Auf immer verbunden - Domenico Starnone - E-Book

Auf immer verbunden E-Book

Domenico Starnone

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Beschreibung

»Poetisch, lebendig, voller Energie. Und voller Humor. Dieser Roman ist große Literatur.« Jhumpa Lahiri

Vanda und Aldo können auf ein langes gemeinsames Leben zurückblicken, auch wenn sie nicht immer glücklich waren. Wie bei vielen Paaren erstickte auch ihre Beziehung irgendwann in Routinen. Als Aldo dann die jüngere Lidia kennenlernt, scheint die Ehe endgültig zerbrochen. Doch die neue Liebe kann die Bande, die die Kinder geknüpft haben, nicht lösen, und so kehrt Aldo nach Hause zurück. Inzwischen sind seit dem Bruch Jahrzehnte vergangen, und die Wunden der einstigen Verletzungen scheinen geheilt - bis zu jenem Tag, als die alte Narbe plötzlich schmerzhaft aufbricht ...

Was ist wichtig im Leben, was hält Paare wirklich zusammen, auch wenn die Liebe schon längst vergangen ist? Ein schonungslos ehrlicher und zugleich ungemein berührender Roman darüber, was uns eine Ehe abverlangt – und was sie uns schenkt.

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Seitenzahl: 335

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Das Buch

Vanda und Aldo können auf ein langes gemeinsames Leben zurückblicken, auch wenn sie nicht immer glücklich waren. Wie bei vielen Paaren erstickte auch ihre Beziehung irgendwann in Routinen. Als Aldo dann die jüngere Lidia kennenlernt, scheint die Ehe endgültig zerbrochen. Doch die neue Liebe kann die Bande, die die Kinder geknüpft haben, nicht lösen, und so kehrt Aldo nach Hause zurück. Inzwischen sind seit dem Bruch Jahrzehnte vergangen, und die Wunden der einstigen Verletzungen scheinen geheilt - bis zu jenem Tag, als die alte Narbe plötzlich schmerzhaft aufbricht ...

Was ist wichtig im Leben, was hält Paare wirklich zusammen, auch wenn die Liebe schon längst vergangen ist? Ein schonungslos ehrlicher und zugleich ungemein berührender Roman darüber, was uns eine Ehe abverlangt – und was sie uns schenkt.

Der Autor

Domenico Starnone,1943 in Neapel geboren, war Lehrer, Journalist, Drehbuchautor und unterrichtete zudem an der Turiner Schreibschule von Alessandro Baricco. Er lebt als Autor in Rom. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er für »Via Gemito« den renommiertesten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. »Auf immer verbunden« ist sein dreizehnter Roman, der in 20 Ländern erscheint und international Kritiker wie Leser begeistert.

Domenico Starnone

Auf immer verbunden

Roman

Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originaltitel: Lacci

Originalverlag: Giulio Einaudi editore s.p.a., Turin, Italien

Copyright © 2014/2016 by Giulio Einaudi editore

All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2018 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Covermotiv: © plainpicture: neuebildanstalt/Jaeckel; gio

Gestaltung und Satz: DVA/Andrea Mogwitz

ISBN 978-3-641-22884-2V002

www.dva.de

Teil I

Erstes Kapitel

1.

Falls du’s vergessen haben solltest, mein Lieber, muss ich dich eben daran erinnern: Ich bin deine Frau. Ich weiß, du warst mal froh darüber, aber jetzt stört es dich plötzlich. Ich weiß, du tust so, als gäbe es mich gar nicht, als hätte es mich nie gegeben, weil du dich in den gehobenen Kreisen, in denen du dich jetzt bewegst, nicht blamieren möchtest. Ich weiß, es ist dir peinlich, ein so geordnetes Leben führen, abends zum Essen nach Hause kommen und bei mir schlafen zu müssen statt mit wem du gerade Lust hast. Ich weiß, dass du dich schämst zu sagen: Passt mal auf, ich habe am 11. Oktober 1962 mit zweiundzwanzig geheiratet. Ich habe ihr vor einem Priester das Jawort gegeben, in einer Kirche im Stella-Viertel, und das freiwillig, aus Liebe und nicht weil ich etwas zu vertuschen gehabt hätte. Passt mal auf, ich trage eine gewisse Verantwortung, und wenn ihr nicht versteht, was das heißt, kann ich euch auch nicht helfen. Ich weiß das alles, ich weiß es nur zu gut. Aber ob es dir nun gefällt oder nicht – fest steht, dass ich deine Frau bin und du mein Mann. Dass wir seit zwölf Jahren verheiratet sind – im Oktober werden es genau zwölf Jahre – und zwei Kinder haben, den 1965 geborenen Sandro und die 1969 geborene Anna. Muss ich dir erst die entsprechenden Urkunden zeigen, um dich wieder zur Vernunft zu bringen?

Genug jetzt, entschuldige, ich übertreibe. Ich kenne dich ja und weiß, dass du ein anständiger Kerl bist. Komm doch bitte wieder nach Hause, wenn du diesen Brief gelesen hast. Oder antworte mir wenigstens, wenn dir noch immer nicht danach ist, und erklär mir, was mit dir los ist. Ich werde versuchen, dich zu verstehen, versprochen! Mir ist schon klar, dass du mehr Freiraum brauchst, und das ist auch nachvollziehbar. Deine Kinder und ich werden versuchen, dir so wenig wie möglich zur Last zu fallen. Du musst mir allerdings haarklein erzählen, was da zwischen dir und dieser jungen Frau läuft. Sechs Tage sind vergangen, ohne einen einzigen Brief oder Satz von dir, geschweige denn dass du dich hättest blicken lassen. Sandro fragt nach dir, Anna will sich partout nicht die Haare waschen lassen – angeblich bist du der Einzige, der sie richtig föhnen kann. Es reicht mir nicht, wenn du mir schwörst, dass dich diese Frau oder dieses Mädchen nicht interessiert, dass du sie nicht wiedersehen wirst, dass sie dir nichts bedeutet, dass es sich bloß so ergeben hat, weil du dich seit einiger Zeit in einer Krise befindest. Sag mir, wie alt sie ist und wie sie heißt, ob sie studiert, arbeitet oder nichts tut. Wetten, sie hat dich zuerst geküsst? Du bist doch bekanntlich gar nicht in der Lage, den ersten Schritt zu tun, man muss dich schon schwer unter Druck setzen, bis du dich bewegst. Und jetzt bist du durcheinander, das hab ich dir angesehen, als du mir gesagt hast, dass du bei einer anderen gewesen bist. Willst du wissen, was ich denke? Meiner Meinung nach ist dir noch gar nicht richtig klar, was du mir angetan hast. Weißt du eigentlich, dass ich mich fühle, als hättest du gezerrt und gezerrt und mir bei lebendigem Leib das Herz rausgerissen?

