weltbeziehung gewinnt eine neue Qualität. Spazieren gehen kann fast jeder zu jeder Zeit an jedem Ort ohne große Planung, Vorbereitung, Verabredung oder Verpflichtung. Es ist leichtfüßiges Vergnügen, in der Welt unterwegs zu sein, und somit das Gegenteil vom Credo unserer Zeit: „schneller, besser, weiter“.

Gemächlicher Fortschritt

Entstanden ist die Idee zu diesem Buch während und nach meinen vielen Spaziergängen mit mir allein, zu zweit, im Rahmen von Coaching-Gesprächen mit meinen Klienten sowie beim Begleiten psychisch erkrankter Menschen. Mehrmals pro Monat gehe ich frühmorgens mit einer kleinen Gruppe Patienten spazieren. Wir gehen in jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Jeder dieser Spaziergänge entwickelt seinen eigenen Reiz, obwohl wir meist eine ähnliche Strecke laufen. Mal ist es ein ganz besonderes Licht, dann ein Geruch, das Wetter, die individuelle Verfassung oder ein Gespräch während des Gehens, das den Spaziergang zu etwas Besonderem und Berührendem macht. Kein Spaziergang gleicht dem anderen, keiner ist wiederholbar. Wenn wir nach 30 Minuten an unseren Ausgangspunkt zurückkommen, sind wir zuverlässig jedes Mal wacher und in besserer Verfassung als zum Startzeitpunkt.

Ich wollte ergründen, woher die vielen unmittelbar spürbaren Effekte eines Spaziergangs kommen. Einige Vorteile sind sofort ersichtlich: Spazierengehen ist problemlos in den Alltag integrierbar, kostet nichts, ist für fast jeden – unabhängig von Fitnessgrad und Alter – machbar und entspannend. Darüber hinaus macht es uns klüger und fördert die körperliche und mentale Gesundheit (wie ich auf den folgenden Seiten anhand wissenschaftlicher Studien darlegen werde). Es ist keine neue Erkenntnis, dass Bewegung fit und gesund hält. Sie kann uns so manche Krankheit vom Leib halten und Schmerzen zum Verschwinden bringen. Wer das Glück hat, seinen Arbeitsplatz zu Fuß erreichen oder wenigstens einen Teil seiner täglichen Wegstrecken zu Fuß absolvieren zu können, kennt die belebende Wirkung von moderater Bewegung an der frischen Luft. Viele Menschen berichten, dass ihnen die besten Gedanken kommen, wenn sie locker gehen, wandern oder joggen. Im gleichmäßigen Fluss der Bewegung sind sie besonders gut in der Lage, gelöster zu denken. Während des Gehens verlieren auch Emotionen ihre Intensität. Freiräume entstehen, Gedanken können freier fließen. Es wird möglich, sich mithilfe der Bewegung unter freiem Himmel von Belastendem zu distanzieren, es wenigstens für eine gewisse Zeit hinter sich zu lassen und sich anschließend den Herausforderungen des Alltags auf andere Art zu stellen.

Gerade in Stresssituationen oder für seelisch belastete Menschen stellt moderate Bewegung eine passable Möglichkeit dar, das konstante Kreisen schwermütiger Gedanken zu unterbrechen. Wir können seelischen Krisen und körperlichen Leiden also buchstäblich entgehen. Bereits Bewegung mittlerer Intensität, also zügiges Gehen, verbessert Depressionen und erzeugt einen leichten Rückgang von Panik- und Angststörungen.5 Menschen, die unter getrübter Stimmung am Morgen leiden, sprachen auf unseren Morgenspaziergängen häufig davon, dass sie sich bereits nach kürzeren Laufeinheiten an der frischen Luft mental besser fühlten.

