19,99 €
Vom Bodensee bis Bottrop: neue Erzählungen von Peter Stamm Gewohnt nahbar und subtil erzählt Peter Stamm in seinen neuen Erzählungen aus dem Leben seiner Figuren. Sie suchen nach einem Neuanfang, müssen Kompromisse aushalten, stellen sich den Krisen der Gegenwart: Nach einem Unfall in der Heimat unterrichtet ein Schweizer Skilehrer in einer westdeutschen Skihalle. Eine Schauspielerin verliert sich in ihren Figuren. Und Schnee und Eis bedecken eine verlassene Stadt. Peter Stamm zeigt in »Auf ganz dünnem Eis«, wie kunstvoll und vielschichtig Geschichten auf wenigen Seiten erzählt werden können, wie eine einzelne Erzählung einen länger beschäftigt als ein umfassender Roman.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2025
Peter Stamm
Erzählungen
Gewohnt nahbar und subtil erzählt Peter Stamm in seinen neuen Erzählungen aus dem Leben seiner Figuren. Sie suchen nach einem Neuanfang, müssen Kompromisse aushalten, stellen sich den Krisen der Gegenwart: Nach einem Unfall in der Heimat unterrichtet ein Schweizer Skilehrer in einer westdeutschen Skihalle. Eine Schauspielerin verliert sich in ihren Figuren. Und Schnee und Eis bedecken eine verlassene Stadt. Peter Stamm zeigt in »Auf ganz dünnem Eis«, wie kunstvoll und vielschichtig Geschichten auf wenigen Seiten erzählt werden können, wie eine einzelne Erzählung einen länger beschäftigt als ein umfassender Roman.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Peter Stamm, geboren 1963, lebt in der Schweiz. Sein Romandebüt »Agnes« veröffentlichte er 1998, seitdem erschienen acht weitere Romane und fünf Sammlungen von Erzählungen, zuletzt die Romane »Das Archiv der Gefühle« und »In einer dunkelblauen Stunde«. Der Roman »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde 2018 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 Peter Stamm
Für diese Ausgabe:
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Coverabbildung: Adolf Dietrich, Gefrorener Untersee © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: SIK-ISEA, Zürich
ISBN 978-3-10-491539-5
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Dieses E-Book enthält möglicherweise Abbildungen. Der Verlag kann die korrekte Darstellung auf den unterschiedlichen E-Book-Readern nicht gewährleisten.
Wir empfehlen Ihnen, bei Bedarf das Format Ihres E-Book-Readers von Hoch- auf Querformat zu ändern. So werden insbesondere Abbildungen im Querformat optimal dargestellt.
Anleitungen finden sich i.d.R. auf den Hilfeseiten der Anbieter.
Inhaltsverzeichnis
Lieke schreibt …
Auf dünnem Eis I
Mars
Jump and Run
Elins Äpfel
Auf dünnem Eis II
Unglaublich und emotional und fantastisch
Roses Only
Wintern
Geblümte Vorhänge, dünn und ausgefranst, die Aussicht auf eine überwucherte Halde, ein schmales Bett, ein unbequemer Stuhl, an der Decke eine Sparlampe, die selbst für diesen winzigen Raum zu schwach ist. Es gibt keinen Kleiderhaken hinter der Tür, keinen Platz für Bücher oder Taschen. Auf dem Fenstersims steht ein schmutziger Aschenbecher, ein Tellerchen, auf dem ein See und Berge zu sehen sind, ein Trachtenmädchen, Titisee/Schw., steht darauf. Monteurzimmer, hatte die Frau am Telefon gesagt. Ich nehme es.
