Aufbau vor laufender Kamera - Armin Maiwald - E-Book

Aufbau vor laufender Kamera E-Book

Armin Maiwald

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Beschreibung

Armin Maiwald über sein bewegtes Leben – und die Anfänge des (Kinder-)Fernsehens in Deutschland Seine Stimme kennt jeder. Seit über 40 Jahren erzählt Armin Maiwald Sachgeschichten für Kinder. Und jetzt erzählt er auf seine unnachahmliche Art – »solange das Gedächtnis noch funktioniert« – anlässlich seines 75. Geburtstags zum ersten Mal Geschichten in eigener Sache, angefangen beim Wiederaufbau nach dem Krieg und seinen ersten Schritten beim Theater und im Fernsehstudio. »Das ist viel zu schnell, das geht komplett über die Köpfe der Kinder hinweg« – zeitgenössische Reaktion auf die allerersten Sachgeschichten für Kinder, die heute recht lahm geschnitten wirken. Töne für Außendrehs wurden damals mit einer »Mikroport«-Anlage gemacht, für die man eine Sendelizenz der Deutschen Bundespost brauchte; geschnitten wurde an vorsintflutlichen klobigen Maschinen. So fing das an mit dem Kinderfernsehen in Köln, und Armin Maiwald, der Vater der »Maus«, war von Anfang an dabei. Alles wurde zum ersten Mal gemacht, jeder neuer Film brauchte nicht nur gute Ideen, sondern auch ganz viel Recherche und Ausprobieren, bis ein Sachverhalt – »Wie kommt das Ei auf den Frühstückstisch?« – richtig erklärt und dargestellt war. Und die Technik dafür musste immer miterfunden werden. Armin Maiwald erzählt in seiner schnörkellosen Art von diesem ständigen kreativen Improvisieren, das nicht nur seine Arbeit als Fernsehproduzent, sondern sein ganzes Leben geprägt hat. Und er muss selbst staunen, wie viel sich verändert hat seit den Anfängen im kriegszerstörten Köln.

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Seitenzahl: 476

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Armin Maiwald

Aufbau vor laufender Kamera

Geschichten aus meinem Leben

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Armin Maiwald

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwegKöln, Lauban, UffingSchulzeit in BayernZurück in die HeimatEin Bus voll schwedischer MädchenZum ersten Mal FernsehenDie grünen SchuheTheater oder Fernsehen?Zwei Briefe vom WDR»Sind Schwenks zu erwarten?«Zum ersten Mal selbst der »Chef«Schlager veräppeln mit dem mutigen Hasen Cäsar»Close Up« – die erste eigene Firma»Die Sendung mit dem Nilpferd«Neustart mit »Flash«Die »Stimme« der Maus»Die Technik zum Umbau, bitte!«»Hier ist es unüblich, zu Fuß zu gehen«»Sie sind aber ein schöner Befund«Geheimnisse der SeverinstraßeDer Orden aus dem NichtsHier kommt die MausDer Vogel mit der Maus»Mouse-sticker in poor condition«Blick zurück und Blick nach vorn
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Für meine Kinder Alexander und Johanna und Dank an meine Frau Ulla, die Ordnung in mein Fotochaos gebracht hat

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Vorweg

Es gibt zwei Leute, die daran schuld sind, dass Sie das Folgende lesen. Ich hatte eigentlich überhaupt nicht vor, irgendetwas davon zu Papier zu bringen. Aber jedes Mal, wenn ich bei Dreharbeiten, nach Feierabend, beim Frühstück oder zu sonst einer unpassenden Gelegenheit ein »Döneken« aus meinem privaten oder beruflichen Leben vom Stapel ließ, sagte mein Kameramann, Kai von Westerman (mit nur einem n), mit dem ich nun schon über 20 Jahre lang Filme drehe: »Hör mal, das musst du mal aufschreiben. So etwas weiß doch sonst später keiner mehr.«

Irgendwie hatte er recht, ich habe schon einiges erlebt: den Krieg, die Evakuierungen, die Trümmer, den Aufbau, das »Wirtschaftswunder«, die Anfänge des Fernsehens, die »Konsumgesellschaft«, die Öffnung nach Osten, den Einbruch des Privatfernsehens, die Wiedervereinigung (an die niemand von uns damals geglaubt hatte), die »Quote« als die heiligste aller heiligen Kühe, die »digitale Revolution«, den Euro, die Europadiskussion und einiges mehr.

Aber Kais Ermunterungen gingen jedes Mal beim einen Ohr rein und beim anderen wieder raus. Und wurden vergessen.

Dann traf ich – eher zufällig – auf Gabi Lorenz-Schayer, die ich vom WDR her kannte. Am Rand der Frankfurter Buchmesse, wo ich Autogramme schreiben sollte, kamen wir ins Erzählen. Auch da hatte ich wieder ein paar Anekdoten parat.

»Sag mal, hast du so etwas schon mal aufgeschrieben?«, fragte sie mich.

Ich glaube, ich habe sie ziemlich verdattert angeschaut. »Nö, warum auch?«, hab ich wohl geantwortet.

»Dann setz dich doch mal hin und mach das«, beharrte sie.

»Aber wen soll das denn interessieren? Es gibt doch weiß Gott jede Menge Leute, die Ähnliches, oft sogar Heftigeres erlebt haben.«

Sie ließ nicht locker: »Setz dich doch einfach mal hin und versuch es.«

Ich habe sie wohl sehr skeptisch angeschaut.

Aber einige Zeit später habe ich mich dann doch hingesetzt und überlegt, was denn überhaupt noch haften geblieben ist. Und als ich dann so an die 20 Seiten geschrieben hatte, habe ich ihr die per E-Mail mit der Bemerkung zugeschickt: »Glaubst du, dass das irgendjemanden interessieren könnte?« Dann hörte ich eine Weile nichts von ihr und dachte: Klar, wusste ich doch, das is nix!

Aber dann rief sie mich eines Tages an und sagte: »Das ist doch ganz spannend, und übrigens hab ich auch schon einen Verlag, der das drucken will.«

Da blieb mir erst mal die Spucke weg. Und dann brachte sie mich mit Lutz Dursthoff vom ehrwürdigen KiWi-Verlag zusammen. Der ermunterte mich ebenfalls, weiterzumachen. Glauben konnte ich das zuerst nicht, aber auch er meinte es ernst.

Und dann habe ich mich über zwei Jahre verteilt – denn zwischendrin musste ich immer wieder neue Filmchen machen – hingesetzt und aufgeschrieben, was mir noch so einfiel.

Vielleicht kein spannendes Vorwort, aber die wirkliche Wahrheit.

 

Armin Maiwald, im September 2014

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Köln, Lauban, Uffing

Woran ich mich aus meiner frühen Kindheit erinnere (solange das Gedächtnis noch funktioniert): Es sind eigentlich nur Fetzen, die meisten vielleicht nur einige Minuten lang, aber die ersten reichen weit zurück, bis in mein drittes Lebensjahr.

