Auf der Suche nach Indien - E.M. Forster - E-Book

Auf der Suche nach Indien E-Book

E. M. Forster

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Beschreibung

Ein Klassiker der englischen Literatur und der berühmteste Indien-Roman des 20. Jahrhunderts. Kein Autor beschrieb die britische Kolonialzeit Indiens so eindrucksvoll wie E.M. Forster. Eines von 12 bisher vergriffenen Meisterwerken aus der ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher.

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E. M. Forster

Auf der Suche nach Indien

Roman

Aus dem Englischen von Wolfgang von Einsiedel

Titel der Originalausgabe: »A Passage to India«

Copyright © The Provost and Scholars of King’s College, Cambridge, 1924, 1979

Copyright für die deutsche Übersetzung: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1985

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-18-7

Buch I Mo­schee

1

Mit Aus­nah­me der – oh­ne­hin vier­zig Ki­lo­me­ter ab­ge­le­ge­nen – Mara­bar-Grot­ten hat die Stadt Tschan­dra­pur dem Be­su­cher nichts Un­ge­wöhn­­liches zu bie­ten. Vom Gan­ges nicht so sehr be­spült wie ge­säumt, zieht sie sich ein paar Ki­lo­me­ter weit am Ufer ent­lang, kaum zu un­ter­scheiden von all dem Un­rat, den sie so groß­zü­gig ab­la­gert. Da der Gan­ges an die­ser Stel­le nicht heilig ist, sind auf der Fluss­seite auch keine Ba­de­stu­fen zu se­hen, ja, von der Fluss­seite ist über­haupt nicht viel zu be­mer­ken. Das weite, wech­sel­vol­le Pa­no­ra­ma des Stro­mes ist von Ba­sa­ren ver­stellt. Die Stra­ßen sind dürf­tig, die Tem­pel un­an­sehn­lich, und wenn es auch ein­zel­ne statt­­liche Häu­ser gibt, so lie­gen sie doch in Gär­ten ver­steckt oder ste­hen in Hin­ter­gas­sen, de­ren Schmutz nur den ge­la­de­nen Gast nicht ab­zu­schre­cken ver­mag. Nie­mals war Tschan­dra­pur groß oder schön, aber vor 200 Jah­ren lag es an der breiten Han­dels­stra­ße, die das – da­mals kai­ser­­liche – Ober­in­di­en mit der See ver­band, und aus je­ner Zeit stam­men auch die statt­­lichen Häu­ser. Im 18. Jahr­hun­dert er­starb die Freu­de am Zie­rat, die oh­ne­hin auf die obe­ren Schich­ten be­schränkt war. Im Ba­sar­vier­tel ist nicht das Ge­ringste von Ma­le­rei, und so gut wie nichts von Schnit­ze­rei wahr­zu­neh­men. Das Holz selbst scheint aus Lehm zu be­ste­hen – je­der Stadt­be­woh­ner aus wan­deln­dem Lehm. So he­run­ter­ge­kom­men, so ein­tö­nig ist al­les, was dem Blick des Be­schau­ers be­geg­net, dass man fast wün­schen könn­te, der gan­ze Aus­wuchs wür­de bei der nächs­ten Über­schwem­mung vom Gan­ges wie­der in den Erd­bo­den zu­rück­ge­spült. Tat­säch­lich stür­zen Häu­ser zu­sam­men, er­trin­ken Men­schen, die man auch un­be­küm­mert ver­we­sen lässt, aber im All­ge­meinen bleibt die Um­riss­­linie der Stadt mehr oder we­ni­ger die Gleiche, auch wenn sie, wie ­eine nie­de­re und doch un­zer­stör­ba­re Le­bens­form, sich hier ein we­nig baucht, dort ein we­nig zu­sam­men­zieht.

Auf der dem Fluss ab­ge­wand­ten Seite sieht al­les gleich an­ders aus. Hier be­fin­det sich ein ova­ler mai­dan und ein lang ge­strecktes düs­te­res Hos­pi­tal. Auf dem hö­her ge­le­ge­nen Ge­län­de in der Nähe des Bahn­hofs ste­hen ein paar Häu­ser, die wohl­ha­ben­den Eu­ra­si­ern ge­hö­ren. Hin­ter der Ei­sen­bahn, de­ren Gleise zum Fluss pa­ral­lel ver­lau­fen, senkt der Bo­den sich und reckt sich dann wie­der ziem­lich steil in die Höhe. Auf der zweiten Er­he­bung ist die kleine Be­am­ten­sta­ti­on er­rich­tet, und von hier aus ge­se­hen bie­tet Tschan­dra­pur fast ein neu­es Bild. Es ist ­eine Gar­ten­stadt, nein, keine Stadt, son­dern ein Hain, spär­lich mit Hüt­ten ge­spren­kelt. Ein tro­pi­scher Lust­gar­ten, von ­einem ed­len Strom be­spült. Die bu­schi­gen Pal­men und Nim-Bäu­me, die Man­go- und Pe­pul­bäu­me, sonst stets von den Ba­sa­ren ver­deckt, schie­ben sich nun­mehr ins Blick­feld und ver­de­cken ih­rer­seits die Ba­sa­re. Von ur­al­ten künst­­lichen Teichen ge­speist, schwin­gen sie sich aus Gär­ten, oder sie bers­ten aus er­sti­cken­dem Busch­werk und ver­fal­len­den Tem­peln. Nach Licht und Luft drän­gend und von stär­ke­ren Kräf­ten er­füllt als der Mensch und al­les von ihm Ge­schaf­fe­ne, scheinen sie über der un­te­ren Ab­la­ge­rung da­hin­zu­schwe­ben, um einan­der mit ih­ren Zweigen und win­ken­den Blät­tern zu grü­ßen, ­eine Wohn­statt für ge­fie­derte We­sen. Vor al­lem nach der lan­gen Re­gen­zeit ver­hül­len sie, was in der Tie­fe vor sich geht, aber im­mer von Neu­em ver­klä­ren sie, auch ver­dorrt oder un­be­laubt, in den Au­gen der weiter oben hau­sen­den Eng­län­der das Bild der Stadt. Des­halb ver­mag auch der Neu­an­kömm­ling die­se Stadt zu­nächst nicht für so küm­mer­lich zu hal­ten, wie er es nach ih­rer Be­schreibung er­war­ten soll­te: erst an Ort und Stel­le wird er ge­neigt sein, sich ­eines Bes­se­ren be­leh­ren zu las­sen. Was die Be­am­ten­sta­ti­on selbst be­trifft, so löst sie keiner­lei stär­ke­re Emp­fin­dung aus. Sie ent­zückt den Be­trach­ter nicht, aber sie stößt ihn auch nicht ab. Sie ist höchst zweck­mä­ßig an­ge­legt. An weit­hin sicht­ba­rer Stel­le be­fin­det sich ein Klub­ge­bäu­de aus ro­tem Back­stein, an we­ni­ger sicht­ba­rer ein Kram­la­den und ein Fried­hof. Die kleinen Bun­ga­lows lie­gen gleich­mä­ßig ver­teilt an Stra­ßen, die einan­der recht­wink­lig schneiden. Nein, die­se Sied­lung hat nichts Häss­­liches an sich, aber wirk­lich schön ist nur die Aus­sicht, die man von ihr aus ge­nießt. Und mit der Stadt selbst hat sie nichts an­de­res ge­mein als den sie beide über­wöl­ben­den Him­mel.

Auch am Him­mel pfle­gen al­ler­lei Ver­än­de­run­gen vor sich zu ge­hen, we­ni­ger auf­fäl­­lige als die bei Fluss und bei Pflan­zen­wuchs. Bis­weilen wird der Him­mel durch Wol­ken in ­eine Land­schaft ver­wan­delt, aber für ge­wöhn­lich ist er nur ­eine weite Kup­pel, von Misch­tö­nen über­haucht. Der vor­wal­ten­de Farb­ton ist Blau, am Tage zu Weiß ver­blas­send, wo er ans Weiß der Erde rührt, nach Son­nen­un­ter­gang aber von ­einem neu­en Saum um­kränzt – Oran­ge, das nach der Höhe zu in zar­tes­tes Pur­pur über­geht. Aber der blaue Un­ter­grund bleibt be­ste­hen, auch des Nachts. Wie Lam­pen hän­gen dann von der De­cke des un­ge­heu­ren Ge­wöl­bes die Ster­ne he­rab. Der Ab­stand zwi­schen beidem ist win­zig klein, ver­g­lichen mit der da­hin­ter sich breiten­den Fer­ne, und die­se fer­ne­re Fer­ne hat, wenn­gleich dem Be­reich al­ler Far­be ent­rückt, als Letzte das Blau von sich ab­ge­tan.

Es ist der Him­mel, der al­les ver­fügt – nicht nur die Wech­sel­folge des Wet­ters, der Jah­res­zeiten, son­dern auch den Au­gen­blick, in dem die Erde sich wie­der zu schmü­cken hat. Aus eige­nen Kräf­ten ver­mag die Erde nur we­nig zu tun, es sei denn, dass sie hie und da ein paar Blu­men her­vor­treibt. Aber wenn es dem Him­mel ge­fällt, kann er Herr­lich­keit auf die Ba­sa­re Tschan­drap­urs nie­der­reg­nen, ein lich­tes Se­gens­zeichen von Ho­ri­zont zu Ho­ri­zont gleiten las­sen. Der Him­mel ist des­sen fä­hig, weil er so stark, so ge­wal­tig ist. Seine Stär­ke, täg­lich er­neu­ert, rührt von der Son­ne her, seine Grö­ße von der tief un­ter ihm ru­hen­den Erde. Kein Ber­ges­gip­fel stört die Rein­heit der Wöl­bungs­­linie. Meile um Meile liegt die Erde flach hin­ge­streckt, wirft sich ein we­nig auf und duckt sich wie­der. Nur im Sü­den, wo ein paar Fin­ger und Fäuste den Bo­den durch­sto­ßen ha­ben, ist die end­lo­se Flä­che ge­bro­chen. Die­se Fäuste und Fin­ger sind die Fels­hü­gel des Mara­bar, die in ih­rem In­nern die selt­sa­men Grot­ten ber­gen.

2

Das Fahr­rad fiel zu Bo­den, ehe ein Die­ner es auf­fan­gen konn­te, und der jun­ge Mann, der es eben los­ge­las­sen ­hatte, sprang die Stu­fen zur Ve­ran­da em­por. Er spru­delte über vor Leb­haf­tig­keit.

»Hami­dul­lah, Hami­dul­lah«, rief er, »kom­me ich zu spät?«

»Er­spa­re dir jede Ent­schul­di­gung«, ­sagte sein Gast­ge­ber. »Du kommst im­mer zu spät.«

»Sei doch bitte so freund­lich, mir auf meine Fra­ge zu ant­wor­ten. Bin ich jetzt zu spät ge­kom­men? Hat Mah­moud Ali schon al­les auf­ge­ges­sen? Dann will ich lie­ber wo­an­ders hin. Mr. Mah­moud Ali, wie geht es Ih­nen?«

»Dan­ke der Nach­fra­ge, Dr. Aziz. Ich pfeife ge­ra­de auf dem letz­ten Loch.«

»Und das aus­ge­rech­net vor dem Es­sen? Ar­mer Mah­moud Ali!«

»Hami­dul­lah weilt schon nicht mehr un­ter den Le­ben­den. Er hat den Geist auf­ge­ge­ben, als Sie ge­ra­de an­ge­ra­delt ka­men.«

»Ja, das stimmt«, be­merkte der an­de­re. »Stell dir bitte vor, dass wir beide aus ­einer an­de­ren, bes­se­ren Welt das Wort an dich rich­ten.«

»Gibt es in eu­rer bes­se­ren Welt mög­­licher­weise auch so et­was wie ­eine hoo­kah?«

»Lass das Al­bern, Aziz. Wir sind ge­ra­de da­bei, et­was höchst Be­trüb­­liches zu er­ör­tern.«

Die hoo­kah war, wie ge­wöhn­lich im Haus seiner Freun­de, zu fest ge­stopft und glu­ckerte miss­mu­tig. Aziz setzte ihr lie­be­voll zu, bis der Ta­bak ihm in Lun­ge und Nase em­por­schoss und den Beiz­ge­ruch bren­nen­den Kuh­dungs ver­trieb, der sich bei seiner Fahrt durchs Ba­sar­vier­tel da­rin ein­ge­nis­tet ­hatte. Ein köst­­liches Ge­fühl! Aziz ge­riet bald in ­einen Ent­rü­ckungs­zu­stand, der zwar er­schlaf­fend, aber gleich­zeitig er­fri­schend war und hin­ter des­sen Schleiern auch die Un­ter­hal­tung der beiden an­dern ihm nicht son­der­lich be­trüb­lich vor­kom­men wollte – sie er­ör­ter­ten ge­ra­de, ob es über­haupt mög­lich sei, mit ­einem Eng­län­der be­freun­det zu sein. Mah­moud Ali be­stritt es, Hami­dul­lah ver­trat die ge­gen­tei­lige Meinung, aber das mit so vie­len Vor­be­hal­ten, dass keine Ge­reizt­heit zwi­schen ih­nen auf­kom­men konn­te. Ja, Aziz fand es herr­lich, drau­ßen auf der breiten Ve­ran­da zu lie­gen, wäh­rend vor seinen Au­gen der Mond im­mer hö­her stieg und in seinem Rü­cken die Die­ner das Es­sen an­rich­te­ten, ohne dass ir­gend­et­was Un­lieb­sa­mes zu be­fürch­ten ge­we­sen wäre.