Bad und Küche teile ich mir mit vier anderen, die in den Nachbarzimmern hausen und wirklich Monteure sind, die bei Seepex Exzenterschneckenpumpen arbeiten oder bei MC-Bauchemie Müller, nette Leute, die nicht viel reden, keinen Lärm machen, die das Bad sauber hinterlassen. Ich höre am Morgen die Dusche, den Wasserkocher in der kleinen Küche, das Öffnen und Schließen von Türen, jemand pfeift leise eine Melodie. Ich fange erst am Mittag an, wenn ich aufstehe, sind die anderen schon weg, die Toilette und das Bad frei. Nur der Dampf in der Luft und der beschlagene Spiegel verraten, dass jemand heute früh hier gewesen ist. Ich öffne die kleine Luke, kühle Luft dringt herein. Draußen ist es bewölkt.
Ich habe mir ein gebrauchtes Rad gekauft. Wenn ich nicht unterwegs bin, steht es im Flur. Die Zimmerwirtin hat gemeckert, aber ich habe das mit meinen Mitbewohnern abgesprochen, es stört sie nicht. Sie sind mit Firmenwagen unterwegs, die nachts vor dem Haus stehen, machen eine Weiterbildung im Stammhaus ihrer Firma oder montieren eine neue Fertigungslinie. Die meisten bleiben nur eine oder zwei Wochen. Ich wohne schon seit zwei Monaten hier.
Die erste Abfahrt mache ich immer allein. Manchmal schließe ich die Augen für einige Sekunden, und es gelingt mir fast, mir einzubilden, ich sei in den Bergen. Es ist ein schneidend kalter Morgen, die Lifte wurden eben erst angestellt, noch kaum jemand ist unterwegs. Der Himmel ist schon blau, aber die Sonne ist noch nicht hinter den Bergen hervorgekommen. Der Schnee knirscht trocken unter meinen Skiern, während ich von der Seilbahnstation zum Anfang der Piste gleite. Dort stehe ich eine Weile an der Kante, bis die Sonne es über den Bergkamm schafft. Alles glänzt plötzlich blendend weiß. Ich fahre los, schwinge über den erst flachen, dann steiler werdenden Hang. Der Fahrtwind lässt meine Augen tränen, die Kälte brennt mir im Gesicht. Ich reiße die Augen auf, ich bin kurz vor der Kurve, ein weiter Schwung. Ich weiß genau, von wo aus ich laufen lassen muss, damit ich die kleine Steigung am Ende der Piste hochkomme. Die Ampel steht auf Grün. Eine Minute Abfahrt, fünf Minuten auf dem Förderband in diesem scheußlichen Tunnel. Die Deckenverkleidung ist an vielen Stellen von Skistöcken durchlöchert, an den Betonwänden sind Graffitis, Plakate für Veltins, Runter geht’s von selbst. Aus den Lautsprechern tönt Oberkrainermusik und in regelmäßigen Abständen eine Durchsage auf Deutsch, Holländisch und Englisch, Bitte setzen Sie sich nicht auf das Förderband. In Neuss haben sie einen Sessellift, dafür ist unsere Piste doppelt so lang, die längste der Welt.
Oben beim Eingang wartet schon Carola mit meiner Gruppe, ein halbes Dutzend vollständig eingekleideter Holländer, die noch nie auf Skiern gestanden haben. Wie ist der Schnee?, fragt Carola. Nicht so toll. Vor ein paar Tagen ist die Kühlanlage ausgefallen, und es wird noch eine Weile dauern, bis die Halle wieder bei minus vier Grad ist. Na, wird schon gehen, sagt sie. Viel Spaß. Veel plezier.
Unter Currywurst habe ich mir immer etwas ganz anderes vorgestellt, eine Wurst, die nach Curry schmeckt. Keine Lust. Als ich sie dann doch einmal probierte, fand ich sie richtig gut, und seither esse ich bestimmt einmal in der Woche Currywurst. Das kulinarische Angebot hier ist allerdings ziemlich beschränkt. Es gibt Dutzende Dönerläden, ein Steakhouse, einige Cafés, aber sonst nicht viel. Die Deutschen scheinen mehr Döner zu essen als die Türken. Ich habe zugenommen, seit ich hier bin, bestimmt ein paar Kilo, aber das ist mir egal.
