Auf zwei Zylindern durch die Welt der Gefühle - Wolfgang Weil - E-Book

Auf zwei Zylindern durch die Welt der Gefühle E-Book

Wolfgang Weil

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Beschreibung

Nach langen Jahren in der Psychiatrie hat Lydia, Enkelin eines Weingroßhändlers aus Saarburg, ihre Borderline-Störung und damit ihr Leben endlich im Griff. Dabei sind Meditation, Kampfsport, Motorradfahren und eine innere Distanz zu ihrer Familie wichtige Elemente. Aber der Tod und das Erbe des Großvaters erschüttern die mühsam aufgebauten Strukturen und stellen sie vor neue Herausforderungen. Sie begibt sich auf die Suche nach stabilen Freunden. Hier trifft sie auch auf den Tour-Guide Rolf aus Trier. Der ist nicht nur deutlich älter als sie, sondern in seinem Hauptberuf Psychotherapeut. Dass ihre Beziehung keine Zukunft hat, ist beiden von Anfang an klar. Sie wird schon bald auf eine harte Probe gestellt, als die gefährlichen Intrigen neidischer Erbschleicher Lydia bedrohen. Erinnerungen an schlimme Kindheitserfahrungen holen sie ein. Jetzt braucht sie ihre neuen Freunde. Wird es ihr gelingen, Menschen wieder zu vertrauen, und wird Rolf die Kraft finden, mit ihr durch die Krise zu gehen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 516

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Wolfgang Weil

Auf zwei Zylindern durch die Welt der Gefühle

© 2023 Wolfgang Weil

Lektorat + Cover: Christine Giegerich

(https://www.lektorat-giegerich.de/index.html#)

Umschlagfoto: Shutterstock

Schrift: Dafont

ISBN Softcover: 978-3-347-98159-1

ISBN E-Book: 978-3-347-98161-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22629 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22629 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

1. Haelson

2. Nähe

3. Lydia

4. Alltag

5. Dunkelheit

6. Biker

7. Marc

8. Männergespräche

9. Hypnose

10. Schwarzwald

11. Einbruch

12. Maja

13. Streit

14. Eingesperrt

15. Frühstück

16. Falle

17. Motorradtouren

18. Erich

19. Auferstehung

20. Wendepunkte

21. Nachwirkungen

22. Saisonende

23. Neustart

24. Trentino

25. Blumenriviera

Über den Autor

Auf zwei Zylindern durch die Welt der Gefühle

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

1. Haelson

Über den Autor

Auf zwei Zylindern durch die Welt der Gefühle

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Haelson

Hatte die nicht früher mal einen Zopf gehabt? Wie hieß sie noch? Rolf hatte sie erst wahrgenommen als sie sich, ohne ihn anzuschauen, zu ihm an den Frühstückstisch gesetzt hatte. Als sie ihre Jacke über die Stuhllehne hängte, war er aufmerksam geworden.

„Zeigst du mir mal die Jacke? Die ist echt schön!“

Sie blickte auf, als sähe sie ihn zum ersten Mal und reichte sie ihm rüber.

„Nur so eine alte Jacke, von meinem Opa.“

Sie fühlte sich weich und leicht feucht an, als sei sie erst vor Kurzem eingefettet worden. Die Seitentaschen, die Schulterklappen, der integrierte Nierengurt und dann das Etikett.

„Nur so eine alte Jacke vom Opa, was? Verdammt, das ist eine original Haelson. Vermutlich aus den Fünfzigern. Eine Rarität.“

Sie musste ihn kennen, er war doch der Tour Guide! Okay, sie hielt sich meist ein wenig abseits, aber sie war schon öfter dabei gewesen. Sie hatten, hier und da, sogar mal Worte gewechselt. Heute saß sie zum ersten Mal an seinem Tisch und meist hatten die jüngeren Leute nicht so ein Interesse an den älteren Guides, die bereits mit der Rente liebäugelten. Aber wieso hatte er sie so wenig bemerkt? Wieso heute?

„Haelson?“

„Na ja, die Firma Häusler, in Bruchsal. Damals, als man noch Motorrad gefahren ist, weil man kein Geld für ein Auto hatte, haben die diese Jacken hergestellt. War ein echter Renner. Kurz nach dem Krieg standen die Leute noch auf diesen Uniformstil, Schulterklappen, kleine Seitentaschen und so. Später, als sie dann genug Geld für Autos hatten, ist das Motorrad in Vergessenheit geraten. Und damit auch diese Jacken. Schade drum, sind so Motorradjacken-Oldtimer. Darf ich sie mal anziehen?“

Sie nickte ernst. Hatte sie schon mal gelächelt?

Einen Hauch zu groß, die Jacke.

„Sehr schön“, er zog sie wieder aus.

„Du Rolf, wenn sie dir so gefällt, schenke ich sie dir.“

„Was? Nein, das kannst du nicht machen. Die ist echt kostbar, da steckt Geschichte drin. So eine bekommst du so schnell nicht wieder. Außerdem noch vom Opa, das ist ja ein Auftrag des Schicksals. Die darfst du nie hergeben. Höchstens vererben.“

„Wollte dir nur ’ne Freude machen“, stammelte sie und senkte den Blick.

Was? Mein Gott! Rolf war gerührt und fühlte sich blöd.

„Außerdem habe ich auch schon eine. Ich bin so ein Lederjackenfreak, hab sieben oder acht unterschiedliche Lederjacken. Vier davon für Motorräder. Fast eine Sammlung.“ War das ein Lächeln auf ihrem Gesicht?

„Also wenn ich dir schon mit der Jacke keine Freude machen kann, dann lass mich dir wenigstens einen ausgeben. Wie wäre es mit einem Sekt?“

„Zum Frühstück? Ich nehme lieber Cappuccino. Was gibt’s denn zu feiern?“

„Nix, du bist ein guter Guide und ich will einfach mal Danke sagen. Mehr nicht.“

Die Mosel-Ardennen-Tour war zu Ende. Sie hatte am Fronleichnam-Donnerstag begonnen und obwohl die meisten von ihnen Rentner waren, war es der allgemeine Wunsch der Gruppe, am Sonntag relativ früh abzufahren. Also hatten sie sich noch einen schönen Samstag in und um Clervaux, Luxemburg, gegönnt und nach dem ausgedehnten Sonntagsfrühstück würde jeder mal wieder seiner Wege fahren.

Er war seit einigen Jahren Tour-Guide bei der Firma Reisen & Erleben und auf der Trentino-Tour, letztes Jahr, hatte sich eine tolle Gruppe zusammengefunden. Es war so harmonisch, dass sie beschlossen, auf privater Basis Wochenendtouren zu unternehmen. A-Team nannten sie sich scherzhaft. Jeder sollte mal in seiner Heimat eine Tour anbieten. Bereits die erste Tour im Erzgebirge zeigte, dass der Heimvorteil nicht automatisch einen guten Guide machte. Also baten sie Rolf, das Amt auch hier zu übernehmen. Offensichtlich war er ein guter Guide.

Und jetzt wollte Lydia ihm sogar „Danke“ sagen. Komisch. Bei dieser Tour hatte sie sich viel mehr gezeigt. Sie war bei Besprechungen vorne stehen geblieben, hatte hin und wieder seinen Blick gesucht, von sich aus mit den anderen geredet, wo sie sonst immer nur geantwortet hatte. Wieso fiel ihm das erst jetzt auf?

Beim Abschied kam sie auf ihn zu. „Wir können noch ein gutes Stück zusammen fahren.“

„Ja, du musst nach Saarburg.“

„Woher weißt du das?“

„Das hat jemand auf dein Nummernschild geschrieben.“ Zum zweiten Mal gelang es Rolf, ihr ein Lächeln zu entreißen.

„Wenn du einen kleinen Umweg über Trier machst, können wir ja noch kurz Station bei mir machen und ich zeige dir meine Jacken. Lust?“

Das Lächeln war weg und ihre Augen fast so groß wie ihr offener Mund.

„Ich soll mit zu dir kommen?“

„Ja, wieso nicht?“

„Und deine Frau?“

Er zeigte ihr seinen ringlosen Finger. Na gut, er war verheiratet, hatte aber keine Frau mehr. Sie lebten seit einigen Jahren getrennt. Aber was hätte eine Ehefrau dagegen haben sollen? Er wollte ihr doch nur die Haelson zeigen. Moment mal, was dachte sie eigentlich?

„Ich weiß nicht …“ Sie runzelte die Stirn und blickte vor sich.