2.

Wenn ich lese, was du so schreibst, könnte man meinen, ich wäre eine Despotin und du das Opfer. Das kann ich unmöglich so stehen lassen. Ich gebe mein Bestes, nehme Unvorstellbares auf mich, und du sollst das Opfer sein? Warum? Weil ich ein bisschen laut geworden bin, weil ich die Wasserkaraffe zertrümmert habe? Du musst zugeben, dass ich gute Gründe dafür hatte. Nachdem du fast einen Monat weg warst, bist du ohne Vorankündigung einfach wieder aufgetaucht. Scheinbar ruhig, fast liebevoll. Gott sei Dank, er ist wieder zur Vernunft gekommen!, hab ich mir gedacht, doch dann hast du auf einmal gesagt, dass dieselbe Person, die dich vor vier Wochen angeblich noch kein bisschen interessiert hat – du hast dich sogar dazu herabgelassen, sie bei ihrem Namen zu nennen, »Lidia« hast du gesagt –, dir inzwischen so wichtig geworden ist, dass du nicht mehr ohne sie leben kannst. Abgesehen von dem Moment, in dem du ihre Existenz vage erwähnt hast, hast du mich einfach vor vollendete Tatsachen gestellt, so als könnte ich darauf nichts anderes sagen als: Gut, dann geh eben zu dieser Lidia, vielen Dank auch, ich werd mich bemühen, dir nicht weiter zur Last zu fallen. Kaum habe ich versucht, etwas zu erwidern, hast du mich auch schon unterbrochen, um irgendwelche Gemeinplätze über die Institution Familie loszuwerden: über die Familie aus historischer und globaler Sicht, über deine Herkunftsfamilie, über unsere Familie. Hätte ich etwa brav den Mund halten sollen? Hast du dir das so vorgestellt? Manchmal bist du wirklich lächerlich, wenn du glaubst, es genügt, große Reden zu schwingen oder mir irgendwelche Geschichten zu erzählen, um die Wogen zu glätten. Aber ich bin deine Spielchen leid. Zum x-ten Mal hast du mir jetzt schon geschildert, wie sehr du als Kind unter der schlechten Ehe deiner Eltern gelitten hast – wenn auch noch nie mit so hochtrabenden Worten. Du hast eine dramatische Metapher benutzt und gesagt, dein Vater habe einen Stacheldrahtzaun um deine Mutter gezogen, hast erzählt, wie sehr du darunter gelitten hast, wenn du wieder mal mit ansehen musstest, wie sich ihr ein Stachel ins Fleisch gebohrt hat. Dann kamst du auf uns zu sprechen. Du hast mir erklärt, dein Vater hätte euch allen dermaßen wehgetan, dass das Gespenst dieses unglücklichen, euch so unglücklich machenden Mannes dich bis heute verfolgt und du Angst hast, Sandra, Anna, aber vor allem mir wehzutun. Wie du siehst, habe ich nichts davon vergessen. Eine Ewigkeit lang hast du salbungsvoll was von Rollen geschwafelt, in die uns unsere Ehe gezwungen hätte, nämlich die von Ehemann, Ehefrau, von Mutter, Vater, Kind, und hast uns – deine Kinder, mich und dich – als Rädchen in einem völlig unsinnigen Getriebe beschrieben, die für immer dazu gezwungen sind, dieselben hirnlosen Bewegungen zu vollführen. So ging es noch eine ganze Weile weiter, und zwischendurch hast du aus dem einen oder anderen Buch zitiert, um mich zum Schweigen zu bringen. Anfangs dachte ich noch, du redest so, weil du Schlimmes erlebt hast und nicht mehr weißt, wer ich bin, nämlich ein Mensch mit Gefühlen, Gedanken und einer eigenen Meinung und keine Marionette in der Schmierenkomödie, die du da aufführst. Erst später kam mir der Verdacht, dass du mir damit bloß helfen wolltest. Du wolltest mir weismachen, dass du, indem du unser gemeinsames Leben zerstörst, die Kinder und mich in Wahrheit erlöst, und wir dir für diese Großzügigkeit sogar noch dankbar sein müssten. Wie reizend von dir! Und da bist du beleidigt, wenn ich dich vor die Tür setze?

Aldo, ich flehe dich an, komm endlich zur Vernunft! Es wird Zeit, dass wir in Ruhe miteinander reden, ich muss wissen, was in dir vorgeht. Während unserer langjährigen Beziehung bist du immer ein liebevoller Ehemann und Vater gewesen. Du ähnelst deinem Vater kein bisschen, wirklich nicht! Und das mit dem Stacheldraht, den Rädchen im Getriebe und all dem anderen Quatsch ist mir nie aufgefallen. Dafür ist mir sehr wohl aufgefallen, dass sich unsere Beziehung in den letzten Jahren verändert hat, dass du angefangen hast, anderen Frauen hinterherzuschauen. Ich erinnere mich nur zu gut an die Frau vom Campingplatz im vorletzten Sommer: Du lagst im Schatten und hast stundenlang gelesen. Du hättest zu tun, hast du gesagt und dich weder um mich noch um die Kinder gekümmert. Du hast unter den Pinien oder am Strand gearbeitet und dir Notizen gemacht. Aber wenn du aufgeschaut hast, dann nur, um sie anzusehen. Dir blieb der Mund offen stehen, als wärst du verwirrt und würdest versuchen, deine Gedanken zu ordnen.

