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Du sitzt vor dem Fernseher. Eine Samstagabendshow. Live. Harmlos. Bis plötzlich eine Geisel genommen wird - vor laufender Kamera. Nur: Im Saal selbst ist nichts zu sehen. Die Erpresser existieren nicht. Und trotzdem stirbt jemand. Alexander, Regisseur der Sendung, versucht, das Unerklärliche zu stoppen. Zusammen mit seiner Bildmischerin Petra gerät er in eine Spirale aus Täuschung, Kontrolle und simulierter Wirklichkeit. Was als Störung beginnt, wird zur systematischen Zersetzung von Wahrheit. Wer kontrolliert, was wir sehen, kontrolliert, was wir glauben. »Auf Sendung« ist ein Tech-Thriller über perfekte Bilder, die täuschen - und über eine Realität, die sich längst selbst programmiert.
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Auf Sendung
Lagebesprechung
Im Dunkel
Der lange Pfad
Piratennest
Realitätsverlust
Der alte Knochen
Die Jupiter-Mission
Der Alptraum
Alles wird gut
Die Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben.
Philip K. Dick
Nicht die Welt ist ein Trugbild, sondern unsere Vorstellung von ihr.
Arthur Schopenhauer
„Noch zentraler auf die M, Sigi. Und etwas enger, damit du Tommi deutlicher im Bild hast. Das Logo im Hintergrund kannst du oben ruhig anschneiden. Sobald du auf ‚Rot‘ bist, langsam zurückfahren, bis das Publikum unten ins Bild kommt. Dann langsam auslaufen lassen. Danach schneiden wir zu Katrin, und du fährst schnell raus, damit sie weiter aufziehen kann. Katrin, ebenfalls verstanden?“
„Verstanden“, tönt eine weibliche Stimme aus der Intercom.
„Gut so?“, folgt Sigis Stimme, ebenfalls über die Lautsprecher im Ü-Wagen.
Alexanders Blicke wechseln schnell zwischen zwei Monitoren. „Ja, das passt Sigi. Katrin, ich würde noch deutlich weiter aufziehen, sonst hast du eine ähnliche Einstellungsgröße wie Sigi, okay?“
„Okay.“
„Zum Jubiläum können wir ruhig etwas von der schönen Ausstattung zeigen – Tommi ist schon präsent genug“, ergänzt Alexander und lacht in sich hinein.
„Wenn du meinst?“, bemerkt Katrin trocken.
„Nichts dagegen“, schließt sich Nana an, eine der beiden Redakteurinnen, die rechts sitzen.
Alexander überfliegt rasch die restlichen sechs Monitore vor sich und wendet sich dann an seine Bildmischerin: „Petra, die Sieben gefällt mir nicht.“ Er schaut sich suchend um: „Wo ist Jo? … Er muss ein Stück nach unten schwenken und den Ausschnitt enger nehmen. Die Unterseite der Empore ist zu sehen, das sieht nicht schön aus.“
Während Alexander aufgeregt spricht, wechselt Petra am Regiepult konzentriert zwischen den verschiedenen Kameraeinstellungen.
„Jo wollte kurz die Fünf überprüfen, es gab ein Problem mit dem Bildsignal“, bemerkt Konsti. Der Bildingenieur hat seinen Blick auf mehrere Monitore gerichtet, die die Kamerasignale überwachen.
„Die Fünf!?“, stößt Alexander hervor. „Das ist mir nicht aufgefallen.“
„Aber mir. Und Jo“, antwortet Konsti.
„Und warum hast du dich nicht darum gekümmert?“, fragt Alexander.
Petra mischt sich ein: „Du kennst doch Jo, Alexander.“
„Malte, wenn du den Bühneneingang gleich etwas näher zeigen könntest, wäre das super“, unterbricht Alexander sie, während sein Blick auf Monitor drei gerichtet ist.
„Näher, verstanden“, tönt es aus der Intercom.
„Und Sabine, sobald die Gäste gleich die Bühne betreten, fährst du auf sie zu. Deine jetzige Position ist perfekt“, merkt Alexander an, während er auf Monitor vier starrt. Dann wandern seine Blicke rasch über die übrigen Monitore. Er presst die Lippen aufeinander und wendet sich wieder an Petra: „Ich weiß nicht – meinst du, es war eine gute Idee, während der Gesangsnummer nachher den Kran einzusetzen? Jetzt, wo ich das Publikum vor mir sehe, denke ich, eine Kreisfahrt wäre besser. Was meinst du?“
„Die Michael-Ballhaus-Gedächtnisrunde?“, entgegnet Petra, während sie weiter konzentriert die Schnitte setzt.