»Du brauchst nur an das zu den­ken, was mir sel­ber heute Vor­mit­tag zu­ge­sto­ßen ist.«

»Ich be­haupte auch nur, dass es in Eng­land mög­lich ist«, er­wi­derte Hami­dul­lah, der vor lan­ger, lan­ger Zeit ein­mal dort ge­we­sen war, ehe das zur gro­ßen Mode wur­de, und der in Cam­bridge so gast­­liche Auf­nah­me ge­fun­den ­hatte.

»Hier ist es je­den­falls un­denk­bar, Aziz. Herr Rot­na­se hat mich vor Ge­richt heute schon wie­der be­leidigt. Ich ma­che ihm keinen Vor­wurf da­raus. Er ­hatte den Auf­trag, mich zu be­leidi­gen. Noch bis vor Kur­zem war er wirk­lich ganz nett, aber nun ha­ben sie ihn ’rum­ge­kriegt.«

»Ja, hier dür­fen sie nicht sein, was sie sein wol­len – das meine ich ge­ra­de. Sie kom­men mit der gu­ten Ab­sicht her, Gen­tle­men zu sein, und müs­sen sich dann gleich sa­gen las­sen, dass sich das gar nicht schickt. Denk an Les­ley, denk an Bla­kis­ton. Heute ist es dein Herr Rot­na­se, und mor­gen wird es Fiel­ding sein. Ich er­in­ne­re mich noch, wie es am An­fang mit Tur­ton war. Ihr wer­det’s mir beide nicht glau­ben, aber ich bin da­mals mit Tur­ton zu­sam­men in seinem Wa­gen he­rum­kut­schiert – in ­einem an­de­ren Teil der Pro­vinz – aus­ge­rech­net mit Tur­ton! O ja, wir stan­den ein­mal auf ganz ver­trau­tem Fuß mit­einan­der. Er hat mir so­gar seine Brief­mar­ken­samm­lung ge­zeigt.«

»Und nun ist er si­cher da­von über­zeugt, dass du sie ihm sti­bit­zen wür­dest. Tur­ton. Aber Herr Rot­na­se wird sich ein­mal noch sehr viel schlim­mer auf­füh­ren als Tur­ton.«

»Das wohl kaum. Sie sind am Ende alle gleich hier, der ­eine ist nicht bes­ser und nicht schlim­mer als der an­de­re. Ein Eng­län­der braucht nach meiner Meinung nur zwei Jah­re hier zu sein, ein Tur­ton oder ein Bur­ton oder wer sonst. Den ein­zi­gen Un­ter­schied macht ein Buch­sta­be. Und die Eng­län­de­rin­nen schaf­fen es in ­einem hal­ben Jahr. Sie gleichen sich wie ein Ei dem an­de­ren. Ist es nicht so?«

»O nein«, er­wi­derte Mah­moud Ali, in den Ton bit­te­ren Scher­zens ein­stim­mend – bei je­dem Wort schmerz­haft be­rührt und zu­gleich amü­siert. »Ich meiner­seits ent­de­cke im­mer neue Un­ter­schie­de zwi­schen un­se­ren Herrn und Ge­bie­tern. Herr Rot­na­se müm­melt vor sich hin, Tur­ton spricht deut­lich, Mrs. Tur­ton nimmt Schmier­gel­der, Frau Rot­na­se da­ge­gen nicht – kann es auch gar nicht, weil es sie bis­her noch nicht gibt.«

»Schmier­gel­der?«

»Wuss­ten Sie denn nicht, dass die Tur­tons im Zu­sam­men­hang mit ir­gend­einem Ka­nal­pro­jekt ein­mal der Re­gie­rung von Zent­ral­in­di­en leih­weise zur Ver­fü­gung ge­stellt wur­den und dass ir­gend­ein Rad­scha ihr ­eine Näh­ma­schi­ne aus pu­rem Gold zum Ge­schenk mach­te, da­mit die Was­ser­stra­ße durch sein Ge­biet ge­leitet ­wür­de?«

»Und hat er das er­reicht?«

»O nein. In dem Punkt ist näm­lich Mrs. Tur­ton ganz ge­ris­sen. Wenn wir ar­men Nig­ger Schmier­gel­der an­neh­men, dann tun wir auch wirk­lich, wo­für man uns be­zahlt – und gleich ha­ben wir das Ge­setz auf dem Hals! Die Eng­län­der ste­cken Schmier­gel­der ein, ohne auch nur das Ge­ringste da­für zu un­ter­neh­men. Ich fin­de sie be­wun­derns­wert.«

»Wir alle fin­den sie be­wun­derns­wert. Bit­te, Aziz, reich mir doch die hoo­kah.«

»Oh – noch nicht. Sie schmeckt so gut!«

»Du al­ter Ego­ist.« Hami­dul­lah hob plötz­lich die Stim­me und rief im Kom­man­do­ton nach dem Es­sen. Die Die­ner rie­fen zu­rück, dass es fer­tig sei. Was gar nichts an­de­res hieß, als dass sie sel­ber wünsch­ten, es fer­tig zu ha­ben, und was auch in die­sem Sin­ne ver­stan­den wur­de, denn nie­mand rührte sich von der Stel­le. Hami­dul­lah fuhr weiter in der Un­ter­hal­tung fort, aber sein Ton­fall ­hatte ge­wech­selt, und er sprach of­fen­sicht­lich mit in­ne­rer Be­we­gung.

»Wie ver­hält es sich nun aber mit meinem Fall, dem Fall des jun­gen Hugh Banni­ster? Ja, da wäre also der Sohn meiner lie­ben da­hin­ge­gan­ge­nen Freun­de, des Pfar­rers Banni­ster und seiner Frau – die Güte, die sie mir bei meinem Auf­ent­halt in Eng­land er­wie­sen ha­ben, lässt sich we­der schil­dern noch ver­ges­sen. Sie wa­ren wie meine eige­nen El­tern, und ich konnte mit ih­nen re­den, wie jetzt mit euch. Wäh­rend der Fe­ri­en war das Pfarr­haus ein Heim für mich. Sie ver­trau­ten mir alle ihre Kin­der an – wie oft habe ich den kleinen Hugh auf den Ar­men ge­tra­gen! Auch zum Be­gräb­nis der Kö­ni­gin Vic­to­ria habe ich ihn mit­ge­nom­men und ihn da­bei auf die­sen Hän­den über die Köp­fe der Men­ge em­por­ge­hal­ten.«

»Kö­ni­gin Vic­to­ria war ganz an­ders«, mur­melte Mah­moud Ali.

»Nun höre ich, dass der Jun­ge im Le­der­han­del in Kan­pur tä­tig ist. Ihr könnt euch den­ken, wie sehr ich da­rauf bren­ne, ihn wie­der­zu­se­hen und ihm das Fahr­geld zu be­zah­len, da­mit die­ses Haus auch für ihn zum Heim wer­de. Aber es hat gar keinen Zweck. Die an­de­ren An­glo-In­der wer­den ihn längst zu ­einem der Ih­ren ge­macht ha­ben. Er wird wahr­schein­lich ver­mu­ten, ich wol­le ir­gend­et­was von ihm, und das wäre mir beim Sohn meiner al­ten Freun­de ein un­er­träg­­licher Ge­dan­ke. Oh, was ist mit die­sem Land eigent­lich schief­ge­gan­gen, Va­kil Sah­ib? Ich fra­ge Sie!«

Nun griff end­lich Aziz mit in die Un­ter­hal­tung ein. »Wa­rum im­mer­zu von Eng­län­dern re­den? … Wa­rum mit die­sen Bur­schen über­haupt be­freun­det oder nicht be­freun­det sein? Las­sen wir sie doch ein­fach aus dem Spiel und amü­sie­ren wir uns! Die Kö­ni­gin Vic­to­ria und Mrs. Banni­ster wa­ren die ein­zi­gen Aus­nah­men, und die sind nicht mehr am Le­ben.«

»Nein, nein, das kann ich nicht zu­ge­ben. Ich habe auch noch an­de­re Aus­nah­men ken­nen­ge­lernt.«

»Ich auch«, ­sagte Mah­moud Ali, ­einen un­er­war­te­ten Front­wech­sel voll­zie­hend. »Die Da­men sind sich durch­aus nicht gleich.« Die Stim­mung der Freun­de war um­ge­schla­gen, und sie rie­fen sich kleine Akte der Ge­fäl­lig­keit und der Höf­lich­keit ins Ge­dächt­nis. »Sie ­sagte auf die na­tür­lichste Weise von der Welt: Dan­ke recht schön.« – »Sie bot mir ­eine Pas­til­le an, als mein Hals von Staub ganz rau war.« Hami­dul­lah konnte sich an be­deut­sa­me­re Beispiele eng­lisch-en­gel­haf­ten Ver­hal­tens er­in­nern, aber der an­de­re, der le­dig­lich An­glo-In­di­en kann­te, musste sein Ge­dächt­nis schon nach Ba­ga­tel­len durch­wüh­len, und so war es nicht weiter über­ra­schend, dass er bald wie­der auf seine frü­he­re Fest­stel­lung zu­rück­kam: »Aber na­tür­lich sind das al­les nur Aus­nah­men, und die be­weisen ge­ra­de die Re­gel. Die Durch­schnitts­eng­län­de­rin ist wie Mrs. Tur­ton, und Sie, Aziz, wis­sen ja, was das be­deu­tet.« Aziz wusste es nicht, stimmte aber zu. Auch er war all­zu ge­neigt, seine per­sön­­lichen Ent­täu­schun­gen zu ver­all­ge­meinern – das Ge­gen­teil wäre für die An­ge­hö­ri­gen ­einer nicht ­un­ab­hän­gi­gen Na­ti­on auch mehr als schwie­rig ge­we­sen. Ja, mit ge­wis­sen Aus­nah­men wa­ren alle Eng­län­de­rin­nen hoch­nä­sig und be­stech­lich. Von der Un­ter­hal­tung wich al­ler Schim­mer, und ihr grau­far­bi­ges Band ent­rollte sich ins Un­ab­seh­ba­re.

Ein Die­ner kün­digte an, dass das Mahl auf­ge­tra­gen sei. Sie nah­men keine No­tiz von ihm. Die beiden Äl­te­ren wa­ren bei ih­rer ewi­gen Po­­litik an­ge­langt. Aziz schlen­derte in den Gar­ten hi­naus. Süß duf­te­ten die Sträu­cher – cham­pak mit grü­ner Blüte –, und Ein­zel­klän­ge per­si­scher Ver­se wog­ten ihm durch den Sinn. Mahl, Mahl, Mahl … aber als er da­für ins Haus zu­rück­kehr­te, war Mah­moud Ali seiner­seits ent­schwun­den, um seinem sais ein paar An­weisun­gen zu er­teilen. »Dann komm doch in­zwi­schen ein biss­chen mit zu meiner Frau«, ­sagte Hami­dul­lah zu Aziz, und zwan­zig Mi­nu­ten lang ver­weil­ten beide hin­ter dem pur­dah. Die Be­gum war ­eine ent­fernte Tante von Aziz – die ein­zi­ge weib­­liche Ver­wandt­schaft, die er in Tschan­dra­pur be­saß –, und sie ­hatte bei die­ser Ge­le­gen­heit al­ler­hand zu dem Fa­mi­­lien­er­eig­nis ­einer Be­schneidung zu be­mer­ken, bei der es nicht feier­lich ge­nug zu­ge­gan­gen war. Es war nicht ganz ein­fach, von der Be­gum los­zu­kom­men, weil sie erst mit ih­rem eige­nen Mahl be­gin­nen konn­te, wenn die an­de­ren das ihre be­reits hin­ter sich hat­ten, und in­fol­ge­des­sen zog sie das Ge­spräch in die Län­ge, um nicht den Ein­druck des Un­ge­dul­dig­seins zu er­we­cken. Nach­dem sie das Ri­tu­al der Be­schneidung aus­gie­big be­an­stan­det ­hatte, ging sie zu ver­wand­ten The­men über und ­fragte Aziz, wann er sich wie­der zu ver­heira­ten ge­den­ke.