Die Holländer, vier Frauen und zwei Männer, arbeiten zusammen bei einem Gemüsegroßhändler. Sie sind mit einem Minibus aus Venlo gekommen, keine Stunde Fahrt. Wir sind Limburger, sagt einer der Männer, keine Holländer. Ist das nicht ein Käse? Ein Stinkekäse, sagt eine der Frauen und lacht. Ich weiß nicht, ob sie schon am Morgen auf der Hinfahrt getrunken haben, jedenfalls lachen sie etwas zu viel und zu laut und machen blöde Witze und anzügliche Bemerkungen. Vor allem eine der Frauen, Lieke. I like Lieke. Die anderen Namen habe ich gleich wieder vergessen. Ich weiß nicht, was man ihr über Skilehrer erzählt hat, jedenfalls nimmt sie mich bei jeder Gelegenheit beim Arm, hält sich an mir fest, lässt sich, wenn sie gestürzt ist, von mir aufhelfen und umarmt mich dann unbeholfen.
Nach nicht mal zwei Stunden auf dem Übungshang haben die Holländer genug. Jetzt wollen sie etwas essen, ist schließlich im Preis inbegriffen. Auch die Getränke sind inbegriffen, sogar Bier und Wein. Es gibt eine Kantine für die Angestellten, aber manchmal begleite ich die Gäste ans Buffet. Das ist eigentlich nicht vorgesehen, es wird nur geduldet, ist ja eine Art Kundenbetreuung. Das Essen ist nicht schlecht, Currywurst, Frikadellen, Hähnchenkeule, Schwenkkartoffeln, Asia-Mischgemüse, Pommes frites. Die Rucksäcke müsst ihr in den Schließfächern lassen, sage ich. Warum das denn? Manche Leute sind mit Tupperware angekommen und haben Essen eingepackt. Holländer, aber das sage ich nicht.
Lieke hat sich nur Reis und Gemüse geschöpft. Sie ist Vegetarierin, erklärt sie mir und wird plötzlich ernst und erzählt von einem Film über Schweinemast, den sie kürzlich gesehen hat. Die armen Tiere, eingepfercht in engen Buchten, in Ställen ohne Tageslicht. Ich nehme trotzdem von der Currywurst. Lieke ist Teamleiterin Sorting and Packaging bei Eurofresh, hat Dutzende von Leuten unter sich. Sie ist ein bisschen rundlich, vielleicht sieht sie deshalb jünger aus, als sie ist. Vierzig, sagt sie. Die anderen lachen. Und du? Fünfunddreißig. Frischgemüse, sagt eine der Frauen auf Deutsch, kneift mich in den Arm und blinzelt mir zu.
Die Männer trinken Bier, die Frauen Weißweinschorle. Beim Essen reden sie Holländisch. Ich verstehe inzwischen einiges und kann sogar ein paar Worte sprechen, langsam, links, rechts, Achtung!, gut gemacht. Goed gedaan! Aber sie reden so schnell, dass ich nicht folgen kann, worum es geht. Lieke hat sich mir gegenübergesetzt, und manchmal merke ich, dass sie mich beobachtet, aber wenn ich sie anschaue, wendet sie schnell den Blick ab und fällt den anderen ins Wort, erzählt irgendetwas. Was ist weiß und stört beim Essen?, fragt sie auf Deutsch mit einem ziemlich starken, kehligen Akzent. Eine Lawine! Die anderen lachen ausgelassen.
Jetzt reden plötzlich alle Deutsch, sogar ziemlich gut und flüssig. Sie stellen mir Fragen. Woher ich komme? Wie ich hier gestrandet bin? Ein Schweizer Skilehrer im Ruhrgebiet? Wurdest du strafversetzt? Ich habe mir Antworten zurechtgelegt, die nicht falsch sind, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Frauen fliegen auf Skilehrer, sagt Lieke etwas zusammenhangslos. Nur du, sagt einer der Männer, und die anderen lachen. Wer will noch ein Bier? Trinkt nicht zu viel, sage ich, nach dem Essen fahren wir bis ganz runter, da wird es steiler.