„Hey, kein Stress. Ich hab mir nichts dabei gedacht. War nur so eine Idee. Wenn du nicht möchtest, ist das voll in Ordnung.“

„Nein, nein, das ist es nicht. Ist ja eine gute Idee. Nur …“

„Nur?“

Sie holte tief Luft und schaute ihm in die Augen. „Ich … ich bin verrückt!“ Sie senkte den Blick und schien abzuwarten.

Kurze Verblüffungen triggerten ihn! Er bemühte sich, konnte es aber nicht mehr verhindern.

„Das habe ich mir gleich gedacht!“

Ihr Kopf schnellte hoch und aus ihren Augen schossen Flammenblitze. „Wieso?“

Rolf ließ sich Zeit.

„Nun ja, du gefällst mir. Und aus Erfahrung weiß ich, dass ich ein Faible für verrückte Frauen habe. Wenn mir eine Frau gefällt, ist die meistens ein wenig verrückt. Meine Mutter war schon ein bisschen verrückt. Vielleicht kommt es daher.“ Er bemühte sich, so belanglos wie möglich dreinzuschauen.

Es dauerte ein wenig, bis ihre Flammenblitze erloschen. Dann erschien echtes Interesse.

„Was hatte sie?“

Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Irgendwann später mal, vielleicht.“

Sie nickte.

Im Rückspiegel konnte er beobachten, wie spielerisch sie ihre GS beherrschte. Durch ganz Luxemburg hing sie konstant an ihm. Selbst im Gewühl von Diekirch verlor sie nie den Kontakt. Was für eine Frau sie wohl war?

In seinem Kopf hallte es wider: „Ich bin verrückt“. Das hatte sie nicht nur so dahergesagt. Dahinter steckte eine Geschichte. Manchmal schrieben Frauen sich ja selbst Verrücktheiten zu, die ganz andere Ursachen hatten. Vielleicht hatte sie Therapie-Erfahrungen, vielleicht mal eine Depression gehabt oder gar eine psychosomatische Kur gemacht. Er hatte versucht, den Eindruck von Belanglosigkeit zu vermitteln, aber in ihm sah es anders aus.

Als sie in der Tiefgarage ihre Sachen abluden, flogen Lydias Augen hin und her.

„Ganz schön hier. Ach, da drüben steht deine RT. Die hast du letztes Jahr im Trentino gefahren. Und daneben steht eine schwarze Nevada. Sind ja einige Motorräder im Haus. Sag mal, ich kann doch ein paar Sachen drauflassen, oder?“

„Sicher, hier wohnen nur ehrliche Leute. Da passiert nichts.“

Auf einmal legte sie ihm die Hand auf den Arm und schaute ihn mit zusammengezogenen Augen an. „Weißt du, ich war schon in der Psychiatrie …“

„Ich auch.“ Wieso konnte er das nicht lassen? Immer wenn er verblüfft war, fiel ihm so ein Spruch vorne raus.

„Echt?“ Damit hatte sie nicht gerechnet.

Er schaute sie ernst an. „Ich bin Psychotherapeut von Beruf.“

Hätte er langsam begonnen zu zählen, er wäre über zehn gekommen, bevor sie wieder atmete. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie irgendwelche Gedanken loswerden.

„Na, dann weißt du ja in etwa, um was es geht“, stammelte sie vor sich hin.

„Ja, um eine grüne Haelson Motorradjacke.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Komm, leg die Sachen hier aufs Sofa. Ich mache uns einen Kaffee.“ Er reichte ihr die Wasserflasche, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte. „Leg ab, setz dich.“

Sie zog die Jacke aus, blieb aber stehen und schaute sich um, während sie trank.

„Willst du nur die Haelson sehen oder die ganze Sammlung?“, fragte er, als der Kaffee auf dem Tisch stand. Ihre Aufregung war etwas verflogen.

„Erst mal die Haelson.“

Als er mit der Jacke zurückkam, stand sie vor einem Foto, das an seiner Wand hing.

„Wer ist die Kleine? Sieht ja süß aus.“

„Meine Enkelin. Die älteste von vier Enkeln. Sie ist total süß.“ Er musste immer lächeln, wenn er auf die Fotos schaute.

„Opa Rolf, so was.“

„Ja, ich könnte dein Vater sein. Siehst du, hier, meine blassgrüne Haelson. Nicht ganz so schön wie deine, aber ich bin ganz froh mit ihr.“

Sie untersuchte sie mit fachkundigen Händen, wand sie von innen nach außen, machte ein „Darf-ich-Gesicht“ und zog sie an, als er genickt hatte. Dabei stieß sie an die angelehnte Schlafzimmertür. Bestimmt Zufall.

Neugierig schaute sie hinein. Wieder ein „Darf-ich-Blick“, wieder ein Nicken.

„Schön“, sagte sie kurz.

Nun ja, hätte etwas ordentlicher sein können. Aber wer, in seinem Alter, rechnet denn noch mit unangekündigtem Damenbesuch?

Trotzdem stand sie da in seiner Schlafzimmertür, lange rote Haare, natürlich Sommersprossen, einen halben Kopf größer als er, dafür rund zwanzig Jahre jünger. Keine direkte Schönheit, eher unauffällig hübsch, besonders wenn sie lächelte. Sie quälte sich mit seiner Jacke. Erfolglos versuchte sie, den Reißverschluss zu schließen. Obenrum zu eng.

Sofort schossen ihm Bilder in den Kopf. Wie ihr Busen wohl aussah? Und wie sie wohl aussehen würde, wenn …

Sie lächelte plötzlich keck. „Und jetzt stellst du dir vor, wie ich wohl aussehe, wenn ich nur die Haelson anhabe.“

Diesmal gewann sie. Ihm fiel nichts ein und auch kein Spruch vorne raus. Sie konnte wohl Gedanken lesen. Was hätte er sagen können? Dass er einen Röntgenblick hatte? Dass er schon tausend nackte Frauen in Haelson-Jacken gesehen hatte? Dass ihn so etwas nicht interessierte? Alles Quatsch!

Was machte sie denn jetzt? Sie lächelte nicht mehr, blickte ein wenig irritiert, schien nachzudenken. Dann presste sie trotzig die Lippen zusammen, streifte die Jacke von sich und begann, sich auszuziehen.

Verdammt! Hoffentlich nahm sie die Schweißperlen auf seiner Stirn nicht wahr. Oder wollte sie genau das? Unter dem GS-Sweatshirt trug sie einen schwarzen BH. Dann kam die Motorradhose. So wie sie sich benahm, rechnete er mit einem Stringtanga, aber es kam eine relativ altertümliche Unterhose heraus. Vermutlich trug sich die unter der Motorradhose besser. Dann enthüllte der BH zwei etwas groß geratene Billardkugeln, weiß, mit großen, dunklen Höfen, wunderschön anzusehen.

Atmete er noch? Spätestens als sie die Unterhose auszog, blieb ihm die Luft gänzlich weg. Sie war einen Hauch mehr als schlank und ihr Becken einen Hauch breiter, als es sein müsste, aber das kam gut. Sie war rasiert und ohne Unterhose wirkte sie wie eine Quellennymphe auf einem klassischen Bild. Fehlte nur noch die Amphore auf der Schulter.

Die ganze Zeit hatte sie ihr Ding gemacht, ohne ihn weiter anzusehen. Jetzt blickte sie auf, während sie die Haelson überstreifte. Er konnte nur hoffen, dass ihm seine inneren Vorgänge nicht auf die Stirn geschrieben standen. Kurz zog sie die Schultern hoch und schaute erwartungsvoll. Sollte er jetzt etwas sagen?

„So, jetzt du!“

Was? Wollte die etwa, dass er das Gleiche tat? Das konnte sie doch nicht ernst meinen, obwohl es folgerichtig und nur fair war. Oder?

„Hör mal, Lydia, ich bin alt, ich bin hässlich, ich habe einen Bauch. Ich bin nicht so schön wie du.“

Hatte sich das so verzweifelt angehört, wie er sich fühlte? Ob sie sauer wurde? Nein, sie lächelte.

„Das werden wir ja sehen. Komm. Wir sind allein.“

Sind wir eben nicht, du bist da. Wir sind keineswegs allein. Er verharrte einen Moment, aber aus der Nummer würde er nicht rauskommen. Ach verdammt, was soll’s? Er beschloss, cool zu tun.

„Du bist verrückt“, sagte er und begann, sich auszuziehen. Dabei ließ er sich weniger Zeit als sie, wollte es möglichst schnell hinter sich haben. Sie lachte über seinen Spruch und wirkte zufrieden.

