Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit - Francesca del Sarde - E-Book

Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit E-Book

Francesca del Sarde

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Beschreibung

Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit. Für Francesca del Sarde scheint dieser Wunsch von klein auf unerreichbar. Als Älteste von 10 Kindern wächst sie in Armut auf und durchlebt einen Kreislauf aus Gewalt, Vernachlässigung und Einsamkeit. Immer wieder träumt sich das Mädchen durch Phantasiewelten ein besseres Leben herbei, aber kleine Hoffnungsschimmer erlöschen schnell und Momente des Glücks ziehen rasch vorüber. Damals ahnt sie noch nicht, dass diese Erfahrungen auch ihren weiteren Lebensweg prägen sollen. Als junge Frau begegnet sie ihrer ersten großen Liebe und hofft, endlich die Wärme zu finden, nach der sie so lange gesucht hat. Doch es kommt alles anders. Mit packender Intensität schildert die Autorin eine Lebensgeschichte, die fassungslos macht und tief berührt. Ihr gelingt, was sich nur wenige Menschen trauen: Sie holt Erinnerungen hervor, die wehtun und doch ausgesprochen werden müssen. Nach einem langen, stillen Kampf gilt es zurückzublicken, um wieder nach vorne schauen zu können. Ein intimer Einblick, der erschütternd und zugleich voller Hoffnung ist. Er erinnert daran, was im Leben wirklich zählt.

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Seitenzahl: 92

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»Erinnerung

ist eine Form der Begegnung.«

Khalil Gibran, Maler, Philosoph, Dichter, † 1931

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Einleitung

Wie spricht man über das Unaussprechliche?

Wie vermittelt man Unbeteiligten eine Vorstellung des Unvorstellbaren?

Wie erreicht man die, die nicht dabei waren?

Die, die nicht Bilder genug im Kopf haben, um sich einen Begriff von einem erlebten Leben machen zu können, das ihnen so fremd erscheint, so unvorstellbar ist?

Wer soll einem das Unglaubliche glauben?

Vielleicht geht es einfach so, indem man anfängt zu erzählen.

Vorn anfangen. Sich erinnern. Alles aufzeigen.

Das Erlebte hat einen zu dem Menschen gemacht, der man nun einmal geworden ist. Da lässt sich nichts abschütteln. Erinnerungen tauchen auf. Plötzlich und unvermittelt. Geschichten spielen sich vor dem inneren Auge ab. Dann gibt es wieder Lücken. Schwarze Löcher. Keine Bilder. Keine Gedanken. Keine Gefühle. Ein großes Nichts.

Und dann wieder schmerzt eine Narbe am Kopf. Bei Wetterumschwung. Oder beim angestrengten Nachdenken.

Ich will alles aufschreiben, was ich erlebt habe.

1946 geboren, die Älteste von insgesamt zehn Kindern, aufgewachsen in ärmlichsten Verhältnissen, auf dem Lande, neben Nachbarn, die wegschauen, die denken: Die haben es ja so verdient.

Meine Eltern, das waren keine Eltern, das war eine Katastrophe.

Zu Hause: wenig Essen, viel Gewalt. In der Schule: wenig Unterstützung, ständige Demütigungen. Und auch sonst gibt es nicht viel Gutes, keine gemeinsamen Kinderspiele, keine Freundschaften, keine Aussichten auf Besserung. Wie soll ein Kind ein solches Leben ertragen? Es macht das einzig Naheliegende, es schafft sich eine Parallelwelt und sucht Zuflucht in Traumwelten, in Tagträumen und ist immer allein.

Das war halt früher so.

Aber jetzt will ich alles aufschreiben.

Jetzt will ich alles erzählen.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist es nicht mehr wichtig, was die anderen denken. Jetzt geht es darum, zu vertrauen. Es wird sich schon alles fügen, wie man es sich gewünscht hat. Und es gibt nicht mehr unendlich viel Zeit. Deshalb, und auch weil es einen nicht mehr loslässt, dieses Vorhaben, gilt es einfach anzufangen.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, alles aufzuschreiben. Immer wieder mal. Aber so richtig konkret wurde der Gedanke erst in den letzten Jahren. Aus der Vorstellung war zunächst ein Wunsch geworden und dann beinahe so etwas wie eine Besessenheit, die mich nicht mehr loslassen wollte. So viel vergangene Zeit, so viel erlebtes Leben, so wenig geschenkt bekommen und viel zu selten genau hingesehen, Ereignisse aus der Distanz betrachtet und Zusammenhänge verstanden. Erst diese letzten Jahre haben mich etwas zur Ruhe kommen lassen. Erst jetzt bin ich in der Lage, zu begreifen.