Und es gibt sogar einen spirituellen Aspekt: Spazieren kann eine Form der Selbstfindung und Selbstheilung sein. Denn unser Leben ist ein permanentes Auf-dem-Weg-Sein. Wir lernen beim Spazieren, achtsam für das zu sein, was vor uns und in uns liegt. Wir können uns verändern, uns mit jedem Schritt wandeln. Wir spazieren uns frei von allem, was uns festhält und bindet. Wir gehen auf unser Ziel zu oder sind ziellos unterwegs. So können wir unterwegs nachspüren, ob wir auch innerlich auf unserem Weg sind und ob dieser wirklich der Weg ist, den wir tatsächlich gehen möchten. Wir können lernen, mit Hindernissen umzugehen. Wenn wir uns verlaufen haben, können wir uns besinnen, uns neu orientieren oder um Hilfe bitten. Spazierengehen ist nicht nur eine Öffnung zur Außenwelt, sondern vor allem zu sich selbst.

1.1 Ein Spaziergang ist …

„Ein Spaziergang ist und bleibt ein Spaziergang, stets ein Unikat, was ihm im digitalen Zeitalter der Reproduzierbarkeit eine gewisse Eigen- und Besonderheit verleiht.“6

(Bertram Weisshaar, Spaziergangswissenschaftler)

Die meisten Menschen sind in ihrem Leben bereits spazieren gegangen, aber die wenigsten können präzise formulieren, was unter einem Spaziergang zu verstehen ist. Gehen ist die natürlichste Art der Entschleunigung, indem wir das Tempo auf das menschliche Maß unseres Schrittes reduzieren. Der Spaziergang ist eine besondere Art des Gehens in maßvollem Tempo. Stellen Sie sich einmal einen gehetzten Spaziergänger vor: unvorstellbar! Denn die eilende Person wäre dann kein Spaziergänger mehr. Wenn jemand sagt: „Ich spaziere mal eben (zur Bäckerei / um den Block etc.)“, handelt es sich um eine bereichernde Tätigkeit eines Menschen, der sich mit Genuss in Bewegung setzt. Ein Spaziergang kann demnach einem Ziel gewidmet sein, jedoch ist beim Spazieren nicht das Ziel allein von Bedeutung, sondern ebenso der Weg. Mehr über den Zusammenhang von Weg und Ziel erfahren Sie in Teil II dieses Buches (s. Abschnitt 8.2). Der Spaziergang ist eine Art persönliches Ritual, das wir allein oder in Gesellschaft, regelmäßig oder zu gewissen Gelegenheiten praktizieren.

„Spazieren“ leitet sich vom lateinischen spatiārī ab, was so viel bedeutet wie „mit gemessenen Schritten einhergehen“. Das Substantiv spatium bezeichnet einen „Zwischenraum“. In diesem Ursprung werden der Kern und der Wert des Spaziergangs deutlich: Spaziergänge können kostbare Zwischenräume zum Luftholen darstellen in einem Alltag, der geprägt ist von Hektik und endlosen Aufgabenlisten. Sie schaffen einen sinnlichen Raum inmitten einer kopfgesteuerten Welt und helfen, den Fokus wiederzufinden angesichts von moderner Schnelllebigkeit und Globalisierung. Dieser Zwischenraum, den wir uns beim Spazieren schaffen, kann einerseits zu einem geschützten Innenraum werden. Andererseits kann er uns auch neue Einblicke gewähren: Wenn wir uns auf veritable Zwischenwege, also auf Nicht-Wege, außerhalb von Markierungen in der Stadt oder in der Natur wagen, entdecken wir womöglich wilde Seiten, unerwartete Schönheit, aber auch ungeahnte Hässlichkeit.