Ehr­er­bie­tig, aber et­was ge­reizt er­wi­derte er: »Ein­mal ist für mich ge­nug.«

»Ja, er hat seine Pflicht schon ge­tan«, fiel Hami­dul­lah ein. »Setz ihm nur nicht zu sehr zu, den Fort­be­stand seines Na­mens hat er ja ge­si­chert – zwei Jun­gen und de­ren Schwes­ter.«

»Tan­te, bei der Mut­ter meiner Frau geht ih­nen nicht das Ge­ringste ab – bei ihr hat sie selbst die letz­ten Le­bens­ta­ge ver­bracht. Ich kann die Kin­der se­hen, wann im­mer mir da­nach zu­mute ist. Sie sind noch ganz klein.«

»Und er lässt ih­nen sein gan­zes Ge­halt zu­kom­men und lebt selbst wie ein kleiner Bü­ro­an­ge­stell­ter und sagt keinem Men­schen, wa­rum. Was sollte er nach deiner Meinung noch mehr?«

Aber das war nicht, was die Hami­dul­lah-Be­gum im Sinn ­hatte. Nach­dem sie ein paar Au­gen­b­licke lang aus Höf­lich­keit der Un­ter­hal­tung ­eine an­de­re Wen­dung ge­ge­ben ­hatte, rückte sie of­fen da­mit he­raus. »Was soll nur aus un­se­ren Töch­tern wer­den«, ­fragte sie, »wenn die Män­ner nicht heira­ten wol­len? Sie wer­den sich un­ter dem Stan­de ver­e­he­­lichen oder müs­sen so­gar –.« Und wie­der ein­mal be­gann sie mit der schon oft vor­er­zähl­ten Ge­schichte von ­einer Dame kai­ser­­lichen Ge­blüts, die in dem en­gen Um­kreis, in dem ihr eige­ner Stolz ihr ­eine Gat­ten­wahl ver­gönn­te, keinen ge­eig­ne­ten Mann ­hatte fin­den kön­nen und un­ver­mählt ihr Da­sein zu fris­ten ­hatte, auch wohl un­ver­mählt ins Grab sin­ken wür­de, weil nun, da sie dreißig war, kein Mann sie mehr ha­ben woll­te. Wäh­rend ih­nen von die­ser Tra­gö­die be­rich­tet wur­de, wa­ren beide Män­ner ehr­lich über­zeugt, dass die Ge­mein­schaft als Gan­zes da­ran mit­schul­dig war. Dann schon fast lie­ber Viel­weibe­rei, als dass ­eine Frau ohne die ihr von Gott zu­ge­dach­ten Freu­den ins Grab sin­ken muss­te! Ehe, Mut­ter­schaft, häus­­liche Macht­voll­kom­men­heit – wo­für wäre sie sonst wohl auf der Welt, und wie hätte auch der Mann, der ihr sol­ches vor­ent­hal­ten, am Jüngs­ten Tage ih­rem – und seinem – Schöp­fer un­ver­zagt ins Ant­litz b­licken sol­len? Aziz ver­ab­schie­dete sich mit den Wor­ten: »Ja, viel­leicht … aber et­was spä­ter …« – seine ste­re­o­ty­pe Ant­wort auf je­des dies­be­züg­­liche An­sin­nen.

»Du soll­test nicht hi­naus­schie­ben, was du für rich­tig hältst«, ­sagte Hami­dul­lah. »In­di­en ist nur da­rum in ein sol­ches Schla­mas­sel ge­ra­ten, weil wir al­les im­mer wie­der hi­naus­schie­ben.« Aber da er be­merk­te, dass sein ju­gend­­licher Ver­wand­ter ­eine et­was sor­gen­vol­le Mie­ne auf­ge­setzt ­hatte, fügte er ein paar be­gü­tig­en­de Worte hin­zu und machte da­mit je­den Ein­druck zu­nich­te, den seine Frau mög­­licher­weise bei ihm her­vor­ge­ru­fen ­hatte.

Wäh­rend beider Ab­we­sen­heit war Mah­moud Ali da­von­kut­schiert. Er ­hatte Be­scheid hin­ter­las­sen, dass er in fünf Mi­nu­ten wie­der zu­rück sein wer­de, dass aber die an­de­ren keines­falls mit dem Es­sen auf ihn war­ten soll­ten. Die­se lie­ßen sich denn auch mit ­einem ent­fern­ten Vet­ter der Fa­mi­lie, Mo­ham­med La­tif, der, auf Hami­dul­lahs Freige­big­keit an­ge­wie­sen, die Po­si­ti­on we­der ­eines Un­ter­ge­be­nen noch ­eines Gleich­ge­stell­ten in­ne­hat­te, zum ers­ten Gang nie­der. La­tif öff­nete die Lip­pen nur, wenn man ihn an­re­de­te, und da nie­mand es tat, blieb er selbst stumm, ohne sich im Ent­fern­tes­ten ge­kränkt zu zeigen. Hin und wie­der stieß er auf – in An­er­ken­nung des üp­pi­gen Es­sens. Ein sanf­ter, ­zu­frie­de­ner, un­red­­licher al­ter Mann, der sein gan­zes Le­ben lang nicht ­einen Fin­ger krumm ge­macht ­hatte. So­lan­ge ­einer seiner Ver­wand­ten ein Haus be­saß, durfte er selbst ­einer Heim­statt ge­wiss sein, und es war auch kaum zu er­war­ten, dass ­eine so wohl­ha­ben­de Fa­mi­lie wie die seine als Gan­zes je­mals Bank­rott ma­chen wür­de. In meh­re­ren hun­dert Meilen Ent­fer­nung führte seine Frau ein ähn­­liches Schma­rot­zer­da­sein – in An­be­tracht der Kost­spie­lig­keit ­einer Ei­sen­bahn­karte stat­tete er ihr nie­mals ­einen Be­such ab. Aziz hielt ihn, wie auch die Die­ner, ein we­nig zum Bes­ten und be­gann dann gleich, Ver­se zu re­zi­tie­ren – zu­erst auf Per­sisch und dann ge­le­gent­lich auf Ara­bisch. Er ­hatte ein gu­tes Ge­dächt­nis und war für sein ju­gend­­liches Al­ter auch recht be­le­sen. Seine Lieb­lings­the­men wa­ren der Ver­fall des Is­lam und die Flüch­tig­keit der Lie­be. Die an­de­ren lausch­ten ihm vol­ler Ent­zü­cken, denn für sie war die Dicht­kunst ­eine ge­sell­schaft­­liche, und nicht, wie über­wie­gend in Eng­land, ­eine pri­vate An­ge­le­gen­heit. Sie wur­den es nie­mals müde, Worte zu hö­ren und wie­der Wor­te. Sie at­me­ten sie mit der küh­len Nacht­luft ein und mach­ten sich auch über ihre Be­deu­tung nicht all­zu viel Ge­dan­ken. Der Name des Dich­ters – Haf­iz, Hali, Iq­bal – war in sich selbst schon Ge­währ. Das weite In­di­en – Hun­derte von Län­dern, die In­di­en hie­ßen – flüs­terte drau­ßen in der Nacht un­ter ­einem gleich­mü­ti­gen Mond vor sich hin. Aber im Au­gen­blick schien es für sie nur ein ein­zi­ges In­di­en zu ge­ben, das ihre, und sie ge­wan­nen ihre ehe­ma­­lige Grö­ße zu­rück, als sie den Ver­lust die­ser Grö­ße be­kla­gen hör­ten, sie fühl­ten sich selbst wie­der jung, weil sie an die Flüch­tig­keit der Ju­gend ge­mahnt wur­den. Ein schar­lach­ro­ter Die­ner un­ter­brach die Re­zi­ta­ti­on – der chu­prassi des bri­ti­schen Ober­arz­tes, der Aziz ein Stück Pa­pier aus­hän­dig­te.

»Der alte Cal­len­dar will mich in seinem Bun­ga­low se­hen«, ­sagte er, ohne An­stal­ten zum Auf­ste­hen zu ma­chen. »Er hätte im­mer­hin so höf­lich sein kön­nen, mich wis­sen zu las­sen, wa­rum.«

»Ir­gend­ein Krank­heits­fall, wür­de ich den­ken.«

»Nein, si­cher nicht, gar nichts. Er hat he­raus­ge­fun­den, wann wir beim Es­sen sit­zen, und es macht ihm Ver­gnü­gen, uns je­des Mal da­bei zu stö­ren, um uns seine Macht füh­len zu las­sen.«

»Ja, das stimmt schon, an­de­rer­seits mag es sich wirk­lich um et­was Ernst­haf­tes han­deln – man kann es ein­fach nicht wis­sen«, ­sagte Hami­dul­lah, Aziz mit eini­ger Rück­sicht ­einen Pfad zum Ge­hor­sam bah­nend. »Soll­test du dir nicht lie­ber erst den Mund spü­len, wenn du pan ge­kaut hast?«

»Wenn mein Mund erst ge­spült wer­den muss, gehe ich nicht. Ich bin In­der, und es ist ­eine in­di­sche Ge­wohn­heit, pan zu kau­en. Da­mit muss der Ober­arzt sich schon ab­fin­den. Mein Fahr­rad ­bit­te, Mo­ham­med La­tif.«

Der arme Ver­wandte stand auf. Dem Be­reich des Stoff­­lichen nur lose zu­ge­hö­rig, legte er le­dig­lich die Hand auf den Sat­tel, wäh­rend ein Die­ner den eigent­­lichen Trans­port über­nahm. Ge­mein­sam ho­ben sie das Rad über ­eine am Bo­den lie­gen­de Reiß­zwe­cke. Aziz hielt die Hän­de un­ter die Was­ser­kan­ne, trock­nete sie, drückte sich den grü­nen Filz­hut kleid­sam in die Stirn und schwirrte dann mit un­er­war­te­ter Ent­schlos­sen­heit die Stra­ße hi­nab.

»Aziz, Aziz, du un­vor­sich­ti­ger Ben­gel …« Aber er war be­reits mit­ten im Ba­sar­vier­tel, wie ein Wahn­sin­ni­ger in die Pe­da­le tre­tend. Er ­hatte keine Lam­pe, keine Klin­gel, keine Brem­se an seinem Rad. Aber was ha­ben Ne­ben­säch­lich­keiten wie die­se in ­einem Land zu be­sa­gen, in dem ein Rad­fah­rer nur die ­eine Hoff­nung hat, dass je­des der auf seinem Weg von ihm er­späh­ten Ge­sich­ter sich in Luft auf­löst, be­vor er da­mit zu­sam­men­prallt! Und um die­se Stun­de war es in der In­nen­stadt ziem­lich leer. Als ­einer der Reifen die Luft ver­lor, sprang Aziz ab und brüllte nach ­einer Ton­ga.

Zu­nächst konnte er freilich keine auf­treiben und musste auch erst das Fahr­rad im Haus ­eines Freun­des ab­stel­len. Weite­re Zeit ver­trö­delte er mit Mund­spü­len. Aber schließ­lich ras­selte er im Tri­umph­ge­fühl ho­her Ge­schwin­dig­keit der Be­am­ten­sied­lung zu. Als er ih­rer öden Ge­pflegt­heit an­sich­tig wur­de, über­fiel ihn plötz­lich ­eine ge­wis­se Nie­der­ge­schla­gen­heit. Die Stra­ßen, auf die Na­men sieg­reicher Ge­ne­ra­le ge­tauft und im rech­ten Win­kel sich kreu­zend, wa­ren sym­bo­lisch für das Netz, das Groß­bri­tan­ni­en über In­di­en ge­wor­fen ­hatte und in des­sen Ma­schen er sich jetzt ver­fing. Als er an Ma­jor Cal­len­dars Gar­ten­pforte an­lang­te, konnte er sich nur mit Mühe zu­rück­hal­ten, von der Ton­ga ab­zu­sprin­gen und den kleinen Weg bis zum Bun­ga­low zu Fuß zu­rück­zu­le­gen – mit eini­ger Mühe nicht des­halb, weil er ein un­ter­wür­fi­ges Ge­müt ­hatte, son­dern weil sein Ge­fühl – die emp­find­­liche­re Seite seines We­sens – ­eine gro­be Zu­recht­weisung be­fürch­te­te. Im vo­raus­ge­hen­den Jahr war es ein­mal zu ­einem be­son­de­ren »Fall« ge­kom­men. Ein vor­neh­mer In­der war am Haus ­eines bri­ti­schen Be­am­ten vor­ge­fah­ren, war aber vom Die­ner zur Um­kehr ge­nö­tigt und von ihm be­deu­tet wor­den, er sol­le auf an­ge­mes­se­ne Weise wie­der ­er­scheinen – ein ein­zi­ger »Fall« un­ter Tau­sen­den von Be­su­chen bei Hun­der­ten von Be­am­ten, aber ein leider weit­hin be­kannt ge­wor­de­ner Fall. Der jun­ge Mann wollte ihn keines­wegs wie­der­holt se­hen. Er ent­schloss sich zu ­einem Komp­ro­miss und ließ au­ßer­halb des breiten Licht­scheins hal­ten, der über die Ve­ran­da fiel.