Damals habe ich mir noch eingeredet, das sei nicht weiter schlimm: Es war eine hübsche junge Frau, und gucken wird man ja wohl noch dürfen – früher oder später riskiert jeder mal einen Blick. Aber ich habe sehr darunter gelitten, vor allem als du plötzlich angeboten hast, den Abwasch zu machen, was du sonst nie tust. Kaum ist sie aufgetaucht, bist du ins Spülhaus gerannt und immer erst wieder zurückgekommen, wenn sie verschwunden ist. Hältst du mich etwa für so blind und gefühllos, dass ich das nicht merke? Reg dich nicht auf!, hab ich mir gesagt. Das hat nichts zu bedeuten. Weil es für mich einfach unvorstellbar war, dass dir eine andere gefällt. Habe ich dir einmal gefallen, werde ich dir immer gefallen, davon war ich aufrichtig überzeugt. Ich war der festen Meinung, dass sich wahre Gefühle nicht ändern – erst recht nicht, wenn man verheiratet ist. Das kommt zwar durchaus vor, aber nur bei oberflächlichen Menschen, und er ist nicht oberflächlich, hab ich mir eingeredet. Außerdem war das eine Zeit des Umbruchs, in der sogar du mit dem Gedanken gespielt hast, alles über den Haufen zu werfen. Vielleicht habe ich mich ja zu sehr vom Haushalt vereinnahmen lassen, von der Verwaltung unseres Einkommens und den Bedürfnissen der Kinder. Heimlich habe ich mich im Spiegel betrachtet. Wie war ich, wer war ich? Die beiden Schwangerschaften haben kaum Spuren hinterlassen, und ich bin eine vorbildliche Ehefrau und Mutter. Aber anscheinend hat es nicht genügt, noch genau dieselbe zu sein wie damals, als wir uns kennengelernt und ineinander verliebt haben. Vielleicht war das ja mein Fehler, und ich musste mich neu erfinden, mehr sein als nur eine gute Ehefrau und vorbildliche Mutter. Ich habe versucht, so zu sein wie die vom Campingplatz, wie die jungen Frauen, die dir in Rom doch bestimmt nachgelaufen sind. Ich habe mich bemüht, in deinem Leben präsenter zu sein ‒ nicht nur zu Hause. Ganz allmählich begann ein neuer Abschnitt, was dir hoffentlich nicht entgangen ist. Oder etwa doch? Es ist dir zwar nicht entgangen, hat aber auch nichts genutzt? Warum? Hab ich mich nicht genug angestrengt? War ich zu halbherzig, hab ich es nicht geschafft, mehr so zu werden wie die anderen, und bin stattdessen die geblieben, die ich schon immer war? Oder hab ich es übertrieben? Bin ich dir zu modern geworden, hat dich meine Verwandlung befremdet und dazu geführt, dass du dich für mich geschämt, mich nicht mehr wiedererkannt hast?

Reden wir darüber, du kannst mich doch nicht einfach so hängen lassen! Ich will mehr über diese Lidia wissen. Hat sie eine eigene Wohnung, schläfst du bei ihr? Hat sie, wonach du dich sehnst und was ich nicht mehr habe oder nie hatte? Du hast dich einfach so davongestohlen, hast es um jeden Preis vermieden, Klartext zu reden. Wo bist du? Die Adresse, die du mir hinterlassen hast, ist eine in Rom genau wie die Telefonnummer, aber wenn ich dir schreibe, kommt nichts zurück, und wenn ich anrufe, geht niemand dran. Was soll ich tun, wenn ich dich erreichen will? Einen deiner Freunde anrufen, an die Uni kommen? Soll ich dir vor deinen Kollegen und Studenten eine Szene machen, damit alle wissen, wie verantwortungslos du bist?

Ich habe Strom- und Gasrechnungen zu zahlen. Ich habe Mietschulden und die beiden Kinder. Komm sofort zurück! Sie haben ein Recht auf Eltern, die sich rund um die Uhr um sie kümmern, auf einen Vater und eine Mutter, mit denen sie morgens frühstücken, die sie zur Schule bringen und anschließend wieder abholen. Sie haben ein Recht auf eine Familie, auf eine Familie mit einer Wohnung, in der alle gemeinsam zu Mittag essen, in der gespielt, Hausaufgaben gemacht, ein bisschen ferngeschaut, danach zu Abend gegessen und dann noch ein bisschen ferngeschaut wird, bis es Zeit ist, zu Bett zu gehen: »Sag deinem Vater Gute Nacht, Sandro, und du auch, Anna. Sagt eurem Vater Gute Nacht, und zwar ohne zu quengeln. Heute Abend wird nicht mehr vorgelesen, es ist schon spät. Wenn ihr noch etwas vorgelesen bekommen wollt, müsst ihr euch schnell die Zähne putzen, dann erzählt euch der Papa noch eine Geschichte. Aber nicht länger als eine Viertelstunde. Anschließend wird geschlafen, sonst schaffen wir es morgen nicht rechtzeitig zur Schule, auch euer Vater muss früh zum Zug, wenn er nicht zu spät in der Arbeit sein und Ärger bekommen will.« Woraufhin die Kinder – weißt du das denn nicht mehr? – ins Bad eilen, sich die Zähne putzen und dann zu dir rennen, damit du ihnen etwas vorliest, und das Abend für Abend, seit sie auf der Welt sind. Und genau so muss es sein, bis sie alt genug sind auszuziehen, bis wir alt geworden sind. Aber vielleicht interessiert es dich nicht mehr, mit mir alt zu werden. Vielleicht interessiert es dich nicht einmal mehr zu sehen, wie deine Kinder groß werden. Ist es so? Sag, ist es so?

