Auf der Lauer liegen - Liz Nugent - E-Book

Auf der Lauer liegen E-Book

Liz Nugent

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Beschreibung

Lydia Fitzsimons hat ein sch.nes Leben: sie wohnt in einem vornehmen Haus in Dublin, ist mit einem angesehenen Richter verheiratet, der sie anbetet und hat einen Sohn, den sie abgöttisch liebt. Wären da nicht die finanziellen Sorgen, von denen niemand wissen darf, und wäre da nicht dieser eine brennende Wunsch, den ihr Mann Andrew ihr um jeden Preis erfüllen soll. Dass deshalb eine junge Frau ermordet wird, und der Richter und seine Gattin in ihrem exquisiten Vorstadtgarten ein Grab schaufeln müssen, gehört allerdings nicht zum Plan. Andrew zerbricht an der Tat, doch Lydia ist fest entschlossen, ihre Geheimnisse zu wahren und ihren unschuldigen Sohn Laurence zu schützen. Doch der ist nicht so naiv, wie Lydia meint. Verhängnisvoll, dass er die Wahrheit ahnt und sich ein bisschen zu sehr für die Familie der Toten interessiert …

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LIZ NUGENT

AUF DERLAUERLIEGEN

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

ROMAN / STEIDL

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Der Himmel kalt erstrahlt’

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Aus Eisesgrund, Schneewüstental

Der Hauch der Nacht weht’ wie der Tod

Unter dem sinkenden Mond.

Percy Bysshe Shelley

Inhalt

Erster Teil: 1980

1 Lydia

2 Karen

3 Laurence

4 Lydia

5 Laurence

6 Karen

7 Lydia

8 Laurence

Zweiter Teil: 1985

9 Karen

10 Lydia

11 Laurence

12 Karen

13 Lydia

14 Laurence

15 Karen

16 Lydia

17 Laurence

18 Karen

19 Laurence

20 Lydia

21 Karen

22 Laurence

23 Lydia

24 Laurence

25 Karen

26 Lydia

Dritter Teil: 2016

27 Karen

28 Lydia

Dank

Impressum

ERSTER TEIL

1980

1 LYDIA

Mein Mann hatte eigentlich nicht vor, Annie Doyle umzubringen, aber diese verlogene Schlampe hat es nicht anders verdient. Nachdem wir unseren anfänglichen Schock überwunden hatten, versuchte ich zu verhindern, dass er sie auch nur erwähnte. Das duldete ich allenfalls, wenn es darum ging, Alibis abzugleichen oder zu besprechen, wie wir etwaiges Beweismaterial beseitigen könnten. Es regte ihn zu sehr auf, und ich hielt es für das Beste, so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Obwohl wir also nicht darüber sprachen, ging ich die Geschehnisse jenes Abends immer wieder durch und wünschte mir jedes Mal, irgendein Aspekt, irgendein Detail könnte anders sein, aber Fakten sind nun mal Fakten, und wir müssen uns mit ihnen abfinden.

Es war der vierzehnte November 1980. Wir hatten das Ganze arrangiert. Nicht ihren Tod, nur das Treffen, um herauszufinden, ob sie es ehrlich mit uns meinte, und, falls nicht, um unser Geld zurückzukriegen. Ich lief zwanzig Minuten den Strand ab, weil ich ganz sicher sein wollte, dass niemand da war, aber ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. An diesem bitterkalten Abend war der Strand menschenleer. Als ich mich davon überzeugt hatte, dass ich wirklich allein war, ging ich zur Bank und wartete. Mit den Wellen fegte ein schneidender Wind landeinwärts, und ich zog meinen Kaschmirmantel enger um mich, schlug den Kragen hoch. Andrew erschien pünktlich und parkte wie angewiesen nicht weit von meiner Bank. Ich beobachtete alles aus dreißig Metern Entfernung. Ich hatte ihm gesagt, er solle sie zur Rede stellen. Und ich wollte sie mit eigenen Augen sehen, um einzuschätzen, ob sie geeignet war. Sie sollten gemeinsam aus dem Auto aussteigen und an mir vorbeigehen. Doch das taten sie nicht. Nachdem ich zehn Minuten gewartet hatte, stand ich auf und ging in Richtung des Wagens, fragte mich, was da so lange dauerte. Als ich näherkam, hörte ich laute Stimmen. Und dann sah ich, dass sie miteinander kämpften. Die Beifahrertür schwang auf, und sie versuchte auszusteigen. Aber er zog sie wieder zu sich herein. Seine Hände lagen um ihren Hals. Sie versuchte sich zu befreien, und einen Moment lang schaute ich wie hypnotisiert zu und fragte mich, ob ich mir das alles nur einbildete, dann schrak ich aus meiner Verwirrung und rannte zum Auto.

»Andrew! Hör auf! Was machst du denn?« Meine Stimme klang schrill, und die von panischer Angst erfüllten Augen des Mädchens zuckten zu mir herüber, ehe sie sich nach oben verdrehten.

Er ließ sie sofort los, und sie sank röchelnd nach hinten. Sie war fast tot, aber noch nicht ganz, und ich schnappte mir die Lenkradkralle, die in ihrem Fußraum lag, und schlug ihr damit auf den Schädel, ein Mal nur. Blut, ein kurzes Zucken, dann absolute Stille.

Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ich das tat. Instinkt?

Sie sah jünger aus als ihre zweiundzwanzig Jahre. Ich ließ mich nicht täuschen von ihrem grellen Make-up, dem schwarz gefärbten, fast schon blauen Haar. Eine ungleichmäßige weiße Narbe verlief von ihrer deformierten Oberlippe bis zum Nasensteg. Seltsam, dass Andrew das nie erwähnt hatte. Bei ihrem Kampf war sie mit dem einen Arm aus dem Ärmel ihrer Jacke gerutscht, und ich sah die blutverkrusteten Stellen in ihrer Ellenbeuge. Sie hatte einen sarkastischen Ausdruck im Gesicht, ein höhnisches Grinsen, das auch der Tod nicht hatte auslöschen können. Mir gefällt der Gedanke, dass ich dem Mädchen einen Gefallen getan habe, so wie wenn man einen verletzten Vogel von seinem Leid erlöst. Nicht, dass sie solche Güte verdient hätte.

Andrew ist schon immer aufbrausend gewesen, er explodiert wegen belangloser Kleinigkeiten, aber im nächsten Moment beruhigt er sich wieder, und es tut ihm leid. Diesmal allerdings war er geradezu hysterisch, heulte und schrie herum, als wollte er die Toten aufwecken.

»Großer Gott! Du großer Gott!«, sagte er immer wieder, als könnte der da oben im Himmel irgendwas ändern. »Was haben wir nur getan!«

»Wir?« Ich war entgeistert. »Du hast sie umgebracht!«

»Sie hat mich ausgelacht! Du hattest recht. Sie hat gesagt, ich wär eine leichte Beute. Sie würde an die Öffentlichkeit gehen. Sie wollte mich erpressen. Ich hab die Beherrschung verloren. Aber du … du hast ihr den Rest gegeben, sonst wäre sie vielleicht noch …«

»Wie kannst du es … Red nicht so einen Unsinn, du Trottel, du verdammter Idiot!«

Seine Miene war elend, zerquält. Ich verspürte Mitleid mit ihm. Ich sagte ihm, er solle sich zusammenreißen. Wir mussten vor Laurence wieder zu Hause sein. Ich befahl ihm, mir dabei zu helfen, die Leiche in den Kofferraum zu bugsieren. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber er befolgte meine Anweisungen. Dass seine seit einem Jahr nicht mehr genutzten Golfschläger im Kofferraum lagen und den größten Teil des Platzes einnahmen, ärgerte mich maßlos, aber glücklicherweise war das Mädchen so schlank und schmächtig wie ich vermutet hatte, und der Leichnam noch biegsam, sodass es uns gelang, ihn hineinzuzwängen.

»Was machen wir jetzt mit ihr?«

»Ich weiß nicht. Wir müssen uns erst mal beruhigen. Morgen überlegen wir dann weiter. Jetzt müssen wir nach Hause fahren. Was weißt du über sie? Hat sie Familie? Wird jemand nach ihr suchen?«

»Ich weiß nicht … Sie … Ich glaube, sie hat mal was von einer Schwester gesagt.«

»Im Moment weiß niemand, dass sie tot ist. Niemand weiß von ihrem Verschwinden. Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.«

Als wir um Viertel nach zwölf nach Avalon zurückkamen, erkannte ich an Laurence’ matt erleuchtetem Fenster, dass in seinem Zimmer die Nachttischlampe brannte. Ich hatte unbedingt da sein wollen, wenn er nach Hause kam, um zu hören, wie sein Abend gewesen war. Ich sagte Andrew, er solle uns einen Brandy eingießen, während ich nach unserem Sohn sah. Laurence lag ausgestreckt auf dem Bett und regte sich nicht, als ich sein Haar zauste und ihn auf die Stirn küsste. »Gute Nacht, Laurence«, flüsterte ich, doch er schlief tief und fest. Ich knipste seine Lampe aus und holte mir aus dem Medizinschränkchen im Bad eine Valium, ehe ich wieder hinunterging. Ich musste ruhig bleiben.