Als er nackt war, zeigte er mit dem Daumen hinter sich. „Bin dann mal weg“, sagte er, drehte sich um und schlurfte zum Sofa, um ihre Jacke zu holen. Wo war er da nur hineingeraten?

Auf dem Rückweg zog er ihre Haelson an. Schwer atmend standen sie sich gegenüber, zwei Nackte mit jeweils einer grünen Motorradlederjacke, einmal zu groß, einmal zu klein. Wenn das nicht verrückt war!

Sie kam auf ihn zu, legte ihre linke Hand in seinen Nacken, ihren Kopf an seine Schulter und umschloss mit der rechten Hand seinen erigierten Penis.

„Ich fasse Männer so gerne an“, stöhnte sie ihm ins Ohr und begann, leicht ihre Hand zu bewegen. „Aber es ist so lange her …“

Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und griff mit der anderen Hand zwischen ihre Beine. Ja, so was machte er auch gerne, hätte es aber nie so offen gesagt. Warum eigentlich nicht? Es tat gut, das zu hören.

Nachdem sie einige Zeit so dastanden, begann sie, ihn weiter mit der Hand zu erkunden. Er wartete nicht auf eine Einladung, tat es ihr nach. Schließlich nahm Lydia den Kopf von seiner Schulter, sagte „komm“ und zog ihn zum Bett. Ihm war es warm geworden und er wollte die Jacke ausziehen.

„Nein, nein, da musst du durch. Wenn das Kult-Jacken sind, müssen wir die veredeln.“

Kreative Idee, er lächelte. Aber er schwitzte ihre Jacke voll und sie seine. Na gut, wenn sie es so wollte.

Sie legte sich auf den Rücken und zog ihn auf sich. Fast direkt drang er in sie ein und sie bewegten sich. War es das Alter oder die lange Enthaltsamkeit, hier hatte es endlich mal einen Vorteil. Er war sehr ausdauernd und genoss es. Herrlich, ihre Billardbrüste zu fühlen, ihr Becken zu spüren und ihre Erregung wahrzunehmen. Nur langsam wurde es intensiver, langsam, aber beständig. Hatte er einen Orgasmus gehabt? Gut möglich. Irgendwann waren sie irgendwo angekommen und es fühlte sich wunderbar an. Er rollte sich neben sie.

Sie drehte den Kopf zu ihm und lächelte wunderschön. „War´s das?“, fragte sie nach einer Weile.

„Nein, da fehlt noch was.“ Wenn sie schon dabei waren … Wieder war er überrascht, wie begeistert sein Penis mitspielte. „Du musst dich noch mal hinknien. Die grüne Jacke und dein weißer Hintern, das muss ich erleben.“

„Jaaaaa.“ Sie drehte sich um und kniete sich. Er kniete sich hinter sie. Auch so ging es überraschend problemlos. Es war ein Anblick für die Götter und fühlte sich an wie im Himmel. Sie wurden immer erregter, gingen in eine permanente Bewegung über und schienen keine Anstrengung, nur noch Lust zu empfinden.

Wieder lagen sie einige Zeit nebeneinander, ruhten aus. Und wieder drehte sie ihren Kopf zu ihm mit diesem glücklichen Lächeln. „Jetzt aber?“

Er nickte. „Du bist völlig verrückt“, murmelte er, umarmte sie und legte sich so, dass sein Gesicht an ihrem Kugelbusen lag.

„Wahrscheinlich hat die Firma Häusler so einen Zauber in die Jacken eingenäht, einen Sex-Zauber.“

Konnte nicht sein. Rolf besaß seine Jacke über zwanzig Jahre und hatte heute zum ersten Mal darin … Er nickte.

„Wir können gar nicht anders. Die Jacken machen uns zu Sexsklaven. Oder es liegt an den Motorrädern. Wir fahren beide Zweizylinder. Das macht Vibrationen zwischen den Beinen.“

Konnte auch nicht sein. Er fuhr seit Jahrzehnten Zweizylinder und hatte in dieser Hinsicht noch nie von den Vibrationen profitiert. Er nickte wieder.

„Du sagst ja gar nichts.“

Er nickte zum dritten Mal, aber sie gab sich nicht zufrieden.

„Sag doch mal was. Du redest doch sonst so viel. Bist du nicht glücklich? Sag einfach irgendwas.“

Er stöhnte und holte aufwendig Luft. „Das ist das erste Mal, dass ich mit einer Frau im Bett bin, die größer ist als ich.“ Er küsste sie auf ihre Brüste.

„Echt? Sonst nur mit Zwerginnen. So groß bin ich doch gar nicht. Macht das Spaß mit Kleinwüchsigen? Hey, hör auf, sonst bekomm ich wieder Lust.“

Sie schüttelte sich lachend. „Wenn ich glücklich bin, muss ich reden.“

Wieder atmete er tief. „Bei mir ist es genau umgekehrt. Wenn ich so richtig glücklich und zufrieden bin, emotional satt, dann werde ich ganz still. Dann will ich nicht mehr reden, nur noch das Gefühl genießen.“

„Ach du Armer“, sagte sie. „Vielleicht liegt es ja auch an der Luft.“

„Was liegt an der Luft?“

„Unsere explosive Leidenschaft. Vielleicht liegt das an der Luft.“

„Im Vorderrad oder im Hinterrad?“

„Ach du“, sie kicherte begeistert, „doch nicht die Luft. An der Ardennen-Luft. Die hat uns so aufgedreht.“

„Also mich hast eindeutig du so aufgedreht.“

„Was am meisten? Busen, Hintern oder …?“

Er stöhnte. „Nein, alles ist wunderschön bei dir. Aber wirklich aufgedreht hast du mich. Diese Idee, wie ich nur in der Jacke aussehe. Dass du darauf bestehst, mich auch nackig zu machen. Dass du gerne Männer anfasst und das auch noch einfach sagst. Das alles hat mich am meisten angetörnt.“

Als Rolf erwachte, war er allein im Bett, aber ihre, also seine Jacke lag da. Seine, also ihre Jacke hatte er noch an. Er zog sie aus und erhob sich.

Sie stand vor seiner Fotowand, hatte sich in die Decke vom Sofa gewickelt, obwohl es warm war. Wurde sie jetzt etwa schüchtern? Nur ihre Augen, bisweilen ihr Kopf, schienen sich zu bewegen und er fragte sich, ob sie wusste, wo sie war. Aber er irrte sich. Offensichtlich entging ihr nichts.

„Wo ist das hier?“, fragte sie, ohne den Blick vom Bild zu nehmen.

„Du stehst direkt vor Hongkong. Hab ich lange geschlafen?“

„Und darüber das?“

„Guangzhou, das ehemalige Kanton, China. Wie spät ist es?“ Sie schien gebannt.

„Und hier neben?“

„Tokio, Bali, Georgien und Albanien.“ Er ging ins Schlafzimmer, seine Uhr suchen.

„Hast du die Fotos gemacht.“

„Jo!“ In seinem Alter war es keine Schande, wenn man nicht mehr so gut hörte und leider ging es ihm manchmal so. Aber manchmal hörte er auch extrem gut.

„So kann ein Leben auch aussehen“, murmelte sie vor sich hin und das war nicht für ihn bestimmt.

Seine Uhr lag auf dem Nachtschrank und er konnte sehen, dass er eine gute Stunde geschlafen hatte. Er fühlte sich einigermaßen entspannt und fragte sich, wie es weitergehen würde. Dann fiel ihm ein, dass ja Sonntag war und er montags nicht arbeitete. Also war es egal. Er setzte sich aufs Bett und schaute ihr zu, wie sie gemächlich ins Schlafzimmer kam, sich zu ihm setzte und ihn ansah. Im Gegensatz zu vorher war sie wieder die Lydia, die er kannte, ernst, zurückgezogen, still. Das wirkte jetzt fremd.

„Alles klar?“ Sie nickte.

„Und, wie geht es jetzt weiter?“ Sie zog die Schultern hoch.

„Du hast mich doch in diese Situation gebracht“, sagte sie ruhig, mit dem Anflug eines etwas freundlicheren Gesichts.

Er musste grinsen. „Ich wollte dir nur meine Jacke zeigen. Alles andere ging von dir aus.“

„Wie?“ Sie kniff die Augen leicht zusammen. „Ich habe dein Angebot schon als Einladung oder Anfrage verstanden.“ Sie schnickte dabei mit dem Kopf in Richtung Bett.

„Als Einladung, mit mir zu schlafen?“ Verdammt, wieso war er an dieser Stelle so naiv? Sie nickte mit offenem Mund.