Meine älteste Erinnerung: Da war ein Fliegerangriff, das muss 1942 gewesen sein, und wir wohnten noch in Köln. Wir waren vorher schon einmal ausgebombt worden, als meine Mutter mit meiner gerade geborenen kleinen Schwester auf dem Arm aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Da stand die alte Wohnung am Rothgerberbach nicht mehr. Diese Geschichte kenne ich aber nur aus Erzählungen meiner Mutter.

Also sind wir zu meiner Tante in die Engelbertstraße gezogen, in unmittelbare Nähe des alten Opernhauses. Und da fand der Fliegerangriff statt, an den ich mich erinnere. Ich schlief wohl schon in meinem Bettchen, da kamen die Sirenen. Klar, die Fenster waren verdunkelt, und es durfte kein Licht gemacht werden, um »dem Feind« keine Zielorientierung zu liefern.

Das mit dem Fliegeralarm kannte ich schon, den gab’s fast jede Nacht. Also nichts wie raus aus der Kiste, die Brille auf die Nase, die Anziehsachen und das Köfferchen mit den Papieren mit einem Griff gepackt und ab in den Luftschutzkeller. Darauf hatte meine Mutter mich schon trainiert. Das musste ich alleine schaffen, meine Mutter konnte sich um mich nicht kümmern. Sie hatte meine erst ein paar Wochen alte Schwester auf dem einen Arm, die schrie natürlich, in der anderen Hand ihr eigenes Köfferchen und die Sachen für das Baby. Ich war ja schon »der Große«.

Im Keller saßen dann alle auf Bänken an der Wand entlang, eingewickelt in die üblichen Luftschutzdecken. In der Ecke, sofort greifbar, die Feuerpatschen und die Eimer mit Sand. Neben den »normalen« Bombeneinschlägen rumste es plötzlich ganz furchtbar. Das Haus hatte einen Treffer abbekommen. Putz und Dreck rieselten von der Wand, ein paar Steine flogen rum, die Wände wackelten, und die Kellerdecke zitterte. Aber sie hielt.

Die Trümmer des zusammenfallenden Hauses hatten den Kellereingang verschüttet. Damals waren die Luftschutzkeller in den einzelnen Häusern durch dicke Stahltüren voneinander getrennt. Die konnte man im Notfall aber öffnen und dann durchs Nachbarhaus ins Freie. So sind wir dann völlig eingedreckt auch rausgekommen. Zum Glück war es keine Phosphorbombe, sonst wären wir alle im Keller verbrannt.

Weil jetzt auch diese Wohnung weg war, sind wir alle zusammen mit Mutter, Tante und Schwester zu meiner Oma mütterlicherseits gezogen, in die Richard-Wagner-Straße, Ecke Brüsseler Straße. Das war einfach so, man zog weiter zu Verwandten, die noch ein Dach über dem Kopf hatten. Da konnten wir aber auch nicht lange bleiben, denn bald wurde auch dieses Haus zerstört.

An diesen Angriff kann ich mich aber nicht erinnern, nur, dass wir dann alle zusammen, nun auch noch mit der Kölner Oma, zu meinen Großeltern väterlicherseits nach Lauban in Schlesien gezogen sind. Das muss ebenfalls noch 1942 gewesen sein.

Meine Großeltern in Lauban hatten ein Riesenhaus. Jedenfalls kam mir das als Kind alles riesig vor. Es hatte mehrere Stockwerke und war wie ein »L« um die Ecke gebaut. Im Erdgeschoss, auf der Ecke, befand sich eine Drogerie, die meinen Großeltern gehörte, die sie aber damals schon – aus Altersgründen – geschlossen hatten. Vor dem Krieg hatte mein Großvater wohl auch noch ein Fuhrgeschäft oder eine Spedition gehabt. Jedenfalls gab es einen großen Hof mit sogenannten Remisen, in denen früher die Fahrzeuge gestanden hatten. Die waren aber von der Wehrmacht konfisziert worden. So waren die Remisen jetzt leer und immer abgeschlossen. Der Hof war so groß, dass Fahrzeuge darauf wenden konnten, und es gab einen kleinen Garten, wo man prima spielen konnte.

Im Haus meiner Großeltern war noch eine andere Familie einquartiert, die aus Berlin evakuiert worden war, und mit den beiden Jungs, Klaus und Manfred, beide älter als ich, habe ich da oft gespielt.

In einer Ecke dieses Riesenhofes stand auch noch eine Art Gartenhäuschen. Das muss mein Großvater wohl selbst gebaut haben. Es war grün angestrichen, hatte ein kleines Fenster, und dadrin hat mein Großvater für mich eine Holzeisenbahn gebastelt. Er muss ziemlich geschickt gewesen sein. Wie heute erinnere ich mich an den Geruch dieser grünen Ölfarbe, nach der es überall in diesem Häuschen roch.

Bei den Großeltern in Lauban, 1943/44. Zwei Berliner Spielkameraden, Armin Maiwald und Schwester Rita

Die Wohnung meiner Großeltern, die jetzt auch unsere war, lag im ersten Stock. Nach hinten, zum Speditionshof hin, gab es einen Balkon, der über die ganze Länge des Seitenhauses ging. Von diesem Balkon führte eine Treppe hinunter in den großen Hof. Zum Spielen bin ich immer über diese Treppe runtergesaust. Das war aber an heißen Tagen ein Problem: Die Treppenstufen waren nämlich aus Eisen. Und wenn die Sonne schien, waren die Stufen ziemlich bald glühend heiß. Und weil wir Kinder damals immer barfuß liefen, habe ich mir auf diesen Stufen, ich weiß nicht, wie oft, die Fußsohlen verbrannt. Vom Wohnzimmer im ersten Stock nach vorne raus hatte man einen tollen Blick über den Nikolaiplatz.

In diese Zeit in Lauban fallen auch noch ein paar Erinnerungen, die, jede für sich, nur wenige Minuten lang, aber haften geblieben sind.

Damals waren ja »Eintopfsonntage« verordnet. Das bedeutete, man durfte an so einem Sonntag nur eine Gemüsesuppe oder sonst einen Eintopf kochen. Vor allen Dingen durfte kein Fleisch gegessen werden. Und das Geld, das gegenüber einem normalen Sonntagsessen mit Suppe, Fleisch und Nachtisch eingespart wurde, musste gespendet werden, für das Winterhilfswerk oder sonst eine Naziorganisation.

Und so kam der Blockwart, ein absolut linientreuer »PG« (Parteigenosse) und von allen gefürchtet, zur Mittagszeit an die Wohnungstür und dann auch noch in die Küche und schnüffelte herum, wonach es denn roch.

Und wehe, er hätte einen Braten gerochen, dann hätte man blitzschnell die Gestapo (Geheime Staatspolizei) auf der Pelle gehabt, und es hätte nicht viel bis zum Vorwurf der »Wehrkraftzersetzung« gefehlt. Der Besuch des Blockwarts war also immer eine Angstnummer.