Andrew zitterte am ganzen Leib. »Herrgott, Lydia, wir stecken in ernsthaften Schwierigkeiten. Vielleicht sollten wir die Gardaí rufen.«

Ich schenkte ihm nach und leerte den Rest der Flasche in mein Glas. Er stand unter Schock.

»Und Laurence’ Leben für immer ruinieren? Morgen ist ein neuer Tag. Dann gehen wir die Sache an, aber egal was passiert, wir müssen immer an Laurence denken. Er darf nichts erfahren.«

»Laurence? Was hat der denn damit zu tun? Was ist mit Annie? O Gott, wir haben sie umgebracht, wir haben sie ermordet. Wir werden im Gefängnis landen.«

Ich würde ganz bestimmt nicht ins Gefängnis gehen. Wer sollte sich dann um Laurence kümmern? Ich strich ihm über den Arm, versuchte ihn zu beruhigen. »Das überlegen wir uns morgen. Niemand hat uns gesehen. Niemand kann uns mit dem Mädchen in Verbringung bringen. Sie hat bestimmt niemandem erzählt, was sie vorhatte, da hätte sie sich zu sehr geschämt. Wir müssen uns nur überlegen, was wir mit ihrer Leiche machen.«

»Und du bist wirklich sicher, dass uns niemand gesehen hat?«

»Es war kein Mensch am Strand. Ich bin ihn zur Sicherheit ganz abgelaufen. Geh ins Bett, Schatz. Morgen sieht alles schon wieder besser aus.«

Er sah mich an, als wäre ich übergeschnappt.

Ich starrte ihn an, bis er den Blick abwandte. »Ich hab sie nicht erwürgt!«

Tränen strömten ihm über die Wangen. »Aber wenn du ihr nicht die Kralle auf den Kopf geschlagen hättest, wäre sie vielleicht …«

»Was – langsamer gestorben? Oder mit einem Hirnschaden am Leben geblieben?«

»Dann hätten wir sagen können, dass wir sie so gefunden haben!«

»Willst du jetzt zurückfahren, sie da abladen, von der Telefonzelle aus einen Krankenwagen rufen und erklären, was du nachts um eins am Strand machst?«

Er schaute in sein Glas.

»Aber was machen wir jetzt?«

»Wir gehen ins Bett.«

Als wir die Treppe hinaufgingen, hörte ich das Surren der Waschmaschine. Ich fragte mich, warum Laurence an einem Freitagabend auf die Idee gekommen war, eine Wäsche zu machen. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Aber es erinnerte mich daran, dass Andrews und meine Sachen unbedingt gewaschen werden mussten. Wir zogen uns beide aus, und ich legte den Kleiderhaufen für den nächsten Morgen bereit. Ich wischte den Sand von unseren Schuhen und fegte überall da, wo wir entlanggegangen waren. Den Sand aus der Kehrschaufel kippte ich in den Garten, auf das erhöhte Rasenstück draußen vor dem Küchenfenster. Einen Moment lang ließ ich den Blick dort verweilen. Ich hatte immer vorgehabt, an dieser Stelle mal ein Blumenbeet anlegen zu lassen.

Als ich später ins Bett schlüpfte, legte ich die Arme um Andrews zitternde Gestalt, er drehte sich zu mir um und wir liebten uns, klammerten und krallten uns aneinander fest wie Überlebende einer furchtbaren Katastrophe.

Bis vor einem Jahr war Andrew ein mustergültiger Ehemann gewesen. Einundzwanzig Jahre lang hatten wir eine stabile Ehe geführt. Daddy war sehr von ihm beeindruckt gewesen. Auf seinem Sterbebett sagte Daddy zu mir, er sei erleichtert, mich in guten Händen zu wissen. Andrew war Daddys Referendar bei Hyland & Goldblatt gewesen. Daddy hatte ihn unter seine Fittiche genommen, ihn zu seinem Protegé gemacht. Eines Tages, ich war, glaube ich, sechsundzwanzig, hatte Daddy mich zu Hause angerufen und mir gesagt, dass wir einen besonderen Gast zum Essen haben würden, ich solle etwas Gutes kochen und vorher zum Friseur gehen. »Kein Lippenstift«, sagte er. Daddy hatte etwas gegen Make-up. »Ich kann diese angemalten Flittchen nicht ertragen«, sagte er über amerikanische Filmstars. Daddys Ansichten waren manchmal extrem. »Du bist meine schöne Tochter. Mehr braucht es nicht.«

Ich war gespannt auf diesen Besucher und neugierig, warum ich mich für ihn schick machen sollte. Ich hätte natürlich ahnen können, dass Daddy mich an den Mann bringen wollte. Er hätte sich keinen Kopf machen müssen. Andrew war sofort verrückt nach mir. Er gab sich größte Mühe, mich zu bezaubern. Er sagte, er würde alles für mich tun. »Ich muss dich einfach ständig anschauen«, sagte er. Und sein Blick folgte mir tatsächlich überallhin. Er nannte mich immer sein Goldstück, sein Juwel. Ich liebte ihn auch. Mein Vater hat immer gewusst, was das Beste für mich war.

Die Zeit, in der wir uns näherkamen, war kurz und sehr schön. Er stammte aus einer guten Familie. Sein verstorbener Vater war Kinderarzt gewesen, und seine Mutter erschien mir zwar etwas widerborstig, doch sie hatte keine Einwände gegen unsere Verbindung. Immerhin würde Andrew, wenn er mich heiratete, auch Avalon bekommen – ein freistehendes georgianisches Haus mit zehn Zimmern auf einem 4000 qm großen Grundstück in Cabinteely, im Süden von Dublin. Andrew wollte, dass wir in ein eigenes Haus zogen, wenn wir verheiratet waren, aber Daddy sprach ein Machtwort. »Du ziehst hier ein. Das ist Lydias Zuhause. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«

Also zog Andrew bei uns ein, Daddy räumte das Elternschlafzimmer und zog in das große Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Mir gegenüber murrte Andrew etwas herum. »Aber Schatz, verstehst du denn nicht, wie seltsam das ist? Ich wohne bei meinem Chef!« Und ich muss zugeben, dass Daddy Andrew ziemlich herumkommandierte, aber Andrew gewöhnte sich schnell daran. Ich glaube, er wusste, was für ein Glück er hatte.

Es machte Andrew nichts aus, dass ich keine Partys veranstalten, keine Kontakte zu anderen Paaren pflegen wollte. Er sagte, er habe mich gern ganz für sich. Er war liebenswürdig, großzügig und aufmerksam. Auseinandersetzungen ging er meist aus dem Weg, wir stritten uns also nur selten – dann allerdings kam es in der Hitze des Gefechts manchmal vor, dass er mit Gegenständen warf oder gegen irgendetwas trat, aber das tut wahrscheinlich jeder hin und wieder. Und hinterher war er immer furchtbar zerknirscht.

Andrew arbeitete sich hoch, und irgendwann zahlten sich all die Stunden und Tage auf dem Golfplatz schließlich aus und er wurde zum Richter am Strafgericht ernannt. Er war ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Man hörte ihm zu, wenn er sprach, und zitierte ihn in der Presse. Wenn es um rechtliche Fragen oder die Justiz ging, galt er weithin als Stimme der Vernunft.

Doch im vergangenen Jahr hatte Paddy Carey, sein alter Kumpel, Steuerberater und Golfpartner, mit unserem ganzen Geld das Land verlassen. Ich hatte gedacht, es sei das mindeste, dass Andrew sorgsam mit unseren Finanzen umging. Das war ja nun die Aufgabe eines Ehemannes: der Ernährer zu sein und für das wirtschaftliche Wohlergehen des Haushalts zu sorgen. Aber er hatte alles in Paddy Careys Hände gegeben, und Paddy hatte uns alle übers Ohr gehauen. Uns blieben nur Schulden und Verbindlichkeiten, Andrews üppiges Einkommen deckte gerade mal unsere Lebenshaltungskosten.

Hatte ich doch eine schlechte Partie gemacht? Meine Rolle war es, respektabel, schön und charmant zu sein – eine Hausfrau, Gefährtin, gute Köchin, Liebhaberin und Mutter. Und Mutter.