Ein Spaziergang ist eine Einladung, wieder Atem zu schöpfen, sich zu erholen, den Geist zu entspannen, sich inspirieren zu lassen, die Gelegenheit für ein Gespräch wahrzunehmen – mit einer anderen Person oder sich selbst. Somit entlassen uns Spaziergänge aus der alltäglichen Pflicht der Zielerreichung und laden zum Flanieren ohne Ziel, zur Belebung der Sinne und zur Muße ein. Beim Spazieren vollzieht sich eine Art befriedigende Angleichung der Bedürfnisse von Körper und Geist. Wir werden aufmerksamer für unsere Umgebung und für uns selbst. Spazieren hat etwas ungemein Leichtfüßiges und zugleich etwas intellektuell Belebendes. Ein Spaziergang offenbart kleine Details, verschafft uns Ablenkung, zentriert, sensibilisiert für Rhythmen und den steten Wandel, dem wir ausgesetzt sind. Ich möchte ihn aber nicht als eine Abkehr von der modernen Welt, einen Ausstieg aus der Digitalisierung oder als eine Gegenbewegung zur Informationsgesellschaft verstanden wissen. Es geht vielmehr um einen Ausgleich, um ein Gegengewicht, um eine zugleich alte wie neue Qualität. Es geht um eine Balance zwischen echtem betretbarem Raum und virtuellem, seh- und hörbarem Raum. Ein Spaziergang befreit uns weder von unseren Verantwortungen noch schützt er uns vor dem weltweiten Chaos. Er erlaubt uns aber, uns selbst zu begegnen, um dann mit neuer Klarheit und geschärften Sinnen zurück in den Alltag zu kommen und unseren Lebensweg weiterzugehen.

1.2 Spazieren, wandern oder laufen?

„Spazieren heißt: sich immer ein bisschen mehr wünschen, als ein Spaziergang bieten kann, aber niemals so viel, dass man entmutigt wird.“7

(Christoph Simon, Schriftsteller, Kabarettist und Slam-Poet)

Der Unterschied zwischen Spazieren, Wandern und Laufen offenbart sich im individuellen Sprachgebrauch: So hört man im Schweizerdeutschen oft „ich gang go laufe“ anstelle von „ich gang go spaziere“, obwohl dasselbe gemeint ist. Im Hochdeutschen wiederum kann unter Laufen auch Joggen verstanden werden: „Ich gehe laufen.“ Sofern der Leistungsaspekt nicht betont wird, werden die Begriffe spazieren und wandern manchmal synonym verwendet, wobei der Unterschied meist an einer gewissen Zeitdauer oder Streckenlänge festgemacht wird. Eine offizielle Definition gibt es aber nicht.

„Am präzisesten äußern sich Sportmediziner, die mit Wandern (…) eine Mindestgeschwindigkeit, also eine sportliche Leistung verbinden. Nicht selten wird ein rasanter Schritt von 6 km/h als untere Norm angesetzt … Fragt man Wanderer selber, wie sie ihre gerade in Angriff genommene Strecke klassifizieren, lässt sich keine klare Grenze ausmachen. Auf die in der ,Profilstudie Wandern 00‘ gestellte Doppelfrage ‚Wie lange werden Sie heute zu Fuß unterwegs sein? … Würden Sie Ihre heutige Tour eher als Spaziergang oder als Wanderung bezeichnen?‘ erwies sich der Übergang zwischen beiden Begriffen als fließend. Es gibt durchaus Minderheiten, die Eine-Stunde-unterwegs-Sein schon für wandern, und andere, die vier Stunden noch für spazieren halten. Nur der Trend blieb eindeutig: Je länger, desto wanderträchtiger.“8

So darf jeder selbst entscheiden, ob er spazieren geht, wandert oder läuft.