„Ist eine gute Idee, ja“, schließt sich Nana an.
„Bildlich gesehen ist das die bessere Idee, stimmt“, mischt sich Petra erneut ein: „Aber ob Sandra da mitmacht? Wir haben es vorher nicht geprobt. Für Sandra wäre das kein Problem, sie ist da top. Aber der Kabelhelfer hinter ihr ist ein Neuling – es könnte sein, dass er mit dem Kabel hängen bleibt. Wir hätten das vorher proben müssen.“
„Ein Neuling!“, presst Alexander kritisch hervor. „Was hat der bei Sandra zu suchen? Wer hat die Dispo gemacht?! Wieder Frank? Der ist doch reif für die Rente! Ich hatte explizit darum gebeten, dass Katja das übernimmt!“
Petra strafft sich, bleibt aber weiterhin konzentriert. „Da sie – auf deine Anweisung hin – mit der Steady nur ein paar vergleichsweise ‚statische‘ Aufnahmen machen sollte, hat Sandra dem ‚Neuling‘ eine Chance gegeben …“
… „Alexander, ich muss mit dir reden!“
Jo steht plötzlich mit besorgter Miene in der Regie: „Mit der Fünf stimmt was nicht.“
„Einen Moment, Jo.“ Alexander hebt entschuldigend die Hand und wendet sich an Petra: „Diese zwei Zuschauer da in der ersten Reihe – die gefallen mir gar nicht. Ihre bunten Hemden: Wir sind doch nicht beim Karneval!“
Petra dreht sich kurz zu ihm um: „Und, was hättest du gerne?“
Alexander lässt sich genervt in den Sessel fallen. „Man hätte sie weiter hinten platzieren sollen – am besten direkt hinter ein paar Sitzriesen! Wo sie nicht auffallen, verdammt nochmal.“
Während Petra immer wieder schnell auf den Ablaufplan blickt und dann an den vorher festgelegten Stellen des Programms zu einer der acht Kameras schneidet, bemerkt sie: „Du weißt, dass die Anweisung von ganz oben kam: Kein gezieltes Platzieren des Publikums mehr. Keine verdeckten Diskriminierungen.“
„Richtig, Alexander“, schaltet sich Uschi, die zweite Redakteurin, mit strenger Stimme ein. „Das müssen wir leider befolgen.“
„Ach, hört mir auf mit diesem neumodischen Gedöns“, entgegnet Alexander unwirsch. „Nicht auf Kosten meiner Sendung!“
Er schnellt nach vorne und bellt ins Mikrofon: „Sigi, du musst mich retten. Wir machen mit dir gleich nicht die besprochene Halbtotale vom Publikum. Da sitzen zwei Gestalten, die will ich nicht noch mal sehen. Fahr stattdessen so weit zurück, dass du die Zuschauer in einer Totalen ab dem vorderen Drittel links im Bild hast – auf jeden Fall mit Blick Richtung Bühne. Und zwar genau in dem Moment, wenn die Gäste zur Couch gehen und der Applaus seinen Höhepunkt erreicht.“
„Verstanden“, ist Sigis Stimme über die Intercom zu hören.
„Alexander! Noch mal wegen der Fünf!“, mischt sich Jo erneut ein, während Alexander die Monitore betrachtet und Petra eine Hand auf den linken Arm legt: „Jetzt auf die Eins.“
Petra schaltet zu Kamera eins.
Alexander betätigt den Knopf der Intercom: „Gut, Sigi, genau richtig.“
„Alexander, die Fünf …“, beginnt Jo nun mit energischem Gesichtsausdruck, während der Regisseur sich zu ihm umdreht.
„Okay. Aber erst muss ich mit dir über die Sieben sprechen.“
Er dreht sich schnell zurück und zeigt auf den Monitor der gerade inaktiven Remote-Kamera: „Kannst du da bitte sofort ein wenig nach unten schwenken und etwas enger werden, damit die Empore oben nicht mehr zu sehen ist?“ Er gibt Jo mit ausgestrecktem Arm zu verstehen, sich an das Steuerpult der Remote-Kameras zu setzen und seine Anordnung auszuführen. Doch Jo bleibt stehen und blickt Alexander mit besorgter Miene an.