Jetzt reden sie wieder Holländisch, ich glaube, es geht um Tätowierungen, jedenfalls entblößt einer der Männer seinen Oberarm und zeigt auf eine Tätowierung von einem Anker und einer Windrose, die kunstvoll ineinander verschlungen sind. Der Anker steht für Vertrauen, für Zuversicht, das habe ich mal irgendwo gelesen. Und die Windrose? Für den Aufbruch? Die Andern sind das weite Meer. Du aber bist der Hafen …
Ich ziehe meine Zigaretten heraus und stehe auf. Lieke sagt, sie komme mit.
Als es Anfang Juni warm wird, stehe ich früher auf. Mein Zimmer geht nach Südosten und heizt sich am Morgen schnell auf. Jetzt treffe ich manchmal die Monteure, die in der kleinen Küche frühstücken. Vor ein paar Tagen sind zwei abgereist, und zwei neue sind gekommen, die ich noch nicht kennengelernt hatte. Sie sind Schreiner und machen den Innenausbau im Café im EDEKA Frischecenter beim Bahnhof, da war ich auch schon. Während ich auf den Wasserkocher warte, ziehen sie los.
Auf dem Küchentisch liegen zwei Briefe für mich, einer von meinem Anwalt, der andere von meiner Schwester. Nach der Einvernahme bin ich einfach losgefahren. Nur weg, so weit weg wie möglich. Und irgendwann bin ich dann hier gelandet.
Meine Schwester schreibt lang und breit über die Familie, was die Kinder machen, der Kleine kommt im Herbst in den Kindergarten, meine Patentochter in die zweite Klasse. Du denkst an ihren Geburtstag? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich ihn vergesse. Sie schreibt, dass sie in den Sommerferien in die Dolomiten fahren. Sie würde gern mal Ferien am Meer machen, aber Iso, ihr Mann, ist Bergführer und im Winter Skilehrer und verrückt nach Bergen. Dann kommt sie auf mich zu sprechen. Sie schreibt in jedem Brief das Gleiche, das hätte jedem passieren können, die Frau sei genauso schuld wie ich, sie habe sich fahrlässig verhalten. Niemand gebe mir die Schuld, sie habe mit dem und jenem gesprochen. Iso lasse mir ausrichten, ich könne im Winter wieder in der Skischule anfangen. Ich stecke den Brief zurück in den Umschlag, ohne ihn zu Ende zu lesen. Den vom Anwalt werde ich später anschauen.
Ich nehme den Kaffee mit auf mein Zimmer. Während ich trinke, surfe ich im Internet, schaue mir Nachrichtenseiten an und ein paar YouTube-Videos der Falquet-Brüder. Ich habe die beiden mal kennengelernt bei einem Sponsorenanlass, nette Kerle, die ihre Sache durchziehen und weniger Stuss reden als die meisten in diesem Business. Sie filmen sich dabei, wie sie Steilhänge runterrasen, über Felsen springen, die waghalsigsten Sprünge, nur die Musik nervt. Ich liebe die Geräusche des Schnees und auch diese absolute Stille, wenn man still steht, sich nicht bewegt. Dann halte ich den Atem an, um das Nichts zu hören. Eine Fahrt durch einen tief verschneiten Wald in Japan, ein Slalom zwischen kleinen, dicht stehenden Bäumchen, stiebender Schnee, manchmal ist kaum mehr etwas zu erkennen, nur Weiß.
Ich radle zum Freibad. Die Kasse ist nicht besetzt, auch gut, drei Euro gespart. Das Gelände ist fast menschenleer, auf der Wiese verstreut sitzen hier und da Mütter mit kleinen Kindern, dicke braungebrannte Männer in Speedos auf Liegestühlen. Im großen Becken bringen zwei junge Frauen Kindern das Schwimmen bei. Bauch hoch! Strampeln! Die Kinder tun mir leid, ich weiß nicht, warum. Sie scheinen Spaß zu haben. Ich hatte auch schon Kindergruppen in der Skihalle, auch die hatten Spaß, auch die taten mir leid. Eigentlich tun mir alle Kinder leid. Als ich das mal meiner Ex-Freundin sagte, meinte sie, du tust dir selber leid.