Nun musste damals in jeder Wohnung ein Führerbild hängen, genau so selbstverständlich, wie an »Führers Geburtstag« eine Fahne aus dem Fenster hängen musste. Wehe, wenn nicht.

Bei meinen Großeltern hing also auch so ein Führerbild. Allerdings immer umgedreht, mit dem Gesicht zur Wand. Die Wohnungstür war immer abgeschlossen. Wenn der Blockwart nun sonntags an der Tür klingelte, geschah Folgendes: Wer am Nächsten beim Führerbild war, drehte das Bild um, mit dem Gesicht nach vorne, das Ding gerade rücken, dann zur Wohnungstür, aufschließen und dem Blockwart aufmachen. Der kam dann rein, schnüffelte rum, ging in die Küche, hob den Deckel vom Topf, schaute hinein, was denn gekocht wurde, hielt dann die Sammelbüchse hin, erwartete eine ordentliche Spende und verschwand mit einem »Heil Hitler« und dem ausgestreckten Arm. Kaum war er weg, aufseufzen, Tür abschließen und Führerbild wieder umdrehen. Dann war der Sonntag gerettet.

Noch so eine bescheuerte Erinnerung aus derselben Zeit: Meine Mutter und meine Tante wollten einen Reißverschluss und etwas Nähseide kaufen. Wir Kinder waren bei jeder Unternehmung dabei, meine kleine Schwester auf dem Arm, ich an der Hand. Ich erinnere mich noch genau an den Laden, er hieß Fiedler. Drinnen lagen Stoffrollen in hohen dunklen hölzernen Schränken mit gläsernen Türen. Die Ladentheke war auch aus dunklem Holz, hatte aber gläserne Fächer, in denen man Knöpfe, Garn und alles mögliche Nähzeug sehen konnte.

Hinter der Theke standen zwei Männer in dunklen Anzügen. An sich schon ungewöhnlich, denn Männer waren selbstverständlich an der Front. Diesen beiden fehlte aber jeweils der rechte Arm, der Jackenärmel hing schlaff an der Seite herunter. Sie waren also offensichtlich nicht mehr »kv« (kriegsdienstverwendungsfähig), trotzdem aber anscheinend linientreu.

Meine Mutter und die Tante betreten also den Laden und sagen: »Guten Morgen!«

Brüllt der eine: »Das heißt nicht ›Guten Morgen‹, sondern ›Heil Hitler‹!« Und beide reißen im gleichen Moment die linke Hand hoch.

Ich sehe noch heute, wie Mutter und Tante wie angefroren stehen bleiben, kreideweiß werden und »selbstverständlich, Heil Hitler« murmeln. Der Einkauf selbst und ob sie das, was sie wollten, auch bekommen haben, ist mir nicht mehr in Erinnerung.

Und noch eine Laubaner Geschichte: Der Krieg wurde immer schlimmer. Die Sondermeldungen der Reichsrundfunkanstalt berichteten immer nur von Siegen an der Ostfront, allenfalls von »Frontbegradigungen«, was einen Rückzug verschleiern sollte. Geglaubt hat das kaum jemand, aber außer dem Völkischen Beobachter und dem Großdeutschen Rundfunk gab es keine andere Informationsquelle. Es sei denn, man kannte einen verschwiegenen Radiofachmann, der den Volksempfänger umtrimmen konnte. Dann hatte man die Möglichkeit, mitten in der Nacht eine Sendung der BBC in deutscher Sprache zu empfangen. Die fing immer mit einem Kesselpaukensolo an. Diesen »Feindsender« zu hören, war natürlich verboten, man beging Hochverrat, was unter Umständen mit dem Tod bestraft werden konnte.

Ich hatte geschlafen und wahrscheinlich etwas Komisches geträumt. Ich stehe also aus meinem Bettchen auf und mache mich in der Wohnung auf die Suche nach meiner Mutter. Es ist überall dunkel, nur im Wohnzimmer brennt ein kleines Stehlämpchen. Ich gehe also ins Zimmer und sage ganz leise: »Mama?« Und erschrecke im selben Augenblick bis auf die Knochen.

Vor mir sitzt ein dunkelgraues Ungeheuer, das sich bewegt und auch noch spricht. Durch mein »Mama?« aufgeschreckt, kommen plötzlich unter einer grauen Wolldecke die Köpfe von Großvater, Großmutter, Mutter und Tante zum Vorschein. Meine Mutter erfasst blitzschnell die Situation, schiebt mich aus dem Wohnzimmer und bläut mir ein: »Das hast du nur geträumt, das hast du alles nur geträumt.« Aus reiner Angst, dass ich mich irgendwann verplappern könnte, wenn ein Fremder in die Wohnung kam.

Zwei andere Geschichten fallen mir aus dieser Zeit noch ein: Die erste spielte sich in Köln ab, es muss also vor dem Umzug nach Lauban gewesen sein. Einen Teil dieser Geschichte weiß ich nur aus Erzählungen meiner Mutter, nämlich, dass mein Vater wohl einige Tage Heimaturlaub von der Front bekommen hatte und uns in Köln besuchen kam.

Ob dieser Heimaturlaub etwas mit der ersten oder zweiten Ausbombung zu tun hatte, kann ich nicht sagen.

Mit den Eltern, 1940

Er war von Beruf Konditormeister und wollte wohl seine alten Kumpels in der Konditorei besuchen, in der er seine Meisterprüfung abgelegt hatte. So weit die Erzählung meiner Mutter, und jetzt setzt meine Erinnerung ein.

»Komm, wir gehen den Papa mal in der Backstube besuchen«, sagte meine Mutter. Wir gingen also zum Neumarkt. Ob das Café »Kessel« oder »Kessler« geheißen hat, weiß ich nicht mehr genau. Es lag jedenfalls an der schmalen Ostseite des Platzes, und es ging ein paar Stufen hinab ins Souterrain. Durch das Café sind wir dann in die Backstube gelangt. Aber da standen nur weiße Männer, alle sahen für mich gleich aus. Einer davon war mein Vater, erkannt habe ich ihn nicht. Ob er mich dann hochgenommen oder meine Mutter geküsst hat, keine Ahnung, haften geblieben ist nur das Bild der gleich aussehenden Männer. Übrigens war das das eine von nur insgesamt zwei Malen, dass ich meinen Vater gesehen habe.

Die zweite Erinnerung hängt mit einer Reise von Köln nach Lauban zusammen. Ob das nach dem Verlust der Wohnung in der Richard-Wagner-Straße war oder wir einfach meine Großeltern besuchen wollten, kann ich nicht mehr sagen.