„Die Sieben hat Zeit – die ist erst in knapp einer Minute dran.“
Alexander runzelt die Stirn. Er kann kaum fassen, dass Jo seine Anweisung nicht ausführt.
„Die Fünf ist unser eigentliches Problem, glaub mir“, ergänzt Jo mit Nachdruck.
Alexander wirft Petra einen schnellen Blick zu, um sicherzugehen, dass sie den Ablauf im Griff hat, dann wendet er sich wieder Jo zu: „Aber ganz schnell, bitte, Jo. Um was geht’s?“
Jo setzt gerade zur Erklärung an, als Petra erstaunt ausruft: „Siehst du das dort hinten, Alexander?“ Dabei zeigt sie auf den Monitor der inaktiven Kamera zwei.
Alexander beugt sich nach vorn: „Das glaube ich nicht!“
„Damit bekommen wir richtig Ärger“, bemerkt Nana.
Hastig betätigt Alexander die Intercom: „Chris, siehst du das in der letzten Zuschauerreihe? Sorg bitte sofort dafür, dass das aufhört.“
Alexander wartet auf eine Bestätigung vom Set-Aufnahmeleiter – doch Chris’ Mikrofon bleibt stumm.
Petra runzelt die Stirn, betätigt selbst die Intercom und wiederholt Alexanders Anweisung. Keine Antwort.
Alexander schüttelt den Kopf und fragt in die Runde: „Wer sind die Assistenten von Chris? Können wir sie direkt erreichen?“
„Nein, das geht nur über Chris und Yvonne. Die stimmen sich untereinander ab“, schaltet sich Petra ein. „So hatten wir es beschlossen, um den Funkverkehr insgesamt zu entlasten.“
„Yvonne hat aber mit den Gästen zu tun – hinter der Bühne“, merkt Nana an, während sie auf den Ablaufplan blickt. „Ja, sie ist die nächsten Minuten backstage.“
„Funk sie trotzdem an, irgendwas wird sie ja tun können“, entgegnet Alexander, während seine Blicke schnell zwischen den Monitoren hin- und herspringen.
Nana beugt sich vor und schaut Petra fragend an.
Petra deutet mit einer schnellen Geste auf einen der farbig leuchtenden Knöpfe auf dem Regiepult: „Die hier – die blauen – sind für die Intercom. Die Nummer steht im Ablaufplan.“
Nana wirft einen Blick darauf, dann betätigt sie die 11: „Yvonne, kannst du uns hören?“
„Ja, was gibt’s?“, meldet sich eine weibliche Stimme.
„Yvonne“, schaltet sich Alexander ein, „wir erreichen Chris nicht. Sag, sind eure Assistenten vor oder hinter der Bühne?“
„Backstage, alle beide“, antwortet Yvonne. „Es gab Unstimmigkeiten mit den Gästen – wir haben alle Hände voll zu tun. …“
Im Hintergrund sind laute Stimmen zu hören, dann meldet sich Yvonne erneut: „… sorry, aber ich muss da schlichten.“ Damit beendet sie die Verbindung.
Uschi blickt verwundert in die Runde: „Was ist da los?“
„Yvonne wird das schon hinbekommen“, sagt Alexander. „Dann müssen wir selbst eine Lösung finden.“
Er spricht Kamera eins über die Intercom an: „Sigi – Chris antwortet nicht. Kannst du ihn sehen und ihm ein Zeichen geben?“
„Einen Moment …“
„Alexander“, mischt sich Jo erneut ein, „die Fünf …“
„… Ich kann ihn nirgends sehen“, unterbricht Sigi über Intercom. „Als ich vorhin unerwartet zurückfahren musste, habe ich ihn aus den Augen verloren.“
Alexander stellt eine Verbindung zu allen Kameraleuten her: „Kann jemand schnell zu Chris gehen und ihm sagen, er soll seine Verbindung überprüfen? … Malte, Sandra – ihr seid die nächsten dreißig, vierzig Sekunden nicht live.“
Ein paar Sekunden vergehen, dann melden sich erst Malte, dann Sandra: „Also, ich kann Chris gerade nicht sehen, komisch …“ „… ich auch nicht. Wieso, was willst du von ihm?“
Alexander ist nun außer sich: „Leute, das kann’s doch nicht geben! Ihr müsst aus dem Augenwinkel heraus alles im Blick behalten – immer!“
Petra flüstert: „Alexander, du vergisst unseren Arbeitskodex. Beruhige dich bitte.“
Doch Alexander beruhigt sich nicht: „Alle Kameras, die laut Ablauf noch einen Schuss auf die Zuschauerreihen haben – bitte ab sofort, ohne weitere Anweisung, maximal bis zur Saalmitte zeigen. Von vorne aus gesehen.“
Sabine meldet sich über die Intercom: „Könntest du uns auch den Grund nennen?“
Alexander reckt fassungslos die Arme in die Höhe: „Ihr müsst doch sehen, was da hinten los ist! Und so lange das nicht beseitigt ist, will ich es nicht im Bild haben.“
Stille breitet sich aus. Nach einigen Sekunden meldet sich Sandra über Intercom: „Alexander … was meinst du genau?“
„… ja, was meinst du denn?“, schließt sich Malte an.