Ich habe Angst. Das Haus ist abgelegen, und du weißt ja, was für eine gefährliche Stadt Neapel ist. Nachts höre ich Lärm und Gelächter. Ich kann nicht mehr schlafen, bin am Ende meiner Kräfte. Was, wenn ein Dieb durchs Fenster einsteigt? Was, wenn man uns den Fernseher klaut, den Plattenspieler? Wenn jemand Rache nimmt, der auf dich sauer ist, und uns im Schlaf ermordet? Ist dir eigentlich klar, welche Probleme du mir da aufgehalst hast? Hast du schon vergessen, dass ich nicht arbeite, dass ich nicht weiß, wie ich mich und die Kinder durchbringen soll? Pass auf, dass ich nicht die Geduld verliere, Aldo, denn wenn ich erst mal ausraste, wirst du es bitter bereuen.

3.

Ich habe Lidia getroffen. Sie ist sehr jung, schön und wohlerzogen. Sie hat mir viel aufmerksamer zugehört als du. Und sie hat etwas sehr Richtiges gesagt: »Du musst mit ihm reden, ich hab mit eurer Beziehung nichts zu tun.« Genau so ist es, sie ist eine Außenstehende, und es war ein Fehler, zu ihr zu gehen. Was soll sie mir schon groß sagen? Dass du sie begehrt und erobert hast, dass sie dir gefallen hat und nach wie vor gefällt? Nein, nein, der Einzige, der mir alles erklären kann, bist du. Sie ist neunzehn, was weiß sie schon, was versteht sie schon vom Leben? Du bist vierunddreißig, ein verheirateter Mann und hochgebildet, du hast eine gute Stelle und genießt Anerkennung. Es ist deine Aufgabe, mir eine überzeugende Erklärung zu geben, nicht Lidias. Doch alles, was du in den letzten zwei Monaten zu mir gesagt hast, ist, dass du nicht mehr mit uns zusammenleben kannst. Ach ja? Und warum bitte schön? Du hast mir geschworen, dass du nichts an mir auszusetzen hast. Von den Kindern ganz zu schweigen – es sind schließlich deine Kinder. Sie fühlen sich wohl bei dir, und du hast zugegeben, dass auch du dich mit ihnen wohlfühlst. Also, was ist es dann? Keine Antwort. Du stammelst nur: »Ich weiß nicht, es hat sich eben so ergeben.« Und wenn ich dich frage: »Hast du eine neue Wohnung, neue Bücher, neue Sachen?«, erwiderst du: »Nein, ich hab gar nichts, es geht mir schlecht.« Und wenn ich dich frage: »Wohnst du bei Lidia, übernachtet ihr zusammen, esst ihr zusammen?«, weichst du mir aus und brummst: »Quatsch, nein, wir sehen uns halt, mehr nicht.« Ich warne dich, Aldo, hör auf mich so zu behandeln, ich halt das nicht mehr aus! Jedes Gespräch mit dir kommt mir so verlogen vor. Oder, schlimmer noch: Während ich mich zu schmerzhaften Wahrheiten durchringe, lügst du und beweist mir so, dass du mich kein bisschen respektierst, nichts mehr von mir wissen willst.

Ich bekomm es von Tag zu Tag mehr mit der Angst. Ich habe Angst, dass du die Verachtung, die du mir gegenüber empfindest, auf die Kinder, auf unsere Freunde, einfach auf alle ausweitest. Du willst mich isolieren, mich vollkommen ausschließen. Aber vor allem willst du es auf keinen Fall noch mal mit uns versuchen. Das macht mich wahnsinnig. Im Gegensatz zu dir hab ich das dringende Bedürfnis, ganz genau zu erfahren, warum du mich verlassen hast. Wenn du in mir noch einen Menschen siehst und kein Tier, das man mit dem Stock verjagt, schuldest du mir eine Erklärung, und die sollte wirklich überzeugend sein.

4.

Jetzt ist mir alles klar. Du hast beschlossen, dich zu verabschieden, uns unserem Schicksal zu überlassen. Du willst dein eigenes Leben führen, in dem für uns kein Platz ist. Du willst gehen, wohin du willst, treffen, wen du willst, und dich selbst verwirklichen, wie du es willst. Du willst unsere kleine Welt hinter dir lassen und mit deiner neuen Frau in die weite Welt hinausziehen. In deinen Augen sind wir nichts weiter als der Beweis, dass du deine Jugend vergeudet hast. Für dich sind wir wie eine Krankheit, die dich daran gehindert hat, dich weiterzuentwickeln, und das willst du jetzt ohne uns nachholen.

Wenn ich dich richtig verstehe, magst du es nicht, dass ich so oft »wir« sage. Aber so ist es nun mal: Die Kinder und ich, das sind »wir«, und du bist mittlerweile »du«. Indem du uns verlassen hast, hast du unser gemeinsames Leben zerstört, das Bild, das wir von dir hatten, den Menschen, für den wir dich gehalten haben. Du hast das mit Absicht getan, du hast das geplant und uns zur Einsicht gezwungen, dass du nichts als Einbildung warst. Und jetzt stehen wir da, Sandro, Anna und ich, am Rande der Armut, ohne jede Sicherheit und voller Angst. Während du dir mit deiner Geliebten irgendwo ein schönes Leben machst. Mit dem Ergebnis, dass meine Kinder inzwischen nur noch meine sind und nicht mehr deine. Du hast dafür gesorgt, dass ihr Vater für sie und mich nur noch eine Illusion ist.

Trotzdem behauptest du, in Kontakt bleiben zu wollen. Na gut, ich habe nichts dagegen, vorausgesetzt, du sagst uns, wie du das anstellen willst. Möchtest du ihnen ein vollwertiger Vater sein, auch wenn du mich aus deinem Leben verbannt hast? Möchtest du dich um Sandro und Anna kümmern, Zeit mit ihnen allein verbringen? Oder willst du nur ein Schatten sein, der hin und wieder auftaucht, um mich dann wieder mit ihnen allein zu lassen? Frag sie doch selbst, mal gucken, was die Kinder davon halten. Ich kann dir nur sagen, dass du ihnen genommen hast, worauf sie sich früher verlassen haben, und deshalb geht es ihnen sehr schlecht. Für Sandro warst du die wichtigste Bezugsperson, und jetzt ist er völlig orientierungslos. Anna versteht nicht, was sie verbrochen hat, glaubt aber, es sei so schlimm, dass du sie mit Abwesenheit strafst. So ist der Stand der Dinge. Mach, was du willst, ich kümmere mich um sie. Aber erstens werde ich nicht zulassen, dass du meine Beziehung zu ihnen zerstörst, und zweitens auch nicht, dass du ihnen noch mehr wehtust als ohnehin schon – jetzt, wo du dich als völlig unzuverlässiger Vater erwiesen hast.