Wir waren irgendwo auf der Stecke, und Tiefflieger griffen den Zug an. Der machte eine Notbremsung, und alle stürzten panisch aus dem Zug. Wenn ein Zug nun auf freier Stecke hält und nicht an einem Bahnsteig, ist es von der untersten Trittstufe ein ganzes Stück bis zum Boden. Ich weiß nicht mehr, wie ich da runtergekommen bin, ob mich jemand runtergehoben hat oder ob ich gefallen bin. Danach warfen sich alle Leute flach auf den Boden und spielten toter Mann. Auch ich hab mich hingeworfen, aber ich lag nicht neben meiner Mutter, sondern zwischen wildfremden Leuten. Die englischen Spitfires zogen am Himmel mehrere Kurven und schossen Maschinengewehrsalven auf den Zug und auf die Leute. Ich erinnere mich nur noch daran, wie uns die Kugeln um die Ohren flogen und irgendwo einschlugen. Viele sind danach nicht wieder aufgestanden. Wann es aufhörte und wie wir in den Zug zurückgekommen sind, weiß ich auch nicht mehr. Es kam irgendwann eine andere Lok und schleppte den zerschossenen Zug langsam in den nächsten Bahnhof.

Es könnte der Bahnhof Kreiensen gewesen sein. Ich bin aber nicht sicher, ob die nächste Erinnerung zur selben Reise gehört. Wir kamen mit einem Zug nämlich in Kreiensen kurz vor der Dunkelheit an. Der Name hat sich mir eingeprägt. Der Bahnhof hatte gerade einen Luftangriff abbekommen. Dabei muss jede Menge Glas zu Bruch gegangen sein, denn die Treppe vom Bahnsteig zum Durchgang ins Hauptgebäude war über und über mit Scherben bedeckt. Ich höre meine Mutter noch hinter mir: »Halt dich nur ja am Treppengeländer fest und mach jeden Schritt einzeln, damit du nicht auf den Scherben ausrutschst. Die zerschneiden dir sonst Arme und Beine.«

An weiterfahren war nicht zu denken. Wir mussten auf dem Bahnhof bleiben. Da gab es damals vom Roten Kreuz eine Station für Mutter und Kind. Wir Kinder wurden dann zum Schlafen in Gitterbettchen gelegt. Ob und wo meine Mutter geschlafen hat, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wann und wie die Fahrt weiterging.

Zurück nach Lauban. An sich war diese Zeit bei meinen Großeltern ziemlich unbeschwert. Bis zum Februar 1945. Da munkelte man, dass »der Russe« immer näher käme. Die Stadt sollte evakuiert werden. Und eines Tages standen wir auf dem Bahnhof in Lauban. Es war der 12. Februar. Wir sollten weg, nach Bayern. Meine Laubaner Großeltern wollten nicht mit. Sie wollten bleiben, egal, was passierte. Sie haben uns noch auf den Bahnhof begleitet, und ich erinnere mich, dass meine Kölner Großmutter auf dem Bahnsteig stand, rumzeterte und auch nicht wegwollte. Mit dem Regenschirm hat sie um sich geschlagen und war vom Schaffner nur mit Gewalt in den Zug zu bugsieren.

Von meinen Laubaner Großeltern habe ich nie wieder etwas gehört. Niemand weiß, was mit ihnen und ihrem Haus passiert ist. Später hat meine Mutter versucht, etwas über das Rote Kreuz herauszubekommen, aber leider ohne Erfolg. Es sei denn, sie hat etwas gehört, es uns Kindern aber nicht erzählt. Jedenfalls haben wir Kinder zeitlebens nichts anderes gehört als »spurlos verschwunden«. Etwa 60 Jahre später haben wir, meine Frau, meine Schwester, mein Schwager und ich, uns ins Auto gesetzt, sind nach Lauban (heute Luban in Polen) gefahren und haben versucht herauszufinden, ob es das alte Haus der Großeltern noch gibt. Und obwohl ich die Adresse noch wusste, hatten wir da auch keinen Erfolg.

Wir kamen mit dem Zug zunächst in Dresden an. Da besuchten wir noch eine Großtante; die wohnte in der Schumannstraße. Der nächste Tag war der 13. Februar, der Beginn der Bombardierung von Dresden. Wie wir in den Zug nach Süden gekommen sind, weiß ich nicht. Es soll den Erzählungen nach »der letzte« gewesen sein; keine Ahnung, wie viele »letzte« Züge es gegeben hat.

Die Fahrt ist mir nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil ich diesmal ausnahmsweise am Fenster stand. Sonst reisten Kinder damals in den überfüllten Zügen immer im Gepäcknetz. Jeder, der reiste, schleppte irgendwas mit sich rum. Die Koffer oder Kartons kamen dann in die Gepäcknetze und die Kinder obendrauf. Da hatten sie wenigstens einen Sitzplatz, unten standen die Erwachsenen zwischen den Sitzreihen und in den Gängen. Der Zug aus Dresden war jedenfalls ungewöhnlich leer, er war wohl irgendwie aus dem Boden gestampft worden, um die Menschen aus der Stadt zu bekommen: Und ich stand am Fenster und erinnere mich wie heute, dass das brennende Dresden langsam aus dem Blickfeld entschwand.

Am Ende einer langen Nachtfahrt kamen wir zuerst nach München, wurden bei irgendeiner Familie einquartiert. Dann sollte auch München geräumt werden, wir wurden nach Weilheim umquartiert, kamen zu einer Familie Specks, aber auch da waren wir nur 14 Tage, dann wurden wir endgültig nach Uffing am Staffelsee umquartiert.

In Uffing kamen wir zu den Geschwistern Kalb, Bertha und Hedwig. Hedwig war die Ältere, hatte früher mal im München Malerei studiert, musste dann aber zurück auf den winzig kleinen Bauernhof, weil Bertha es nicht alleine schaffte. Hedwig war drahtig, Bertha eher mollig.

Als wir da einquartiert wurden, schlug Bertha die Hände über dem Kopf zusammen: »Auch noch mit zwei Kindern, o mei!« Im Haus der beiden waren auch schon andere Flüchtlinge einquartiert, eine Familie aus München und eine aus Augsburg. Der Mann aus Augsburg war Uhrmacher. Jede der einquartierten Familien hatte ein Zimmer oben auf der ersten Etage. Im Erdgeschoss lebten die Geschwister Kalb, hatten ihr Schlafzimmer aber zu der Zeit auch noch im ersten Stock.

Als wir nun noch dazu ankamen, wussten die beiden erst gar nicht, was sie mit uns anfangen sollten, es war auch kein richtiger Platz mehr vorhanden. Aber mit dem Einquartierungsschein half alles nichts, wir mussten dableiben. Also verbrachten wir die ersten Nächte im Wintergarten auf dem Fußboden. Die Schwestern mussten erst ihr Schlafzimmer im ersten Stock ausräumen, damit wir da einziehen konnten.

Möbel hatten wir keine mehr, wir schliefen in geliehenen Betten, meine Schwester und ich zusammen in dem einen, meine Mutter in dem anderen. Auch Tisch und Stühle waren zusammengeliehen. Fließendes Wasser gab’s nicht; für alle drei Familien, die ab jetzt im ersten Stock hausten, gab es eine kleine gemeinsame Küche und ein gemeinsames Plumpsklo. Alles, was wir hatten, war das, was wir auf dem Leib trugen und die paar Sachen, die meine Mutter in Dresden blitzschnell in einem Koffer zusammengepackt hatte.