Gibt es ein Schicksal? Beeinflusst die Kindheit das Leben des Erwachsenen so sehr, dass es nur einen einzigen Weg für ihn gibt, der bereits vorgezeichnet ist? Kann er diesen Weg jemals verlassen? Heute weiß man, dass sich Verhaltensweisen, die man sich in der Kindheit antrainiert hat, festsetzen, sie sind immer wieder abrufbar. In ähnlichen Situationen verhalten wir uns mit fünfzig genau so, wie wir es mit fünf getan haben. Unbewusst suchen wir uns die gleichen Verhältnisse und Bedingungen, die wir als Kind vorgefunden haben, um das Erlernte wieder und wieder einzusetzen und vielleicht abzuarbeiten.

Es ging uns in der Familie gut? Also suchen wir die Nähe von guten Menschen. Es ging uns in der Familie schlecht? Dann suchen wir die Nähe von Menschen, die es auch nicht gut mit uns meinen. Ist das wirklich so einfach? Ist dieses Schicksal, wenn es denn eins ist, nur eines von vielen Beispielen meiner Generation? Der Generation, die unmittelbar nach dem Krieg geboren wurde, die in der Regel in Armut aufwuchs und wenige Chancen hatte. Frauen, die als Mädchen die jüngeren Geschwister aufziehen und versorgen mussten, die zwar eine Ausbildung machten, aber kurze Zeit später heirateten und selbst Kinder bekamen. Den Haushalt führten und Kinder großzogen. Das konnten die meisten, das hatten wir ja gelernt. Und viele von uns hatten gelernt, als Mädchen zu folgen, zu gehorchen, keine Widerworte, keine eigenen Wünsche, keine Klagen.

Ich finde keine Antwort auf all die Fragen. Ich sehe lediglich auf mein Leben zurück. Und was ich da sehe, treibt mir noch heute die Tränen in die Augen. Der Wunsch, die Erinnerungen aufzuschreiben, war plötzlich da. Alles, was hier geschrieben steht, hat sich tatsächlich so ereignet. Und da es so viele schmerzhafte Erinnerungen sind, möchte ich jedes Missverständnis direkt aus dem Weg räumen. Es geht mir hier nicht darum, Rache auszuüben oder jetzt, so viele Jahre später, jemanden anzuklagen. Was hätte das auch für einen Sinn?

Es geht um Gewalt, um Brutalität, um Unterdrückung und um Angst. Mir ist klar, dass es für viele unvorstellbar ist, dass so etwas passiert. Man wird sich fragen, wie es so kommen konnte, und man wird mir vielleicht unbekannterweise den Vorwurf machen, dass ich mich nicht gewehrt habe und alles geschehen konnte, so wie es geschah. Warum verlassen Menschen, die in gewalttätigen Beziehungen leben, nicht bei der ersten Gelegenheit ihre Peiniger? Da spielen wohl viele Faktoren eine Rolle. Angst ist sicherlich einer der Hauptgründe. Immer wieder Angst haben, dass man nicht wirklich entkommen kann. Und auch die Angst vor der Freiheit. Was tun in einem neuen Leben, in dem man zuallererst neue Verhaltensweisen lernen müsste, um neue Menschen kennen zu lernen, mit denen man ein neues Lebensgefühl entwickeln könnte? Was tun, wenn die Vorstellung, ohne jegliche Ansprache, sei sie auch noch so laut und brutal, ohne jeglichen Kontakt, in absoluter Einsamkeit zu sein, einem nichts als Angst einflößt? Gerade wenn man jung ist, ein Kind, ein Heranwachsender, dann gibt es nur dieses eine Leben, nämlich genau das, was man führt. Dann gibt es kein anderes und schon gar keine Vorstellung davon.

Ich habe keine Antworten auf all die Fragen, die ich mir selbst oft genug gestellt habe.

Ich möchte ein Leben beschreiben, mein Leben, so wie meine Erinnerung es mir heute noch erlaubt, so wie ich es heute sehe, dieses gelebte Leben.

Kapitel 1

Womit anfangen? Was gehört zum Lebensumfeld eines Kindes? Familie, Eltern, Geschwister, Freunde, Schule. Beginne ich also mit der Schule.

Schule. Das ging ungefähr so: In den fünfziger Jahren gab es immer sehr viel Schnee und es war sehr kalt. Ich habe immer gefroren. Es gab keine Kohle zum Heizen und auch nichts zum Essen. Ich musste sehr oft hungrig in die Schule gehen. Mein Bauch knurrte vor Hunger und ich habe mich geschämt. Geschämt habe ich mich auch wegen meiner Schuhe, sie waren uralt und mit Nägeln an den Sohlen beschlagen. Beim Laufen machte es klick, klack. Meine Strümpfe waren voller Löcher. Ich habe mich geschämt.

Wutausbrüche des Lehrers. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts brüllte der Lehrer los, donnerten seine Schimpf- und Schmähtiraden auf uns nieder. Wir könnten nichts, wir seien dumm und würden es immer bleiben. Es sei alles vertane Zeit mit uns und überhaupt wüssten wir nicht, was Disziplin bedeute. Und was wir nicht begriffen, müsste uns eingehämmert werden. Und wenn wir uns dumm anstellten, müssten wir bestraft werden. Und wenn wir aus der Reihe tanzen wollten, würden wir schon wieder dahin gestellt, wo wir hingehörten. Jeder hatte seinen Platz, jeder hatte die Familie, aus der er kam, jeder hatte seinen bestimmten Weg vor sich, da gab es kein Wenn und kein Aber.