„Wow!“ Er schloss kurz die Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Ich hätte mich nie im Leben getraut, dich dazu einzuladen. Weißt du, wie alt ich bin? Siehst du, wie ich aussehe? Schau mal in den Spiegel. Du könntest doch jeden anderen haben.“ Offensichtlich hatte er dank eines Missverständnisses das große Los gezogen. Ihm war nach Lachen zumute, aber ihr Gesicht hielt ihn davon ab.

„Verdammt, ich mal wieder. Ist das jetzt blöd für dich?“

So, wie man bisweilen in Menschen Trauer aufsteigen sieht, konnte er in ihr eine Verzweiflung hochkommen sehen. Also beeilte er sich.

„Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich meine, nach meiner Sicht habe ich einen Riesengewinn gemacht. Das war total schön für mich. Ich hoffe, für dich ist das nicht blöd.“

„Für mich? Ach, wenn du wüsstest.“ Sie schien sich wieder zu fangen. „Ich hab da schon so einiges erlebt. Nein, das war wirklich schön und für mich zählt sowieso nur der Moment.“

Sie saßen still beisammen und blickten betreten, fast peinlich. Dann holte Lydia tief Luft und schaute ihn an.

„Sieht aus, als wärst du viel rumgekommen.“

Er nickte. „Wir sind früher gerne gereist. Das heißt, ich reise auch heute noch gerne, aber nicht mehr so weit. Diese langen Flüge werden immer anstrengender. Dagegen ist Motorradfahren ein Vergnügen. Da hat man wenigstens Platz. In den engen Flugzeugen ist das eine Qual.“

„Außer man hat genügend Kohle, um Business-Class zu fliegen. Würdest du mich mal mitnehmen? Ich meine, wenn Geld keine Rolle spielen würde.“ Irgendwas an ihrem Ton ließ ihn vorsichtig werden.

„Also Georgien oder Albanien, das ist ja nicht so weit.“

„Nein, nein, ich rede schon von Hongkong oder China, Japan, also so was Exotisches. Wo hat es dir am besten gefallen?“

Er schaute sie an. Es schien ihr total ernst. Wie sollte das gehen? Irgendwie wirkte das alles so absurd. Sie kannten sich kaum, waren völlig unterschiedlich und sprachen über einen gemeinsamen Fernurlaub. Ach, was sollte es, war eh alles im Konjunktiv. Er lächelte, nickte. „Klar, warum nicht. Ich liebe Hongkong, das ist so international. Und Bali ist auch toll.“

Sie sah, dass es ihm nicht ernst war, ließ es jedoch darauf beruhen.

„Du bist noch nicht so viel rumgekommen?“ Blöde Frage, aber irgendwie wollte er ablenken.

„Doch, doch“, sie nickte ernst. „Hamburg, Ochsenzoll, Rhein-Mosel-Fachklinik, Andernach, Klinik Hohe Mark, Oberursel, Psychiatrie, Frankfurt Höchst und hier und da.“

Das war jetzt nicht mehr lustig. Worauf würde das hinauslaufen? Kam sie schlecht drauf? Oder wollte sie gerne erzählen? Aber sie kannten sich kaum.

„Und, wo hat es dir am besten gefallen?“ Sein Aufheiterungsversuch führte zu einem fatalistischen Lächeln bei ihr. Sie schien sich immer mehr in sich zurückzuziehen.

„Ach, Hamburg oder Frankfurt, auch weil es so international ist. Da ist der Ausländeranteil höher, das bringt Abwechslung.“

Er hatte das Gefühl, egal was er sagen würde, es wäre falsch. Er ließ sich Zeit.

„Und weshalb? Ich meine, was für eine Diagnose hast du?“

Er hatte recht gehabt. Es war der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ. Ihr Kopf schoss herum und ihre Augen funkelten.

„Ach leck mich doch …“ Sie sprang auf und suchte ihre Sachen zusammen. Ungelenk schlüpfte sie in ihre Klamotten. „Entschuldige, aber ich muss gehen. Das ist doch alles Mist.“

Er fühlte eine Hilflosigkeit wie selten, verstand nicht, hatte keine Ahnung, wo sie war, und fühlte sich Lichtjahre entfernt von ihr. Aber jetzt einfach verschwinden würde auch alles kaputt machen und den schönen Tag in einen traumatischen verwandeln.

„Komm, bleib doch. Bitte.“

Sie hörte ihn überhaupt nicht mehr, schimpfte vor sich hin, was sie immer für einen Mist baue, worauf sie sich immer einlasse und dass es ja kein Wunder sei. Er zog sich ebenfalls leidlich an und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie sich ihre Sachen griff. Als sie alles hatte, drehte sie sich zu ihm um.

„Ich hatte dich gewarnt, ich bin verrückt. Aber irgendwie bin ich auch auf dich sauer. Weiß auch nicht genau warum, aber so ist es. Vergiss einfach alles. Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe.“ Sie schnaubte ihn an und schien auf eine Antwort zu warten. Vermutlich erwartete sie, dass er widersprechen würde. Nicht mit ihm!

„Ich fand es total schön mit dir. Rufst du mich an, wenn du zu Hause bist? Ich mache mir ein wenig Sorgen. Meine Nummer steht auf dem Gruppenzettel.“

Sie war verblüfft. Dann schossen ihr Tränen in die Augen und sie drehte sich um.

„Leck mich doch“, sie riss die Tür auf und war draußen, noch bevor er etwas sagen konnte. Die Tür zog sie hinter sich zu.

Er setzte sich auf einen Sessel und überlegte. Den Aufzug würde sie finden, in die Tiefgarage würde sie kommen, alles aufladen und dann merken, dass sie keinen Transponder hatte, um das Garagentor zu öffnen. Würde sie zurückkommen? Sie konnte auch warten, bis jemand anders rausfuhr. Es war ein großes Haus und es war ein ständiges Kommen und Gehen, besonders am Sonntag. Was konnte er tun? Als er nach einiger Zeit noch immer keine Idee hatte, begann er, seine Sachen von der Tour auszupacken. Hausarbeit erdete ihn, er wurde ruhiger und klarer.

2

Nähe

Rolf hatte die Waschmaschine angeworfen und war auf der Suche nach Abendessen. Tiefkühlpizza im Eisfach, Fertiggerichte im Schrank, aber nichts machte ihn so richtig an. Zum Glück gab es unten in der Einkaufszeile einen Dönerladen. Immer gut für Notfälle. Lydia war seit über einer Stunde weg. Auch wenn sie etwas hatte warten müssen, bis sie aus der Garage kam, musste sie inzwischen zu Hause sein. Vermutlich war sie immer noch sauer, denn sie rief nicht an. Er wusste auch weiterhin nicht, was genau gelaufen war, aber so war das manchmal. Möglicherweise würde er nie eine Antwort bekommen. Schade, denn die Aktion mit ihr hatte ziemlich gutgetan. Was einem im Leben noch alles passieren konnte! Und ein wenig stolz war er auch. Doch noch nicht so ein alter Sack! Aber es war nicht nur der Sex. Da war auch so eine Vertrautheit im Umgang, eine Leichtigkeit im Miteinander hatte er gefühlt. Vielleicht, weil sie beide viel mit Psycho zu tun hatten, wenn auch auf unterschiedlichen Seiten der Theke. Und gerade das machte ihm jetzt ein schlechtes Gewissen. Hätte er es besser wissen müssen?

Er erschrak, als das Handy klingelte. Eine fremde Nummer am Sonntag? Klar, wer sonst? Einen Moment warten, tief Luft holen: „Hallo?“

Kurze Stille. „Du bist wirklich Psychotherapeut?“ Ihre Stimme klang erschöpft, also keine Provokation.

„Ja, und schon ziemlich lange.“

„Dann kannst du mich vielleicht etwas besser verstehen als die normalen Leute.“

„Klar, von Verrückter zu Verrücktem.“ Er war so froh, als sie anrief, dass er seinen Sponti wieder nicht im Griff hatte. Es war ihm peinlich. „Entschuldige, ich mein das nicht so.“ Sie lachte hörbar am Telefon, war wieder die andere.

„Hast ja recht. Kann ich wiederkommen?“

„Jederzeit.“ Sein Herz hüpfte und die Schmetterlinge flatterten. Er wollte fragen wann, aber es klopfte an der Wohnungstür. Sonntagabend, seltsam. Er öffnete mit dem Handy in der Hand.