Mit Mama und Papa in Lauban im Garten der Großeltern

Mein Vater war zu der Zeit nach Freising abkommandiert. Woher meine Mutter das wusste, und woher mein Vater wusste, dass wir mittlerweile nicht allzu weit entfernt ebenfalls in Bayern gelandet waren, keine Ahnung. Vielleicht hat sie ihm ja einen Feldpostbrief geschrieben, Telefon gab es nicht bei uns. Jedenfalls hat sich mein Vater auf ein Fahrrad gesetzt und ist in der Nacht zu uns nach Uffing geradelt. Am nächsten Morgen war er da, er wollte wohl sehen, wie es seiner Familie ging, musste aber schnell wieder zurück in die Kaserne. Die Rückfahrt wollte er mit dem Zug machen.

Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam mit ihm zum Bahnhof gingen. Es war etwa Mitte April, der Krieg war noch nicht zu Ende. Er schob das Fahrrad mit dem Bauch am Lenker und hatte an jeder Hand eines seiner beiden Kinder. Ich ging rechts, meine kleine Schwester links. Wir wohnten bei den Kalbs nicht weit vom Bahnhof. Ein Weg von höchsten fünf Minuten. Dieser kurze Weg ist das zweite Zusammentreffen mit meinem Vater gewesen. Wenige Tage später war er tot. Aber bis wir das wussten, dauerte es noch sehr lange.

Zuerst einmal kam die »Überrollung«, wie es damals hieß, das war noch vor der Kapitulation. Bedeutete, die Alliierten kamen. Bei uns in Uffing waren es die Amis.

Ich erinnere mich, wie gespenstisch das war. Auf einmal hörte man keine Flugzeuge und keine Flaks (Flugabwehrkanonen) mehr. Den Kriegslärm waren wir ja über Jahre gewohnt. Es war absolut ruhig, unheimlich ruhig. Wir Kinder durften nicht aus dem Haus, nicht einmal in den Garten. Auch alle Erwachsenen waren im Haus. Ob aus Angst oder weil Ausgangssperre herrschte, keine Ahnung. Jedenfalls stand ich an dem kleinen Fenster in der Minimalküche und schaute raus. Gleich hinter den Bahngleisen und dem Bahnübergang war ein kleiner Weiher, und dahinter konnte man die Gastwirtschaft Hirschvogel sehen. Da hingen weiße Betttücher in den Fenstern.

Und plötzlich wurde die Stille von einem Kettenrasseln unterbrochen, und ein Panzer kam ganz langsam die Straße vom Dorf herunter. Der sah ganz anders aus, hatte einen Stern aufgemalt und nicht das Balkenkreuz wie »unsere«. Klar, das war der Feind, wie uns immer wieder eingetrichtert worden war. Von »Befreiung« redete niemand, und niemand hatte auch eine Ahnung, was jetzt mit uns passieren würde. Es herrschten allgemeine Verunsicherung und Angst. Der Panzer blieb dann vor dem Hirschvogel stehen, drehte ganz langsam seinen Geschützturm, und wir dachten alle, im nächsten Moment schießt er auf die Gastwirtschaft, den Bahnhof oder auf unser Haus. Tat er aber nicht. Er drehte den Geschützturm wieder nach vorne und bewegte sich langsam auf den Bahnübergang zu, blieb da wieder stehen, das gleiche Manöver mit dem Geschützturm, und fuhr danach langsam an unserem Haus vorbei in Richtung Spatzenhausen. Erleichterung, es war nichts passiert.

Danach, am selben Tag und in den folgenden Tagen immer wieder, kamen die Soldaten. Das Vorgehen war immer das gleiche: Ein offener Jeep mit einer riesigen Funkantenne hintendrauf kam angesaust. Einer blieb beim Wagen. Die anderen sprangen schwer bewaffnet heraus, stürmten mit vorgehaltenen MPs ins Haus, stellten alle Bewohner nebeneinander an die Wand, Hände hoch, einer hielt sie mit der MP in Schach, die anderen liefen durchs Haus, rissen sämtliche Schränke, Kommoden, Truhen und was es sonst so gab, auf, warfen alles auf den Boden, schauten unter alle Betten, rasten in den Keller, auf den Dachboden, kurzum, sie stellten das ganze Haus auf den Kopf. Sie suchten wohl nach versteckten Waffen oder nach »Werwölfen« (Nazi-Untergrundkämpfern). Hatten sie nichts Verdächtiges gefunden, dann verschwanden sie wieder und rasten zum nächsten Haus.

Kaum waren sie weg, fing das große Aufräumen an. Jeder suchte seine Habseligkeiten zusammen und verstaute sie wieder. War gerade alles weggeräumt, kamen die Nächsten, und das Spiel ging von vorne los.

Bei einer dieser Aufräumaktionen hatte meine Mutter ein Foto von meinem Vater in Uniform unter der Wäsche versteckt. Wo sie das Bild vorher hatte, weiß ich nicht. Wohlgemerkt: Mein Vater war nie ein hohes Tier, er war zur Wehrmacht eingezogen worden, deswegen mussten meine Eltern ihr erstes eigenes Café schließen, sein höchster Dienstgrad war Obergefreiter, also eher so was wie »Schütze Arsch«.

Bei der nächsten Durchsuchung entdeckte einer der Soldaten das Foto, kam damit runtergesaust, wo alle Erwachsenen vor der Küche der Geschwister Kalb aufgereiht waren, wedelte mit dem Bild rum und wollte wissen, wem es gehörte. Weil niemand Englisch verstand, hielten sie jedem das Foto vor die Nase, alle schüttelten mit dem Kopf, bis meine Mutter nickte. Da rissen sie sie nach vorne, und zwei bedrohten sie mit den MPs. Keiner verstand, was sie wissen wollten. Die Soldaten wurden immer wütender, und wir beiden Kinder, die das von der Treppe aus sahen, hatten das sichere Gefühl, dass meine Mutter erschossen werden sollte.

Da brüllte der Soldat draußen vom Wagen irgendwas. Vielleicht gab es einen Alarm. Jedenfalls rannten alle sofort wie von der Tarantel gestochen raus, sprangen auf den Jeep und rasten davon. Wir Kinder und meine Mutter heulten natürlich. Wir haben nie erfahren, wie ernst – oder auch nicht – diese Situation war.

Neben diesen Hausdurchsuchungen machte meine Mutter sich natürlich Sorgen um meinen Vater. Seit dem unerwarteten Besuch mit dem Fahrrad hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Was war mit ihm bei der Überrollung passiert, war er in Gefangenschaft geraten, wo steckte er? Die ganze Wehrmacht war ja in Auflösung begriffen, Feldpostbriefe gab es nicht mehr, wen sollte man fragen?

Nach dem 8. Mai kamen dann immer wieder einzelne Soldaten zu Fuß über die Straße von Spatzenhausen herunter. Die meisten zerlumpt und verwundet, sie hatten sich »selbst entlassen«, waren geflohen, waren aus einem Gefangenenlager entlassen worden oder hatten die Entnazifizierung schon hinter sich. Sie kamen zum Teil von weit her, hatten manchmal schon einige Hundert Kilometer hinter sich, waren auf dem Weg nach Hause oder suchten ihre Familien.