Ich sitze am Beckenrand, lasse die Füße im Wasser baumeln. Das helle Rauschen des Windes in den Ahornbäumen, das dunkle Schwappen des Wassers in der Ablaufrinne. Die Sonne kommt und geht mit den Wolken. Sommer ist überall sonst.
Ich schwimme ein paar Bahnen, am Anfang zähle ich noch mit, dann lasse ich es. Auf der Wiese neben dem Becken steht das Gerippe eines Zehnmeterturms, hier muss mal ein Sprungbecken gewesen sein. Ich liege im Gras und schließe die Augen. In der Entfernung kreischen die Kinder, und die jungen Frauen rufen immer noch ihre Kommandos. Bauch hoch! Strampeln! Ich stelle mir vor, wie ich auf den Turm klettere. Nach einer Weile bemerkt mich der Bademeister, er bläst in seine Trillerpfeife, rudert mit den Armen, ich steige höher, bis zur obersten Plattform, die nur noch aus rostigen Eisenträgern besteht. Ich balanciere auf den Trägern, halte mich am Geländer fest. Jetzt stehe ich ganz vorn, schaue hinunter auf die Mütter, die dicken Männer, die Kinder, die nichts bemerkt haben und ihre Bahnen schwimmen, den Bademeister, der aufgehört hat zu gestikulieren und nur noch gebannt zu mir hochschaut. Ich lasse das Geländer los, breite die Arme aus. Ich fliege.
Auf dem Weg zur Skihalle meldet mein Handy den Eingang einer Nachricht. Ich lese sie, als ich an einer Ampel warten muss. Lieke hat geschrieben. It’s just another manic Monday (Woah, woah)! Ich stecke das Handy ein und radle weiter. Unterwegs kommt eine zweite Nachricht. Ich lese sie erst, nachdem ich mich umgezogen habe. I wish it was Sunday (Woah, woah)! Ich hätte ihr meine Handynummer nicht geben sollen.
Wir standen auf der Terrasse und rauchten. Das heißt, sie dampfte mit einem dieser Geräte, der Dampf roch süßlich fruchtig und ziemlich ekelhaft. Hast du gewusst, dass die Niederlande weltweit einer der größten Exporteure von Schweinefleisch sind? Nein, das habe ich nicht gewusst. Ich weiß sowieso ziemlich wenig über Schweineexport. Und über die Niederlande. Lieke lachte und blies mir eine Dampfwolke ins Gesicht. Es gibt zehn Millionen Mastschweine in den Niederlanden, stell dir vor, ein Schwein auf zwei Personen. Ich esse weniger Fleisch als früher, sagte ich. Und dafür mehr Currywurst?, sagte sie. Alle behaupten, sie äßen weniger Fleisch, aber der Konsum geht trotzdem nicht zurück. Mir tun die Schweine einfach leid, wie die leben müssen. Vielleicht tust du dir selber leid, dachte ich und musste grinsen. Sie schlug mir mit der flachen Hand sanft gegen die Brust. Lach mich nur aus. Wir rauchten schweigend weiter. Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen rüber zum Tetraeder, der über dem Wald zu schweben schien.
Lieke hatte etwas Farbloses, bleiche Haut, hellblaue Augen, dünnes blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sogar ihr T-Shirt war blass und verwaschen, Eurofresh – Frische ist unser Geschäft. Sie war kräftig gebaut, nicht groß und ziemlich kompakt mit beeindruckendem Busen. Als sie sich an mir festgehalten hatte, hatte ich gespürt, dass sie zupacken konnte. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir gefiel. Ihre direkte Art stieß mich zugleich ab und zog mich an. Aber jetzt, wo wir nur zu zweit waren, war sie viel zurückhaltender, leiser, empfindlicher. Ich drückte meine Zigarette aus. Sie fragte, ob ich Tattoos hätte. Nein, sagte ich, und du? Keins, das ich dir zeigen könnte, sagte sie und lachte, jedenfalls nicht hier. Dann bat sie mich um meine Handynummer. Ich war zu überrumpelt, um sie ihr nicht zu geben.