„Ich kann dir nicht ganz folgen, Alexander“, ergänzt Sigi.
Alexander dreht sich fragend zu Petra, die wieder konzentriert den Ablaufplan abarbeitet und zwischen den Bildquellen hin- und herschaltet. Er tippt ihr auf die Schulter und zeigt auf den Monitor der inaktiven Kamera zwei: „Du siehst das doch auch – nach wie vor?“
Auf dem Monitor sind in der letzten Zuschauerreihe sechs Personen mit knallbunten Hemden zu erkennen, die ein Transparent in die Höhe halten. In fetten Buchstaben steht darauf:
„Wir können unseren Augen nicht trauen.“
Alexander spürt eine Hand auf seiner Schulter und fährt erschrocken herum.
Jo steht hinter ihm und schaut ihn vorwurfsvoll an. „So, jetzt hörst du mir mal zu!“
Als Alexander sich wieder der Monitorwand zuwenden will, verstärkt Jo seinen Griff – Alexander stößt einen Schmerzensschrei aus.
„Spinnst du?!“, fährt er Jo an.
Doch der entgegnet ruhig, aber bestimmt: „Jetzt hörst du mir gefälligst zu.“
Jo zeigt auf den Monitor der Kamera zwei: „Das da – das können nur wir hier drinnen in der Regie sehen. Verstehst du?“
Alexander folgt Jos Geste, blickt ihn dann verständnislos an.
„Aber wenn wir das Bild der Zwei live schalten“, fährt Jo fort, „dann sieht es die ganze Nation.“
Alexander beginnt zu begreifen.
„Ich habe vorhin für den Bruchteil einer Sekunde etwas auf dem Monitorbild der Fünf gesehen, das mich beunruhigt hat.“ Jo sieht ihn direkt an. „Deshalb habe ich kurz den Ü-Wagen verlassen, um die Verbindung zur Kamera zu überprüfen. Die Leitung zu uns steht einwandfrei – ich habe sie bis zur Stagebox verfolgt. Von dort geht das Kabel direkt zur Remote-Kamera. Aber auf dem kleinen Control-Panel an der Stagebox habe ich etwas entdeckt, das ich nicht für möglich gehalten hätte: Irgendwo auf dem Weg von der Remote zu uns wird das Kamerasignal abgegriffen – und durch ein neu aufbereitetes ersetzt.“
Alexander blickt ihn ungläubig an: „Aber sämtliche Kameras sind kabelgebunden – nichts geht über Funk. Und alle Verbindungspunkte werden von unseren Leuten bewacht. Wie soll das gehen?“
Jo zuckt mit den Schultern: „Das ist mir ebenso ein Rätsel. An der Stagebox sind – neben dem Ton – nur die Fünf und die Sieben angeschlossen.“
„Die Bildkabel in und out waren definitiv von uns? Keines wurde heimlich ausgetauscht?“
„Definitiv“, entgegnet Jo. „Kein Zweifel.“
„Und es ist – theoretisch – auch nicht möglich, über eines der vielen Tonkabel ein manipuliertes Bildsignal einzuspeisen, wenn man vorher innerhalb der Stagebox die Signalwege verändert hat?“
„Vollkommen unmöglich“, mischt sich Konsti ein. „Die Bilddatenrate kombiniert mit dem Datensignal und den Rückkanälen ist um ein Vielfaches höher als das Tonsignal. Das ist ein so gewaltiger Datenmix – das geht nur über Glasfaser. … Und schon gar nicht über die Funkstrecke, nur um das noch mal zu betonen.“
Alexander trommelt mit den Fingern auf das Pult, dann betätigt er die Intercom: „Leute, ich brauche eine klare Aussage von Euch. Erstens: Könnt ihr – wie wir in der Regie – die beiden Personen mit den schrecklich bunten Hemden in der Mitte der ersten Zuschauerreihe sehen? Und zweitens: Seht ihr die sechs Personen mit den ebenfalls unerträglich bunten Hemden in der letzten Zuschauerreihe, die ein Transparent mit der Aufschrift ‚Wir können unseren Augen nicht trauen‘ hochhalten?“
Ein paar Sekunden Stille, dann meldet sich Malte: „Alexander, habt ihr etwa schon den Schampus aufgemacht, obwohl unsere Jubi-Sendung noch läuft?“
Leises Lachen ist zu hören, dann Sandra: „Lasst für uns auch was übrig. Bitte!“
„Nee, echt jetzt?“, schließt sich Sigi an.