1.3 Eine Perlenschnur von Eindrücken

„Es gibt Spaziergänge, von denen träumt man jahrelang.“9

(Franz Hohler, Schriftsteller)

Beim Spazierengehen geht es weniger um ein bestimmtes, vielleicht sogar spektakuläres Ziel. Wenn wir von einem Spaziergang erzählen, beschreiben wir einen Mix aus verschiedensten Eindrücken und nicht nur das Endziel. Was ein Spaziergänger unterwegs wahrnimmt, ist nicht ein einzelner Ort, sondern eine Synthese aus den verschiedenen Sequenzen (Stadt, Begegnungen, Naherholungsgebiet, Tiere, Wald etc.), vermischt mit dem ganz persönlichen Innenleben des Menschen. „Der Spaziergang ist also eine Kette, eine Perlenschnur mit ausdrucksstärkeren und dann wieder ausdrucksschwächeren, immer aber wirksamen Passagen, die unsere Wahrnehmung synthetisiert“10, formuliert der Begründer der Promenadologie, der Spaziergangswissenschaft (oder englisch: Strollology), Lucius Burckhardt.

Sich selbst und anderen begegnen

Die Umwelt, in der wir als Spaziergänger unterwegs sind, wird für uns zu Projektions- und Reflexionsflächen. Unsere momentane Befindlichkeit beeinflusst, was wir gerade sehen, hören, riechen und vielleicht sogar schmecken, und dies wiederum hat Auswirkung auf das, was wir fühlen. So kann ein und derselbe Ort, je nach Verfassung, ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. Der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817–1862) drückt dies wie folgt aus:

„In der Tat lässt sich zwischen den Möglichkeiten, die eine Landschaft in einem Radius von zehn Meilen bietet – einer Strecke, die man an einem Nachmittag bewältigen kann –, und dem etwa siebzig Jahre währenden menschlichen Leben eine Ähnlichkeit erkennen. Mit beidem ist man nie ganz vertraut.“11

Umwelt beinhaltet auch andere Menschen. Auf unseren Wegen begegnen wir, je nach Umgebung, mal nur ganz wenigen, mal sehr vielen. Wie nehmen Sie diese Begegnungen wahr? Verändert sich etwas in Ihnen in einer belebten Einkaufsstraße, wenn Sie sonst eher Stille und Einsamkeit vorziehen? Oder andersherum: Was geschieht in und mit Ihnen, wenn Sie normalerweise viel Trubel um sich haben und plötzlich einmal in die Ruhe eines Waldes eintauchen?

„Il n’y a pas de hasard, il n’y a que des rendez-vous“ („Es gibt keine Zufälle, sondern nur Begegnungen“), schrieb der französische Dichter Paul Élouard am Anfang des letzten Jahrhunderts. Wir können uns nicht aussuchen, wer uns gerade entgegenkommt. Aber wer bestimmt das? Ist es Zufall, Schicksal oder Fügung? Jede Begegnung ist einmalig. Manchmal ereignen sich einzigartige Momente, die nicht wiederholbar sind und etwas in uns auslösen. Eine flüchtige Begegnung, ein komplizenhafter Blick, ein unerwarteter Gruß, ein Kopfnicken, ein Lächeln, vielleicht sogar eine wertvolle Einsicht durch einen ungezwungenen Wortwechsel. So kann es passieren, dass wir auf dem Weg für einen anderen Menschen bedeutsam werden. Umgekehrt können wildfremde Menschen für uns von einer auf die andere Sekunde wichtig werden.

1.4 Mit allen Sinnen erleben

„Auf diesem Planeten zu gehen ist etwas Wunderbares. Kehren Astronauten wieder zurück auf die Erde, gehört ein Spaziergang zu den Dingen, die sie am glücklichsten machen.“12

(Thich Nhat Hanh, Meditationslehrer und Zen-Meister)

Mit den Füßen sind wir in die Welt gestellt. Wir stehen auf der Erde und fühlen sie unter uns. Beim Spazieren verlassen wir uns blind darauf, dass die Welt uns trägt. Wem schon einmal der Boden unter den Füßen weggebrochen ist, z. B. auf einer stabil geglaubten Eisfläche, weiß, dass sich dieses Auftun der Erde wie ein Schock anfühlen kann. Es ist gewiss kein Zufall, dass wir schockierende Ereignisse (wie den Verlust eines geliebten Menschen, eine unerwartete Kündigung etc.) so erleben, als würde uns der Boden unter den Füßen weggezogen. Manch einem schwindelt es anschließend oder man fühlt sich orientierungslos. Wir stehen also in der Welt, während um uns herum Dinge geschehen und in uns drinnen emotionale und / oder kognitive Prozesse ablaufen. Diese Prozesse beeinflussen ganz erheblich, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen.