5.

Ich hoffe, dir ist inzwischen klar, warum das Ende unserer Beziehung auch das Ende deiner Beziehung zu Sandro und Anna bedeutet. Das sagt sich so leicht: Ich bin der Vater und möchte es auch weiterhin sein. Tatsächlich hast du jedoch bewiesen, dass in deinem jetzigen Leben kein Platz für die Kinder ist, dass du sie loswerden willst, wie du mich losgeworden bist. Wann hast du dich eigentlich jemals richtig um sie gekümmert?

Und nun das Neueste, falls es dich überhaupt noch interessiert: Wir sind umgezogen, ich konnte von meinem Geld die Miete nicht mehr zahlen. Wir wohnen bei Gianna, arrangieren uns irgendwie. Die Kinder mussten die Schule wechseln und neue Freunde finden. Anna leidet sehr darunter, dass sie Marisa nicht mehr sieht, du weißt ja, wie sehr sie an ihr gehangen hat. Du hast von Anfang an gewusst, dass es so enden würde, dass du sie in jede Menge Probleme stürzt und sie verletzt, wenn du mich verlässt. Und, hast du auch nur einen Finger gekrümmt, um ihnen das zu ersparen? Nein, du hast nur an dich gedacht.

Du hast Sandro und Anna versprochen, den Sommer mit ihnen zu verbringen, den ganzen Sommer, und bist eines Sonntags widerwillig gekommen, um sie abzuholen. Sie haben sich gefreut. Und dann? Du hast sie mir nach vier Tagen zurückgebracht und gesagt, dass es dich überfordert, dich um sie zu kümmern, dass du dich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlst, und bist mit Lidia weggefahren. Bis zum Herbst hast du dich nicht mehr blicken lassen, dich nie gefragt, was sie eigentlich in den Ferien machen, wo, mit wem und von welchem Geld. Dir war nur wichtig, was dir in den Kram passt, aber nicht deine Kinder.

Dann die Sonntagsbesuche: Ständig kamst du absichtlich zu spät und bist nur wenige Stunden geblieben. Du bist nie mit ihnen rausgegangen, hast nie mit ihnen gespielt. Du hast ferngeschaut, und sie haben abwartend neben dir gesessen, haben dich dabei keine Sekunde aus den Augen gelassen.

Und an den Feiertagen? An Weihnachten, Silvester, Heilige Drei Könige und Ostern hast du dich gar nicht erst gemeldet. Und als die Kinder ausdrücklich darum gebeten haben, zu dir kommen zu dürfen, hast du immer gesagt, du wüsstest nicht, wohin mit ihnen, als wären es Wildfremde. Anna hat dir eine Zeichnung von ihrem Todestraum geschenkt und dir alles ganz genau erklärt. Du hast nicht mit der Wimper gezuckt, keine Regung gezeigt, sondern dir einfach nur alles angehört und gesagt: »Was für schöne Farben!« Emotional wurdest du erst, wenn du in unseren Gesprächen betonen wolltest, dass du dein eigenes Leben führst, unabhängig von unserem, und dass die Trennung endgültig ist.

Heute weiß ich, dass du Angst hast. Angst, die Kinder könnten deine Entscheidung, uns auszuschließen, ins Wanken bringen, sich in deine neue Beziehung einmischen und sie zerstören. Deshalb ist es nichts als Geschwätz, wenn du behauptest, dass du den Kindern auch in Zukunft ein Vater sein willst. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Indem du mich verstößt, verstößt du auch deine Kinder. Deine Kritik an der Familie, an den damit verbundenen Rollen und der ganze Quatsch ist doch bloß ein Vorwand: Du kämpfst kein bisschen gegen eine erdrückende Institution, die den Menschen auf eine bloße Rolle reduziert. Denn wenn dem so wäre, würdest du merken, dass ich ganz deiner Meinung bin. Dass ich mich ebenfalls befreien und verändern will. Wenn dem so wäre, würdest du nach der Zerschlagung der bürgerlichen Familie innehalten, sobald dir klar ist, in welches emotionale, finanzielle und soziale Chaos du uns da gerade stößt, und würdest unsere Gefühle und Bedürfnisse sofort anerkennen. Du willst Sandro, Anna und mich ganz konkret loswerden. Aus deiner Sicht sind wir nichts als ein Glückshindernis, etwas, das es dir verwehrt, das Leben zu genießen, ein irrationales, lästiges Überbleibsel. Du hast dir von Anfang an gesagt: Ich muss wieder zu mir selbst finden, auch wenn sie das umbringt.

6.

Du führst das Beispiel mit der Treppe an. »Weißt du noch beim Treppensteigen?«, so deine Worte, »da setzen wir einen Fuß vor den anderen, wie wir es als Kinder gelernt haben. Doch die Freude über die ersten Schritte ist längst verflogen. Mit der Zeit haben wir uns immer mehr am Gang unserer Eltern und unserer großen Geschwister orientiert, an denjenigen, denen wir nahestehen. Die Beine gehorchen uns jetzt ganz automatisch. Und die Aufregung und Begeisterung, das Glück darüber, laufen zu können, sind genauso verloren gegangen wie die Einzigartigkeit unseres Gangs. Wir bewegen uns in dem Glauben, dass uns die Beine gehorchen, aber dem ist nicht so. Gemeinsam mit uns nehmen die Stufen noch viele andere, denen wir es gleichtun. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die Beine bewegen, ist nichts als das Ergebnis unserer Angepasstheit. Entweder wir schlagen eine neue Gangart an und finden das Glück des Anfangs wieder«, so dein Credo, »oder aber wir fügen uns dem Alltagstrott.«