Andrew schlug vor, einen Teil unseres Grundstücks an einen Bauunternehmer zu verkaufen, um an Kapital zu kommen. Ich war entsetzt über diesen Vorschlag. Niemand aus unseren Kreisen würde so etwas tun. Ich hatte mein ganzes Leben in Avalon verbracht. Mein Vater hatte das Anwesen von seinem Vater geerbt, ich war in diesem Haus zur Welt gekommen. Und meine Schwester war hier gestorben. Ich würde keinerlei Zugeständnisse machen, was den Verkauf irgendeines Teils von Avalon anging. Und auch nicht hinsichtlich des Geldes, das wir brauchten, um das Mädchen zu bezahlen.

Aber wir mussten Laurence von der horrend teuren Carmichael Abbey nehmen und ihn stattdessen auf die St. Martin’s schicken. Es brach mir das Herz. Ich wusste, dass er dort unglücklich war. Dass er wegen seiner Herkunft und seines vornehmen Akzents schikaniert wurde, aber wir hatten einfach nicht das Geld. Andrew verkaufte stillschweigend einen Teil des Familiensilbers, um unsere Schulden abzubezahlen, und wir hielten uns gerade so über Wasser. Er konnte es nicht riskieren, für bankrott erklärt zu werden, denn dann hätte er sein Richteramt niederlegen müssen. Wir hatten nie ein extravagantes Leben geführt, aber selbst das bisschen Luxus, das wir als normal betrachtet hatten, konnten wir uns nicht mehr leisten. Andrew kündigte seine Mitgliedschaft im Golfclub, bestand aber darauf, weiterhin mein Kundenkonto bei Switzer’s and Brown Thomas zu unterhalten. Er hatte es immer gehasst, mich enttäuschen zu müssen.

Aber jetzt dies? Ein totes Mädchen im Kofferraum des Wagens in unserer Garage? Es tat mir leid, dass sie tot war, aber ich hätte nicht guten Gewissens behaupten können, dass ich unter den gegebenen Umständen nicht selbst imstande oder willens gewesen wäre, sie zu erwürgen. Wir wollten einfach unser Geld zurück. Ich musste immer wieder an die blutverkrusteten Stellen und die Narben in der Armbeuge des Mädchens denken. In der BBC hatte ich eine Dokumentation über Heroinsüchtige gesehen, und die Presse berichtete über eine regelrechte Heroin-Epidemie. Es lag auf der Hand, dass sie sich unser Geld in ihren Blutkreislauf gejagt hatte – als würden unsere Wünsche und Bedürfnisse überhaupt nicht zählen.

Während Andrew unruhig schlief und gelegentlich aufschrie oder wimmerte, schmiedete ich Pläne.

Am nächsten Tag, einem Samstag, schlief Laurence aus. Ich wies Andrew an, so wenig wie möglich zu sagen. Er willigte sofort ein. Er hatte Ringe um die Augen, und in seiner Stimme lag ein leichtes Zittern, das nach diesem Abend nie mehr verschwinden sollte. Er und Laurence hatten immer eine schwierige Beziehung gehabt, sie neigten also nicht zu Plaudereien. Ich hatte vor, Laurence den Tag über fortzuschicken, ihm irgendeine Erledigung in der Stadt aufzutragen, damit Andrew das Mädchen unterdessen im Garten begraben konnte. Andrew war entsetzt darüber, dass wir sie hier begraben würden, aber ich machte ihm klar, dass sie bei uns nicht gefunden werden würde. Über unseren Grund und Boden hatten wir die Kontrolle. Ohne unsere Erlaubnis kam niemand auf das Grundstück. Und unser großer rückwärtiger Garten war von nirgendwo einzusehen. Ich wusste genau, welche Stelle für ein Grab in Frage kam. In meiner Kindheit hatte es unter der Platane beim Küchenfenster einen Zierteich gegeben, den Daddy nach dem Tod meiner Schwester zugeschüttet hatte. Seine steinerne Einfassung, seit fast vierzig Jahren unter dem Erdboden verborgen, war angemessen grabartig.

Nachdem Andrew den Leichnam unter die Erde gebracht hatte, würde ich ihn das Auto staubsaugen und auswischen lassen, damit keine noch so kleine Faser und kein Fingerabdruck mehr darin zu finden sein würden. Ich war entschlossen, jede nur denkbare Vorsichtsmaßnahme zu ergreifen. Andrew wusste durch seine Arbeit, was alles belastendes Beweismaterial sein konnte. Niemand hatte uns am Strand gesehen, aber man kann sich nie wirklich sicher sein.

Als Laurence am Frühstückstisch erschien, hinkte er merklich. Ich gab mich munter. »Na, wie geht’s, mein Süßer?« Andrew schaute nicht hinter seiner Irish Times hervor. Ich sah, dass er sie krampfhaft festhielt, damit sie nicht zitterte.

»Mein Knöchel tut weh. Ich bin gestern Abend gestolpert, als ich die Treppe hochgegangen bin.«

Ich schaute mir rasch seinen Knöchel an. Er war stark geschwollen, wahrscheinlich verstaucht. Das vereitelte meinen Plan, ihn in die Stadt zu schicken. Aber ich konnte meinen Jungen trotzdem in seiner Bewegungsfreiheit einschränken, ihn sozusagen ans Zimmer fesseln. Ich bandagierte seinen Knöchel und wies ihn an, den Tag auf dem Sofa liegend zu verbringen. So konnte ich ihn im Auge behalten und verhindern, dass er hinters Haus ging, wo das Begräbnis stattfinden sollte. Laurence war kein sehr bewegungsfreudiger Mensch – den ganzen Tag auf dem Sofa zu liegen, fernzusehen und auf einem Tablett Essen gebracht zu bekommen, war für ihn alles andere als eine Unannehmlichkeit.

Als es zu dämmern begann und alles getan war, zündete Andrew draußen ein großes Feuer an. Ich weiß nicht, was er da verbrannte, aber ich hatte ihm eingeschärft, dass jegliches Beweismaterial vernichtet werden musste. »Stell dir vor, das wäre einer deiner Fälle – wodurch käme alles ans Licht? Sei gründlich.« Und gründlich war er, das musste ich ihm lassen.

Aber Laurence ist ein kluger Junge. Er hat eine ausgeprägte Intuition, genau wie ich, und er spürte die düstere Stimmung seines Vaters. Andrew bestand gereizt darauf, die Nachrichten anzuschauen, wahrscheinlich hatte er schreckliche Angst, dass das Mädchen darin vorkommen würde. Was nicht der Fall war. Er behauptete, sich eine Grippe eingefangen zu haben, und ging früh ins Bett. Als ich später hinaufging, war er gerade dabei, Sachen in einen Koffer zu werfen.

»Was machst du denn da?«

»Ich ertrage das nicht. Ich muss hier weg.«

»Wohin denn? Wo willst du hin? Wir können jetzt nichts mehr ändern. Es ist zu spät.«

Jetzt wandte er sich zum ersten Mal gegen mich, wutentbrannt.

»Das ist alles deine Schuld! Ohne dich wäre ich ihr nie begegnet. Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Es war von vornherein eine völlig irrsinnige Idee, aber du wolltest ja nicht aufhören, du warst wie besessen! Du hast mich zu sehr unter Druck gesetzt. Das entspricht mir überhaupt nicht, ich bin kein Mann, der …« Er verstummte, denn tatsächlich entsprach es ihm genau, er war der Typ Mann, der ein Mädchen erwürgen würde. Er hatte es bis dahin nur nicht gewusst. Außerdem war mein Plan perfekt gewesen. Er war derjenige, der ihn zunichtegemacht hatte.

»Ich hab dir gesagt, dass du ein gesundes Mädchen nehmen sollst. Hast du denn die Stellen an ihren Armen nicht gesehen? Sie war heroinsüchtig. Erinnerst du dich nicht mehr an diese Dokumentation? Dir müssen doch ihre Arme aufgefallen sein.«

Er brach in heftiges Schluchzen aus und sank aufs Bett, und ich drückte seinen Kopf an meine Halsbeuge, um das Geräusch zu dämpfen. Laurence durfte nichts hören. Als seine Schultern aufgehört hatten zu zucken, kippte ich den Koffer aus und legte ihn wieder oben auf den Schrank.

»Räum deine Sachen weg. Wir fahren nirgendwohin. Wir machen weiter wie immer. Hier ist unser Zuhause, und wir sind eine Familie. Laurence, du und ich.«

2 KAREN

Das letzte Mal habe ich Annie am Donnerstag, dem 13. November 1980 in ihrem möblierten Zimmer in der Hanbury Street gesehen. Ich weiß noch, dass das Zimmer wie immer makellos sauber war. Ganz gleich wie chaotisch ihr Leben auch sein mochte, Annie selbst war seit ihrer Zeit in St. Joseph’s unglaublich ordentlich. Die Decken lagen säuberlich zusammengefaltet am Fußende ihres Betts, und das Fenster stand sperrangelweit offen, sodass die eisige Luft ins Zimmer strömte.