Verweintes Gesicht, gerötete Augen, Lydia sah geschafft aus. Ansonsten schien sie stabil und lächelte aufmunternd. Augenkontakt konnte sie nicht lange halten.

Sie umarmten sich und sie klammerte sich noch ein wenig fest, als er schon loslassen wollte. Dann sah sie ihn mit einem Tut-mir-leid-Blick an.

„Sag es nicht“, bat er und sie runzelte die Stirn. „Ich sehe dir an, dass du leidest, und das sagt alles. Vielleicht kannst du mir gelegentlich mal was erklären, aber jetzt komm erst mal rein und lass uns ein wenig dein Gesicht waschen.“

Sie schluckte schwer, ging aber widerstandslos mit ins Bad.

„Setz dich“, er zeigte auf die Toilette und holte einen Waschlappen.

„Sollen wir nicht einfach duschen?“

Nachdem sie sich vorher so nahe gekommen waren, gingen sie unter der Dusche sehr vorsichtig miteinander um. Sie liebkosten sich, kamen einander aber nicht zu nah.

„Und jetzt?“. Frisch gewaschen und relativ gefasst blickte sie ihn an.

„Ich habe Hunger. Was meinst du? Da unten bei den Geschäften ist ein Dönerladen, da sitzt man einigermaßen gut. Nichts Besonderes, der Türkenkram halt, Döner, Pizza, Nudeln, aber ganz in Ordnung.“ Ein entspanntes Lächeln war die Antwort.

Bei diesem Wetter saßen alle Gäste draußen unter den Sonnenschirmen und so waren sie beide allein in der Gaststube. Rolf schaute auf den großen Parkplatz, der am Sonntag nahezu leer war, und auch Lydia hatte den Blick nach draußen gerichtet. Daher bekam er zunächst nicht mit, dass sie zu ihm sprach.

„Was? Ich hab nicht zugehört.“

„Ich sagte, genau das war mein Problem.“ Er schaute sie wortlos an.

„Früher. Ich dachte, ich hätte es im Griff. Ich hatte es im Griff, schon viele Jahre. Aber jetzt scheint es mich wieder einzuholen. Ich verstehe das nicht. Ich hab doch gar keinen Grund, eher umgekehrt.“ Sie blickte jetzt vor sich auf den Tisch.

„Aha?“ Er runzelte die Stirn und sie lächelte.

„Entschuldige, du weißt gar nicht, wovon ich rede. Also ich konnte meine Emotionen früher nicht kontrollieren. Bin plötzlich ausgerastet, war manchmal grundlos euphorisch oder aggressiv und genauso grundlos absolut depressiv. Und ständig unter Strom. Das war anstrengend, sag ich dir.“

„Borderline?“

„Ja, das auch. Borderline, bipolar, schizoid, Persönlichkeitsstörung, mit jeder neuen Klinik kamen neue Diagnosen dazu. Das ganze ICD-10 rauf und runter. Allerdings keine Psychosen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Ordner es über mich gibt.“ Er musste lachen.

„Weißt du eigentlich, dass es vor langer Zeit in Amerika mal einen Therapeuten gab, der ernsthaft vorgeschlagen hat, bei bestimmten Patienten nur noch die Ordner zu wiegen und sich die Grammzahlen zu nennen, anstatt die Berichte zu lesen? Bei so vielen Diagnosen würde das Lesen nichts mehr bringen.“

„Echt?“ Sie lächelte begeistert.

„Ja, im Studium habe ich das mal gelernt. Hat sich aber nicht durchgesetzt. Obwohl was dran ist. Und du hattest es irgendwann im Griff und jetzt holt es dich wieder ein?“

„Ja, genau. Ich habe eine gute Therapeutin gefunden, Maja. Und bei ihr habe ich gelernt, egal was ich denke oder fühle, mein Ding zu machen und nicht den Impulsen zu folgen. Deshalb halte ich mich meistens in Gruppen im Hintergrund. Ich mache zum Ausgleich Kampfsport und Yoga. Das eine, um die Sau rauszulassen, das andere, um sie wieder reinzuholen. Das ist echt Arbeit, aber man gewöhnt sich daran. Und das Gefühl, in einer Gruppe ganz normal dazuzugehören, ist geil. Die letzten fünf Jahre waren die besten in meinem Leben. Motorradfahren ist dabei ein wichtiger Faktor. So viel Freiheit habe ich noch nie gefühlt.“ Er sah sie zum ersten Mal strahlen. Es machte sie wunderschön.

„Gute Idee, die Impulse mit Kampfsport und Meditation kontrollieren zu lernen. Die Frau scheint was draufzuhaben. Seit wann ist es anders? Ist irgendwas passiert?“

„Die Haelson! Ich hatte dir gesagt, dass die von meinem Opa ist. Der ist vor einem halben Jahr gestorben.“

„Aha, und du hattest einen guten Draht zu ihm?“

„Ja, er war prima. Ich war sein Liebling, aber er war ein Sonderling, wurde nicht so ernst genommen.“ Ob es das war, was sie beide verband? Er verkniff sich die Frage.

„Du denkst, dass ich mich seelenverwandt mit ihm gefühlt habe, aber das war es nicht. Ich hab ihn sehr gemocht und dass er gestorben ist, hat mich traurig gemacht. War aber auch eine Erlösung. Er hatte es nie so gut und zuletzt war er auch noch krank. Aber geistig klar bis zum letzten Moment. Nein, was er mir vermacht hat, das ist das Problem.“

Die Haelson? Wieder runzelte er die Stirn. In diesem Moment kam das Essen.

„Das war eine gute Idee, essen zu gehen. Hab ganz vergessen, was für einen Hunger ich habe.“ Sie hatte die halbe Pizza verdrückt, während er noch den rechten Zugang zu seiner überbackenen Pasta suchte.

„Du willst mir aber jetzt nicht sagen, dass die Haelson dich aus dem Konzept gebracht hat.“

„Nee, Quatsch. Hatte ja keine Ahnung, dass die was Besonderes ist. Nein, der Opa hat mir das gesamte Familienvermögen vermacht. Ich wusste nicht, dass er dazu berechtigt ist, aber mein Anwalt hat es bestätigt.“ Sie legte ihr Besteck hin und schaute ihm bedeutungsvoll in die Augen.

„Weißt du, ich bin eigentlich so ein Sozial-Loser. Frühberentet wegen meiner Geschichte, nie richtig gearbeitet, Maßnahmen hier, Praktikum dort. Eigentlich würde ich irgendwo zwischen Grundsicherung und Hartz IV rangieren. Aber zum Glück hat meine Familie Geld und so konnte ich mir doch ein paar Dinge leisten. Und jetzt gehört das Geld fast alles mir. Das ist eigentlich toll. Deshalb verstehe ich nicht, wieso die alten Symptome sich plötzlich wieder melden. Diese Erbschaft ist doch was Positives. Verstehst du das?“

Familienvermögen geerbt, ja, das war schon was. Natürlich machte das Stress, auch wenn es positiv war.

„Von welchen Beträgen reden wir hier in etwa?“

Sie schob sich das vorletzte Pizzastück in den Mund, kaute ein wenig. Dann schaute sie nach links und rechts. „Mittlerer zweistelliger Millionenbetrag“, sagte sie mit vollem Mund.

„Was?“

„Ja, genau so fühle ich mich. Zumindest meistens.“

Wie lange hatte er den Mund jetzt offen gehabt? Fünf Minuten? Eine Stunde?

„Wie?“

„Na, so beeumelt, wie du jetzt guckst. Ich kann es manchmal nicht glauben, dann könnte ich in den Himmel springen, dann male ich mir aus, was ich alles damit mache, dann bekomme ich Angst, ein ständiges Hin und Her. Deshalb wollte ich dir auch gleich die Jacke schenken, als ich gesehen habe, dass sie dir gefällt. Ich dachte, dann kaufe ich mir halt eine neue. Meinst du, die haben auch Desserts hier? Irgendwie bin ich noch nicht satt.“ Sie griff in aller Seelenruhe nach der Karte.

Zweistelliger Millionenbetrag, mittlerer zweistelliger, Dessert, neue Haelson kaufen, all das schien momentan die gleiche Bedeutung zu haben. War das ihre Störung? Borderliner kennen keine Grauzonen, die Dinge sind entweder schwarz oder weiß. Was heute eine Kleinigkeit ist, kann morgen fast als Weltuntergang gesehen werden. Und wenn Borderliner aus einer Mücke einen Elefanten machen konnten, ging das anscheinend auch umgekehrt. Mittleren zweistelligen Millionenbetrag geerbt, und sie wunderte sich über Symptome. Da hätten auch psychisch gesunde Menschen Symptome. Er war froh, dass sie ihm das nicht vorher gesagt hatte, es hätte ihn ziemlich irritiert.