Have a nice week, schreibe ich zurück. Ich weiß nicht, warum ich Englisch schreibe, sie versteht ja Deutsch. Vielleicht um sie auf Distanz zu halten? Kaum habe ich die Mitteilung abgeschickt und das Handy eingesteckt, kommt wieder eine Nachricht, aber ich habe jetzt keine Zeit, ich bin ohnehin spät dran.
Ich mache meine erste Abfahrt allein, schließe die Augen. Ich bin in den Bergen, ein kalter Morgen, die Sonne steigt über den Kamm. Ich bin allein, der Schnee knirscht unter meinen Schwüngen. Die Piste verengt sich, führt in weiten Kurven um einige Kuppen, wir nennen die Stelle die Autobahn. Die Sonne blendet mich, ich habe Tränen in den Augen. Da steht sie mitten in der Piste hinter einem Buckel, unmöglich zu sehen.
Abends ist nicht viel los in der Innenstadt. Es gibt ein Kino, das Filmforum, aber die zeigen nur Filme, die ich mir nicht anschauen will, Filme über Leute, die noch mehr Probleme haben als ich. In Oberhausen und Essen gibt es große Kinos, aber das ist mir zu weit. Ich habe mir das Programm der Volkshochschule angeschaut, aber die meisten Kurse finden in der zweiten Wochenhälfte am frühen Abend statt, da arbeite ich. Ich habe mich dann für einen Kurs im Tastaturschreiben angemeldet, das kann man immer brauchen. Zehn Montagabende im Berufskolleg, einem imposanten Gebäude aus dunklem Backstein.
Ich hatte gehofft, im Kurs Leute meines Alters zu treffen, aber die meisten Teilnehmer sind Frauen, deren Kinder aus dem Haus sind und die eine Stelle in einem Büro annehmen wollen, auch ein paar Handwerker sind dabei, ein Maurer, der wegen Rückenproblemen nicht mehr auf dem Bau arbeiten kann. Wir reden nicht viel miteinander, nur in der Kaffeepause wechseln wir ein paar Worte.
Unsere Lehrerin hat einen türkischen Namen, aber sie spricht akzentfrei Deutsch. Sie trägt immer dasselbe Kostüm, das aussieht wie aus den fünfziger Jahren. Am Anfang der Stunde stellt sie ihre Handtasche vor sich auf den Tisch, es sieht aus, als verstecke sie sich dahinter. Erst üben wir nur mit sinnlosen Buchstabengruppen, vfvf mjmj jmjm fvfv. Gegen Ende des Kurses legt sie uns seltsame Übungstexte vor, Die Sandwich-Inseln von Reinhold Anrep-Elmpt, Die Falkner vom Falkenhof von Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem. Immer dunkler und dunkler wurde der Horizont, nur bisweilen schauerlich von schnellen Blitzen erleuchtet.
Wenn der Kurs zu Ende ist, verschwinden die anderen in alle Himmelsrichtungen. Ich sitze auf der Treppe vor dem Berufskolleg, rauche eine Zigarette und weiß nicht wohin. Ich könnte einen Kollegen oder eine Kollegin aus der Skihalle anrufen, fragen, ob sie Lust auf ein Bier haben, aber die meisten sind verwurzelt hier und bewegen sich in ihren eigenen Kreisen, haben Freunde von früher, leben in Beziehungen. Und wir sehen uns ja ohnehin schon fünf Tage die Woche. Mit einigen kann ich sowieso nicht viel anfangen. Zwei, die wie Brüder aussehen, überbieten sich immer mit ihren Heldengeschichten über waghalsige Abfahrten, die sie gemacht haben, und diskutieren endlos über die perfekte Ausrüstung und das Präparieren der Skier. Niemand will das hören, aber das scheint sie nicht zu stören. Einer der beiden muss mich mit Lieke beim Rauchen gesehen haben, seither macht er dauernd dumme Bemerkungen. Bisschen alt für dich. Fährst du nach Venlo nach der Arbeit? Auf alten Pfannen lernt man kochen. Am besten verstehe ich mich mit Volker, aber der ist über sechzig und hat bestimmt Besseres zu tun, als mit mir durch die Kneipen zu ziehen.