»Willst du nicht mal das Fenster zumachen, Annie?«

»Wenn ich fertig geraucht habe.«

Sie lehnte sich auf dem Bett zurück und zog an ihrer fast aufgerauchten, filterlosen Zigarette, während ich eine Kanne Tee kochte. Die Becher standen sorgfältig aufgereiht im Regal, mit der Öffnung nach unten und dem Henkel nach vorn. Ich gab zwei Löffel Teeblätter aus der Büchse in die vorgewärmte Kanne und übergoss sie mit kochendem Wasser. Sie sah auf die Uhr.

»Zwei Minuten. Er muss zwei Minuten ziehen.«

»Ich weiß, wie man Tee kocht.«

»Niemand weiß, wie man das richtig macht.«

Das war so etwas, was mich bei Annie immer auf die Palme gebracht hat. Sie war so stur. Entweder man machte es wie sie, oder man machte es falsch.

»Mann, ist das kalt.« Sie wickelte sich fest in ihre lange Strickjacke, deren Ärmel ihr über die Hände schlabberten. Als die zwei Minuten vorbei waren, nickte sie mir zu, und ich durfte einschenken. Ich reichte ihr einen Becher Tee, und sie leerte ihren Aschenbecher in einen Plastikbeutel, den sie sorgsam oben umschlug, ehe sie ihn in den Abfalleimer warf.

»Bist du sicher, dass er richtig verschlossen ist?« Das war sarkastisch gemeint.

»Ja, ist er.« Sie meinte es völlig ernst. Sie schloss das Fenster und sprühte das Zimmer dann mit einem dieser elenden Raumsprays ein, von deren Geruch einem übel wird.

»Wie geht’s Ma?«, fragte sie.

»Sie macht sich Sorgen um dich. Und Da auch.«

»Ja, ganz bestimmt«, sagte sie und verzog den Mund.

»Du bist am Sonntag nicht lang geblieben. Immer musst du gleich wieder irgendwohin. Er macht sich wirklich Sorgen.«

»Klar.«

Meine Schwester und ich waren sehr verschieden. Ich denke gern, dass ich ein braves Mädchen war, aber vielleicht stimmt das nur im Vergleich zu Annie. Ich war eine aufgeweckte Schülerin, allerdings war für mich auch alles einfacher. Wenn wir zusammen in einen Laden gingen, wurde ich bedient und sie wurde von den Verkäuferinnen völlig ignoriert. Die Leute sind mir gegenüber hilfsbereit und tun gern etwas für mich. Annie hat oft gesagt, und zwar ohne jede Eifersucht, das liege daran, dass ich hübscher sei. Wir sahen uns durchaus ähnlich. Als Kinder wurden wir wegen unseres flammend roten Haars »die Karottenköpfe« genannt, aber es gab einen sehr offensichtlichen Unterschied. Annie war mit einer Hasenscharte auf die Welt gekommen. Nach einer verpatzten Operation in ihrer Kindheit war ihre Oberlippe vorne hochgezogen und extrem gestrafft. Eine Narbe verlief vom Mund zur Nase. Meine Mundwinkel sind leicht nach oben gebogen, ich sehe also irgendwie heiter aus. Ich glaube, das ist der Grund, warum alle meinen, ich sei hübsch. Dabei bin ich es eigentlich gar nicht. Ich schau in den Spiegel und sehe einfach nur Karen Karottenkopf.

Als wir noch klein waren, ist Annie regelmäßig verschwunden. Wenn wir zum Beispiel mit den Nachbarskindern vor unserem Haus gespielt haben, kam irgendwann Ma heraus und fragte: »Wo ist Annie?«, und dann mussten wir alle los und sie suchen. Meist fanden wir sie in irgendeiner Straße außerhalb des Bereichs, in dem wir spielen durften. Einmal ist sie auch in den Bus Richtung Innenstadt gestiegen, aber Mrs Kelly, die in der Nummer 42 wohnte, hat sie gesehen und wieder nach Hause gebracht. Ich glaube, Annie war einfach neugierig. Sie wollte wissen, was hinter der nächsten Ecke war. Damals waren Da und sie sich noch nah. Sie ist ihm auf die Schultern geklettert, und dann hat er sie huckepack durchs Haus getragen, und sie hat geschrien vor Lachen – ich war kleiner und hatte Angst davor, so hoch oben zu sein. Doch als Annie ins Teenageralter kam, feindeten Da und sie sich nur noch an.

Meine Schwester hatte einen gewissen Ruf. Ma sagt immer, sie hätte sich mit den Füßen zuerst aus ihrem Bauch gestrampelt, und seither hätte sie nicht mehr aufgehört, um sich zu treten. An der High School hatte sie ständig Ärger, weil sie frech zu den Lehrern war, klaute, mutwillig Sachen kaputt machte, die Schule schwänzte und andere Mädchen verprügelte. Annie war clever, aber Lernen war nicht ihr Ding. Sie hat nur langsam lesen und noch langsamer schreiben gelernt. Ich bin drei Jahre jünger als sie, konnte aber mit sieben schon besser lesen und schreiben als sie. Ich hab mich wirklich bemüht, ihr zu helfen, aber sie meinte, Buchstaben ergäben für sie oft überhaupt keinen Sinn. Selbst wenn ich ihr einen Satz aufschrieb und sie ihn abschreiben sollte, kamen die Wörter oft völlig wirr heraus. Sie wechselte zweimal die Schule, ehe sie dann mit vierzehn ganz abging. Sie konnte mit Ach und Krach schreiben, aber ihre liebsten Hobbys waren mittlerweile Rauchen und Trinken. Ma versuchte es mit Vernunft, redete und verhandelte mit ihr, doch als das nichts half, versuchte Da es mit Gewalt. Er verprügelte sie und sperrte sie in ihr Zimmer ein, und ich weiß, dass ihn das fertigmachte. »Herrgott, Annie, wozu treibst du mich da!« Dann verstummte er und sagte ein paar Tage lang gar nichts mehr. Aber seine Methode wirkte auch nicht, und schließlich passierte das Schlimmste, was damals in einer Familie passieren konnte. Wir erfuhren es erst, als sie schon im vierten Monat war.

Es gab ein Riesentheater. Sie war erst sechzehn. Der Vater war ein Junge ihres Alters, der natürlich jegliche Verantwortung abstritt und behauptete, das Baby könne von sonst wem sein. Er und seine Familie zogen wenig später weg. Da rief den Gemeindepfarrer, und der und ein Garda brachten Annie zusammen in einem schwarzen Auto zum St. Joseph’s. Danach sah ich sie fast zwei Jahre nicht mehr.

Als sie zurückkam, war sie vollkommen verwandelt. Damals ging das mit ihren ganzen Macken und diesem Reinlichkeitsfimmel los. So war sie früher nie gewesen. Ihr Anblick war ein Schock. Von ihrem feuerroten Haar war nichts mehr zu sehen, man hatte sie kahlgeschoren. Sie war erschreckend dünn. Als wir am ersten Abend allein in unserem gemeinsamen Zimmer saßen, fragte ich sie, wie es sei, in einem Mutter-Kind-Heim eingesperrt zu sein, und sie sagte, es sei die Hölle, und sie wolle es nur vergessen. Sie erzählte mir von dem Tag, an dem das Baby zur Welt gekommen war. Am ersten August war das gewesen. Sie nannte die Kleine Marnie. »Sie war perfekt«, sagte sie. »Sogar ihr Mund war perfekt.« Als ich sie fragte, was mit dem Baby geschehen sei, drehte sie sich zur Wand und weinte. In den ersten zwei Monaten nach ihrer Rückkehr versteckte sie oft Essen unter dem Bett. Beim kleinsten Geräusch fuhr sie zusammen. Weder Annie noch meine Eltern sprachen jemals von dem Kind. Wir versuchten uns normal zu verhalten, und sie versuchte wieder Fuß zu fassen. Da besorgte ihr einen Putzjob in der Bäckerei, in der er arbeitete. Ihr Haar wuchs nach, aber sie färbte es schwarz. Ein richtig hartes Blauschwarz. Es war ihr Akt der Rebellion.

Ein paar Monate später, am ersten August, kaufte ich Annie auf dem Dandelion Market ein Namensarmband. Ich ließ den Namen »Marnie« eingravieren. Ich hatte eine Weile dafür gespart, aber es war kein echtes Silber, deshalb wurde es schnell matt. Trotzdem legte sie es nie mehr ab.

Irgendwann fragte Da danach.