Alexander zögert, dann greift er wieder zur Intercom: „Leute, das ist kein Spaß.“
Sabine meldet sich: „Ich kann eure Beobachtung nicht bestätigen. Der Einzige, der ein buntes Sakko trägt, ist – wie immer – Tommi.“
Aus der Intercom ist unterdrücktes Lachen zu hören, gefolgt von einem gedehnten „Jaha …“, das in leisem Prusten untergeht.
Alexander presst die Lippen aufeinander, dann wendet er sich an Konsti: „Hat Thorsten die Verbindung zur Fünf ebenfalls überprüft?“
„Die Bildtechnik konnte keine Unregelmäßigkeit feststellen, was die physische Verbindung betrifft. Sie haben die Seriennummern gegengecheckt“, antwortet Konsti.
„Warum habt ihr mich nicht schon früher darüber informiert?“, fragt Alexander.
Jo verdreht ungläubig die Augen, während Petra ihn strafend ansieht. Alexander lässt sich davon nicht beeindrucken und betätigt erneut die Intercom: „Ist Chris jetzt endlich irgendwo aufgetaucht?“
„Nein“, antworten die Kameraleute unisono.
„Wir könnten die Fünf und Sieben aus der restlichen Sendung ausklammern“, schlägt Alexander vor.
„Kein Problem, das bekomme ich hin“, entgegnet Petra.
„Wir haben keine direkte Leitung zur Security, oder?“, fragt Alexander in die Runde.
„Nope“, sagt Konsti. „Die haben ihren eigenen Funk. Das läuft über die Produktionsleitung.“
Alexander wendet sich an Jo: „Hast du gesehen, wo Guido ist?“
Jo überlegt kurz und zeigt dann auf einen der Monitore: „Da. In der Mitte der sechsten Reihe – neben Tanja.“
„Bei der Redaktionsleitung. Typisch! Und beide sind für uns nicht greifbar,“ ärgert sich Alexander. „99 erfolgreiche Sendungen – die Maschinerie läuft seit Jahren praktisch von selbst. Da kann man sich schon mal gemütlich zurücklehnen!“
Er trommelt mit den Fingern laut auf das Regiepult – Petra wirft ihm dafür einen vorwurfsvollen Blick zu.
Alexander atmet durch, beruhigt sich wieder, nimmt den Hörer des Bereitschaftstelefons und tippt eine Nummer ein. Es ertönt das Freizeichen – niemand nimmt ab.
Er legt auf und schaut Uschi fragend an: „Sollte der Programmdirektor während einer Live-Sendung nicht erreichbar sein? Was sagen da die Regularien?“
„Eigentlich schon“, antwortet Uschi irritiert. „Ich werde es gleich selbst noch mal versuchen.“
„Freunde – wie sieht unser Notfallprotokoll aus?“, fragt Alexander gereizt in die Runde.
„Wenn eine Live-Sendung sabotiert wird? Der Havariefall sieht vor, dass die Sendeleitung dann auf ein Alternativprogramm umschaltet. Konserve. Reaktionszeit: maximal fünf Sekunden“, entgegnet Uschi.
„Aber das ist Jahre her, dass man den Ernstfall mal richtig durchgespielt hat“, meint Konsti kopfschüttelnd – und lacht laut auf. „Haben wir ja nie gebraucht.“
„Wir haben jede Menge Security da draußen, die sofort eingreift, wenn eine Bedrohungslage eintritt – eigenverantwortlich“, ergänzt Nana.