Der Ober­arzt war nicht zu Hau­se.

»Aber der Sah­ib hat mir wohl Be­scheid hin­ter­las­sen?«

Der Die­ner er­wi­derte mit ­einem gleich­gül­ti­gen Nein. Aziz war in hel­ler Ver­zweif­lung. Es war ein Die­ner, dem er bei ­einer frü­he­ren Ge­le­gen­heit aus pu­rer Ver­gess­lich­keit kein Trink­geld ge­ge­ben ­hatte, und nun konnte er das nicht mehr nach­ho­len, weil Leute in der Vor­hal­le wa­ren. Er war über­zeugt, dass ­eine Nach­richt für ihn da war und dass der an­de­re sie ihm aus Ra­che vor­ent­hielt. Wäh­rend beide noch hin und her re­de­ten, tra­ten die Leute he­raus. Es wa­ren zwei Da­men. Aziz lüf­tete den Hut. Die ­eine, in gro­ßer Abend­to­i­let­te, streifte den In­der mit ­einem ein­zi­gen Blick und wandte sich ins­tink­tiv von ihm ab.

»Ja, Mrs. Les­ley, es ist ­eine Ton­ga«, rief sie auf­ge­regt.

»Un­se­re Ton­ga?«, ­fragte die Zweite, bei Aziz’ An­blick dem Beispiel der Ers­ten fol­gend.

»Man sollte die Ga­ben der Göt­ter nicht miss­ach­ten«, gellte sie, und beide spran­gen hi­nein. »Ton­ga Wal­lah, Klub, Klub. Wa­rum rührt der Idi­ot sich nicht von der Stel­le?«

»Fahr schon los – ich wer­de mor­gen be­zah­len«, ­sagte Aziz zu dem Kuli. Und als die­ser sich in Be­we­gung setz­te, rief er höf­lich: »Es ist mir ein Ver­gnü­gen, meine Da­men.« Sie ant­wor­te­ten nicht – sie wa­ren viel zu sehr mit ih­ren eige­nen An­ge­le­gen­heiten be­schäf­tigt.

Da war es nun also wie­der ein­mal pas­siert, das Üb­­liche – ge­ra­de wie Mah­moud Ali es vor­her be­schrie­ben ­hatte. Die un­ver­zeih­­liche Krän­kung: seine Ver­beu­gung über­se­hen, sein Ge­fährt in Be­schlag ge­nom­men. Ge­wiss hätte es noch schlim­mer kom­men kön­nen. Ir­gend­wie be­ru­higte es ihn, dass die Da­men Cal­len­dar und Les­ley kor­pu­lent wa­ren und mit ih­rem Schwer­ge­wicht den hin­te­ren Teil der Ton­ga her­un­ter­drück­ten. Schö­ne Frau­en wür­den ihm är­ger zu schaf­fen ge­macht ha­ben. Er wandte sich dem Die­ner zu, drückte ihm ein paar Ru­pien in die Hand und ­fragte noch­mals, ob nicht Be­scheid für ihn da sei. Je­ner wie­der­holte in sehr höf­­lichem Ton die frü­he­re Ant­wort. Ma­jor Cal­len­dar war ge­ra­de vor ­einer hal­ben Stun­de ab­ge­fah­ren.

»Ohne et­was zu be­mer­ken?«

In Wirk­lich­keit ­hatte er ge­sagt: »Die­ser ver­dammte Aziz!« – Wor­te, die der Die­ner wohl ver­stan­den ­hatte, die zu wie­der­ho­len er aber nun zu höf­lich war. Man kann zu­viel Trink­geld ge­ben und auch zu we­nig: die Mün­ze, mit der man sich die gan­ze Wahr­heit er­kauft, muss erst noch ge­prägt wer­den.

»Dann will ich ihm ein paar Zeilen schreiben.«

Der Die­ner wies mit ­einer groß­mü­ti­gen Geste ins In­ne­re des Hau­ses, aber Aziz glaubte es seiner Wür­de schul­dig zu sein, dies­seits der Schwel­le zu ver­har­ren. Auf die Ve­ran­da hi­naus wur­den ihm Pa­pier und Tinte ge­bracht. Er be­gann: »Sehr ge­ehr­ter Herr Ma­jor! Auf Ih­ren aus­drück­­lichen Be­fehl habe ich, wie es sich für ­einen Un­ter­ge­be­nen ge­hört, nicht ge­säumt –«. Er hielt inne. »Sag ihm, dass ich hier war – das ge­nügt«, rief er, seinen Pro­test in Stü­cke reißend. »Hier ist meine Kar­te. Be­sor­ge mir ­eine Ton­ga.«

»Hu­zoor – sie sind alle ge­ra­de beim Klub.«

»Dann be­stel­le mir te­le­fo­nisch ­eine am Bahn­hof.« Und da der Die­ner sich eilig an­schick­te, das Ge­wünschte zu tun, ­sagte er: »Schon gut, schon gut, ich möchte doch lie­ber zu Fuß ge­hen.« Er ließ sich ein Zünd­holz reichen und steckte sich ­eine Zi­ga­rette an. Die­se kleine Auf­merk­sam­keit ­hatte, wie­wohl er­kauft, et­was Be­ru­hi­gen­des für ihn. Er durfte auf Ent­spre­chen­des rech­nen, so­lan­ge er noch Ru­pien in der Ta­sche ­hatte – im­mer­hin et­was. Hätte er nur schon den Staub An­glo-In­di­ens von den Soh­len ge­schüt­telt, sich aus dem Netz he­raus­ge­wun­den, und sähe er sich nur wie­der Um­gangs­for­men und Ge­bär­den ge­gen­über, die ihm ver­traut wa­ren! Er be­gann, ­eine ihm un­ge­wohnte Tä­tig­keit, rasch aus­zu­schreiten.

Aziz war beh­en­de und klein und zier­lich ge­baut, aber im Grun­de recht kräf­tig. Den­noch er­mü­dete es ihn, zu Fuß zu ge­hen, was in In­di­en bis auf den Neu­an­kömm­ling je­den er­mü­det. Der Bo­den scheint et­was Feind­­liches an sich zu ha­ben. Er gibt ent­we­der nach, und man sinkt beim Ge­hen tief in ihn ein, oder er ist un­er­war­tet zäh und scharf­kan­tig, und mehr als ein­mal ver­spürt man, aus­schreitend, den Ge­gen­druck von Stein und Kris­tall. Nach ­einer Reihe solch kleiner Über­ra­schun­gen fühlt man sich ganz er­schöpft. Und Aziz trug oben­drein Schu­he, die keine Ab­sät­ze hat­ten – in je­dem Land ­eine für Fuß­gän­ger un­zu­läng­­liche Aus­rüs­tung. Am Au­ßen­rand der Be­am­ten­sta­ti­on schwenkte er in die Mo­schee ein, um hier ein we­nig zu ras­ten.

Er ­hatte ge­ra­de für die­se Mo­schee stets et­was üb­rig ge­habt. Sie war an­mu­tig ge­glie­dert, und die bau­­liche An­ord­nung ­sagte ihm zu. Im Hof, den er durch ein ver­fal­le­nes Tor be­trat, be­fand sich ein Reini­gungs­brun­nen mit flie­ßen­dem kla­rem Was­ser – Teil ­einer die gan­ze Stadt ver­sor­gen­den Zu­fluss­leitung. Die Pflas­te­rung des Ho­fes be­stand aus ge­bors­te­nen Plat­ten. Der über­dachte Teil der Mo­schee war weit­räu­mi­ger, als es sonst der Fall war – man fühlte sich bei seinem An­blick an ­eine eng­­lische Ge­mein­de­kir­che er­in­nert, bei der ­eine Seiten­wand fehlt. Von dort, wo Aziz saß, konnte er in drei Bo­gen­gän­ge hin­ein­b­licken, de­ren Dun­kel nur durch ­eine kleine Hän­ge­lam­pe und den Mond auf­ge­hellt war. Die Vor­der­wand schien, im vol­len Mond­licht, aus Mar­mor zu be­ste­hen, und auf dem Fries ho­ben sich die neun­und­neun­zig Na­men Got­tes schwärz­lich vom Stein­grund ab, wäh­rend der Fries selbst weiß leuch­tend vor dem nächt­­lichen Him­mel stand. Am Wett­streit der Ge­gen­sät­ze und am Wech­sel­spiel der Schat­ten im In­nern des Baus fand Aziz Ge­fal­len, und er ver­such­te, beidem sinn­bild­­liche Be­deu­tung für ir­gend­eine Wahr­heit der Lie­be oder der Re­­ligi­on ab­zu­ge­win­nen. Wann im­mer ­eine Mo­schee äs­the­ti­sches Wohl­ge­fal­len bei ihm er­weck­te, ver­mochte sie auch seine Ein­bil­dungs­kraft zu be­flü­geln. Der An­blick ­eines an­de­ren Tem­pels, sei es von Hin­dus, von Chris­ten oder von Grie­chen, wür­de ihn ge­lang­weilt, wür­de auch sein Schön­heits­ge­fühl un­be­teiligt ge­las­sen ha­ben. Hier aber war der Is­lam, war seine geis­ti­ge Heimat, mehr als ein Glau­be, als ein Schlacht­ruf, mehr, sehr viel mehr … Is­lam: ein Le­bens­gehäuse, das köst­lich-er­le­sen und gleich­zeitig dau­er­fest war und in dem sein Kör­per und seine Ge­dan­ken sich da­heim füh­len durf­ten.

Sein Ru­he­sitz be­fand sich auf ­einer nied­ri­gen Mau­er, die den Hof zur Lin­ken be­grenz­te. Vor seinen Fü­ßen fiel der Bo­den in Rich­tung der Stadt ein we­nig ab, die jetzt nicht mehr war als ein Schat­ten­ge­bil­de von Bäu­men, und in der Stil­le ver­nahm er vie­ler­lei fer­ne Lau­te. Zur Rech­ten, drü­ben im Klub­ge­bäu­de, steu­erte die eng­­lische Ko­lo­nie den Klang ­eines A­ma­teur­or­ches­ters dazu bei. Ir­gend­wo an­ders rühr­ten Hin­dus die Trom­meln – er wuss­te, dass es Hin­dus wa­ren, weil der Rhyth­mus dem seines We­sens zu­wi­der­lief –, wäh­rend an­de­re ­eine To­ten­kla­ge an­ge­stimmt hat­ten – er wuss­te, wer der Ver­stor­be­ne war, denn er ­hatte ihm erst am Nach­mit­tag den ärzt­­lichen To­ten­schein aus­ge­stellt. End­lich wa­ren Eu­len zu hö­ren und der Pand­schab-Ex­press … und aus dem Gar­ten des Sta­ti­ons­vor­ste­hers wehte be­rü­cken­der Blu­men­duft. Aber die Mo­schee – nur ihr war geis­ti­ge Wirk­lich­keit eigen, und dem viel­fäl­ti­gen An­ruf der Nacht sich ver­schlie­ßend, wandte er sich ihr wie­der zu und schmückte sie mit Be­deu­tun­gen, von de­nen ihr Er­bau­er sich nie hätte träu­men las­sen. Ei­nes Ta­ges wür­de auch er ­eine Mo­schee er­rich­ten las­sen, kleiner als die­se, aber von er­le­sens­tem Ge­schmack, auf dass alle, die zu­fäl­lig hier des We­ges ka­men, das gleiche Ge­fühl der Glück­selig­keit aus­kos­ten durf­ten, das er selbst jetzt emp­fand. Und ganz in ih­rer Nähe soll­te, in ­einem nied­ri­gen Ge­wöl­be, sein Grab sich be­fin­den, mit ­einer per­si­schen In­schrift:

»Ohne mich wird nun, wehe, vie­le Jahr­tau­sen­de

Die Rose er­blü­hen, der Früh­ling er­schim­mern,

Aber wer im Ge­heimen mein Herz ver­stan­den hat,

Wird her­pil­gern zu dem Grab, das mir Ru­he­statt ist.«

Er ­hatte die­sen Vier­zeiler einst auf dem Grab ­eines Kö­nigs im De­khan er­blickt und be­trach­tete ihn als Aus­druck ­einer tief­sin­ni­gen Welt­an­schau­ung – stets setzte er das Pa­the­ti­sche mit dem Tief­grün­di­gen gleich. Das ge­heime Ver­ste­hen des Her­zens! Mit Trä­nen im Auge wie­der­holte er die Flos­kel, und wäh­rend­des­sen schien ­eine der Mo­schee­säu­len ins Wan­ken zu ge­ra­ten. Sie bebte in der Düs­ter­nis, schien sich ab­zu­son­dern. Geis­ter­glau­be spukte ihm im Blut, aber er rührte sich nicht von der Stel­le. Eine zweite Säu­le be­wegte sich, ­eine drit­te, und dann trat ins Mond­licht hi­naus die Ge­stalt ­einer Frau – ­einer Eng­län­de­rin. Plötz­lich von Wut ge­packt, rief er laut: »Ma­dam! Ma­dam! Ma­dam!«

»Oh, oh«, hauchte er­schro­cken die Frau.