„Was denn? Habe ich dich jetzt durcheinandergebracht?“

Erst jetzt merkte er, dass sie von der Theke zurückkam. Vermutlich hatte sie sich ein Dessert bestellt. Oder eine Haelson?

„Und wie“, antwortete sein Sponti, „ich frage mich die ganze Zeit, wie du aus der Tiefgarage raus- und wieder reingekommen bist. Du hattest doch gar keinen Transponder.“ Diesmal war er froh über seine altvertrauten Reaktionen. Und ihm wurde mal wieder klar, wie stabilisierend Macken sein konnten.

Wie erwartet stutzte sie kurz, schien den Zusammenhang zu suchen und gab schließlich auf.

„Wie kommst du darauf, dass ich draußen war?“

„Wie bitte? Willst du mir jetzt erzählen, du hast die ganze Zeit vor meiner Tür gestanden?“

„Ich hab auf dem Motorrad gesessen und geflucht und geheult und nachgedacht. Und gekämpft.“

„Das war vor über eine Stunde.“

„Super, was? Früher habe ich manchmal Wochen dafür gebraucht. Bin doch echt gut geworden.“ Sie schien seine Fassungslosigkeit zu genießen.

„Ich habe das schon öfter von Patienten gehört, kann es mir aber gar nicht so richtig vorstellen.“

„Sei froh. Du sitzt da, bist davon überzeugt, dass du das Allerletzte bist, dass keiner dich mag und dass du dich dem Typ drei Stockwerke über dir aufgedrängt hast und der glücklich ist, dass du weg bist. Das ist nicht wirklich schön.“ Sie nickte fatalistisch vor sich hin.

„O Gott“, er nahm ihre Hand. „Ich hatte dir doch gesagt …“

Ja, das war es ja gerade, dass man sagen konnte, was man wollte, man kam nicht mehr durch. „Und wie kämpfst du dagegen?“

„Na ja, ich stelle mir erst mal das Gesicht von Maja vor, wie sie dasitzt, mich freundlich anschaut und mir sagt: Das ist das Gefühl, aber nicht die Realität. Dann suche ich mir Anhaltspunkte, die meine Gefühle widerlegen. Du hast das ziemlich gut gemacht, dass du nicht auf meine Vorwürfe eingegangen bist. Hast einfach weitergemacht. `Ruf mich an, wenn du zu Hause bist, ich mache mir Sorgen´. Das hat mir geholfen, dass du nicht gemault hast oder mir was ausreden wolltest. Hast einfach so getan, als ginge es weiter mit uns, heute Abend, nächste Woche oder wann auch immer. Das war gut, daran konnte ich mich auf einmal festhalten.“ Ihre Lippen und ihr Unterkiefer begannen zu zucken. „Aber dann ist es immer noch schwer oder gerade dann. Das ist so eine Mischung. Kann ich das glauben, stimmt mein Gefühl wirklich nicht? Mag der mich, zumindest ein bisschen? Oder hab ich gerade damit jetzt alles versaut? War nicht leicht, dich anzurufen.“ Ihr Gesicht zuckte weiter.

„Schön, dass du es geschafft hast.“ Er nahm ihre Hand und küsste sie kurz. „Lass gut sein. Du hast für heute genug gearbeitet.“

Es dauerte einen Moment, bis ihr Gesicht sich entspannte. Sie lächelte etwas zaghaft.

„Ach lass mal, es tut echt gut, so offen über all das zu reden und was das immer für ein Kampf ist. Bei dir ist das ja wohl auch in guten Händen, oder?“ Sie zwinkerte Rolf fröhlich zu.

So draufgängerisch er sie am Mittag erlebt hatte, so schüchtern erschien sie ihm jetzt. Aber auch er fühlte nicht mehr die Selbstverständlichkeit von vorher. Sie hatten beschlossen, die Nacht noch miteinander zu verbringen. Nach dem Frühstück würde sie nach Hause fahren und am nächsten Wochenende würde man mal schauen. Jetzt lagen sie im Bett, alberten vorsichtig herum und versuchten, einander kennenzulernen. Sie erzählten sich Schwänke aus ihrem Leben, meistens vom Motorradfahren, machten Witzchen und küssten sich hin und wieder. Er hatte sie gebeten, nackt zu bleiben, und sie hatte gerne zugestimmt. Sie nutzten jede Gelegenheit, einander zu streicheln. Erst jetzt wurde Rolf bewusst, wie sehr er seit Jahren auf Entzug war.

„Du hast vorhin beim Türken gesagt, du wunderst dich, dass du Symptome hast, obwohl das doch gute Nachrichten sind. Aber sind das denn nur gute Nachrichten? Also für mich ist das unvorstellbar viel Geld, mittlerer zweistelliger Millionenbetrag. Das klingt irre, allerdings denke ich, es ist auch gefährlich. Ich wüsste erst mal nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und ich hätte Angst, dass ich mein normales Leben verliere und plötzlich zum Sklaven des Geldes werde. Gehst du davon aus, dass nur schlechte Nachrichten Symptome machen?“

„Na ja, dass da jetzt Wallung auf mich zukommt, ist schon klar, aber ich dachte immer, wenn das Thema Geld geregelt ist, könnte ich entspannen, wo ich mir jetzt leisten kann, was ich will. Du hast natürlich recht, das ist viel Geld. Aber unsere Familie hatte immer Geld. Ist halt auf einmal fast alles meines. Also ich denke schon, dass ich vorsichtig sein muss und es nicht einfach ist. Dass die alten Geister wieder aus der Gruft kommen, das hätte ich nicht gedacht. Allenfalls irgendwelche neuen.“

„Das ist im Grunde ganz gut. Irgendwann hast du mal deine Macken gelernt, und sie haben dir vermutlich geholfen, in schwierigen Zeiten zu überleben. Die sind eigentlich Freunde, die man falsch versteht. Aber das ist dein gelernter Stil, auf Stress und Anforderung zu reagieren, deine Art, mit Problemen umzugehen. So wie du auch deinen Stil hast, Motorrad zu fahren. Und nur, weil du jetzt in anderen Ländern fährst, wird dein Stil ja nicht anders.“

„Schade. Ich hatte gehofft, ich wäre das endlich mal los, oder es würde sich langsam verabschieden.“

„Ich glaube, so ganz wird man das nie los. Es wird weniger, verschwindet fast, nur wenn wieder Stress kommt, können die Geister auch wieder hochkommen. Die gute Nachricht ist, du hast inzwischen Strategien gelernt, weißt, wie du dagegen angehen kannst. Besser, als wenn du plötzlich Lust hättest, zu saufen oder Drogen zu nehmen. Das wäre dann was Neues, allerdings müsstest du erst wieder lange lernen, wie man damit umgehen muss.“ Sie sah ihn eine Zeitlang nachdenklich an.

„Klingt plausibel. Und was mache ich jetzt damit, wie gehe ich dagegen an?“

„Ich denke, oberste Devise ist, kleine Brötchen backen, auf dem Teppich bleiben, Veränderungen nur in geringem Ausmaß, keine großen Sprünge. Und ansonsten wie heute Nachmittag auf dem Motorrad. Stell dir Maja vor, was sie sagen würde. Traue nicht allen deinen Gefühlen, such nach Indizien und sei vorsichtig bei Entscheidungen. Nichts übereilen. Du hast das sehr gut beschrieben und machst das toll.“ Sie reagierte etwas unwillig, als sei es ihr peinlich, gelobt zu werden.

„Ach und noch was. Versuch das restliche Leben so ruhig und angenehm zu halten wie möglich. Wenig anderen Stress, schöne Dinge tun, sich mit netten Leuten umgeben und die Doofen doof sein lassen.“

Sie begann, nervös zu werden und ein wenig zu zappeln.

„Eh, was ist los?“

„Ach verdammt, ich bin aufgeregt. Ich muss dir was gestehen.“ Sie schmiegte sich an ihn. Was würde denn nun kommen?

„Also das ist eigentlich kein Zufall, dass ich jetzt hier bei dir bin.“

Na so was, und ich hatte gedacht, du hättest unter all den Kerlen gewürfelt und mich hätte es erwischt. Diesmal war er stolz, dass er es sich verkneifen konnte.