„Zssssss“, macht Alexander verächtlich. „Bei physischer Bedrohung, ja – aber nicht, wenn der Feind durch die Leitung kommt.“
„Dafür ist die IT zuständig“, sagt Konsti. „Wir haben über fünfzig Leute, die sich ausschließlich um Cybersecurity kümmern.“ Dann lacht er gehässig und zeigt auf die Monitorwand: „Man sieht ja, was das bringt …“
„… Die sind aber ausschließlich für Systeme zuständig, die mit dem Internet verbunden sind. Unser Sendesignal ist ein in sich geschlossenes System“, mischt sich eine Lautsprecherstimme ein.
Konsti schaut verdutzt: „Ralph?“
„Ja, wir können euch in der SNG hören. Ihr habt die Kommunikation offengelassen.“
„Wenn ich dich schon dran habe“, fährt Konsti fort: „Euer Sendesignal ist nach wie vor sauber?“
„Ist clean, ja. Der Satellit empfängt von uns ein jungfräuliches Bild. Wie immer,“ fügt Ralph feixend hinzu.
Alexander fährt sich nervös durch die Haare und lehnt sich entwaffnet zurück: „Wie machen die das technisch überhaupt? Also: Teile unseres Bildes in Echtzeit austauschen? Und vor allem – wer sind die?“
Alle schauen sich ratlos an.
„Vielleicht KI?“, meint Jo.
„Okay, ja – aber in Echtzeit?“, gibt Alexander zu bedenken. „Vollkommen ausgeschlossen. Nicht in Sendequalität! Bei allem, was ich darüber weiß, sind wir technisch noch fünf bis zehn Jahre davon entfernt.“ Er schüttelt den Kopf, während er auf den Monitor zeigt, auf dem die Personen samt Transparent zu sehen sind.
„Das Problem bei KI ist, dass Videos mit komplexer Bewegung, realistischer Physik, konsistenter Beleuchtung und hochwertiger Texturierung nicht in einem Durchgang berechnet werden“, schaltet sich Konsti ein. „Es passiert in vielen Iterationen, in denen nach und nach all die Bildfehler beseitigt werden, die uns sofort auffallen würden. Alexander hat recht – in Echtzeit ist das momentan unmöglich. Der limitierende Faktor ist nicht so sehr die Hardware, also die GPUs – es sind die aktuellen KI-Modelle. Denen fehlt es an physikalischer Kohärenz. Sie brauchen unzählige Rechendurchgänge, die sehr viel Zeit benötigen, um aus dem Diffusionsbrei eine realistische Bildsequenz zu erstellen.“
Alexander lacht trocken. „Aber was ist es dann, was wir da sehen? Es passiert doch – ohne Frage!“
Er atmet hörbar aus, dann betätigt er die Intercom: „Katrin, du bist zwar mit der Zwei erst in ein paar Minuten wieder live, aber kannst du mir sofort einen Gefallen tun? Fahr bitte ganz langsam auf die letzte Zuschauerreihe zu – so lange, bis du nur noch etwa zehn bis fünfzehn Personen in der Mitte der letzten Reihe im Bild hast, mit deutlich Luft über den Köpfen. Und noch was – das hört sich verrückt an, aber mach es bitte: Fahr dabei ein paar ‚weiche‘ Haken, sodass sich die Perspektive während der Fahrt ständig verändert. Ganz langsam. Tu es bitte. Danke dir.“
Kurze Stille am anderen Ende der Leitung. Dann Katrins ungläubige Stimme: „Okay???“
Doch ihre Kamera beginnt sich zu bewegen – langsam, in sanften Zickzackbewegungen, fährt sie auf die Gruppe mit dem Transparent zu.
Alle in der Regie studieren das Bild aufmerksam.