»Ma­dam, dies ist ­eine Mo­schee. Sie ha­ben kein Recht, sie zu be­tre­ten! Sie hät­ten Ihre Schu­he ab­le­gen sol­len. Dies ist für Mos­lems ­eine hei­lige Stät­te.«

»Ich habe die Schu­he ab­ge­legt.«

»Tat­säch­lich?«

»Ich habe sie am Ein­gang ge­las­sen.«

»Dann bitte ich um Ver­zeihung.«

Noch im­mer er­schro­cken, be­wegte die Frau sich dem Aus­gang zu, wo­bei sie sich ab­sicht­lich auf der an­de­ren Seite des Reinigungs­brun­nens hielt. »Ich bitte auf­rich­tig um Ver­zeihung für meine Wor­te«, rief er ihr nach.

»Ja, es war doch al­les in Ord­nung, nicht wahr? Wenn ich meine Schu­he aus­zie­he, bin ich doch zu­ge­las­sen?«

»Na­tür­lich. Aber so we­ni­ge Da­men neh­men sich die­se Mühe, vor al­lem, wenn sie glau­ben, dass es nie­mand sieht.«

»Das macht doch nicht den ge­rings­ten Un­ter­schied. Gott ist hier.«

»Ma­dam!«

»Bitte las­sen Sie mich nun ge­hen.«

»Oh, kann ich Ih­nen jetzt oder ein an­de­res Mal in ir­gend­einer Weise ge­fäl­lig sein?«

»Nein, dan­ke schön, wirk­lich nicht – Gute Nacht.«

»Darf ich wohl Ih­ren Na­men wis­sen?«

Sie stand nun im Schat­ten des Tor­wegs, sodass er ihr Ge­sicht nicht er­ken­nen konn­te, aber sie sah das seine und ­sagte mit ­einem Wech­sel der Stim­me: »Mrs. Moo­re.«

»Mrs. –.« Ein paar Schritte vor­tre­tend, be­merkte er, dass sie gar keine jun­ge Frau mehr war. Ein Tra­um­schloss, leuch­ten­der als die Mo­schee, sank in Trüm­mer, und er wusste nicht, ob er froh sein sollte oder be­trübt. Sie war äl­ter als die Hami­dul­lah-Be­gum, ­hatte ein röt­­liches Ge­sicht und weißes Haar. Ihre Stim­me ­hatte ihn ge­täuscht.

»Mrs. Moo­re, ich fürch­te, ich habe Sie er­schreckt. Ich wer­de meinen Glau­bens­brü­dern – un­se­ren Freun­den – be­rich­ten, was Sie ge­sagt ha­ben. Dass Gott hier ist – wie gut, wie schön das klingt! Sie sind wohl noch nicht lan­ge in In­di­en?«

»Gar nicht lan­ge. Aber wo­ran er­ken­nen Sie das?«

»An der Art, wie Sie mit mir spre­chen. Nein, nicht nur das. Aber darf ich Ih­nen ­einen Wa­gen ho­len?«

»Ich bin nur eben vom Klub ­einen Mo­ment he­rü­ber­ge­kom­men. Sie füh­ren dort ein Stück auf, das ich schon in Lon­don ge­se­hen habe, und im Saal war es so heiß.«

»Was ist denn das für ein Stück?«

»›Cou­sin Kate‹.«

»Sie soll­ten bei Nacht hier lie­ber nicht al­lein spa­zie­ren­ ge­hen, Mrs. Moo­re. Es treibt sich al­ler­hand Ge­sin­del he­rum, und von den Mara­bar-Hü­geln wa­gen sich mit­un­ter so­gar Le­o­par­den hier­her. Auch Schlan­gen.«

Sie stieß ­einen Laut des Schre­ckens aus. An die Schlan­gen ­hatte sie nicht mehr ge­dacht.

»Oder auch ein be­stimm­ter Kä­fer mit sechs Pünkt­chen auf den Flü­geln. Sie le­sen ihn auf, er sticht, und Sie müs­sen ster­ben.«

»Aber Sie ge­hen ja selbst hier spa­zie­ren!«

»Oh, ich bin es ge­wohnt.«

»Die Schlan­gen ge­wohnt?«

Beide lach­ten. »Ich bin Arzt«, ­sagte er. »Schlan­gen trau­en sich nicht an mich he­ran.« Seite an Seite lie­ßen sie sich in dem weiten Ein­gangs­tor nie­der und streif­ten sich die Schu­he wie­der über.

»Darf ich bitte noch ­eine Fra­ge an Sie rich­ten? Wa­rum kom­men Sie eigent­lich um die­se Zeit des Jah­res nach In­di­en, aus­ge­rech­net jetzt, wo das küh­le Wet­ter zu Ende geht?«

»Ur­sprüng­lich ­hatte ich die Ab­sicht, frü­her zu kom­men, aber es gab ­einen un­ver­meid­­lichen Auf­schub.«

»Bald wird es hier ganz un­ge­sund für Sie sein. Und wa­rum kom­men Sie aus­ge­rech­net nach Tschan­dra­pur?«

»Um meinen Sohn zu be­su­chen. Er ist der Rich­ter für die­se Stadt!«

»Aber nein, ent­schul­di­gen Sie, das ist ja un­mög­lich. Der Rich­ter in un­se­rer Stadt heißt Mr. Hea­slop. Ich ken­ne ihn ganz ge­nau.«

»Er ist trotz­dem mein Sohn«, ­sagte sie lä­chelnd.

»Aber Mrs. Moo­re – wie kann er das sein?«

»Ich war zweimal ver­heira­tet.«

»Ja, nun ver­ste­he ich. Und Ihr ers­ter Gatte ist ge­stor­ben.«

»Ja­wohl, und auch mein zweiter Mann.«

»Dann sind wir ge­nau in der­sel­ben Lage«, ­sagte er ge­heim­nis­voll. »Dann ist der Rich­ter in die­ser Stadt der Ein­zi­ge, der Ih­nen von al­len Ih­ren An­ge­hö­ri­gen ge­blie­ben ist?«

»Nein, ich habe noch zwei jün­ge­re Kin­der – Ralph und Stel­la, die in Eng­land le­ben.«

»Und der Herr hier in der Stadt – er ist Ralphs und Stel­las Halb­bru­der?«

»Ganz rich­tig.«

»Mrs. Moo­re – das ist al­les un­ge­heu­er selt­sam, weil auch ich, ge­nau wie Sie, zwei Söh­ne und ­eine Toch­ter habe. Ist das nicht ­eine merk­wür­di­ge Zu­falls­fü­gung?«

»Wie heißen denn Ihre Kin­der? Doch nicht wohl auch Ron­ny, Ralph und Stel­la?«

Die Fra­ge ent­zückte ihn. »Nein, das nun wirk­lich nicht. Wie ko­misch das klingt! Sie heißen ganz an­ders – Sie wer­den über­rascht sein. Hö­ren Sie bit­te. Ich wer­de Ih­nen jetzt die Na­men meiner Kin­der sa­gen: das erste heißt Ach­med, das zweite Ka­rim, das dritte – die Erst­ge­bo­re­ne – ist Dsch­emila. Drei Kin­der sind ge­nug. Ist das nicht auch Ihre Meinung?«

»O ja.«

Beide ver­san­ken für ­einen Au­gen­blick in Schweigen und ge­dach­ten ih­rer eige­nen Spröss­lin­ge. Mrs. Moo­re er­hob sich mit ­einem Seuf­zer.

»Hät­ten Sie nicht ein­mal Lust, sich früh­mor­gens das Minto-Kran­ken­haus an­zu­se­hen?«, ­fragte er. »Et­was an­de­res habe ich Ih­nen in Tschan­dra­pur nicht zu bie­ten.«

»Dan­ke schön, ich habe es be­reits ge­se­hen. Sonst hätte ich es mir wirk­lich gern von Ih­nen zeigen las­sen.«

»Dann hat es Ih­nen wohl der Ober­arzt ge­zeigt?«

»Ja­wohl, er und Mrs. Cal­len­dar.«

Seine Stim­me wech­selte den Klang. »Oh, ­eine wirk­lich reizen­de Dame!«

»Mög­­licher­weise. Wenn man sie et­was nä­her kennt.«

»Wie? Was? Sie hat Ih­nen nicht ge­fal­len?«

»Sie hat es durch­aus nicht an Freund­lich­keit feh­len las­sen, nur fin­de ich sie nicht ge­ra­de reizend.«

»Sie hat eben erst ohne meine Ein­wil­­ligung meine Ton­ga ent­führt«, brach Aziz aus. »Nen­nen Sie so et­was reizend? – Und Ma­jor Cal­len­dar stört mich Abend für Abend beim Es­sen. Er lässt mich aus dem Haus meiner Freun­de ho­len, und ich habe so­fort zu ihm zu ge­hen und ­eine höchst an­re­gen­de Un­ter­hal­tung ab­zu­bre­chen, und dann ist er nicht da – nicht ein­mal ­eine Bot­schaft von ihm. Bitte schön – ist das reizend? Aber was kommt es schon drauf an! Ich kann mich ja nicht zur Wehr set­zen, und das weiß er. Ich bin nur ein Un­ter­ge­be­ner, und meine eige­ne Zeit ist al­les an­de­re als kost­bar. Für ­einen In­der ist die Ve­ran­da ge­ra­de gut ge­nug, ja, ja­wohl, wa­rum sollte er sich auch nie­der­set­zen? Und Mrs. Cal­len­dar nimmt meine Ton­ga – ich bin ein­fach Luft für sie!«

Mrs. Moo­re hielt ihm ihr Ohr zu­ge­neigt.

In Er­re­gung ge­ra­ten war Aziz zum ­einen bei dem Ge­dan­ken an die ihm an­ge­ta­ne Krän­kung, in weit hö­he­rem Maße aber des­halb, weil ein an­de­rer Mensch ihm Teil­nah­me schenk­te. Und das war es auch, was ihn zu Wie­der­ho­lun­gen, Über­treibun­gen, Wi­der­sprü­chen ver­führ­te. Sie ­hatte ihm ihr Mit­ge­fühl da­durch be­wie­sen, dass sie ihm ge­gen­über Kri­tik an ­einer an­de­ren Eng­län­de­rin übte. Aber selbst vor­her schon war er die­ses Mit­ge­fühls ge­wiss ge­we­sen. Die Flam­me, die nicht ein­mal der An­blick blo­ßer Schön­heit ent­zün­den kann, lo­derte auf, und wenn seine Worte auch weh­leidig klan­gen, so be­gann sein Herz doch im Ge­heimen zu glü­hen. Und so­gleich ging ihm die Zun­ge über.

»Sie ver­ste­hen mich, Sie wis­sen, wie ­einem Men­schen zu­mute ist. Oh, wenn doch auch die an­de­ren Ih­nen ähn­lich wä­ren!«

Et­was über­rascht er­wi­derte sie: »Ich glau­be, ich ver­ste­he von an­de­ren Men­schen nicht viel. Ich weiß nur, ob ich sie gern habe oder nicht.«

»Dann sind Sie Ori­en­ta­lin!«

Sie ließ sich, wie er es vor­ge­schla­gen ­hatte, von ihm zum Klub zu­rück­be­gleiten und be­merkte an der Tür, sie wünsch­te, sie wäre selbst Mit­glied, weil sie ihn dann mit hätte he­rein­bit­ten kön­nen.