»Was trägst du da eigentlich?«

Sie hielt ihm das Handgelenk vor die Nase, aber er konnte das Wort auf dem Armband nicht lesen.

»Da steht ›Marnie‹ drauf«, sagte sie. »Das ist der Name deiner Enkelin, wenn du es unbedingt wissen willst.«

Nach und nach verfiel Annie wieder in ihre alten Gewohnheiten. In der Bäckerei wurde sie gefeuert, weil sie schludrig arbeitete. Danach wurde die frostige Atmosphäre zwischen ihr und Da so unerträglich, dass Annie auszog. Ich muss zugeben, dass ich froh darüber war.

Obwohl sie selbst immer eine Rebellin gewesen war, drang Annie bei mir darauf, dass ich meine Hausaufgaben erledigte und mich nicht in Schwierigkeiten brachte.

»Du bist schlau und schön, Karen«, sagte sie. »Du musst das beides nutzen.«

Dumm bin ich nicht, das ist wohl so, und ich bin auch immer gern zur Schule gegangen, aber ich musste hart arbeiten, um mich von dem Stigma zu befreien, das mir ihretwegen anhaftete. Meine Lehrerinnen bemerkten das durchaus. »Du und deine Schwester, ihr seid wie Tag und Nacht!«, sagte Miss Donnelly eines Tages, als sie mir ein B in der Englischarbeit gegeben hatte. Als ich mit fünfzehn von der Schule abgehen und mir in Lemons Süßigkeitenfabrik Arbeit suchen wollte, redete Miss Donnelly mit Ma und Da und sagte ihnen, ich könne auf der Schule bleiben und das Leaving Certificate machen. Niemand in unserer Familie war je bis zum Leaving Certificate auf der Schule geblieben. Meine Eltern waren begeistert, und Annie war überglücklich. »So steh auch ich wieder besser da«, sagte sie.

Ich war kein Genie, aber ich arbeitete hart, damit Ma und Da auch wirklich Grund hatten, stolz auf mich zu sein. Und als ich dann anständige Noten bekam, war davon die Rede, dass ich studieren sollte. Ich wusste, dass es für meine Eltern eine finanzielle Belastung gewesen war, mich weiter zur Schule gehen zu lassen, als ich schon hätte Geld verdienen können, und ich hätte mir ein Studium wahrscheinlich mit Jobs durchaus selbst finanzieren können, doch ich konnte mich nicht entscheiden, was ich studieren wollte. Englisch und Kunst waren meine besten Fächer, aber wenn ich Englisch studierte, würde das drei Jahre dauern, und dann würde ich noch ein Jahr für das Diplom draufsetzen müssen, nur um Lehrerin werden zu können, und wenn ich Kunst studierte, würde ich auf eine Kunstakademie gehen müssen, und Ma sagte, für Künstler gebe es keine Arbeit. Außerdem hatte ich ohnehin den falschen Akzent, um an eine Uni zu gehen.

Ma fand, ich solle einen Sekretärinnenkurs besuchen. Für Schreibkräfte gab es zumindest noch Stellen, auch wenn sie dünn gesät waren. Diese Vorstellung gefiel mir viel besser, der Training Council bot sechswöchige Kurse für Mädchen mit gutem Schulabschluss an. Annie war enttäuscht. »Du hättest ans College gehen können, du hättest bestimmt ein Stipendium gekriegt.« Sie verstand mein Widerstreben nicht. Ich war nicht neugierig, so wie sie. Sie fand es toll, dass ich weiter zur Schule gegangen war, aber wenn sie betrunken war, machte sie sich darüber lustig, dass ich lauter hochgestochene Wörter benutzte, die sie nicht verstand.

Annie hatte immer mal wieder vereinzelte Putzjobs, aber die meiste Zeit ging sie stempeln. Sie lebte in einem möblierten Zimmer nicht weit von uns. Ma steckte ihr manchmal heimlich Geld zu. Wenn sie sonntags zu Besuch kam, gab Dad sich Mühe und tat so, als freue er sich, sie zu sehen, aber ich glaube, er schämte sich für sie, auch wenn er das später abstritt. Er verstand einfach nicht, warum sie so anders war als wir. Ma und Da und ich arbeiteten hart. Wir waren ruhige Zeitgenossen und gingen Ärger aus dem Weg. Annie suchte ihn geradezu.

Nachdem ich den Kurs abgeschlossen hatte, bekam ich eine Stelle bei einer Reinigung, wo ich Rechnungen tippte und auch einen Teil der Buchhaltung erledigte. Ich könnte nicht behaupten, dass mich die Arbeit sonderlich begeisterte, aber dafür lernte ich dort Dessie Fenlon kennen. Einige der Männer, mit denen ich zu tun hatte, waren schmierige Typen, die Kommentare zu meiner Figur abgaben oder zotige Bemerkungen machten, aber Dessie war anders. Einfach respektvoll, irgendwie. Einmal sah ich, wie er einen der jungen Kerle ohrfeigte, weil er in abfälligem Ton mit mir geredet hatte. Dessie war einer der Lieferwagenfahrer. Er war ziemlich schüchtern, und es dauerte ein halbes Jahr, bis er den Mut aufbrachte, mich auf einen Drink einzuladen. Ich glaube, er befürchtete, der Altersunterschied sei zu groß. Er war sechsundzwanzig, fast neun Jahre älter als ich. Der beste Teil meiner Arbeit war, wenn er kam, um Sachen anzuliefern oder abzuholen, denn dann kicherten und flirteten wir wie verrückt. Irgendwann gingen wir dann schließlich miteinander. Er sagte, er könne sein Glück nicht fassen. Als die anderen im Geschäft begriffen hatten, dass Dessie Fenlon und ich ein Paar waren, hörten die Kommentare auf. Dessie war ein ruhiger Typ, aber er konnte auch ungemütlich werden, wenn man ihm die Quere kam. Er war dafür bekannt, dass er zuschlagen konnte, und hatte in jüngeren Jahren ganz ordentlich ausgeteilt.

Meine Arbeit war öde, und die meiste Zeit langweilte ich mich, aber ich verdiente genug, um ebenfalls zu Hause auszuziehen. Ich schlug Annie vor, wir könnten uns doch zusammen eine Wohnung suchen, aber sie war von der Idee nicht besonders angetan. Ich war enttäuscht. Ich erzählte Ma davon, die es wiederum Da erzählte. Er sagte zu mir: »Zieh nicht mit Annie zusammen, die hat nur einen schlechten Einfluss auf dich.« Heute frage ich mich, ob alles anders gelaufen wäre, wenn ich mit ihr zusammengezogen wäre. Ich frage mich, ob Da sich an seine Bemerkung erinnert. Ob es ihn quält, dass er das gesagt hat. Ich will ihn nicht daran erinnern. Er leidet schon genug. Wir alle leiden.

An dem Tag, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, war sie ziemlich aufgeregt, aber es war eine freudige Aufregung. Sie sagte, sie würde mir einen richtigen Malkasten schenken, denn sie wusste, dass ich immer noch gerne zeichnete und malte. Eigentlich hätte ich mich über diese Ankündigung freuen sollen, aber dafür kannte ich Annie zu gut. Sie war enttäuscht, dass ich nicht vor Freude herumhüpfte, aber Annie versprach mir dauernd hoch und heilig, mir irgendwelche Sachen zu schenken oder etwas mit mir zu unternehmen, und fast nie kam es wirklich dazu.

»Ein richtiger Malkasten. Ich habe ihn bei Clark’s im Schaufenster gesehen, so ein großer Holzkasten mit Farbtuben und allen möglichen Pinseln. Nur Aquarell- und Gouachefarben, kein Öl. Siehst du, ich hab mir alles gemerkt, was du mir über deine Malerei erzählt hast – ich weiß, dass du Ölfarben nicht magst. Es ist ein tolles Ding. Sieht altmodisch aus, ist aber nagelneu, und es ist unheimlich viel drin. Den kauf ich dir am Samstagvormittag. Echt! Das verspreche ich dir. Komm am Samstagnachmittag bei mir vorbei.«

»Wo willst du denn das Geld dafür hernehmen?«

»Das lass mal meine Sorge sein. Ich werde es haben.«

»Ja, klar.«

»Wirklich. Glaubst du mir nicht, Karen?«

Es war einfacher, mitzuspielen, aber ich wusste, dass nichts daraus werden würde. Genauso wenig wie ein paar Wochen zuvor, als sie gesagt hatte, wir würden bei Sheries in der Abbey Street essen gehen, und ich eine halbe Stunde draußen in der Kälte wartete, ohne dass sie auftauchte. Als ich sie schließlich anrief, sagte sie, sie sei beschäftigt, und wir würden ein andermal essen gehen.