„Wie meinst du?“

„Also seit ich das mit der Erbschaft weiß und vor allem, seit ich merke, dass die alten Geister wieder aufgewacht sind, habe ich Angst. Nicht dass Angst neu in meinem Leben wäre, eigentlich habe ich mein ganzes Leben lang Angst gehabt, aber das hier ist eine andere Angst. Und was du gerade gesagt hast, hat Maja mir auch schon beigebracht. `Versuche, dein Leben zu stabilisieren. Suche Menschen, die dir guttun, die dich unterstützen´. Also habe ich mich umgeschaut. Und bei den Touren bist du immer so cool geblieben. Hast nicht den Maxe rausgekehrt, aber wenn es Konflikte gab, warst du präsent, hast dich durchgesetzt, ohne zu verletzen. In deiner Nähe habe ich mich gut gefühlt. Deshalb bin ich auch in letzter Zeit, so oft es ging, mit dir gefahren.“

„Ja und?“

„Na ja, ich hab mir überlegt … Nein, ehrlich gesagt habe ich mir vorgenommen, dir näherzukommen. Ich habe das ein wenig geplant, bin näher an dich herangegangen, hab versucht, deinen Blick zu erwischen und so Sachen. Vermutlich hast du es gar nicht gemerkt. Aber als du mich dann wegen der Jacke angesprochen hast, habe ich die Gelegenheit genutzt.“

„Das hab ich sehr wohl gemerkt. Also zumindest als wir miteinander geredet haben. Da ist mir aufgefallen, dass du diesmal viel mehr im Vordergrund warst. Ich habe allerdings nicht damit gerechnet, dass du mich auf diese Art ins Bett zerren wolltest.“ Verdammter Sponti!

„Hee, so ja auch nicht. So weit wollte ich gar nicht gehen. Ich habe natürlich alle Möglichkeiten durchgedacht und nichts ausgelassen. Aber eigentlich wollte ich dich nur bisschen näher kennenlernen. Sonst wäre ich ja nicht so erschrocken, als du mich gleich nach Hause eingeladen hast. Weißt du, manchmal, wenn sich Dinge erfüllen, die ich mir vorstelle, frage ich mich, ob ich vielleicht eine Hexe bin.“

„Natürlich bist du eine …“ Er unterbrach sich. „Entschuldige. Da sitzt so ein kleiner Dreckskerl in mir, der immer gerne blöde Bemerkungen macht. Besonders, wenn es um solche grenzwertigen Dinge geht. Und den hab ich leider oft nicht unter Kontrolle.“

„Ach, ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Jetzt lachte sie fröhlich. „Das ist ja schön, dass du auch deine Macken hast. Hast dir gleich gedacht, dass ich verrückt bin. Warst auch schon in der Psychiatrie. Von Verrückter zu Verrücktem. Ja, ja, aber was wolltest du diesmal zur Hexe sagen?“

„Dass du natürlich eine Hexe bist und dass ich Hexen mag. Ist auch so. Ich mag Frauen, die nicht so einfach und ein bisschen eigenwillig sind. Die braven sind manchmal etwas langweilig.“

Sie sah ihn prüfend an, als suche sie etwas. Dann kam sie zurück.

„Jedenfalls, als du gesagt hast, dass du unverheiratet bist, hab ich wirklich gedacht, das ist jetzt quasi so eine Einladung ins Bett. Ich habe die ganze Rückfahrt darüber nachgedacht. Das hat erst aufgehört, als du gesagt hast, du wärst Psychotherapeut.“

„Ja, ich muss da noch mal was kurz klarstellen. Also ich bin schon verheiratet, aber wir leben seit Jahren getrennt. Wir mögen uns noch, gehen freundlich miteinander um, gehen aber eigene Wege. Nur fürs Protokoll.“

„Und warum lasst ihr euch nicht scheiden?“

„Früher gehörte ich zu den Menschen, die überzeugt waren, man müsse nicht heiraten, könne auch so glücklich zusammen sein. Heute gehöre ich zu denen, die überzeugt sind, man muss sich auch nicht scheiden lassen. Man kann auch so glücklich allein leben.“

„Und jetzt bist du glücklich?“

Autsch! Da fiel selbst dem Sponti nichts mehr ein. „Mal mehr, mal weniger“, versuchte er sich rauszureden.

„Was heißt das?“

„Nein, ehrlich gesagt bin ich nicht glücklich. Ich bin zufrieden, aber nicht glücklich. Ich weiß, wie `glücklich´ geht, wie es sich anfühlt, und habe es auch etliche Jahre erlebt. Aber Glücklichsein ist für mich mehr als die Abwesenheit von Unglück.“

„Mehr als die Abwesenheit von Unglück“, wiederholte sie leise. „Wenn man das so sieht, war ich noch nie glücklich. Bislang war es immer die Frage, viel Unglück oder wenig, und wenig Unglück war dann schön. Und die letzten fünf Jahre war es tatsächlich die fast vollständige Abwesenheit von Unglück. Ich habe das für Glück gehalten. Was gibt es denn noch mehr? Ich meine, was fehlt zum Glück?“

„Ziele, Aufgaben, Freunde, Eingebundensein, eine Zukunft, weiß auch nicht. Vielleicht ist das für jeden anders. Jedenfalls sind das die Dinge, die ich nicht mehr so recht sehe. Damals war Aufbauzeit, Karriere machen, vorwärts, neue Projekte. Heute ist es Stillstand. Was soll noch groß kommen? Klar, die Arbeit in der Praxis, mit den Patienten, das ist schon noch eine Aufgabe. Aber für mich selbst weiß ich nicht mehr so recht, was noch kommen könnte. Motorradtouren vielleicht, aber das ist ja mehr Beschäf-tigungstherapie.“

„Aber unglücklich bist du auch nicht. Vielleicht ist es ja eine Aufgabe, mir dabei zu helfen, kleine Brötchen zu backen. Ich bin schon damit zufrieden, wenn ich nicht unglücklich bin, und das bin ich im Moment nicht.“

Wortlos beobachtete sie jede seiner Aktivitäten, ohne das Gesicht zu verziehen. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich hinsetzen, ihren Kaffee genießen und sich verwöhnen lassen. Und genau das tat sie.

Abends hatten sie noch ein wenig gekuschelt und waren dann eingeschlafen. In der ganzen Aufregung hatte er vergessen, das Rollo runterzulassen, und so weckte ihn die Morgensonne außergewöhnlich früh. War heute Montag? Dann erschrak er fast. Seit über fünf Jahren wohnte er hier, aber zum ersten Mal wachte er in seinem Bett neben einem anderen Menschen auf.

Sie schien noch zu schlafen, hatte ihm den Rücken zugewandt, mit leicht angezogenen Knien. Ihr heller Körper, die langen roten Haare, die hierhin und dorthin fielen, und ihr runder, weißer Po, in ihm stieg Lust auf. Er wollte sie nicht wecken, konnte sich aber nicht daran hindern, ihren Po zu berühren. Wie weich sie sich anfühlte. Ganz behutsam fuhr er mit seiner Hand an ihrer Seite hoch. Der Gedanke an ihre Brüste erregte ihn so, dass sein erigierter Penis sich an ihren Po drückte. Sie kicherte leicht und drehte sich langsam zu ihm um.

„Ganz schön früh munter, alter Mann! Guten Morgen.“ Sie lächelte so wunderschön glücklich und entspannt, wie er sie noch nie gesehen hatte. Ihr ganzer Körper schien zu lächeln. Er begann, ihre Brüste zu streicheln, und beugte sich dann über sie, um ihr einen Kuss zu geben. Aber kurz bevor ihre Lippen sich berührten, trafen sich ihre Blicke und in diesem Moment schien die Welt stillzustehen. Er wusste nicht wieso, aber er verlor plötzlich die Kontrolle. Anstatt ihr einen leichten Kuss auf die Lippen zu geben, presste sich sein Mund auf ihren und eine unaufhaltbare Welle von Leidenschaft überkam ihn. Aber nicht nur ihn. Auch sie zog ihn an sich und sie fielen regelrecht übereinander her. Was folgte, erinnerte er später nur noch bruchstückhaft. Bilder im Kopf, Brüste, Hände, Lippen, Körper, Drehungen, nichts war mehr geplant oder zielgerichtet, alles ergab sich. Eines führte zum anderen und dies wieder zum nächsten. Es gab keine Zeit und keinen Raum mehr, sie waren nur noch Gefühl. War das noch die Welt, die sie kannten? Oder war das schon der Himmel? Hätten sie so diese Welt verlassen, er wäre einverstanden gewesen. Er wusste nicht, wie lange er erschöpft auf dem Rücken gelegen hatte, als er sie „Wow“ sagen hörte. Mehr nicht.