Meine Mutter hatte mir aufgetragen, tagsüber, wenn keine Ausgangssperre herrschte, jeden zu fragen, wo er herkomme, ob er zufällig meinen Vater, den Gefreiten Alfred Maiwald, kenne und ob er irgendetwas über ihn wisse.

Keiner wusste irgendwas, trotzdem musste ich unablässig fragen. Viele baten um etwas zu essen, aber damit konnten wir nicht dienen, wir hatten ja selbst nichts, aber einen Schluck Wasser bekamen sie auf jeden Fall. Wir Kinder standen meist schon um zehn oder elf im Garten und riefen zum Küchenfenster rauf: »Mutti, wann gibt es denn was zu essen?«

Um das Nächste besser zu verstehen, muss ich noch erklären, wie unsere Restfamilie aufgeteilt war. Wir wohnten nicht alle bei den Geschwistern Kalb, da waren nur meine Mutter, meine Schwester und ich. Meine Tante wohnte etwa hundert Meter Luftlinie entfernt in Richtung Spatzenhausen auf dem Bauernhof der Familie Dopfer. Das war ein richtig großer Bauernhof. Die Kölner Großmutter wohnte von uns aus auch wieder etwa hundert Meter Luftlinie entfernt in der entgegengesetzten Richtung in einem einfachen Wohnhaus, das hinter dem Weiher und dem Gasthaus Hirschvogel lag.

Zwischen uns und dem Dopfer-Hof lag links von der Straße eine Kiesgrube. Die spielt beim nächsten Ereignis eine Rolle. Auch meine Tante hatte keine Ahnung, was mit ihrem Mann und ihrem Sohn los war, von beiden gab es kein Lebenszeichen. Und so hockten die beiden Frauen bei jeder Gelegenheit zusammen und überlegten, wie die nächsten Tage zu überstehen seien. Eines Abends war sie noch nach der Dunkelheit und der Ausgangssperre bei uns, passte auf, ob keine Patrouille unterwegs war und machte sich auf den Heimweg zu Dopfers, hundert Meter, kein Problem, man lernt ganz schnell, auch mit Ausgangssperren zurechtzukommen.

Nun war es nach der Kapitulation so, dass alle Zwangsarbeiter, die das Deutsche Reich zwangsrekrutiert hatte, in verlassenen Kasernen untergebracht wurden, um von da aus wieder in ihre Heimat gebracht zu werden. In einer Kaserne in Murnau waren es Polen. Für die galt keine Ausgangssperre, die waren ja lange genug eingesperrt gewesen. In ihrer neuen Freiheit und mit der aufgestauten Wut im Bauch zogen die dann nachts los, brachen in Häuser ein, plünderten und vergewaltigten alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Mit Sicherheit haben das nicht alle gemacht, aber doch einige.

Fünf Mann erwischten dann meine Tante auf diesem kurzen Heimweg, rissen ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigten sie in der Kiesgrube. Am nächsten Tag war sie ganz grün und blau, Mutter und Tante erzählten uns Kindern, sie sei im Dunklen hingefallen; was wirklich passiert war, erfuhren wir erst Jahre später.

Wegen der vielen Plünderungen (man durfte ja nichts sagen; eine Polizei gab es auch nicht, die einzige Autorität, die es gab, war die amerikanische Militärpolizei, und die kümmerte sich darum, das allergrößte Chaos zu verhindern) kamen meine Mutter, meine Tante und meine Großmutter auf die Idee, die wenigen Wertsachen, die sie bei der ganzen Umherzieherei gerettet hatten, im Wald zu vergraben. Gesagt, getan. Das durfte natürlich auch nur in der Nacht passieren, heimlich und trotz Ausgangssperre. Also sind wir mitten in der Nacht, mit Kind und Kegel, in den Wald und haben das Zeug da vergraben. Aber weil es rattenfinster war und die Frauen die Stelle nur unzureichend markiert hatten, wurden die Sachen später nie wiedergefunden. Sie ruhen wahrscheinlich noch heute in bayerischer Erde.

Bei den Patrouillen, die unablässig durch die Gegend fuhren, sahen wir auch zum ersten Mal Männer mit einer anderen Hautfarbe. Hatten wir vorher noch nie gesehen. Wir staunten nicht schlecht und beäugten sie neugierig, wie sie lässig auf ihren Jeeps saßen, häufig eine Zigarette im Mund. Was sie sagten, konnten wir natürlich nicht verstehen. Die meisten von ihnen waren freundlich und warfen uns Kindern einen Riegel Cadbury-Schokolade zu. Wir wussten nicht, ob wir die aufheben durften, denn uns allen war eingeschärft worden, uns von den fremden Soldaten fernzuhalten.

Aber bei etwas anderem hatten wir weniger Scheu. Die Soldaten wussten natürlich auch, dass Zigaretten Mangelware waren, dass sie sozusagen zu einer Ersatzwährung geworden waren. So rauchten sie ihre Zigaretten nur kurz an, warfen sie dann aus dem Auto. Und sie wussten genau, was sie taten. Kaum waren sie weg, hoben wir die Kippen auf, machten die Glut vorne weg und steckten sie ein.

Hatten wir mehrere zusammen, schnitten wir sie auf, sammelten den Tabak, suchten nach einem Stück dünnen Papier und drehten daraus neue Zigaretten. Für drei solcher Zigaretten konnte man schon etwas Brot, ein paar Kartoffeln oder sonst etwas Essbares eintauschen.

Überhaupt war der Hunger allgegenwärtig. Mittlerweile ging es auf den Sommer zu. Die Ausgangssperre war auf »nach Einbruch der Dunkelheit« abgeändert worden. Und bei »Abendspaziergängen« sind wir dann an den Feldern der Bauern vorbeigegangen und haben nachgeschaut, ob es unter den Kartoffelpflanzen denn schon kleine Kartöffelchen gibt. So habe ich als Fünfjähriger gelernt, Kartoffeln zu klauen. Die Bauern mochten das gar nicht. Sie mussten das, was sie geerntet hatten, ja auch zum großen Teil abliefern. Deswegen machte man das an Stellen, die nicht einsehbar waren.

An sich hatten wir es gar nicht so schlecht angetroffen. Wir waren »auf dem Land«, es gab Bauern, die alles hatten, Getreide, Milch, Butter, aber sie haben mit den Flüchtlingen anfangs doch sehr gefremdelt. Es ging damals das Gerücht, die Bauern hätten alle Kuhställe mit Perserteppichen ausgelegt, denn sie ließen – wenn sie etwas hergaben – sich das sehr gut honorieren. Geld war ja nichts wert, es wurde nur getauscht: Uhr gegen Fleisch, Manschettenknöpfe gegen Milch oder aber auch Zigaretten gegen Brot.