Trotz alledem liebte ich Annie. Sie wollte immer das Beste für mich, wollte, dass ich aus ihren Fehlern lernte. Sie riet mir von bestimmten Jungs ab, sagte, ich sei zu gut für die Typen in unserem Umfeld und solle mich für jemand Besonderen aufsparen. Ich hörte nicht immer auf sie. Niemand konnte mich so zum Lachen bringen wie Annie, und auch wenn die Zeit im Mutter-und-Kind-Heim ihre Heiterkeit mehr als gedämpft hatte, begann der alte Funke gerade wieder aufzublitzen, ehe sie dann von der Bildfläche verschwand.

»Versprichst du mir, dass du am Samstag vorbeikommst? So gegen drei, ja? Ich freu mich jetzt schon darauf, dein Gesicht zu sehen, wenn du den Kasten aufklappst.« Ich versprach es, wobei ich nicht zu hoffen wagte, dass sie Wort halten würde, aber ich wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, dass ich sie nie mehr wiedersehen sollte.

»Okay«, sagte ich. »Ich bring Dessie mit.«

Ihre Miene verdüsterte sich. Am Anfang hatten sie sich gut verstanden, auch wenn er sie ein bisschen zu wild fand. Es gefiel ihm nicht, wie hemmungslos sie sich betrank, und genau wie Da sah er es nicht gern, wenn ich allzu viel Zeit mit ihr verbrachte. Als ich ihm von Annies Schwangerschaft und ihrer Zeit im St. Joseph’s erzählte, wurde seine Haltung noch ablehnender.

»Ach, eins von diesen Flittchen ist sie?«, sagte er. »Wer war denn der Vater, oder weiß sie das nicht?«

Ich war empört über seine Reaktion. Ich ignorierte ihn wochenlang und vermied es, im Geschäft mit ihm zu reden, aber er gab nicht auf, und mit einem Blumenstrauß und einer schriftlichen Entschuldigung kriegte er mich schließlich wieder rum. Er sagte, er hätte nicht so über meine Schwester herziehen dürfen. Aber wenn Dessie, der im Großen und Ganzen ein guter und freundlicher Mensch war, so über Annie dachte, dann taten es alle anderen auch. Danach fühlte er sich in Annies Gesellschaft nicht mehr wohl, und Annie war ja nicht blöd.

»Was ist eigentlich mit deinem Kerl los?«, fragte sie mich eines Tages im Viking. »Der hat’s immer so eilig, wieder zu gehen.«

»Er mag diesen Pub einfach nicht sonderlich«, sagte ich, und das stimmte. Das Viking war eine ziemliche Kaschemme und lag in einem heruntergekommenen Viertel, in dem ziemlich viele Klebstoff schnüffelnde Teenager herumlungerten. Dessie hatte sich oft darüber beklagt, dass wir uns gerade dort mit ihr treffen mussten, aber Annie war ein Gewohnheitstier. »Da hängen lauter Alkies rum«, sagte er, aber ich wies ihn darauf hin, dass man das über die meisten Pubs in Irland sagen konnte. Annie war eine der Jüngsten unter den Stammgästen und in der Bar ganz offensichtlich beliebt. Spätabends gab es meistens ein Singalong, und Annie, schon jenseits von Gut und Böse, sang lauthals »Da Ya Think I’m Sexy« oder »I Will Survive«. Dessie hasste das. »Die macht sich doch lächerlich«, sagte er, und manchmal stimmte ich ihm durchaus zu, aber sie hielt immer den Ton, und an die Texte erinnerte sie sich auch. Ich würde ihr ganz sicher nicht den Spaß verderben.

Am Samstag stand ich dann ohne Dessie vor ihrer Tür, ich hatte mich doch entschieden, allein zu kommen. Es überraschte mich nicht sonderlich, dass sie nicht da war. Am Abend rief ich bei ihr an, und das Mädchen, das im Flur ans Telefon ging, sagte, sie werde ihr eine Nachricht hinterlassen.

Am Sonntag bei Ma und Da tauchte Annie nicht auf. Das gemeinsame Mittagessen nach der Messe um halb eins war das einzige Familienritual, an dem wir noch festhielten, und meistens kam Annie auch.

»Hat sie angerufen und gesagt, dass sie nicht kommt, Ma?«

»Nein, hat sie nicht, dieses elende Gör«, sagte mein Vater, der ihr rücksichtsloses Verhalten als persönliche Beleidigung betrachtete. Ich spielte es herunter.

»Vielleicht hat sie Grippe – in ihrem Zimmer war es eiskalt, als ich am Donnerstag bei ihr war.«

»Hatte sie die Heizung denn nicht an?«

»Doch, aber sie reißt immer das Fenster auf, wenn sie raucht.«

»Das Rauchen hat sie von dir«, sagte meine Mutter zu Da.

»Das ist aber auch alles, was sie von mir hat, Pauline, das kann ich dir sagen.«

Ich wechselte das Thema und fragte Da, ob er am Donnerstag zum Greyhound-Rennen gehen würde.

Am nächsten Tag, dem Montag, ging ich wieder bei Annie vorbei, diesmal mit Dessie, doch hinter ihrer Tür rührte sich nichts; dafür erwischte ich ein anderes Mädchen, das gerade das Haus verließ. In dem zweistöckigen Gebäude gab es drei möblierte Zimmer, deren Bewohnerinnen sich ein Badezimmer teilten. Ich fragte sie, ob sie Annie gesehen habe. »Nein – wenn ich recht drüber nachdenke, seit Donnerstag oder Freitag nicht mehr. Ich dachte, sie wär weggefahren. Normalerweise wache ich von ihrem Radio auf.«

Jetzt machte ich mir zum ersten Mal leichte Sorgen. Annie wäre nicht weggefahren, ohne mir Bescheid zu sagen. Und wo hätte sie auch hinfahren sollen?

»Zu irgendeinem Typen vielleicht?«, schlug Dessie vor, aber nach einem eisigen Blick von mir gab er keinen Mucks mehr von sich.

Normalerweise hörten wir zwei, drei Mal die Woche voneinander, aber am Mittwoch hatte ich immer noch kein Lebenszeichen von ihr. Ich ging zu Ma, doch auch sie hatte nichts von Annie gehört.

»Hat sie dir irgendwas davon gesagt, dass sie wegfahren will?«

»Nein, gar nichts. Es ist wirklich komisch.«

Ich war noch da, als Da aus der Bäckerei heimkam.

»Wahrscheinlich säuft sie sich irgendwo die Hucke voll. Sie wird schon wieder auftauchen.«

»So lang war sie noch nie weg. Es ist schon fast eine Woche.«

»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Letzten Donnerstag. Sie hat gesagt, ich soll am Samstag bei ihr vorbeikommen. Sie hat mir versprochen, dass sie da sein wird.« Ich sagte nichts von dem Malkasten. Wozu auch.

»So, versprochen hat sie es?«, sagte er sarkastisch.

Als wir sie auch am Freitag nicht erreichen konnten, wussten wir alle, dass etwas nicht stimmte. Da und ich gingen zusammen zu ihrer Wohnung, während Ma bei Annies Freunden und einigen der Mädchen anrief, mit denen sie früher zusammengearbeitet hatte. Eine der anderen Mieterinnen in ihrem Haus sagte, Annie sei die ganze Woche nicht da gewesen. Von dem Telefon im Flur aus riefen wir ihren Vermieter an, und er kam vorbei, ein schwitzender, massiger Mann, der sich beschwerte, weil wir ihn nach sechs noch störten. Er kam mit einem riesigen Schlüsselbund und öffnete ihre Tür. Alles war superordentlich, wie immer, und all ihre Kleider, soweit ich sie kannte, waren noch im Schrank, nur der graue Mantel mit Fischgrätmuster, das ärmellose Wollkleid, das Ma ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und die kniehohen lila Stiefel fehlten. Ich wollte ihre Sachen nicht durchwühlen, aber der kurze Blick hatte mir schon gereicht, um sicher zu sein, dass sie nicht verreist war. Ihre Reisetasche lag unter der Kommode. Im Spülbecken stand ein einzelner Becher mit einem kleinen Schimmelfleck innen auf dem Boden.

»Den hätte sie niemals stehen lassen, Da, wenn sie gewusst hätte, dass sie länger weg sein wird. Für ein paar Stunden vielleicht, aber der muss ja schon seit Tagen dastehen.«

Der Vermieter sagte: »Ihre Miete ist nächste Woche fällig. Und die will ich haben, damit das klar ist.«

»Jetzt halten Sie mal die Luft an«, sagte mein Da, und insgeheim jubelte ich, weil er für Annie eintrat – es war sehr lange her, dass ich das bei ihm erlebt hatte. Der Vermieter forderte uns auf zu gehen, und sagte, wenn er in der folgenden Woche seine Miete nicht bekomme, werde er Annies Sachen in einem Sack auf die Treppe stellen.