»Im Klub von Tschan­dra­pur sind In­der nicht ein­mal als Gäste zu­ge­las­sen«, ­sagte er ein­fach. Er ver­breitete sich auch nicht weiter über die ihm an­ge­ta­nen Krän­kun­gen, denn er fühlte sich glück­lich. Als er un­ter dem lieb­­lichen Mond hü­gel­ab wan­derte und die lieb­­liche Mo­schee wie­der vor sich er­blick­te, war es ihm, als habe er nicht we­ni­ger Be­sitz­an­recht auf das gan­ze Land als ir­gend­einer der an­de­ren. Was lag schon da­ran, dass ein paar schwäch­­liche Hin­dus be­reits vor ihm da wa­ren, ein paar fros­ti­ge Eng­län­der noch nach ihm da sein wür­den!

3

Als Mrs. Moo­re den Klub­saal wie­der be­trat, war man schon mit­ten im drit­ten Akt der Auf­füh­rung von »Cou­sin Kate«. Die Fens­ter wa­ren ver­hängt, da­mit die Die­ner ihre Mem­sahibs nicht schau­spie­lern se­hen konn­ten, und in­fol­ge­des­sen war die Hit­ze ganz un­er­träg­lich. Ei­ner der elekt­ri­schen Ven­ti­la­to­ren wir­belte um sich selbst wie ein wun­der Vö­gel, ein an­de­rer funk­ti­o­nierte nicht. Da Mrs. Moo­re keine Lust ver­spür­te, sich wie­der un­ter die Zu­schau­er zu mi­schen, suchte sie statt­des­sen das Bil­lard­zim­mer auf, in dem sie mit dem Aus­ruf: »Ich möchte aber et­was vom wah­ren In­di­en se­hen!«, be­grüßt wur­de, und schon ­hatte das ihr zu­ge­teilte Da­sein wie­der Be­sitz von ihr er­grif­fen. Der Aus­ruf kam von Ad­ela Ques­ted, dem selt­sa­men, vor­sich­ti­gen jun­gen Mäd­chen, das sie im Auf­trag Ron­nys aus Eng­land ­hatte her­über­brin­gen müs­sen, und Ron­ny war ihr – gleich­falls vor­sich­ti­ger – Sohn, der Miss Ques­ted mit eini­ger Wahr­schein­lich­keit, wenn auch nicht mit al­ler Be­stimmt­heit heira­ten wür­de, und sie selbst war ­eine et­was ält­­liche Dame.

»Auch ich möchte et­was da­von se­hen und wünschte nur, wir bräch­ten es wirk­lich fer­tig. Of­fen­bar wol­len die Tur­tons am nächs­ten Diens­tag ir­gend­et­was ver­an­stal­ten.«

»Das wird, wie im­mer, mit ­einem E­le­fan­ten­ritt en­den. Denk nur an die­sen Abend. ›Cou­sin Kate‹. Stell dir vor: ›Cou­sin Kate‹. Aber wo bist du denn in der Zwi­schen­zeit ge­we­sen? Ist es dir ge­lun­gen, den Mond dies­mal im Gan­ges schim­mern zu se­hen?«

Zu­fäl­lig hat­ten beide Frau­en am Abend vor­her in ­einem fer­ner ge­le­ge­nen Seiten­ka­nal des Stro­mes den Wi­der­schein des Mon­des er­blickt, freilich vom Was­ser so sehr in die Län­ge ge­zo­gen, dass er grö­ßer wirkte als der rich­ti­ge Mond, und hel­ler dazu, und das ­hatte ih­nen Ver­gnü­gen be­reitet.

»Ich bin bis zur Mo­schee ge­kom­men, habe aber leider nichts vom Mond ge­se­hen.«

»Heute wäre wohl auch der Win­kel et­was an­ders – er geht erst spä­ter auf.«

»Spä­ter und im­mer spä­ter«, gähnte Mrs. Moo­re, die sich nach ih­rem Spa­zier­gang et­was müde fühl­te. »Lass mich nach­den­ken – wir se­hen hier nichts von der an­de­ren Seite des Mon­des, nein.«

»Aber, aber, so schlimm ist es mit In­di­en nun wie­der nicht«, ­sagte ­eine freund­­liche Stim­me. »Die an­de­re Seite der Erde, na schön, aber wir hal­ten es noch im­mer mit dem gleichen al­ten Mond.« Keine der beiden Frau­en kannte den Spre­cher, und keine sollte ihn je wie­der zu Ge­sicht be­kom­men. Mit seinem gut ge­mein­ten Wort ent­schwand er hin­ter den ro­ten Back­stein­säu­len im Dun­kel.

»Wir be­kom­men nicht ein­mal et­was von der an­de­ren Seite der Welt zu se­hen – das ist un­ser Kum­mer«, be­merkte Ad­ela. Mrs. Moo­re stimmte ihr zu. Auch sie war über die Reiz­lo­sig­keit ih­res neu­en Le­bens ent­täuscht. Ihre Reise, die sie zu­nächst über das Mit­tel­meer und dann zwi­schen den Sand­flä­chen Ägyp­tens hin­durch bis zum Ha­fen von Bom­bay ge­führt ­hatte, war so ro­man­tisch ge­we­sen, und nur an ih­rem End­punkt hat­ten sie nichts an­de­res vor­ge­fun­den als den Git­ter­rost ­einer Bun­ga­low­sied­lung. Aber sie nahm die Ent­täu­schung nicht ganz so schwer wie Miss Ques­ted – sie war im­mer­hin vier­zig Jah­re äl­ter und ­hatte er­fah­ren, dass das Le­ben uns nie­mals in dem Au­gen­blick un­se­re Wün­sche er­füllt, den wir für den rich­ti­gen hal­ten. Ge­wiss er­eig­net sich al­ler­hand Aben­teu­er­­liches, aber nie­mals auf die Mi­nute pünkt­lich. Noch­mals be­merkte sie, sie hof­fe, dass am fol­gen­den Diens­tag ir­gend­et­was In­te­res­san­tes zu­stan­de kom­men wer­de.

»Las­sen Sie sich et­was ein­schen­ken«, ­sagte ­eine an­de­re freund­­liche Stim­me – »Mrs. Moo­re – Miss Ques­ted – las­sen Sie sich beide Ihr Glas fül­len!« Dies­mal wuss­ten sie, wes­sen Stim­me es war – die des Ver­wal­tungs­di­rek­tors Mr. Tur­ton, in des­sen Haus sie zu Abend ge­ges­sen hat­ten. Ganz wie ih­nen, war es auch ihm bei »Cou­sin Kate« et­was zu heiß ge­wor­den. Ron­ny, be­rich­tete er ih­nen, ver­träte heute Abend Ma­jor Cal­len­dar, den ir­gend­ein in­di­scher Un­ter­ge­be­ner hätte sit­zen las­sen, in der Rol­le des Büh­nen­ins­pi­zi­en­ten, und er ma­che seine Sa­che vor­treff­lich. Dann ließ er sich über Ron­nys Vor­zü­ge aus und äu­ßerte ru­hig und ent­schie­den al­ler­hand Schmeichel­haf­tes über ihn. Nicht, dass der jun­ge Mann sich auf sprach­­lichem oder sport­­lichem Ge­biet be­son­ders her­vor­tat oder dass er auch das der Ju­ris­pru­denz schon be­herrsch­te. Aber – und das war of­fen­bar ein ge­wich­ti­ges Aber – Ron­ny ­hatte per­sön­­liche Wür­de.

Mrs. Moo­re ver­nahm es zu ih­rer Über­ra­schung, denn Wür­de ge­hört an sich nicht ge­ra­de zu den Ei­gen­schaf­ten, die ­eine Mut­ter ih­rem Sohn zu­zu­trau­en pflegt. Miss Ques­ted ver­nahm es mit ­einer ge­wis­sen Be­sorg­nis, denn sie war sich noch nicht da­rü­ber im Kla­ren, ob sie für wür­di­ge Män­ner all­zu viel üb­rig ­hatte. Tat­säch­lich ver­suchte sie, die­se Fra­ge mit Mr. Tur­ton zu er­ör­tern, aber er ver­wies sie mit ­einer gut­ge­laun­ten Hand­be­we­gung zum Schweigen und fuhr fort zu äu­ßern, was zu äu­ßern er eigent­lich ge­kom­men war. »Kurz und gut – Hea­slop ist ein Sah­ib. Er ist ­einer von de­nen, die wir hier brau­chen. Er ist ­einer der Un­se­ren.« Und ein an­de­rer Zi­vi­list, der sich ge­ra­de über den Bil­lard­tisch beug­te, ­sagte ver­nehm­lich: »Hört, hört!« Da­mit war die gan­ze Fra­ge dem Be­reich des Zweifels ent­rückt, und der Ver­wal­tungs­di­rek­tor durfte seinen Weg fort­set­zen, denn es rie­fen ihn an­de­re Pflich­ten.

In­zwi­schen war die The­a­ter­auf­füh­rung am Ende an­ge­langt, und das A­ma­teur­or­ches­ter spielte die Na­ti­o­nal­hym­ne. Un­ter­hal­tung und Bil­lard­spiel bra­chen ab, die Ge­sich­ter nah­men ­einen steife­ren Aus­druck an. Es war die Hym­ne der Be­sat­zungs­ar­mee, und die Klub­mit­glie­der, Män­ner und Frau­en, fühl­ten sich da­ran er­in­nert, dass sie Bri­ten wa­ren – Bri­ten im Exil. Sie hat­ten ihr ein we­nig Rüh­rung zu dan­ken und ­einen nütz­­lichen Zu­wachs an Wil­lens­kraft. Die dürf­ti­ge Weise und die kur­ze Ab­fol­ge der an Jehova ge­stell­ten An­sprü­che ver­schmol­zen zu ­einem Ge­bet, wie es in Eng­land un­be­kannt war, und wenn die Teil­neh­mer am Ge­sang auch we­der von der ir­di­schen noch von der himm­­lischen Ma­jes­tät ­eine deut­­liche Vor­stel­lung hat­ten, so hat­ten sie gleich­wohl ir­gend­eine Vor­stel­lung und fühl­ten sich so weit ge­stärkt, dass sie dem kom­men­den Tag mit Fas­sung ins Auge b­licken konn­ten. Dann füll­ten sie die Glä­ser und bo­ten sich ge­gen­seitig et­was zum Trin­ken an.

»Ad­ela – hier! Mut­ter – auch et­was!«

Die An­ge­spro­che­nen lehn­ten dan­kend ab – sie hat­ten mehr als ge­nug von drinks –, und Miss Ques­ted, die im­mer ge­ra­de­he­raus ­sagte, was ihr in den Sinn kam, er­klärte von Neu­em, dass sie un­be­dingt et­was vom wirk­­lichen In­di­en ken­nen­ler­nen wol­le.

Ron­ny war in bes­ter Stim­mung. Ad­elas Be­geh­ren mu­tete ihn ko­misch an, und er rief ­einem der in der Nähe Vo­rü­ber­streifen­den zu: »Fiel­ding! Wie kann man et­was vom wirk­­lichen In­di­en ken­nen­ler­nen?«

»In­dem man In­der ken­nen­zu­ler­nen sucht«, er­wi­derte je­ner und löste sich wie­der in Luft auf.

»Wer war denn das?«

»Un­ser Schul­meis­ter – vom Be­am­ten­se­mi­nar.«

»Als ob man je ver­meiden könn­te, sie ken­nen­zu­ler­nen«, seufzte Mrs. Les­ley.