Habe ich das richtig zusammengefasst? Darf ich dir endlich sagen, was ich davon halte? Das ist eine ganz dumme Metapher, das kannst du eindeutig besser, aber lassen wir das mal so stehen. Wie immer wolltest du mir im übertragenen Sinn klarmachen, dass wir einmal glücklich gewesen sind, dieses Glück aber irgendwann Ritualen gewichen ist, die zwar dafür gesorgt haben, dass Tage, Monate und Jahre problemlos verstrichen sind, uns und unsere Kinder aber erdrückt haben. Na toll. Aber jetzt musst du mir bitte erklären, worauf das hinauslaufen soll. Willst du damit sagen, dass du die Uhr gern um fünfzehn Jahre zurückdrehen würdest? Aber dass dir, weil das nun mal nicht geht und deine Sehnsucht nach dem Glück des Anfangs so stark ist, leider nichts anderes übrig bleibt, als mit Lidia einen Neuanfang zu wagen? Willst du mir das sagen? Wenn ja, sage ich dir Folgendes: Auch ich spüre seit einiger Zeit, dass das einstige Glück abgenommen hat. Auch ich merke seit einiger Zeit, dass wir uns verändert haben, dass diese Veränderung Sandro, Anna und uns nicht guttut, dass wir riskieren, uns und die Kinder unnötig zu quälen, wenn wir zusammenbleiben. Auch ich befürchte seit einiger Zeit, dass wir, wenn wir uns damit zufriedengeben, nebeneinanderher zu leben und so unsere Kinder großzuziehen, gegen ihr, aber auch gegen unser Interesse verstoßen. Und dass es in diesem Fall besser wäre, sich zu trennen. Doch im Gegensatz zu dir bin ich fest davon überzeugt, dass wir die Schlüssel zum irdischen Paradies deinetwegen verloren haben, und dass es für mich besser wäre, mich mit jemandem zusammenzutun, der weniger gedankenlos ist. Ich verdränge euch nicht, leugne nicht, dass es euch gibt, nur um mich zu befreien. Wie soll ich mich auch befreien? Indem ich eine neue Beziehung eingehe, eine neue Familie gründe wie du mit Lidia?

Aldo, ich bitte dich, keine hohlen Phrasen mehr. Ich bin völlig am Ende und bitte dich ein allerletztes Mal, komm endlich zur Vernunft! Es bringt nichts, der Vergangenheit hinterherzutrauern, so wie es auch nichts bringt, immer neuen Anfängen hinterherzujagen. Für deinen Wunsch nach Veränderung gibt es nur einen Ausweg, nämlich uns vier, Sandro, Anna, dich und mich. Es ist unsere Pflicht, gemeinsam neue Wege zu gehen. Sieh mich an, sieh mich gut an, ich bitte dich, sieh mich richtig an: Ich sehne mich nicht nach der Vergangenheit. Ich versuche, deine dämlichen Stufen in meinem eigenen Tempo zu nehmen, und will weiterkommen. Aber wenn du weder mir noch meinen Kindern Gelegenheit dazu gibst, werde ich vor Gericht ziehen und das alleinige Sorgerecht beantragen.

7.

Endlich hast du Farbe bekannt, hast angesichts der richterlichen Anordnung nicht mit der Wimper gezuckt und keinen Finger gekrümmt, um deine so oft bemühten Vaterrechte einzuklagen. Du hast akzeptiert, dass ausschließlich ich mich um die Kinder kümmere, und zwar unabhängig davon, ob sie dich brauchen oder nicht. Du hast sie mir aufgebürdet und sie offiziell aus deinem Leben verbannt. Und weil Schweigen Zustimmung bedeutet, wurden die minderjährigen Kinder jetzt mir zugesprochen. Mit sofortiger Wirkung. Bravo, ich bin wirklich stolz darauf, dich geliebt zu haben.

8.

Ich habe mich umgebracht. Ich weiß, dass es richtig heißen muss, ich habe versucht mich umzubringen, aber das stimmt nicht. Im Grunde bin ich tot. Glaubst du, ich hab das getan, damit du wieder zurückkommst? Ist das der Grund, warum du dich sogar davor gehütet hast, dich auch nur fünf Minuten im Krankenhaus blicken zu lassen? Hast du Angst gehabt, in eine Situation zu geraten, der du dich so schnell nicht entziehen kannst? Oder davor, dich den Folgen deines Handelns stellen zu müssen?

Meine Güte, du bist wirklich ein schwacher, verwirrter Mensch – ohne jedes Feingefühl, oberflächlich und das genaue Gegenteil von dem Mann, den ich vor zwölf Jahren kennengelernt habe. Du interessiert dich nicht für Menschen, dafür, wie sie sich verändern und weiterentwickeln. Du benutzt sie lediglich, tolerierst sie bloß, wenn sie dich auf ein Podest stellen. Du suchst ihre Nähe nur, wenn sie dein Ansehen steigern, dir eine Rolle zukommen lassen, für die du dich als würdig erachtest, und wenn sie dich feiern, denn dann musst du dir nicht eingestehen, dass du in Wahrheit nur Fassade bist mit nichts dahinter, und dass dir dieses Nichts Angst macht. Jedes Mal wenn diese Methode versagt, jedes Mal wenn sich Menschen von dir distanzieren und versuchen, sich weiterzuentwickeln, machst du sie kaputt und ziehst weiter. Du bleibst nie an einem Ort, willst immer im Mittelpunkt stehen. Angeblich weil du mit der Zeit gehen willst. »Mitbestimmung« nennst du diesen Wahnsinn. Ja, du bestimmst mit, bist überall dabei, ein bisschen zu viel, wenn du mich fragst. Doch in Wahrheit bist du einfach nur denkfaul, greifst Ideen und Begriffe aus Büchern auf, die gerade angesagt sind, und blähst sie künstlich auf. Du unterwirfst dich voll und ganz den Konventionen und Meinungen derjenigen, die etwas zu sagen haben – Leute, zu denen auch du möglichst bald gehören willst. Du bist nie du selbst, bist es vielleicht nie gewesen. Du weißt nicht mal, was das bedeutet. Alles, was du kannst, ist eine Gelegenheit beim Schopf ergreifen, wenn sie sich denn bietet. Weil du in Rom die Möglichkeit hattest, Assistent an der Uni zu werden, bist du Assistent geworden. Weil du von der Studentenrevolte erfasst wurdest, hast du dich politisch engagiert. Weil deine Mutter gestorben ist, die sehr anhänglich war, und du damals mit mir zusammen warst, hast du mich geheiratet. Sogar Kinder hast du in die Welt gesetzt, aber nur weil du dachtest, dass das zum Verheiratetsein einfach dazugehört. Dann bist du einer jungen Frau aus gutem Haus begegnet und im Namen der sexuellen Revolution und der Zerschlagung der Familie ihr Liebhaber geworden. Und so wird es immer weitergehen, sodass du nie der sein wirst, der du sein willst, sondern immer nur der, den man gerade sucht.