Wir gehen spazieren, die Fußsohlen (barfuß oder durch Schuhwerk abgepuffert) bilden die direkte Kontaktfläche zur Welt, die Schwerkraft hält uns am Boden, es gibt ein Oben und ein Unten, ein Vorne und Hinten, ein Rechts und ein Links. Unsere Sinnesorgane Augen Nase und Mund ermöglichen uns Orientierung im Terrain, durch das wir uns gerade bewegen. Schnell und gemächlich, bei Sonne und bei Regen, auf dem Land und in der Stadt, durch den Wald und im Gebirge, mit und ohne Ziel. Manchmal blickt man aufmerksam um sich mit wachen Sinnen, manchmal ist man ganz in Gedanken versunken und nimmt die Bilder, Geräusche, Gerüche, Temperaturschwankungen oder den Wind auf der Haut kaum wahr. Manchmal mag man niemanden treffen, manchmal in Begleitung gehen, manchmal mitten durchs Gewimmel der Stadt.

Zuweilen kann der begangene Weg zum Maß werden. In der Nähe der Klinik, in der ich arbeite, gibt es einen Weg, den „Zwetschgenweg“, von dem aus ich den unter mir liegenden Zürichsee und in der Ferne die Glarner Alpen sehen kann. In meiner Mittagspause gehe ich oft diesen Weg. Nachdem ich mir einmal im Frühling während einer Tour durch die antike Felsenstadt Petra in Jordanien einen Bänderriss am Sprunggelenk zugezogen hatte und daraufhin viele Wochen nur sehr eingeschränkt gehen konnte, wurde dieser Weg zum Maß meiner Fortschritte: „Gestern bin ich bis zum Maisfeld gegangen. Heute gehe ich bis zum Zauberbänkli. Morgen werde ich es bis zu den Bäumen versuchen. Bis zum Sommer werde ich die ganze Runde ohne Schmerzen schaffen.“

An vielen Orten der Welt und zu jeder Zeit hat man die Freiheit zu spazieren, wenn auch nicht immer auf solch gepflegt angelegten und sicheren Wegen. Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, dass im Laufe unserer Geschichte etliche gesellschaftliche Bedingungen erfüllt werden mussten, um uns überhaupt frei bewegen zu können. Mehr darüber in Kapitel 2.

Alltäglich unspektakulär

Ein Spaziergang ist etwas Einfaches, etwas Alltägliches, etwas Unspektakuläres. Gerade in unserer Zeit der Reizüberflutung und des rasanten technologiegetriebenen Wandels ist es von großer Bedeutung, sich täglich dem Einfachen, dem Normalen zu widmen. Einfach spazieren gehen. Ohne etwas zu wollen oder etwas Bestimmtes zu erwarten. „Suche nicht, und es findet dich …“13 dichtet der Benediktinermönch Willigis Jäger und beschreibt das, was beim Spazierengehen geschehen kann. Momente der Freude und des Glücks stellen sich manchmal ganz unvermittelt ein. Allerdings können wir solche Lichtblicke weder auf direktem Weg erreichen noch können wir sie erzwingen. Manchmal gehen wir auch unbeabsichtigt achtlos an kleinen Alltagswundern vorüber, weil wir gedanklich mit anderen Themen beschäftigt sind. Momente des Glücks bleiben am Ende ein kostbares Geschenk. Jedoch können wir uns innerlich darauf vorbereiten und gefasst sein, dass uns dann und wann beim Spazierengehen das Glück ereilt. Was brauchen wir dafür? Aus meiner Erfahrung vor allem Offenheit mit allen Sinnen und die Gewissheit, dass sich das (Spazier-)Glück in unerwarteter Weise einstellen wird. Das Schweizer Künstlerduo Fischli und Weiss betitelte ihr berühmtes kleines schwarzes Büchlein mit der originellen und sehr persönlichen Frage „Findet mich das Glück?“14. Diese Frage impliziert, dass das Glück uns aktiv sucht – und nicht, dass wir aktiv danach suchen müssen! Also spazieren wir durch die Welt und sorgen dafür, dass das Glück uns findet.