»Bis­her habe ich es leider er­folg­reich ver­mie­den«, ­sagte Miss Ques­ted. »Ab­ge­se­hen von meinem eige­nen Die­ner habe ich seit der Lan­dung kaum mit ­einem ein­zi­gen In­der ein Wort ge­wech­selt.«

»Oh, Sie Glück­­liche!«

»Aber ich möchte sie ken­nen­ler­nen.«

Ad­ela war nun der Mit­tel­punkt ­einer gan­zen Grup­pe be­lus­tig­ter Da­men. »Sich zu wün­schen, In­der ken­nen­zu­ler­nen! Wie neu das klingt!«, ­sagte ­eine, und ­eine an­de­re: »Ein­ge­bo­re­ne – man stel­le sich vor!« Aber ­eine drit­te, erns­ter ge­sinnte be­merk­te: »Las­sen Sie mich bitte er­klä­ren. Wenn wir mit Ein­ge­bo­re­nen per­sön­lich be­kannt wer­den, heißt das noch lan­ge nicht, dass sie uns des­halb auch mehr res­pek­tie­ren.«

»Was al­ler­dings nicht nur im Fall von Ein­ge­bo­re­nen gilt.« Aber die Spre­che­rin, so tö­rich­ten wie freund­­lichen Her­zens, fuhr fort: »Was ich sa­gen wollte – ich war vor meiner Heirat Kran­ken­pfle­ge­rin und ­hatte be­ruf­lich ­eine gan­ze Men­ge mit In­dern zu tun. Da­rum weiß ich Be­scheid. Ich weiß, wie es sich mit In­dern in Wahr­heit ver­hält. Eine denk­bar un­ge­eig­nete Stel­lung für ­eine Eng­län­de­rin – ich war Kran­ken­haus­schwes­ter in ­einem der in­di­schen Fürs­ten­staa­ten. Die ein­zi­ge Hoff­nung, die mir blieb, war die, mich völ­lig ab­seits zu hal­ten.«

»Selbst von den Pa­ti­en­ten?«

»Das Bes­te, was man ­einem Ein­ge­bo­re­nen an­tun kann, ist, ihn um­kom­men zu las­sen«, er­klärte Mrs. Cal­len­dar.

»Wenn er nun aber in den Him­mel käme?«, ­fragte Mrs. Moo­re mit ­einem sanf­ten, ob­schon et­was hin­ter­häl­ti­gen Lä­cheln.

»Er kann hin­ge­hen, wo es ihm Spaß macht – Haupt­sa­che, dass er nicht in meine Nähe kommt. Beim An­blick von In­dern wird mir im­mer ganz an­ders.«

»Ich habe mir schon öf­ter Ge­dan­ken ge­macht über das, was Sie in Be­zug auf den Him­mel sa­gen. Da­rum bin ich auch ge­gen die Mis­si­o­na­re«, ­sagte die Dame, die ein­mal Kran­ken­schwes­ter ge­we­sen war. »Ich bin durch­aus für Mi­­litär­geist­­liche, aber ge­gen Mis­si­o­na­re. Las­sen Sie mich er­klä­ren.«

Aber be­vor sie dazu aus­ho­len konn­te, griff der Ver­wal­tungs­direk­tor wie­der in die Un­ter­hal­tung ein.

»Möch­ten Sie wirk­lich den ari­schen Bru­der ken­nen­ler­nen, Miss Ques­ted? Das lässt sich ohne Weite­res be­werk­stel­­ligen. Ich ­hatte keine Ah­nung, dass Ih­nen so et­was Ver­gnü­gen ma­chen wür­de.« Er dachte ­einen Au­gen­blick nach. »Ich kann Sie mit je­dem er­denk­­lichen Ty­pus zu­sam­men­brin­gen. Sie brau­chen mir nur zu sa­gen, mit wel­chem. Ich ken­ne die Leu­te, die mit der Re­gie­rung zu tun ha­ben, und ich ken­ne die Groß­grund­be­sit­zer. Un­ser Freund Hea­slop kann die An­wälte her­beibe­or­dern, wo­ge­gen wir uns auf Fiel­ding ver­las­sen dür­fen, wenn Sie es spe­zi­ell auf das Er­zie­hungs­we­sen ab­ge­se­hen ha­ben soll­ten.«

»Ich bin es et­was müde, ma­le­ri­sche Ge­stal­ten an mir vo­rü­ber­zie­hen zu se­hen, wie auf ­einem Wan­del­bild«, er­klärte die jun­ge Dame. »Beim Lan­den fan­den wir al­les so groß­ar­tig, aber der ober­fläch­­liche Reiz stumpft bald ab.«

Ihre per­sön­­lichen Ein­drü­cke wa­ren für den Ver­wal­tungs­di­rek­tor ohne je­des In­te­res­se – es war ihm le­dig­lich da­rum zu tun, ihr den Auf­ent­halt in In­di­en so an­ge­nehm wie mög­lich zu ma­chen. Ob sie wohl Lust auf ­eine Bridge-Par­ty ­hatte? Er er­klärte ihr, was das war – nicht etwa das wohl­be­kannte Kar­ten­spiel die­ses Na­mens, son­dern ­eine Par­ty, die die Kluft zwi­schen Ost und West über­brü­cken hel­fen soll­te. Er selbst ­hatte den Aus­druck ge­prägt, und die­ser be­lus­tigte alle, die ihn zu hö­ren be­ka­men.

»Ich möchte nur die In­der ken­nen­ler­nen, mit de­nen Sie ge­sell­schaft­lich ver­keh­ren – Ihre Freun­de.«

»Nun, ge­sell­schaft­lich ver­keh­ren wir eigent­lich nicht weiter mit ih­nen«, ­sagte er lä­chelnd. »Sie ha­ben alle er­denk­­lichen Tu­gen­den, und trotz­dem hal­ten wir sie uns vom Leibe, und es ist nun halb zwölf, und also zu spät, die Grün­de da­für auf­zu­zäh­len.«

»Miss Ques­ted – was für ein Name«, be­merkte Mrs. Tur­ton, als sie sich mit ih­rem Mann auf der Rück­fahrt be­fand. Sie ­hatte die jun­ge Dame nicht ge­ra­de ins Herz ge­schlos­sen – in ih­ren Au­gen war sie un­ma­nier­lich und ver­schro­ben. Hof­fent­lich war sie nicht he­rü­ber­ge­schleppt wor­den, um sich mit dem net­ten kleinen Hea­slop zu ver­heira­ten. Nur sah es leider so aus. Im Stil­len pflich­tete ihr Mann ihr bei. Aber er äu­ßer­te, wenn es sich ir­gend um­ge­hen ließ, nie­mals ein bö­ses Wort über ­eine Eng­län­de­rin, und da­rum be­merkte er le­dig­lich, Miss Ques­ted hege na­tür­lich ge­wis­se ir­ri­ge Vor­stel­lun­gen. Er fügte hin­zu: »In­di­en wirkt Wun­der in Be­zug auf das per­sön­­liche Ur­teil, vor al­lem zur heißes­ten Zeit des Jah­res. Es hat auch bei Fiel­ding Wun­der ge­wirkt.« Bei Er­wäh­nung die­ses Na­mens schloss Mrs. Tur­ton die Au­gen und er­klär­te, dass Mr. Fiel­ding nicht pu­kka sei, und lie­ber sol­le er Miss Ques­ted heira­ten, denn sie sei gleich­falls nicht pu­kka. Dann lang­ten beide an ih­rem Bun­ga­low an, der, nied­rig und weit­läu­fig, das äl­teste und un­be­quemste Haus in der gan­zen Be­am­ten­sied­lung war und ­einen Ra­sen­platz ­hatte, der wie ein ein­ge­las­se­ner Sup­pen­tel­ler aus­sah. Sie ge­neh­mig­ten sich noch ­einen weite­ren drink, der freilich nur aus Spru­del be­stand, und gin­gen dann zu Bett. Ihr Auf­bruch vom Klub ­hatte dem Abend dort vor­zeitig ein Ende ge­setzt, der, wie alle ähn­­lichen Ver­an­stal­tun­gen, ­einen of­fi­zi­el­len An­strich ge­habt ­hatte. Eine Ge­mein­schaft, die vor ­einem Vi­ze­kö­nig das Knie beugt und des Glau­bens ist, dass die ­einen Kö­nig um­ge­ben­de Gött­lich­keit über­trag­bar sei, muss auch vor je­dem vize­kö­nig­­lichen Er­satz Ehr­furcht emp­fin­den. In Tschan­dra­pur wa­ren die Tur­tons wie kleine Göt­ter. Bald je­doch wür­den sie sich in ir­gend­einer Vor­ort­vil­la zur Ruhe set­zen und, fern der Stätte ih­rer eins­ti­gen Herr­lich­keit, im Exil ihre Le­bens­ta­ge be­schlie­ßen.

»Es war doch sehr an­stän­dig von dem ho­hen Herrn«, schwatzte Ron­ny, der über die seinen Gäs­ten er­wie­se­ne Lie­bens­wür­dig­keit sehr be­frie­digt war. »Wisst ihr, dass er bis­her noch nie­mals ­eine Bridge-Par­ty ver­an­stal­tet hat? Und für euch hat er so­gar schon ein of­fi­zi­el­les Es­sen ge­ge­ben. Ich wünsch­te, ich hätte sel­ber et­was ar­ran­gie­ren kön­nen. Aber so­bald ihr die Ein­ge­bo­re­nen ein biss­chen ge­nau­er kennt, wer­det ihr ver­ste­hen, dass es für den Burra Sah­ib ein­fa­cher ist als für mich. Ih­nen ist er ja kein Frem­der – sie wis­sen auch, dass er sich nichts vor­ma­chen lässt –, und ich sel­ber bin noch nicht lan­ge ge­nug im Lan­de. Kein Mensch darf sich ein­bil­den, die­ses Land zu ken­nen, wenn er nicht min­des­tens zwan­zig Jah­re hier ge­lebt hat. Ach, da ist ja Mut­ter! Hier ist dein Man­tel. Tja – nur ein Beispiel für die Art Irr­tü­mer, die man sich hier leis­tet. Kurz nach­dem ich he­rü­ber­ge­kom­men war, lud ich mal ­einen in­di­schen Ver­teidi­ger ein, ­eine Zi­ga­rette mit mir zu rau­chen – bitte schön, ­eine ein­zi­ge Zi­ga­ret­te. Spä­ter kam ich da­hin­ter, dass im gan­zen Ba­sar­vier­tel je­der seiner Un­terl­in­ge die­se Tat­sa­che an die gro­ße Glo­cke ­hatte hän­gen und al­len Pro­zess­lus­ti­gen ­hatte ver­si­chern müs­sen: ›Oh, kommt nur zu meinem Va­kil Mah­moud Ali – er ist gut Freund mit dem Rich­ter!‹ Seit­dem habe ich ihn mir vor Ge­richt im­mer be­son­ders scharf vor­ge­knöpft. Je­den­falls war das Gan­ze ­eine Lek­ti­on für mich, und für ihn hof­fent­lich auch.«

»Be­steht aber die Lek­ti­on nicht da­rin, dass du alle in­di­schen Ver­teidi­ger ein­la­den soll­test, ­eine Zi­ga­rette mit dir zu rau­chen?«

»Viel­leicht. Aber die Zeit ist leider be­schränkt, und das Fleisch ist schwach. Mir ist es im­mer noch lie­ber, im Klub zu­sam­men mit meines­gleichen zu rau­chen.«

»Wa­rum dann aber nicht die Ver­teidi­ger in den Klub ein­la­den?«, ­fragte Miss Ques­ted hart­nä­ckig weiter.

»Nicht er­laubt.« Er war freund­lich und ge­dul­dig und ver­stand of­fen­sicht­lich auch, wa­rum sie nicht ver­stand. Er ließ durch­­blicken, dass auch er ein­mal wie sie ge­dacht ­hatte, aber nicht sehr lan­ge. Auf die Ve­ran­da hin­aus­tre­tend, rief er mit fes­ter Stim­me et­was in Rich­tung des Mon­des. Sein sais ant­wor­te­te, und ohne den Kopf zu sen­ken, gab er An­weisung, seinen Ein­spän­ner vor­fah­ren zu las­sen.

Mrs. Moo­re, die vom Klub­be­trieb ein we­nig be­nom­men war, be­kam im Freien gleich wie­der ­einen kla­ren Kopf. Sie be­trach­tete den Mond, des­sen Glanz das Pur­pur­rot des um­ge­ben­den Him­mels mit ­einem bläss­­lichen Gelb­grün trüb­te. In Eng­land war der Mond ihr stets leb­los und fremd­ar­tig vor­ge­kom­men. Hier war er mit der Erde und al­len an­de­ren Ge­stir­nen zu­sam­men in den Schal der Nacht ein­ge­hüllt. Ein plötz­­liches Ge­fühl für die Ein­heit al­les Ge­schaf­fe­nen, der Ver­wandt­schaft mit al­len Him­mels­kör­pern durch­strömte die alte Frau wie Was­ser ­einen künst­­lichen Teich, ­eine selt­sa­me Fri­sche hin­ter sich las­send. Sie ­hatte nichts ge­gen »Cou­sin Kate«, nichts ge­gen die Na­ti­o­nal­hym­ne ein­zu­wen­den, aber der Nach­hall von beidem war nun in ­einen neu­en Klang ein­ge­gan­gen, so wie Cock­tails und Zi­gar­ren in das nur für ihr in­ne­res Auge sicht­ba­re Bild von Blu­men ein­ge­gan­gen wa­ren. Als an der Stra­ßen­bie­gung die Mo­schee auf­schim­mer­te, lang­ ge­streckt, kup­pel­los, rief sie aus: »O ja – bis hier­her bin ich ge­kom­men, hier bin ich ge­we­sen.«

»Wann denn ge­we­sen?«, ­fragte ihr Sohn.