In der schwierigen Zeit damals – drei Jahre nichts als Kummer – habe ich versucht dir zu helfen. Ich habe mich Tag und Nacht infrage gestellt und dich aufgefordert, dasselbe zu tun. Aber das ist dir gar nicht aufgefallen. Du hast mir kaum zugehört, und ich bin mir ziemlich sicher, dass du auch meine Briefe nicht gelesen hast. Dabei habe ich verstanden, dass die Institution Familie durchaus erdrückend ist, und dass uns die Rollen, in die sie uns zwingt, kaputt machen. Deshalb habe ich unvorstellbare Anstrengungen unternommen, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich habe mich verändert, grundlegend verändert, ich habe mich weiterentwickelt, doch du hast es nicht mal bemerkt. Und wenn doch, warst du angewidert, hast dich mir entzogen, mich mit einem Halbsatz abgefertigt, mit einem Blick oder einer Geste. Der Selbstmordversuch, mein Lieber, ist der Beweis dafür. Du hast mich schon vor langer Zeit umgebracht, und zwar nicht in meiner Rolle als Ehefrau, sondern als Mensch in der Blüte seines Lebens, der dir absolut aufrichtig gegenübergetreten ist. Dass ich tatsächlich überlebt habe, dass ich jetzt offiziell noch am Leben bin, ist für mich kein Glück – nicht im Geringsten! Aber für meine Kinder sehr wohl. Deine Abwesenheit, dein Desinteresse sogar in dieser Extremsituation, haben mir gezeigt, dass du so oder so deiner Wege gegangen wärst, selbst wenn ich gestorben wäre.

9.

Gern will ich deine Fragen beantworten.

In den letzten beiden Jahren habe ich durchgehend gearbeitet, in verschiedenen Jobs und in der Regel für einen Hungerlohn. Erst seit Kurzem habe ich eine feste Stelle.

Unsere Trennung ist praktisch vollzogen – sowohl was den Familienstand als auch was mein alleiniges Sorgerecht für die Kinder betrifft, mit dem du dich einverstanden erklärt hast. Ich wüsste nicht, warum wir jetzt daran etwas ändern sollten.

Das Geld, das du mir schickst, bekomme ich pünktlich, obwohl ich dich nie um etwas gebeten habe – weder für die Kinder noch für mich. Wenn es mir meine Einkommenssituation erlaubt, versuche ich es nicht anzurühren, sondern lege es für Sandro und Anna zurück. Der Fernseher ist schon ewig kaputt, und ich zahle keine Gebühren mehr.

Du schreibst, dass du das Bedürfnis hast, wieder Kontakt zu deinen Kindern aufzunehmen. Sagst, dass es nach nunmehr vier Jahren möglich sein müsse, das Problem konstruktiv anzugehen. Aber was gibt es da noch anzugehen? Hat sich nicht klar gezeigt, wie es um dein Bedürfnis bestellt ist, als du dich davongestohlen, uns um unser Leben gebracht und sie im Stich gelassen hast, weil dir die Verantwortung zu groß wurde? Ich hab ihnen deine Bitte auf jeden Fall vorgetragen, und sie haben beschlossen, dich zu treffen. Solltest du es vergessen haben, rufe ich dir noch mal in Erinnerung, dass Sandro jetzt dreizehn ist und Anna neun. Sie leiden unter Unsicherheit und Angst. Mach es für sie nicht noch schlimmer.

Teil II

Erstes Kapitel

1.

Alles schön der Reihe nach: Kurz bevor wir in die Ferien fuhren, folgte Vanda dem Rat ihres Orthopäden. Wegen eines Handgelenkbruchs, der einfach nicht heilen wollte, mietete sie für zwei Wochen einen Elektrostimulator. Der mit der Firma vereinbarte Preis betrug zweihundertfünf Euro, und die Zustellung sollte innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden erfolgen. Am darauffolgenden Tag klingelte es um die Mittagszeit, und da meine Frau in der Küche zu tun hatte, machte ich auf. Dabei lief der Kater wie immer vorneweg. Eine zierliche junge Frau mit kurzen, vielleicht etwas dünnen schwarzen Haaren und lebhaften, ungeschminkten Augen in einem zarten, extrem blassen Gesicht reichte mir eine graue Schachtel. Ich nahm das Paket entgegen, und da mein Geldbeutel auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer lag, sagte ich: »Entschuldigen Sie bitte einen Moment.« Sie folgte mir unaufgefordert in die Wohnung.

»Schön!«, rief sie und wandte sich dem Kater zu. »Wie heißt du denn?«

»Labes«, erwiderte ich.

»Was ist denn das für ein Name?«

»Eine Abkürzung für La bestia, ›das Tier‹.«

Die junge Frau lachte, beugte sich vor und streichelte Labes.

»Das macht zweihundertzehn Euro«, sagte sie.

»Nicht zweihundertfünf?«

Ganz auf den Kater konzentriert, schüttelte sie nur den Kopf, kraulte ihn am Kinn und gab dabei irgendwelche sinnlosen Laute von sich. Nach wie vor in der Hocke, sagte sie mit dem beschwichtigenden Tonfall eines Menschen, der beruflich von Haus zu Haus zu geht und ganz genau weiß, wie man nervöse ältere Leute beruhigt, wenn man als Fremder bei ihnen auf der Matte steht: »Öffnen Sie die Schachtel. Darin liegt die Rechnung, dann sehen Sie, dass es zweihundertzehn sind.« Während sie weiterhin den Kater kraulte, schaute sie sich neugierig um und warf einen Blick in mein Arbeitszimmer.