Wutausbrüche des Lehrers, körperliche Gewalt, Demütigungen. Daraus bestand der Alltag in der Schule.

Ich war sechs Jahre alt. Den Lehrer hielt das nicht davon ab, mich immer mit einem dünnen Stock zu schlagen. Ich musste mich mit dem Bauch nach unten auf die Bank legen. Er hat mich auf den Rücken und Hintern geprügelt. Ich hatte höllische Schmerzen. Aber noch schlimmer war die Scham. Er riss an meinen Haaren und setzte mich dem Spott der Mitschüler aus. Der Lehrer schlug mit der Faust ins Gesicht. Ich konnte mich nicht auf den Schlag einstellen. Der Lehrer schlug aus dem Hinterhalt.

Da war niemand, der sich an meine Seite stellte, niemand, der mich tröstete, und schon gar niemand, der mich beschützte und versuchte, gegen den Lehrer Stellung zu beziehen.

Das gab es nicht. Lehrern wurde nicht widersprochen. Das war zu der Zeit nichts Besonderes. Anfang der fünfziger Jahre hatte es noch nicht die große Freiheit gegeben, die später mit den Studenten übers Land schwappte. Man gehorchte. Angst und Gehorsam, es war noch nicht sehr lange her, da war ein ganzes Land so regiert worden. Ich entwickelte Strategien. Nicht auffallen, den Blick gesenkt halten, nicht bewegen, nicht husten, nicht weinen und vor allem nicht lachen.

Wer lacht hier? Das hat sich gleich ausgelacht. Warte nur!

Was heute undenkbar ist und selbst in der Phantasie jeglichen Rahmen sprengt, gehörte damals zum täglichen Grauen. Es wurde gelacht, aber nicht aus Freude. Vielleicht ist Boshaftigkeit ansteckend, vielleicht wollten sich die Mitschüler auch nur einen Vorteil verschaffen und sich selbst ins rechte Licht rücken. Viele passten sich an, um nicht unterzugehen, um nicht selbst in den Mittelpunkt von Beschimpfung und Gewalt zu geraten. Ich gehörte nicht zu ihnen, ich sollte nicht dazugehören. Als Kind wurde ich in der Schule gemobbt. Man hatte sich auf mich eingeschossen. Das ging recht schnell. Man machte mich zur Außenseiterin. Wenn ich etwas nicht wusste, dann wurde gelacht, lauthals. Wenn ich etwas nicht verstanden hatte und nachfragte, wurde ich verhöhnt und wieder ausgelacht. Wenn wir uns in einen Kreis stellen sollten, wollte niemand neben mir stehen, geschweige denn mich anfassen. Einfach nur an die Hand nehmen, einfach einen Kreis bilden, mit allen, die in der Klasse waren, eine Gemeinschaft, eine Einheit bilden, zu der jedes Kind gehört hätte. Ich nicht.

Der Lehrer stand da, beobachtete uns, die Kinder seiner Klasse. Er hatte ein bösartiges Grinsen im Gesicht, so als ob sich seine Mission erfüllte. Ich sollte nicht dazugehören. Das hatten alle schnell begriffen. Ich auch. Ich nahm diese Rolle an. Das schüchterne, zurückhaltende, ängstliche Mädchen. Die aus dieser schrecklichen Familie.

Das ist die, guck mal, die, mit der niemand spricht. Mit der will ich nichts zu tun haben. Wie die schon aussieht. Und wie die guckt.

Die Klasse machte einen Ausflug in den Wald. Der Lehrer erklärte uns viel. Ich stand abseits und wurde übersehen. Als eine Ringelnatter aus dem Laub hervorkam, spielte ich wieder eine Rolle. Der Lehrer hatte bemerkt, dass ich Ekel hatte. Ich sollte die Natter anfassen. Ich weigerte mich. Er wurde böse und gab mir eine Ohrfeige. Ich wurde zurück in die Schule geschickt. Allein.

Man sah mir an, woher ich kam. Man kannte sich im Dorf. Es wurde getuschelt, hinter vorgehaltener Hand, Blicke wurden ausgetauscht, man verdrehte die Augen. Jeder wusste, was sich bei uns zu Hause abspielte.

Zu beißen haben die nichts. Aber ausgehen abends, das können sie. Und jedes Jahr ein neues Balg. Wer weiß, wer da der Vater ist?

Wir waren bekannt und keineswegs beliebt. Wir hatten unseren Ruf weg im Dorf. Wir Kinder bekamen das am meisten zu spüren. Die Eltern interessierte das nicht. Die Schule war da kein Schonraum. Im Gegenteil, da passierte im Kleinen, was in der dörflichen Gemeinde im Großen geschah. Ausgrenzung, böse Blicke, verletzende Worte, Verurteilungen, wofür auch immer.