Als wir mit unseren Neuigkeiten nach Hause kamen, war Ma bereits krank vor Sorge. Keiner von Annies Freunden hatte sie in der letzten Woche gesehen, und bei zwei Putzjobs in der Innenstadt war sie nicht erschienen. Das allein hätte schon gereicht, um alle Alarmglocken schrillen zu lassen, aber meine schüchterne Ma war nach Einbruch der Dunkelheit auch noch tapfer ins Viking gegangen. Alle Stammgäste dort kannten Annie und sagten, sie habe sich schon mehr als eine Woche nicht mehr blicken lassen.

»Glaubt ihr, es hat ihr wieder einer ein Kind gemacht, und sie ist zurück ins St. Joseph’s?«, fragte Da, in dessen Stimme sich jetzt Besorgnis schlich.

»Da würde sie nie freiwillig hingehen, Da, in tausend kalten Wintern nicht. Das weiß ich sicher.« Ma stimmte mir zu. »Und selbst wenn sie schwanger wäre, warum sollte sie ohne Klamotten, ohne eine Tasche irgendwo hingehen?«

»Ich rufe die Gardaí an«, sagte Da, am Freitag, dem einundzwanzigsten November 1980.

3 LAURENCE

Ich hörte klar und deutlich, wie er es sagte.

»Das Wochenende vom vierzehnten November? Hm, warten Sie … da muss ich überlegen … ah ja, ich erinnere mich, da war ich hier, mit meiner Frau. Warum fragen Sie?«

»Das ganze Wochenende? Sie haben das Haus nicht verlassen?«

»Nein, also, ich bin am Freitagabend gegen sechs von der Arbeit gekommen und dann nicht mehr weggegangen.«

Das war eine Lüge.

»Und nur Sie und Ihre Frau waren hier? Sonst niemand?«

»Mein Sohn war an dem Freitag unterwegs. Aber ich glaube, er war vor Mitternacht wieder da. Worum geht es denn eigentlich?«

»Nun, Sir, also … Vor dem Haus, in dem die Vermisste wohnt, Sir, wurde in den letzten Monaten mehrmals ein Auto gesehen … ein Auto wie Ihres, Sir … der alte Jaguar.«

Der Garda sprach in nervösem, unterwürfigem Ton. Zu viel »Sir«. Es war klar, dass er die Arschkarte gezogen hatte, als er beauftragt wurde, Dad zu befragen. Richter Fitzsimons, wie er seit einiger Zeit genannt wurde.

»Und dürfte ich Ihren Namen erfahren?«, fragte mein Vater. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich hörte die Herablassung in seiner Stimme, gepaart mit einem seltsamen Zittern, das neu war. Die Küchentür hinter mir stand nur einen Spaltbreit offen, und ich horchte angestrengt, damit mir von dem Gespräch an der Tür nichts entging.

»Mooney, Sir. Es tut mir leid, Ihnen diese Fragen stellen zu müssen, Sir, also …«

»Und welchen Dienstgrad haben Sie, Mooney?« Er zog das »oo« von »Mooney« in die Länge.

»Ich bin Detective, Sir.«

»Verstehe. Also kein Detective Sergeant oder Detective Inspector?«

Diesen Ton kannte ich. Dad konnte Fremden gegenüber unhöflich oder geringschätzig sein, und aufbrausend war er auch. Manchmal schüchterte er mich richtig ein. Ich bin mir nicht sicher, ob er das beabsichtigte. Aber es war so.

Von der anderen Seite des Tischs sah mich meine Mutter fragend an.

»Ist das deine fünfte Kartoffel, Laurence? Na komm, mach schnell, solange dein Vater es nicht sieht.«

Ich hatte nicht mitgezählt.

Meine Mutter stand auf, murmelte irgendetwas von wegen »zugig«. Sie machte die Tür hinter mir zu, schaltete das Radio ein und begann, das Lied, das gerade lief, unmelodisch mitzusummen. Ich sagte nichts, aber jetzt konnte ich nicht mehr hören, was an der Haustür besprochen wurde.

Mein Vater hatte den Garda gerade bewusst belogen. Ich muss zugeben, dass mich das schockierte. Man hatte ihn gefragt, wo er knapp zwei Wochen zuvor gewesen war. Ich erinnerte mich sehr genau an besagten Freitagabend, weil ich da mein eigenes kleines Abenteuer erlebt hatte. Auch ich hatte gelogen: Ich hatte meinen Eltern erzählt, ich würde mit Schulfreunden ins Kino gehen, dabei war ich an dem Abend in Foxrock Park, nur zehn Minuten von uns entfernt, und verlor meine Jungfräulichkeit an Helen d’Arcy.

Ich hatte es nicht darauf angelegt, schon bei unserer ersten echten Verabredung Sex mit Helen zu haben. Ich fand sie körperlich nicht anziehend. Sie hatte sehr schöne Haare, blond und seidig, aber sie war zu breit gebaut und dabei zu dünn. Ihr großer Kopf mit dem runden Gesicht saß auf einem dürren Hals. Und im Vergleich zu ihr hatte ich makellose Haut, vielleicht weil meine so gut unterpolstert war.

Ich bin einfach deshalb zu Helen gegangen, weil sie mich eingeladen hatte. Ich wurde nicht oft eingeladen.

Ein paar Wochen zuvor, als ich von der Schule nach Hause ging, hatte sie sich zu mir gesellt. Es regnete, wie immer. In der Schule war es schrecklich. Ich ging erst seit dem vergangenen Januar auf das St. Martin’s Institute for Boys – wegen diesem Dreckskerl Paddy Carey. Ich gab mir alle Mühe, vor meinen Eltern zu verbergen, wie sehr ich an meiner neuen Schule terrorisiert wurde. Es gab da so eine Gruppe von vier, fünf Jungs, Kategorie hirnloser Muskelprotz. Nach dem ersten Monat wurden sie nicht mehr so oft handgreiflich, aber sie klauten mir die Bücher oder beschmierten sie mit widerlichen Sprüchen, oder sie nahmen mir mein mitgebrachtes Essen weg und steckten stattdessen Sachen in meine Lunchbox, die zu eklig waren, um sie auch nur zu erwähnen.

Helen ging auf eine der Privatschulen etwas näher am Stadtzentrum, aber sie wohnte unweit meiner Schule. Ich fühlte mich mit ihr verbunden, weil die Fieslinge in meiner Klasse sie offenbar genauso verachteten wie mich.

Ich hörte sie, bevor ich sie sah. »Wie heißt du?«, fragte sie. Ich drehte mich um. Der grüne Rock ihrer Schuluniform, der aus einem haarigen Wollstoff bestand, war an mehreren Stellen blankgewetzt, und an einer Seite hing der Saum herunter. Ich konnte sehen, dass die Innenseite ihres Kragens fadenscheinig war.

»Laurence. Fitzsimons.«

»Ah ja, von dir hab ich schon gehört. Warum nennen die dich denn Fettsack? Für mich siehst du ziemlich normal aus.«

Das nahm mich sofort für sie ein. »Ich bin normal. Die mögen mich nur nicht.«

»Das ist ja nun scheißegal, wen die mögen oder nicht. Wohnst du in der Brennanstown Road? Ich hab dich hier schon öfter gesehen.«

Ich wohnte in Avalon, einem großen freistehenden Haus mit gepflegtem Garten am Ende der Straße, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihr das sagen sollte. Es schien ihr egal zu sein, ob ich ihre Fragen beantwortete oder nicht. Einträchtig schlenderten wir weiter. Als wir bei Trisha’s Café vorbeikamen, schlug sie vor, ich könne sie doch auf eine Cola einladen. Ich zögerte.

»Na gut, dann lade ich dich ein«, sagte sie und stieß schon die Glastür auf. Es wäre unhöflich gewesen, ihr nicht zu folgen. Dummerweise waren auch die Fieslinge da, sie saßen in der Nähe der Theke.

»Oink, oink!«, rief einer von ihnen zu uns hinüber.

»Scheißkerle«, sagte Helen. »Ignorier sie.«

In Avalon nahmen wir nur sehr selten Kraftausdrücke in den Mund, und jetzt hatte ich innerhalb von fünf Minuten »scheißegal« und »Scheißkerle« gehört. Von einem Mädchen. Ich sagte sowas auch manchmal, aber nie laut.

Helen spazierte ganz gelassen zur Theke und kam mit zwei Cola wieder. Ich schob zwei Ten-Pence-Münzen zu ihr rüber.

»Nicht nötig. Wenn ich zahle, heißt das nicht automatisch, dass du dann mit mir ausgehen musst.«

Mit ihr ausgehen?