Jo äußert sich als Erster: „Unglaublich. Es sieht absolut realistisch aus. Die Personen und das Transparent verändern ihre Perspektive und Größe exakt im Einklang mit ihrer Umgebung. Das sieht überhaupt nicht nach einem Effekt aus. Es ist zu hundert Prozent echt.“
Auf dem Transparent in der letzten Reihe verschwindet plötzlich der Text nach links außen – und wird durch eine neue Botschaft ersetzt, die wie ein Laufband durchs Bild läuft:
„In 15 Minuten werden wir Ihren geschätzten Aufnahmeleiter Chris vor laufender Kamera exekutieren. Stellen Sie rechtzeitig einen Betrag von 500 Millionen Euro bereit – so wird ihm nichts passieren. Sollten Sie die Übertragung der laufenden Sendung unterbrechen oder den uns bekannten Ablaufplan ändern, wird die Exekution vorzeitig ausgeführt. Sobald wir erkennen, dass der Showmaster den Ablauf der Sendung verändert oder Zuschauer den Saal verlassen, wird die Exekution ebenfalls umgehend vollzogen.“
Während der Text durchläuft, entfalten zwei der farbenfroh gekleideten Zuschauer ein weiteres Transparent.
Darauf ist ein verwackeltes Kamerabild zu sehen, das den gefesselten und geknebelten Aufnahmeleiter zeigt. Er befindet sich in einem kleinen, hellen Raum ohne Fenster. Die Kamera fährt dicht an ihn heran. Chris’ Augen sind vor Schreck weit aufgerissen, seine Nasenflügel blähen sich in schnellen Abständen. Er hat Todesangst.
Plötzlich tritt eine Person in einem hellblauen Anzug von hinten an ihn heran – nur von der Hüfte bis zum Brustkorb zu sehen. In beiden Händen hält sie Samurai-Schwerter, deren rasiermesserscharfe Klingen bedrohlich im Licht reflektieren.
Auf dem Transparent läuft der Text weiter:
„Keine Polizei vor Ort und im Umkreis von 500 Metern. Wir beobachten das mit modernster Technik. Kontakt nur zu Personen, die das Geld beschaffen können. Die Zeit läuft.“
Im nächsten Moment wird auf dem Transparent ein Countdown eingeblendet, der in riesigen Lettern von 15:00 rückwärts zählt. Auf dem anderen Transparent bleibt weiterhin das entsetzte Gesicht des Aufnahmeleiters eingeblendet.
Während sie die Transparente halten, blicken die sechs bunt gekleideten Personen mit teils lachender, teils gehässiger Miene in Katrins Kamera, die in diesem Moment zum Stehen kommt.
In der Regie herrscht Totenstille. Lediglich über die Nahfeldmonitore dröhnt der O-Ton aus dem Saal, wo Tommi gerade einen internationalen Star begrüßt. Die knapp 2.100 Zuschauer klatschen vor Begeisterung und Tommi hat alle Mühe, sie wieder zur Ruhe zu bringen, während der Star mit großer Geste Kusshände ins Publikum wirft.
„Das gibt’s nicht!“, durchbricht Alexander das Schweigen.
Während alle anderen um ihn herum um Fassung ringen, springt er auf, reißt die Tür des Ü-Wagens auf und läuft die kleine Metalltreppe am Heck des monströsen Trucks hinunter – an den postierten Sicherheitsleuten vorbei – und sprintet über den Vorplatz zur Veranstaltungshalle. Die beiden Securitys an der massiven Zugangstür lassen ihn durch, und Alexander eilt den langen, neonbeleuchteten Gang im Untergeschoss entlang. Über die Treppe erreicht er das Foyer und geht schnellen Schrittes auf einen Seiteneingang der Halle zu, in der die Live-Sendung läuft.
Er gibt dem dort postierten Wachpersonal zu verstehen, ihm leise die Tür einen Spalt weit zu öffnen, und überfliegt den Saal mit den Augen. Sofort erkennt er: Die bunt gekleideten Personen in der ersten und letzten Zuschauerreihe sind tatsächlich nicht anwesend – ebenso wenig existieren die hochgehaltenen Transparente.
Alexander lässt die Türe vorsichtig wieder schließen.
Dann bleibt er ratlos im Foyer stehen und versucht, sich zu sortieren: Knapp 2.100 Zuschauer sind im Saal, dazu die Stars auf der Bühne und etwa 50 Leute im Bereich dahinter. Hinzu kommen Kameraleute, Tonleute, Beleuchter, Assistenten und Helfer – rund 40 an der Zahl. So wie es aktuell aussieht, sind sie alle nicht in Gefahr. Aber was, wenn die Erpresser ihren Plan ändern und plötzlich eine Bedrohung für alle darstellen? Ein wertvolles Pfand wären diese vielen Menschen ja.