Ich fahre mit dem Rad im Schritttempo durch die Innenstadt. Die Stadt hat mehr als hunderttausend Einwohner. Wo sind nur all die Leute? Ich schaue mir die gebrauchten Kameras im Fenster eines Fotogeschäfts an, schöne alte Apparate, aber wer braucht die heute noch? Ich mache überhaupt nie Fotos, nicht mal mit meinem Handy. Ich wüsste nicht, wem ich sie schicken sollte. Als es dämmert, fahre ich zurück zu meiner Unterkunft, unterwegs kaufe ich mir an einer Tankstelle einen Hot Dog und einen Sixpack Bier. Veltins, Runter geht’s von selbst.
Einmal, als ich an einem freien Tag eine Radtour entlang der Emscher mache, ist die Luft plötzlich voller weißer Flocken. Sie schweben durch die Luft, manchmal dichter, manchmal nur vereinzelt, sie fallen und steigen wie in sanften Wellen, es sieht aus, als schneie es mitten im Sommer. Ich halte an und betrachte das Schauspiel, das nicht aufhören will. Unter den Bäumen am Fluss haben die Flocken eine dünne, flauschige Schicht gebildet. Mir ist ein wenig schwindlig von der Bewegung in der Luft. Ich lehne mein Fahrrad an einen Baum und setze mich auf den Boden mitten in die weißen Flocken. Ich lege mich hin, schaue in den Himmel. Da denke ich zum ersten Mal daran, dass ich hier bleiben könnte in dieser absurden Landschaft ohne Struktur und ohne Ordnung, weit weg von den Bergen, von meinen alten Freunden, meiner Familie, von allem, was geschehen ist. Ich fange neu an, miete eine Wohnung, finde eine Freundin, einen besseren Job.
Ich werde dem abgekürzten Verfahren zustimmen, das Urteil akzeptieren, meine Schuld und meine Strafe. Mit größter Wahrscheinlichkeit werde die Strafe bedingt ausfallen, hat mein Anwalt geschrieben. Kein Gericht kann mich härter verurteilen als ich mich selbst.
Ich fahre mit Lieke die Piste hinunter. Ich bin voraus, warte unten auf sie. Sie ist die Steigung nicht hochgekommen und müht sich im V-Schritt ab. Ich strecke ihr meinen Stock hin und ziehe sie das letzte Stück zu mir. Sie lacht mich an, ihr Lachen macht sie schön. Wir umarmen uns. Durch den wattierten Skianzug spüre ich ihren Körper, sie atmet kräftig, ihr Busen hebt und senkt sich. Auf dem Förderband drehe ich mich immer wieder nach ihr um, sie winkt wie ein kleines Kind. Willst du noch eine Abfahrt machen?, frage ich, als wir oben sind. Sie schüttelt den Kopf und flüstert mir etwas ins Ohr. Sie lacht.
Ich ziehe mein Handy heraus, öffne den Chat mit Lieke. Ich hatte ihr nie auf ihre letzte Nachricht geantwortet. Time for a drink? Sure, schreibe ich, why not? Und dann: Wann du willst. Ich habe heute und morgen frei. Es wäre schön, dich zu sehen. Ich kenne niemanden hier, schreibe ich, es ist alles ein bisschen kompliziert. Ich mache ein Foto vom Pappelflaum und schicke es hinterher. Hier schneit es, schreibe ich. Ich starre auf den Bildschirm. Unter Liekes Name steht: Zuletzt online heute 05.34. Dann werden die Häkchen neben meinen Nachrichten blau, und unter Liekes Name steht: online. Mein Herz beginnt stärker zu schlagen. Auf dem Display steht: Lieke schreibt …