»Ich möchte die aber gern bezahlen. Das ist nur angemessen.«

»Okay«, sagte sie. Eine Gesprächspause entstand, als wir beide durch dünne Strohhalme unsere Cola tranken. Dann sagte sie: »Du würdest richtig gut aussehen, wenn du nicht so dick wärst.«

Es war mir nicht neu, dass ich dick war. Meine Mutter behauptete, das sei Babyspeck, der bald verschwinden würde, aber ich war schon siebzehn. Mein Vater fand, dass ich zu viel aß. Ich brachte 95 Kilo auf die Waage. Ich war nicht immer so schwer gewesen, aber im vergangenen Jahr, seit meinem Schulwechsel, waren meine Essgewohnheiten völlig außer Kontrolle geraten. Je nervöser und unglücklicher ich war, desto hungriger wurde ich. Ich esse unheimlich gern, hauptsächlich genau das Zeug, das dick macht. Aber das eben war das erste Mal gewesen, dass jemand anders als meine Eltern mich als dick bezeichnet hatte, ohne dabei angewidert das Gesicht zu verziehen.

»Du hast schöne Haare«, sagte ich, um ihr Kompliment zu erwidern. Sie sah sehr erfreut aus.

»Ich esse auch total gern. Wahrscheinlich esse ich mehr als du«, sagte sie. Helen hatte offenkundig keine Vorstellung davon, wieviel Essen ich in mich hineinstopfen konnte. »Wenn du mir zwanzig Kilo abgeben könntest, wären wir beide perfekt.«

In den darauffolgenden Wochen trafen Helen und ich uns ein paarmal. Wir luden uns abwechselnd auf eine Cola ein. Und dann sagte sie eines Tages: »Hast du Lust, morgen Abend zu mir zu kommen?«

»Wozu?«

»Um mich zu besuchen? Das Wochenende einzuläuten?«, sagte sie, als wäre es völlig normal, zu einem Mädchen nach Hause eingeladen zu werden. »Meine Mum hat einen Wahnsinnskuchen gebacken, und wenn der nicht gegessen wird, landet er im Müll.«

Wir kannten uns erst ein paar Wochen, aber sie wusste schon genau, wie sie mich kriegen konnte. Wir verabredeten uns für nach der Schule, sie schrieb mir ihre Adresse in den Einband meines Notizbuchs.

Zu Hause gab ich mich lässig und entspannt. »Ich bin morgen Abend nicht zum Essen da. Ich geh mit ein paar von den Jungs ins Kino«, log ich, so beiläufig ich konnte. Ich blickte hochkonzentriert in mein Heft. Mein Dad lebte richtig auf, er war begeistert.

»Ja wie schön, das ist ja wirklich großartig! Du gehst mit ein paar Kumpels weg? Was schaut ihr euch denn an? Es gibt eine Fortsetzung von Krieg der Sterne, stimmt’s?«

Wir hatten uns Krieg der Sterne als Familie angeschaut. Dad und mir hatte der Film gefallen, aber Mum hatte sich bei den Explosionen die Ohren zugehalten und war jedes Mal zusammengefahren, wenn die Laserschwerter aufeinandergeprallt waren. Hinterher schwor sie, sie werde nie wieder ins Kino gehen.

»Herbie dreht durch«, verkündete ich selbstbewusst und versuchte die Röte zu ignorieren, die mir spürbar den Hals hinaufkroch.

»Ah, aha«, sagte mein Vater ernüchtert und leicht befremdet. »Na, auf jeden Fall ist das doch prima, dass du mit Freunden weggehst, oder?« Er warf meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu, zweifellos erfreut darüber, dass ich endlich Freunde gefunden hatte, aber sie war ganz darauf konzentriert, mir ein Stück Käsekuchen abzuschneiden. Ich versuchte, ihre Hand ein bisschen zur Seite zu drücken, damit das Stück größer wurde, und sie seufzte, tat dann aber kopfschüttelnd wie gewünscht.

»Das Stück nehme ich«, sagte mein Vater. »Gib dem Jungen ein kleineres.« Ihm entging nichts.

»Spätestens um Mitternacht bist du aber wieder da.«

»Um Mitternacht?! Aber wir wissen doch gar nicht, wer diese –«

Dad fiel ihr ins Wort. »Thema beendet, Lydia.«

Mitternacht, alter Schwede – ich war verblüfft. Ich hatte noch nie eine Zeit gesetzt bekommen, zu der ich spätestens zu Hause sein sollte. Es war auch nie nötig gewesen, aber Mitternacht erschien mir großzügig. Danke, Dad. Jetzt musste ich die Verabredung mit Helen allerdings durchziehen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich diesmal um ein echtes Rendezvous handelte. In weniger als vierundzwanzig Stunden. Einerseits freute ich mich darauf, andererseits fürchtete ich mich.

Sich auf das erste Rendezvous vorzubereiten war gar nicht so einfach. Das wusste ich von der Titelseite von Jackie, einem Mädchenmagazin, das im Kiosk auslag. Anscheinend galt es zehn Punkte zu beachten. Zwei davon erriet ich von selbst: frischer Atem und Blumen.

Nach einigem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass es für ein Mädchen vielleicht zehn Punkte zu beachten gab, für einen Jungen jedoch nur zwei. Das mit dem frischen Atem hatte ich geregelt. Nachdem wir bei Trisha’s gewesen waren, hatte ich mir eine neue Zahnbürste und eine Tube Euthymol-Zahncreme gekauft, obwohl die mir fast den Mund wegätzte. Ich dachte mir, was so unangenehm ist, muss besonders gut wirken.

Blumen. Es war November. Doch im Treibhaus meines Vaters blühten ein paar schöne rosafarbene und weiße Nelken, von denen ich mir später am Abend, als meine Eltern die Neun-Uhr-Nachrichten schauten, ein paar unter den Nagel riss. Ich wickelte die Blumen in Alufolie und legte sie vorsichtig oben auf die Bücher in meiner Schultasche.

An jenem schicksalhaften Freitag gab mir mein Vater nach dem Frühstück zwei Pfund und sagte, ich solle mir einen schönen Abend machen. Geld war bei uns damals ein Riesenthema. Dads Steuerberater, der Dreckskerl Paddy Carey (das war der einzige Kraftausdruck, den ich von meinem Vater je hörte) hatte sich ein Jahr zuvor mit unserem ganzen Geld davongemacht. Dad war fuchsteufelswild. Wir durften niemandem davon erzählen. Der Steuerberater war ein guter Freund gewesen, jedenfalls hatte mein Vater das geglaubt. Carey hatte mehrere prominente Kunden übel geprellt, und die Geschichte war ausgiebig durch die Presse gegangen. Der Name meines Vaters war bislang noch nicht aufgetaucht. Die ganze Geschichte belastete ihn ungemein, es kränkte ihn zutiefst, dass der Dreckskerl Paddy Carey ihn zum Narren gehalten hatte, und er meiner Mutter nicht mehr den Lebensstil ermöglichen konnte, den sie gewohnt war. Seit einem geschlagenen Jahr wurde bei uns herumgeschrien, mit Türen geknallt und endlos wiederholt, dass wir den Gürtel enger schnallen müssten. Insofern war es mehr als überraschend, dass ich zwei Pfund von meinem Vater bekam, ohne auch nur darum gebeten zu haben. Ich dachte mir, jetzt könnte ich ja auch Blumen im Laden kaufen, aber da ich nun schon welche hatte, wäre das Verschwendung gewesen. Ich war mir nicht sicher, wofür ich das Geld ausgeben sollte.

Als die Schulglocke schließlich zum letzten Mal läutete, war ich fast krank vor Aufregung. Allein die Vorstellung einer Alternative zum üblichen Freitagabend-Ritual – Hausaufgaben, Abendessen, dann allein Bonanza und Ein Duke kommt selten allein im Fernsehen anschauen, dann zusammen mit Mum die Neun-Uhr-Nachrichten und eine Talkshow, ein Snack und danach ins Bett – versetzte mich in Hochstimmung. Dad ging freitags meistens mit Kollegen essen und danach noch etwas trinken. Mum traf sich nicht gern mit anderen Leuten und war immer zu Hause. An diesem Freitagmorgen hatte Dad jedoch ein ziemliches Aufhebens darum gemacht, dass er den Abend mit meiner Mutter zu Hause verbringen würde, weil ich ja unterwegs sein würde. Wie bedeutsam das war, wurde mir erst viel später klar, als der Polizist vor unserer Tür stand. Für mich hieß es zunächst nur, dass ich mich aus meiner Verabredung mit Helen nicht mehr herausmogeln konnte. Das hätte umständliche Erklärungen erfordert, und die Enttäuschung meines Vaters hätte ich nicht ertragen.