Was aber, wenn auch die Aufnahmen mit dem gefangenen Aufnahmeleiter nur ein Fake sind?
Was, wenn alles ein makaberer Scherz oder ein Vorwand ist, um in Wirklichkeit etwas ganz anderes zu erreichen?
Alexander blickt auf die große Uhr über dem Haupteingang zum Saal: Knapp eine Minute ist seit Beginn des Countdowns verstrichen. Er weiß, dass Petra im Ü-Wagen auch ohne ihn die Bildregie hinbekommen wird. Sie sind seit vielen Jahren ein eingespieltes Duo.
Die eigentliche Show kommt ohnehin weitgehend ohne Regieanweisungen aus. Manchmal hatten er und Petra scherzhaft festgestellt, dass sie bei dieser Sendung eigentlich eher störten. Tommi und sein Team hatten die Show – wenn man die Kameras wegdachte – alleine im Griff. Er agierte mit all seinen Assistentinnen und Assistenten, der Inspizientin und den ihnen zur Seite gestellten Technikern, Bühnenarbeitern und Visagistinnen vollkommen autark – wie eine Varieté- oder Theatertruppe.
Alexander ertappt sich dabei, wie er kurz darüber lachen muss. Genau genommen bildeten sie als Fernsehmacher nur den Rahmen für eine Gruppe von Unterhaltungskünstlern, die das Publikum im Saal auch ohne ihre Hilfe zum Staunen und zum Lachen brachten. Alexander und sein Team – das Fernsehen mit seiner gewaltigen Logistik und Infrastruktur – waren „lediglich“ dazu da, die Show in die Wohnzimmer von Millionen Menschen im gesamten deutschsprachigen Raum zu bringen.
Dafür waren sie da.
Und das war schon alles.
Na ja – es war nicht „nur“ alles.
Bei Licht betrachtet baute das Fernsehen Leute wie Tommi erst zu Stars auf.
Davor waren diese Aufschneider nichts – und danach würden sie auch nichts mehr sein.
Einmal weg von der Mattscheibe, für immer aus dem Sinn.
So einfach war das.
Und das Fernsehen brachte das Geld mit – Unmengen von Geld, das es brauchte, um das Treiben dieser Paradiesvögel überhaupt zu finanzieren.
Und daraus leiteten die Erpresser also ihre Forderung ab: mal eben 500 Millionen aus ihnen herausleiern zu können.
Alexander schüttelt angewidert den Kopf.
Aber wenn sie sich entschließen sollten, ihre manipulierten TV-Bilder auch auf den Livestream zu schalten – und das konnten sie ganz bestimmt, wenn sie wollten – nicht auszudenken.
Maximaler Schockmoment.
Alexander lehnt mit geschlossenen Augen zwischen Seiteneingang und Haupteingang an der Außenwand des Veranstaltungssaals.
Kalter Beton, in den vor Jahrzehnten ein gigantisches, abstraktes Relief gefräst worden war.
Plötzlich wird er unsanft aus seinen Gedanken gerissen, als ihn eine kräftige Hand an der Schulter packt.
„Wo bleibst du denn, um Gottes Willen!!!“, herrscht ihn eine wütende Stimme an.
Als Alexander die Augen öffnet, steht Jo vor ihm. Sein Kopf ist knallrot.
„Wir konnten die Sendeleitung benachrichtigen. Und die wiederum die Polizei. Sie suchen nach einer Lösung, das Geld zu beschaffen.“
Alexander schaut Jo sprachlos an.
Der verliert die Geduld: „Was ist mit dir los?!“
Jo schüttelt Alexander ein weiteres Mal. „Du kannst doch hier nicht tatenlos rumhängen!“
Er gibt Alexander einen Klaps gegen die Brust und macht selbst einen Schritt zurück.
Ihre Blicke treffen sich.
Panik und Wut prallen auf Gleichgültigkeit.
Alexander löst sich aus seiner Starre, blickt kurz nach unten, dann Jo direkt in die Augen: „Du hast doch sicherlich auch einige Spielfilme gesehen, in denen Erpresser oder Geiselnehmer eine hohe Geldsumme fordern. Oft schaffen es der Staat oder die Polizei da nicht mal in zwei oder drei Stunden, auch nur eine oder zwei Millionen aufzutreiben. Wie soll das in unserem Fall mit 500 Millionen in 15 Minuten gelingen?“