Es gab aber noch eine andere Möglichkeit. Wenn man damals einen Brief verschicken wollte, musste die Adresse in Blockschrift geschrieben sein. Alle Post ging durch die Zensur, und die gebräuchliche Schreibschrift konnten die Alliierten nicht lesen. Ich konnte diese Blockschrift schon mit fünf, zwar noch etwas unbeholfen, aber leserlich. Also kamen die Erwachsenen mit einem Kuvert, und ich sollte die Adresse schreiben. Meistens mussten sie Namen und Orts- sowie Straßennamen buchstabieren, weil ich die noch nicht kannte. Damals kam ich auch zum ersten Mal mit einer Postleitzahl in Berührung: Unsere war 13b Uffing. Das zog sich manchmal über eine halbe Stunde hin, und verschreiben durfte ich mich auch nicht, denn Kuverts waren wertvoll. Aber für so eine Adresse mit Absender und allem Drum und Dran gab’s dann schon mal einen Liter Milch oder ein paar Kartoffeln.

Ansonsten gab’s Suppe aus Sauerampfer vom Bahndamm, Brennnessel- oder Löwenzahnsuppe. Aus dem Löwenzahn oder den Brennnesseln konnte man auch Salat machen. Da durfte man aber nur die ganz jungen Blätter pflücken, bevor die Pflanze blühte.

Nach kurzer Zeit gab es auch wieder Lebensmittelkarten. Da waren Abschnitte für Mehl, Gries, Haferflocken, Zucker, Butter usw. drauf. Aber was davon tatsächlich vorrätig war, war eine ganz andere Geschichte. Im Dorf gab es einen Lebensmittelladen. Die Besitzer hießen Gerg. Da konnte man die Sachen kaufen. Und abgesehen von den notwendigen Abschnitten auf der Lebensmittelkarte musste man alles auch noch immer bezahlen, mit Reichsmark. Natürlich war immer eine Schlange vor dem Geschäft, und man musste sich anstellen. Und je weiter man vorne in der Schlange stand, desto besser standen die Chancen, dass man auch etwas von dem bekam, was gerade zugeteilt worden war. Und was gerade zugeteilt oder »aufgerufen« war, verbreitete sich in Windeseile durch Mundpropaganda. Also schickte mich meine Mutter früh los, damit ich mich als Platzhalter in die Schlange stellte. Von zu Hause aus ein Fußweg von etwas über einem Kilometer.

Überhaupt wurde damals alles zu Fuß erledigt. Für offizielle Angelegenheiten, also Kennkarten (Personalausweisersatz) oder Lebensmittelkarten musste man nach Murnau, sechs Kilometer hin, sechs zurück, den Weg sind wir unendlich oft gegangen, den hätten wir im Schlaf zurücklegen können.

Eigentlich wohnten wir ja dicht beim Bahnhof, und mit dem Zug wäre man in wenigen Minuten in Murnau gewesen, aber das Zugfahren war verboten. Die Züge waren den Alliierten vorbehalten und wurden auch streng bewacht. Außerdem gab es kaum noch Lokomotiven und brauchbare Waggons.

Die Strecke von München nach Garmisch, an der der Bahnhof Uffing liegt, war damals eine zweigleisige Strecke. Das zweite Gleis war mit zerschossenen oder anderweitig nicht mehr betriebsfähigen Güterwagen vollgestellt. Die standen da für eine lange Zeit, wurden erst Jahre später abgefahren, nur an den Bahnübergängen waren diese Schrottzüge getrennt, und der gesamte Eisenbahnverkehr spielte sich auf dem verbleibenden Gleis ab.

Das hatte aber auch einen Vorteil: Weil es so wenige Lokomotiven und verkehrstüchtige Waggons gab, musste eine Lok so viele Wagen wie eben möglich ziehen. Das machte sich bei den Kohlezügen, die für die Alliierten fuhren und das Heizmaterial für ihre Kasernen transportierten, bemerkbar.

Woher die Kohlezüge kamen, keine Ahnung, aber sie hatten bei uns ein Problem. Die Strecke geht ein wenig bergauf, die langen, schweren Züge wurden langsamer und langsamer, und manchmal schaffte es die Lok überhaupt nicht. Dann blieb der Zug stehen. Zeit, schnell auf die Wagen zu klettern und ein paar Kohlen runterzuwerfen. Die Größeren hoben die Kleineren hoch bis auf die untersten Trittbretter. Natürlich waren die Züge bewacht; auf den ersten und den letzten Wagen saßen Soldaten mit Gewehren, aber auf uns Kinder haben sie nicht geschossen. Wenn die Lok den Anstieg nicht schaffte, ließ der Lokführer den Zug dann langsam rückwärts bis nach Huglfing zurückrollen, nahm einen neuen Anlauf und schaffte es dann mühsam. Manchmal beim zweiten Versuch, manchmal auch erst beim dritten. Für uns war das dann eben eine mehrfache Chance, Kohlen zu ergattern, »klauen« nannten wir das nicht. Wichtig war nur, den Moment abzupassen, wenn der Zug den Berg »schaffte«, um dann so schnell wie möglich wieder abzuspringen. So etwas kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Und zwischen den zerschossenen und abgestellten Güterwagen konnte man sich gut verstecken. War der Kohlenzug dann weg, sammelten wir die runtergeworfenen Kohlen zwischen dem Bahnschotter auf, teilten sie auf und brachten sie nach Hause. So ganz ungefährlich war das natürlich nicht.

Der Sommer 1945 war sehr heiß. Das Getreide wurde früh geerntet. Zeit, über die abgeernteten Felder zu gehen und nach liegen gebliebenen Ähren zu suchen. Auch das hatten die Bauern nicht gern, sie schimpften immer, wenn sie uns erwischten. Hosentaschenweise haben wir liegen gebliebene Ähren gesammelt und nach Hause gebracht. Irgendwann hatten wir zwei ganze Säcke voll zusammen. Wunderbarer Reichtum, aber was nun? Das Korn musste zu Mehl gemahlen werden. Aber wer konnte das? Mutter und Tante hatten dann einen Müller in Weilheim ausfindig gemacht, der das – verbotenerweise – machen wollte. Aber wie dahinkommen? Als Erstes haben sie einen Handwagen, so einen Bollerwagen, organisiert. Der Mann, der ihn verliehen hatte, wollte aber einen Teil des Mehls als Leihgebühr dafür haben. Auch der Müller verlangte seinen Anteil. Alles verständlich: Wären wir geschnappt worden, wären wir die Ähren und der Mann seinen Bollerwagen los gewesen. Und eingesperrt wären wir auch worden. Hätte man den Müller erwischt, hätte man auch ihn eingesperrt. Also, was nach dem Mahlen für uns übrig blieb, war so viel, wie in zwei zusammengenähte Küchenhandtücher passt. Das ganze Unternehmen fand natürlich wieder in der Nacht statt. Mutter und Tante zogen den Wagen, wir Kinder saßen obendrauf, auf den Kornsäcken. 16 Kilometer durch den Wald, möglichst niemandem begegnen. Eine Abenteuerreise, die sich aber gelohnt hat, denn danach gab es mal wieder was Ordentliches zu essen.