»In der Zwi­schen­pau­se.«

»Aber Mut­ter, so et­was darfst du dir ein­fach nicht leis­ten.«

»Das darf Mut­ter nicht?«

»Nein, wahr­haf­tig, nicht in die­sem Land. Es ge­hört sich ein­fach nicht. Man hat sich beispiels­weise vor den Schlan­gen in Acht zu neh­men. Am Abend kom­men sie ge­wöhn­lich aus ih­ren Schlupf­lö­chern he­raus.«

»Ach ja, das hat auch der jun­ge Mann in der Mo­schee ge­sagt.«

»Das klingt ja ganz ro­man­tisch«, be­merkte Miss Ques­ted, die, Mrs. Moo­re von Her­zen zu­ge­tan, sich ehr­lich da­rü­ber freu­te, dass ihr ein kleines Aben­teu­er ver­gönnt ge­we­sen war. »Du triffst in der Mo­schee ­einen jun­gen Mann und er­zählst mir dann nichts da­von!«

»Ich war ge­ra­de drauf und dran, es dir zu er­zäh­len, Ad­ela, aber ir­gend­wie bog die Un­ter­hal­tung dann in ein an­de­res Gleis ein, und ich ver­gaß es. Mein Ge­dächt­nis wird im­mer un­zu­ver­läs­si­ger.«

»War er nett?«

Mrs. Moo­re zö­gerte ein we­nig, um dann mit vol­lem Nach­druck zu er­klä­ren: »Au­ßer­or­dent­lich nett.«

»Wer war’s denn?«, forschte Ron­ny.

»Ein Arzt. Ich weiß nicht, wie er hieß.«

»Ein Arzt? Ich ken­ne in Tschan­dra­pur keinen jun­gen Arzt. Wie merk­wür­dig! Wie sah er denn aus?«

»Er war ziem­lich klein, ­hatte ­einen kleinen Schnurr­bart und flin­ke Au­gen. Er rief mir et­was zu, als ich mich noch im dunk­len Teil der Mo­schee be­fand – et­was, das sich auf meine Schu­he be­zog. Auf die­se Weise ka­men wir ins Ge­spräch. Er bil­dete sich ein, dass ich wel­che an­hät­te. Aber glück­­licher­weise ­hatte ich dran ge­dacht, sie ab­zu­tun. Er er­zählte mir von seinen Kin­dern, und dann hat er mich bis zum Klub­ein­gang ge­bracht. Er kennt dich.«

»Ich wünsch­te, du hät­test ihn mir ge­zeigt. Ich ahne nicht, wer es ist.«

»Er kam nicht mit in den Klub. Er ­sagte, er dür­fe nicht mit hi­nein.«

Ron­ny ging end­lich ein Licht auf. »Ach du lie­ber Him­mel«, rief er, »das war doch nicht etwa ein Mo­ham­me­da­ner? Wa­rum hast du mir nur um al­les in der Welt nicht er­zählt, dass du dich mit ­einem Ein­ge­bo­re­nen un­ter­hal­ten hast? Ich war völ­lig auf dem Holz­weg.«

»Ein Mo­ham­me­da­ner! Das ist ja groß­ar­tig«, rief Miss Ques­ted aus. »Ron­ny, sieht das deiner Mut­ter nicht ganz ähn­lich? Wir re­den fort­wäh­rend da­von, dass wir et­was vom wirk­­lichen In­di­en se­hen wol­len, und sie geht hin und sieht es. Und dann ver­gisst sie, dass sie es ge­se­hen hat!«

Aber Ron­ny fühlte sich be­un­ru­higt. Nach den Wor­ten seiner Mut­ter ­hatte er an­ge­nom­men, dass der Arzt der jun­ge Mug­gins vom an­de­ren Ufer des Gan­ges war, und er ­hatte be­reits alle ka­me­rad­schaft­­lichen Ge­füh­le ge­zückt. Was für ­eine Ver­wechs­lung! Wa­rum ­hatte sie nicht we­nigs­tens mit ­einem Ne­ben­ton in der Stim­me an­ge­deu­tet, dass sie von ­einem In­der sprach! Ge­reizt und ein we­nig dik­ta­to­risch, be­gann er sie zu ver­hö­ren: »Er rief dir in der Mo­schee et­was zu, wie? In wel­chem Ton? Un­ver­schämt? Was ­hatte er zu so spä­ter Stun­de dort zu su­chen? Nein, es ist nicht die Stun­de ih­res Ge­bets.« Das Letz­te­re war die Ant­wort auf ­eine Fra­ge Miss Quest­eds, die sich ih­rer­seits un­ge­mein in­te­res­siert ­zeig­te. »Er hat dich also we­gen deiner Schu­he zur Rede ge­stellt. Dann war es Un­ver­schämt­heit. Ein al­ter Kniff. Ich wünsch­te, du hät­test sie an­be­hal­ten.«

»Ja, un­ver­schämt war es schon, aber ein Kniff? Er war mit den Ner­ven so ziem­lich am Ende – das konnte ich am Ton seiner Stim­me er­ken­nen. So­bald ich ant­wor­te­te, be­nahm er sich völ­lig an­ders.«

»Du hät­test ihm über­haupt nicht ant­wor­ten sol­len.«

»Na hör mal«, warf die lo­gi­sche jun­ge Dame ein, »wür­dest du nicht zum Beispiel von ­einem Mo­ham­me­da­ner er­war­ten, dass er dir ant­wor­te­te, wenn du ihn da­rum bä­test, in der Kir­che seinen Fez ab­zu­neh­men?«

»Das ist et­was an­de­res, et­was völ­lig an­de­res. Das kannst du nicht ver­ste­hen.«

»Nein, ich weiß, aber ich möchte es gern ver­ste­hen. Wo­rin liegt denn, bit­te, der Un­ter­schied?«

Wenn sie sich doch nicht im­mer ein­mi­schen woll­te! Was seine Mut­ter be­traf, so war von ihr nicht all­zu viel zu be­fürch­ten – sie war nichts als ­eine Tou­ris­tin, Reise­be­gleite­rin, die je­der­zeit wie­der nach Eng­land zu­rück­keh­ren durfte und von de­ren Ein­drü­cken auch gar nicht viel ab­hing. Aber mit Ad­ela, die ernst­lich er­wog, ihr weite­res Le­ben in die­sem Land zu ver­brin­gen, ver­hielt es sich weit­aus be­denk­­licher. Wie läs­tig, wenn sie von vorn­her­ein mit ­einer fal­schen Ein­stel­lung an die gan­ze Ein­ge­bo­re­nen­fra­ge he­ran­gin­ge! Die Stute zum Hal­ten brin­gend, ­sagte er: »Da ist euer Gan­ges.«

Die Auf­merk­sam­keit der beiden Frau­en war tat­säch­lich ab­ge­lenkt. Vor ih­nen in der Tie­fe war plötz­lich ein selt­sa­mer Schim­mer sicht­bar ge­wor­den, der we­der mit dem Was­ser noch mit dem Mond­licht zu tun ­hatte – er stand wie ­eine Leucht­gar­be auf dem Feld des Dunk­els. Ron­ny er­klär­te, dass das die Stel­le sei, an der die neue Sand­bank sich bil­de­te, dass das schwärz­­liche Ge­kräu­sel am obe­ren Ende der Sand sei, und dass in ih­rer Nähe auch die Leichen aus Ben­ares her­ab­trie­ben – oder viel­mehr he­rab­treiben wür­den, wenn die Kro­ko­di­le es zu­lie­ßen. »Von ­einer Leiche ist nicht mehr viel üb­rig, wenn sie nach Tschan­dra­pur ge­langt.«

»Auch Kro­ko­di­le im Fluss, wie schreck­lich«, mur­melte die Mut­ter. Die jun­gen Leute wech­sel­ten rasch ­einen Blick und ­lä­chel­ten. Es be­lus­tigte sie stets ein we­nig, die alte Dame von sol­chen An­wand­lun­gen leisen Schaud­ers heim­ge­sucht zu se­hen, und da­mit war die Ein­tracht zwi­schen ih­nen wie­der­her­ge­stellt. »Was für ein schreck­­licher Fluss«, fuhr Mrs. Moo­re fort. »Was für ein herr­­licher Fluss!« Sie seufz­te. Der Schim­mer war be­reits am Ver­blas­sen, viel­leicht, weil mit Mond oder mit Sand ­eine Ver­än­de­rung vor sich ge­gan­gen war. Bald war es wohl auch um die hel­le Gar­be ge­sche­hen, und nichts an­de­res wür­de von ihr mehr ver­bleiben als ein win­zi­ger zit­tern­der Licht­kreis, wie ein­ge­glüht in die flu­ten­de Lee­re. Die Frau­en über­leg­ten, ob sie den Wech­sel der Be­leuch­tung noch ab­war­ten soll­ten oder nicht, wäh­rend rings um sie her die Stil­le be­reits in kleine Flacker­laute von Un­ru­he zer­brö­ckelte und die Stute zu zit­tern be­gann. Um ih­ret­wil­len be­schlos­sen sie, nicht län­ger zu war­ten. Sie fuh­ren gleich weiter bis zum Bun­ga­low des Rich­ters, wo Miss Ques­ted schla­fen ging und Mrs. Moo­re noch ­eine kur­ze Un­ter­re­dung mit ih­rem Sohn ­hatte.

Er wollte noch mehr von dem mo­ham­me­da­ni­schen Arzt wis­sen, den sie in der Mo­schee ge­trof­fen ­hatte. Es ge­hörte zu seinen Pflich­ten, ver­däch­ti­ge In­di­vi­du­en an­zu­zeigen, und mög­­licher­weise war es ir­gend­einer der zweifel­haf­ten ha­kim aus dem Ba­sar­vier­tel, der auf ein Op­fer ge­lau­ert ­hatte. Als Mrs. Moo­re ihm be­rich­te­te, dass es je­mand war, der im Minto-Hos­pi­tal an­ge­stellt war, at­mete er er­leich­tert auf und be­merk­te, der Bur­sche müs­se Aziz heißen, und er sei ein­wand­frei, völ­lig ein­wand­frei.

»Aziz – was für ein reizen­der Name!«

»Ihr beide kamt also ins Ge­spräch. Hat­test du den Ein­druck, dass er freund­lich ge­son­nen war?«

Ohne die Be­deu­tung die­ser Fra­ge zu er­mes­sen, ant­wor­tete sie:

»O ja, das schon, zu­min­dest nach ­einer kleinen Weile.«

»Ich meine, ganz all­ge­mein. Schien er uns gel­ten zu las­sen – die bru­ta­len Er­o­be­rer, die blut­lo­sen Bü­ro­kra­ten – und wie man uns so nennt?«

»O ja, ich glau­be schon – bloß die Cal­len­dars nicht. Für die Cal­len­dars hat er nicht das Ge­ringste üb­rig.«

»Oh. Das hat er dir ohne alle Um­schweife ge­sagt, wie? Das wird den Ma­jor in­te­res­sie­ren. Ich über­le­ge nur, wo­rauf er mit seiner Be­mer­kung hi­naus­woll­te.«

»Ron­ny, Ron­ny, das wirst du doch Ma­jor Cal­len­dar um Him­mels wil­len nicht weiter­be­rich­ten?«

»O doch. Ich muss es so­gar.«

»Aber lie­ber Jun­ge –.«

»Wenn der Ma­jor er­füh­re, dass ein mir un­ter­stell­ter In­der schlecht von mir spricht, wür­de er es mir auch gleich wie­der­erzäh­len.«

»Aber lie­ber Jun­ge – ­eine Pri­vat­un­ter­hal­tung!«

»Nichts ist in In­di­en pri­vat. Das wusste Aziz ge­nau, als er so of­fen sprach. Mach dir also keine Ge­dan­ken. Er muss für seine Äu­ße­rung ir­gend­ein be­stimm­tes Mo­tiv ge­habt ha­ben. Ich bin so­gar über­zeugt, dass die Be­mer­kung nicht ehr­lich ge­meint war.«

»Wie­so denn nicht ehr­lich ge­meint?«

»Er putzte den Ma­jor nur he­run­ter, um Ein­druck auf dich zu ma­chen.«

»Lie­ber – ich weiß wirk­lich nicht, wie du das meinst.«