»So viele Bücher!«

»Die brauche ich für meine Arbeit.«

»Eine schöne Arbeit. Und so viel kleine Figuren! Der Würfel da hat ein fantastisches Blau. Ist der aus Holz?«

»Aus Metall. Den hab ich vor vielen Jahren in Prag gekauft.«

»Wirklich eine schöne Wohnung!«, rief sie und richtete sich auf. Dann zeigte sie erneut auf die Schachtel: »Schauen Sie ruhig nach.«

Das Leuchten in ihren Augen gefiel mir.

»Das passt schon«, sagte ich und gab ihr zweihundertzehn Euro.

Sie steckte sie ein, und während sie sich vom Kater verabschiedete, ermahnte sie mich noch: »Überanstrengen Sie sich nicht beim Lesen. Tschüs, Labes!«

»Danke und auf Wiedersehen«, entgegnete ich.

Das war es auch schon. Nach wenigen Minuten kam Vanda aus der Küche, in einer grünen Schürze, die ihr fast bis zu den Füßen reichte. Sie öffnete die Schachtel, steckte das Netzteil in die Steckdose, kontrollierte, ob der Motor funktionierte, und sah sich die Magnetspule näher an, weil sie wissen wollte, wie man sie benutzte. Währenddessen warf ich aus Neugier einen Blick auf die beigelegte Rechnung. Die junge Frau hatte mich übers Ohr gehauen.

»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte meine Frau, die, egal wie zerstreut sie ist, immer sofort spürt, wenn meine Laune umschlägt.

»Sie hat zweihundertzehn Euro verlangt.«

»Und du hast sie ihr gegeben?«

»Ja.«

»Aber ich hab dir doch gesagt, dass es zweihundertfünf kostet.«

»Sie hat einen anständigen Eindruck gemacht.«

»War es eine junge Frau?«

»Ja.«

»War sie hübsch?«

»Geht so.«

»Ein Wunder, dass sie dir bloß fünf Euro aus der Tasche gezogen hat.«

»Fünf Euro sind schließlich nicht die Welt.«

»Fünf Euro waren mal zehntausend Lire.«

Mit zusammengekniffenen Lippen, wie immer, wenn sie verärgert ist, las sie sich die Gebrauchsanweisung durch. Sie schaut sehr aufs Geld, ist seit jeher extrem sparsam und sich trotz ihrer Wehwehchen nach wie vor nicht zu schade, sich nach einem Eincentstück im Straßenstaub zu bücken. Sie gehört zu den Leuten, die nie müde werden zu betonen, dass ein Euro zweitausend Lire sind – so als müssten sie es sich vor allem selbst ständig neu vergegenwärtigen. Dass man vor fünfzehn Jahren noch zu zweit für zwölftausend Lire ins Kino gehen konnte, während man heute bei einem Eintrittspreis von acht Euro pro Karte zweiunddreißigtausend Lire hinblättern muss. Unser heutiger Wohlstand und in gewisser Weise auch der unserer Kinder, die uns häufig um Geld bitten, ist also weniger meiner Karriere als ihrer Sparsamkeit geschuldet. Dass uns eine Wildfremde vor wenigen Minuten um fünf Euro erleichtert hatte, regte sie bestimmt genauso auf, wie sie sich über den Fund derselben Summe neben einem parkenden Wagen gefreut hätte.

Ihre Enttäuschung war wie so oft ansteckend. »Ich werde der Firma eine Mail schreiben«, sagte ich und zog mich mit dem Vorsatz, den kleinen Betrug zu melden, ins Arbeitszimmer zurück. Ich wollte meine Frau besänftigen, ihre Missbilligung macht mich seit jeher nervös – ganz zu schweigen von ihrer sarkastischen Bemerkung, dass ich in meinem Alter immer noch so dumm sei, auf weibliche Tricks reinzufallen. Kaum hatte ich den Computer angemacht, rief ich mir die Gesten, die Stimme und die Worte der Paketbotin noch einmal ins Gedächtnis. Ich musste wieder an ihr einnehmendes Wesen denken, daran, wie sie den Kater gelobt und »so viele Bücher« gesagt hatte. Mir fiel ein, mit welcher Freundlichkeit sie mich fast schon gedrängt hatte, die Schachtel zu öffnen und selbst nachzusehen. Anscheinend hatte sie nur einen kurzen Blick auf mich werfen müssen, um zu wissen, dass ich ein leichtes Opfer sein würde.

Diese Erkenntnis ärgerte mich. Ich verglich die Art, wie ich noch vor wenigen Jahren reagiert hätte (»Sie verschwenden bloß meine Zeit, das ist die vereinbarte Summe, auf Wiedersehen«), mit meiner Reaktion von heute (»Der Kater heißt Labes, ich brauche die Bücher für meine Arbeit, den Würfel hab ich in Prag gekauft, das passt schon, danke«). Und beschloss, deshalb ein paar bitterböse Sätze in meine Tastatur zu hacken. Doch schon bald überfiel mich eine Art Trägheit, und ich dachte: Wer weiß, wie diese Frau lebt? Ein prekärer, schlecht bezahlter Job, pflegebedürftige Eltern, horrende Mieten, dringend benötigte Anschaffungen wie Schminkzeug und eine neue Strumpfhose, ein arbeitsloser Ehemann oder Freund, Drogenprobleme … Schriebe ich der Firma, würde sie dieses kleine Zubrot bestimmt auch noch verlieren. Was waren schon fünf Euro – ein Trinkgeld, das ich ihr ohne meine gestrenge Frau im Nacken bereitwillig gegeben hätte. Würde die junge Paketbotin in diesen schweren Zeiten die Beträge weiterhin zu ihren Gunsten aufrunden, würde sich ohnehin bald ein anderer finden, der nicht so verständnisvoll war, und sie dafür zur Rechenschaft ziehen.