Langsam, sehr langsam begann er, seine Körperteile zusammenzusuchen und sich zu bewegen. Er fühlte einen unendlichen Frieden in sich und interessanterweise schien ihm das Lust auf Kaffee zu machen. Als er aufstehen wollte, spürte er, dass seine Hand immer noch ihre hielt, und er sah sie an. Sie blickte freundlich, aber ernst. Er fühlte sich ihr so nah!

„Ich mache uns einen Kaffee. Bin gleich wieder da.“ Sie nickte.

Während sein Körper den Kaffee zubereitete, war sein Geist noch bei den Gefühlen. Wann hatte er sich zum letzten Mal so gefühlt? Hatte er sich überhaupt jemals so gefühlt?

„Soll ich den Tisch decken?“ Sie stand plötzlich hinter ihm.

„Lass mal, bis ich das alles erklärt habe …“ Er drückte ihr die Kaffeetasse in die Hand. „Milch schäume ich gerade auf. Setz dich einfach hin, genieße den Kaffee und lass dich verwöhnen. Ich mach das schon.“ Genau das tat sie jetzt.

Viel hatte er nicht im Kühlschrank. Brot, Marmelade, Joghurt, etwas Obst, und er rührte noch schnell ein Müsli an. Sie schaute ihm dabei zu, als käme sie aus einer anderen Welt und wollte die hiesigen Gebräuche studieren. Immer wieder trafen sich ihre Blicke, aber es fiel kein Wort. Erst als er sich auch an den Tisch setzte und sie zu essen begannen, nahm sie den Blick von ihm und schaute vor sich.

„Der Kaffee…“, sie räusperte sich, hatte gekrächzt, als habe sie wochenlang nicht mehr geredet. „Der Kaffee schmeckt toll.“

Und das Müsli nicht? Selbst sein Sponti war zu ergriffen, um sich nach vorne zu drängen.

„Ja, ich liebe Kaffee.“

„Ich habe mich noch nie im Leben so begehrt gefühlt wie vorhin.“

Er schaute sie fragend an, aber sie ließ ihren Blick gesenkt, fast als schämte sie sich.

Ja, er hatte sie begehrt, hatte sie haben wollen, besitzen wollen, über sie verfügen wollen, fast wie ein Wahnsinniger. Es war eine Art Anfall gewesen, aber der war nicht sein Verdienst, oder? Er fühlte sich nicht allein zuständig dafür, war selbst Opfer dieser Leidenschaft.

„Ich glaube, ich verstehe dich jetzt.“ Er runzelte die Stirn und nun schaute sie ihm in die Augen.

„Gestern hast du gesagt, dass du ganz still wirst, wenn du glücklich bist. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viel Ruhe in mir gefühlt zu haben.“ Stimmt, sie plapperte gar nicht.

„Ich kann mich auch nicht erinnern, so etwas jemals erlebt zu haben. Man könnte meinen, irgendwas ist über uns gekommen. Vielleicht tatsächlich der Haelson-Zauber.“ Endlich, das erste Lächeln von ihr.

„Oder du bist tatsächlich eine Hexe, oder verrückt, oder was auch immer. Kannst du mir einen Gefallen tun? Bleib bitte so, wie du bist.“ Sie schluckte schwer, sagte aber nichts weiter.

Nachdem sie abgeräumt hatten, machte er noch mal Kaffee. Dann saßen sie einander gegenüber und sie deutete auf seine Fotowand.

„Du bist schon Opa und viel gereist. So sollte das Leben sein. Ich glaube, das hat mich gestern so traurig gemacht. Was du alles schon gesehen hast, während ich in den Psychiatrien herumgehangen habe. Ich war neidisch und traurig und dann werde ich wütend. Aber du kannst ja nichts dafür.“

Er nickte leicht. „Ist ja noch nicht zu spät. Ich habe auch erst jenseits der vierzig mit den großen Reisen begonnen. Wo du jetzt auch genug Geld hast. Hongkong ist toll und gar nicht so teuer. Vielleicht können wir wirklich mal da hinfliegen.“

„Gestern habe ich dir das nicht geglaubt. Wieso klingt das jetzt glaubhaft?“

„Gestern habe ich es mir selbst nicht geglaubt. Ist viel passiert inzwischen.“

„Aber dass das klar ist, ich erwarte jetzt keine Betreuung von dir oder gar Therapie. Ich suche nur die Nähe von stabilen oder verlässlichen Menschen.“

„Gut, aber es wäre gar nicht schlecht, so ein paar Stützungsgespräche zu führen. Gibt es Maja noch?“

„Ja, das ist zwar einige Zeit her, aber übermorgen habe ich einen Termin bei ihr. Die Idee hatte ich nämlich auch schon.“

„Prima. Und was erwartest du von mir?“

„Gib mir Zeit bis zum nächsten Wochenende, damit sich das alles mal setzen kann. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin am Rande der Überforderung und brauch Zeit.“

„O ja, da bin ich genau neben dir.“

„Und was erwartest du von mir?“

„Keine Ahnung. Wir sind so unterschiedlich. Die Schöne und das Biest. Kann mir nicht vorstellen, dass wir ein neues, gemeinsames Leben anfangen. Aber das war jetzt so schön und tut so gut. Ich hatte ganz vergessen, was mir fehlt. Und im Gegensatz zu dem, was ich gestern gesagt habe, fühle ich mich gerade ziemlich glücklich. Komisch, was? … Ach und noch was. Das mit dem vielen Geld, das ist mir nicht geheuer. Können wir einfach so tun, als gäbe es das nicht? Ich meine, ich will damit nichts zu tun haben. Mit dir ja, aber damit nein. Ich will versuchen, mir nicht dauernd vorzustellen, was man damit alles machen könnte. Das wird mir sicher schwer genug fallen.“

„Das lässt nach ein paar Wochen nach. So ging es mir anfangs auch.“

„Na hoffentlich. Ich bin bislang ganz zufrieden gewesen und will an der Stelle eigentlich keine Unruhe oder Veränderung mehr. An anderen Stellen schon. Ich bin so froh, dass du da bist.“

Wieder ein seltenes Lächeln. „Also gut, wir lassen das jetzt so stehen, wie es ist und reden am nächsten Wochenende weiter. Ich rufe Ende der Woche an. Okay?“

Er half ihr beim Beladen des Motorrads. Bevor sie ihren Helm aufsetzte, zog sie ihn noch einmal an sich und sie küssten sich leidenschaftlich. Wieder hielt sie ihn fest, als er schon auf Auseinandergehen programmiert war. Sie schaute ihm tief in die Augen.

„Das war wirklich wunderbar.“

Er nickte lächelnd.

„Und durch meine Augen gesehen bist auch du total schön.“ Sie küsste ihn noch einmal heftig und stieß ihn dann leicht weg.

Er drückte auf den Transponder und das Tor ging auf. Als es sich wieder schloss, merkte er, dass er noch immer da stand und hinter ihr herblickte.

Agnes Metz, geborene Ternes, saß allein auf ihrem Bett. Heute musste sie nachdenken und wollte nicht gestört werden. So viele Probleme hatte sie in ihrem Leben bereits bewältigt, wieso wollte die Lösung von diesem hier nicht gelingen? Sie konnte doch nicht einfach die ganze Macht der Familie dieser Göre überlassen, von der man nicht mal wusste, wer der Vater war! Was hatte Adolf sich nur dabei gedacht? Sie würde es auf keinen Fall akzeptieren. Sie würde jeden greifbaren Anwalt fragen, eventuell Lydia entmündigen lassen. Bei ihrer Psychiatriegeschichte sollte das eine Kleinigkeit sein. Selbst, wenn es lange her war. Zur Not konnte man vielleicht etwas nachhelfen. Und wenn gar nichts mehr ging, musste ihr Mann seine Kontakte ins Milieu nutzen. Aber wieso wurde es ihr immer schwerer, sich durchzusetzen?

Ihr Blick fiel auf die Packung, die auf dem Nachtschrank stand. Die mussten es sein! Wie lange nahm sie die nun schon? Ihr alter Psychiater, der ihr die verschrieben hatte, war längst gestorben. Aber der Hausarzt verschrieb sie treu und brav weiter. Viertel vor acht nahm sie ihre Tablette, dann die Nachrichten bis Viertel nach acht und dann ins Bett. Und das seit Jahr und Tag. Gewiss, es war ruhiger und damit angenehmer geworden, aber immer fühlte sie sich schnell erschöpft und ausgelaugt. Wo war ihre Kraft von früher?