Vielleicht unternehmen wir aber auch einen Spaziergang mit der Absicht, etwas zu suchen, zum Beispiel Ruhe, Erholung, Klärung oder Inspiration. „Suchet und ihr werdet finden …“, sagte Jesus von Nazareth. „Ich suche nicht, ich finde …“15, meinte Pablo Picasso. Es gibt kaum einen Spaziergang, auf dem ich nicht irgendetwas gefunden habe – oder auf dem mich etwas fand, wenn auch nur flüchtig.

Ich genieße jeden Spaziergang auf seine Weise. Manchmal zähle ich meine Atemzüge beim Ein- und Ausatmen, manchmal mache ich unterwegs noch ein paar Dehnungsübungen, gerade wenn ich davor lange gesessen habe, manchmal meditiere ich ein Wort oder einen Satz, manchmal summe ich eine Melodie vor mich hin. Auf Spaziergängen tun sich neue Perspektiven auf für den Umgang mit Problemen. Nicht, weil ich mich immer auf sie konzentriere. Im Gegenteil. Es arbeitet in meinem Unterbewusstsein weiter und manchmal steigt ein neuer frischer Gedanke in mein Bewusstsein auf, der zur Klärung, zur Problemlösung beiträgt. Nicht umsonst sagt der Volksmund: Beim Spazieren lüften wir den Kopf.

Offline gehen

Gehen wir in städtischen Gebieten spazieren, sehen wir nur noch manchmal Menschen, die sich neugierig um- oder anschauen. Vielmehr tragen die meisten Kopfhörer und / oder telefonieren oder blicken auf den Bildschirm ihres Handys, während ihr Blick ohne besonderen Fokus zu sein scheint. Besonders berührt mich jeweils der Anblick spazierender junger Väter oder Mütter, die mit dem Kinderwagen unterwegs sind und beim Schieben nicht in das Gesicht ihres Babys blicken, sondern aufs Handy. Welche Auswirkungen die reduzierte menschliche Interaktion mit den Kleinsten zugunsten der virtuellen Welt haben wird, ist noch nicht erforscht.

Der Anblick von Menschen, die mit gesenktem Blick an uns vorbeieilen und voll und ganz auf ihr Handy fokussiert sind, ist erschreckenderweise zur Normalität geworden. Unsere Aufmerksamkeit wird vielfach durch Kontakte, Vorhaben und Aufgaben gebunden, die per Bildschirm oder Kopfhörer auf uns einwirken. Unser Verhältnis zur Welt verändert sich grundlegend, weil wir mehr und mehr digital mit ihr in Verbindung stehen. Wir reagieren nicht mehr auf die Welt an sich, sondern auf ihre digitale Erscheinung.

Online verläuft das moderne Leben, so, als ob wir nicht mehr sehen wollten, was „in echt“ um uns herum passiert, oder nicht fühlen wollten, was in uns passiert. Vielleicht weil es ernüchternd oder beängstigend wirken würde? Eine völlige Abkehr von der heutigen Weltbeschaffenheit ist weder erstrebenswert oder möglich, eine zeitweise Entkopplung von der beherrschenden Dominanz der Technologie aber nötig. Durch einen Spaziergang ohne Handy oder wenigstens im Offline-Modus lösen wir uns temporär von der alltäglichen digitalen Bevormundung, um Abstand zu gewinnen und mündig zu bleiben.

Schuhe oder barfuß?