Irgendwann in diesem Sommer 1945 hielt plötzlich ein amerikanischer Jeep beim Dopfer-Hof. Panik; was wollten die? Die Soldaten fragten nach »Missis Lisa«. Gemeint war meine Tante, die mit Nachnamen Leser hieß. Als meine Tante dann mehr oder weniger schlotternd vor ihnen stand, gaben sie ihr einen Zettel und verschwanden wieder. Dieser Zettel war eine Nachricht von meinem Onkel, dass er gesund und am Leben und in der Jägerkaserne in Garmisch in Gefangenschaft sei, dass er noch die Entnazifizierung vor sich hätte, dass er aber wohl bald entlassen würde.

Große Freude, wenigstens von einem Mann wusste man jetzt, dass er noch lebte. Wie mein Onkel erfahren hatte, dass seine Frau in Uffing bei Dopfers untergebracht war, habe ich nie rausbekommen. Ebenso wenig, wie er die Soldaten dazu gebracht hat, mit dem Jeep nach Uffing zu fahren und die Nachricht zu überbringen. Sein Vorteil war wohl, dass er Englisch sprach und sich mit ihnen verständigen konnte.

Jetzt war meine Tante nicht mehr zu halten. Sie wollte unbedingt nach Garmisch und ihren Mann sehen, wenn auch nur durch den Zaun. Aber wie dahinkommen? Mit dem Zug fahren ging nicht, nur Militärzüge, mitfahren verboten. Mutter und Tante haben mit dem Bahnhofsvorsteher (so was gab’s damals noch) geredet und ihm die Situation erklärt. Der hat uns dann an einem der nächsten Tage zu einer bestimmten Uhrzeit zum Bahnhof bestellt. Wir sollten auf die »verkehrte« Seite, also nicht auf die Seite, wo der Bahnsteig war. Normalerweise fuhren die Militärzüge in Uffing ohne Halt durch. Aber an diesem Tag hielt einer. Der Bahnhofsvorsteher hatte das Signal auf Halt gestellt. Als der Zug stand, hat er uns von der falschen Seite in den Gepäckwagen gestopft und den Wagen wieder zugemacht.

Dann fuhr der Zug weiter. Geheuer war uns das allen nicht; was wäre passiert, wenn wir geschnappt worden wären? Die Fahrt schien endlos lange. Und aussteigen durften wir in Garmisch auch erst, als der Zug auf einem Abstellgleis stand. Und natürlich wieder nur auf der verkehrten Seite.

Erinnern kann ich mich noch, wie wir in Garmisch um die Jägerkaserne herumgelaufen sind oder dran vorbei. Immer wenn wir stehen bleiben wollten, um nach meinem Onkel zu suchen, schrie ein Soldat von einem der Wachttürme etwas und bedeutete uns, weiterzugehen. Gesehen haben wir meinen Onkel aber nicht. Wie wir nach dieser Abenteuerfahrt wieder nach Hause gekommen sind, daran habe ich keine Erinnerung.

Ein paar Wochen später wurde mein Onkel tatsächlich entlassen. Und er hatte mit den Amerikanern einen »Deal« gemacht. Im Privatleben war er Elektroingenieur. Die Amerikaner brauchten in ihrer Kaserne Elektromaterial, Badewannen und Installationsmaterial. Mein Onkel hatte ihnen erklärt, dass er so etwas »im Westen«, also in Köln oder noch weiter im Ruhrgebiet, besorgen könnte. Also bekam er von ihnen den Auftrag, das zu tun, und dafür erhielt er einen UNRA-Schein (United Nations Repatriation Authority). Das war ein Durchfahrtschein, der für alle Besatzungszonen galt. Damit war es auch möglich, ein Fahrzeug zu requirieren und Sprit zu tanken, wo es denn welchen gab.

Weil Geld ja nichts wert war, ging er zu den Bauern im Dorf und der Umgebung und fragte die, was sie denn brauchen würden. Das reichte dann von Glühbirnen über Heizöfchen bis zu Einmachgläsern. Könnte er besorgen, sagte er, er bräuchte aber kein Geld, sondern Kartoffeln und andere Lebensmittel zum Tauschen.

Nun brauchte er noch einen Lastwagen. Er wandte sich an die Familie Specks in Weilheim, bei der wir, bevor wir nach Uffing kamen, schon einmal kurzfristig untergekommen waren. Die hatten tatsächlich noch einen gebrauchsfähigen Lkw. Damit fuhr er dann bei den diversen Bauern vorbei, lud Kartoffeln und andere Lebensmittel auf und machte sich auf den Weg in den Westen.

Und diesem Lkw verdanke ich auch die erste Autofahrt meines Lebens, die ich nie vergessen werde. Der Wagen musste betankt werden. Damals gab es im Dorf, genau gegenüber der Schule, eine Tankstelle. Ich habe gebettelt, dass ich mitfahren durfte. Nachdem das Tanken erledigt war und als die Männer im Büro das Bürokratische abwickelten (UNRA-Schein), wollte ich aus dem Führerhaus aussteigen. Das dauerte nämlich, und mir war langweilig. Ich machte die Tür auf, das war kein Problem. Als ich dann aber nach unten schaute, erschien mir das doch zu hoch, um runterzuspringen. Also blieb ich sitzen und machte die Tür wieder zu. Blöderweise hatte ich vergessen, dass meine rechte Hand noch am Türrahmen lag. Ich schlug also die Autotür zu und hatte meinen rechten Daumen eingeklemmt. Also Tür wieder auf, Daumen wegziehen und Tür noch mal zuknallen. Es tat höllisch weh, aber ich habe kein Sterbenswörtchen gesagt, denn sonst hätte ich nie wieder mitfahren dürfen. Bis auf den heutigen Tag ist der Nagel an meinem rechten Daumen deformiert, offensichtlich habe ich damals das Nagelbett verletzt.

In Uffing, 1946

Für meine Mutter war die Situation ziemlich aussichtslos. Sie hatte keinen Pfennig Geld. Der Wehrsold für meinen Vater wurde nicht mehr ausgezahlt, die Wehrmacht war ja aufgelöst, und eine neue irgendwie geartete Verwaltung gab’s noch nicht. Arbeit gab es keine, und einen Beruf hatte sie auch nicht erlernt, heute würde man sagen: Sie war die behütete Tochter aus einem bürgerlichen Haus.

Außerdem war sie eher ein Stadtkind, obwohl sie ursprünglich auf dem Land geboren worden war. Aber sie hat nie geklagt, sie hat die Ärmel hochgekrempelt und bei allem angepackt, was sich anbot. Sie hat mitgeholfen, bei der Heuernte Heu auf die Wagen zu laden, sie hat für andere Leute gestrickt und geschneidert, um so wenigstens etwas für uns zu essen zu ergattern. Das alles hatte sie nicht gelernt, aber sie war geschickt und hat das alles irgendwie hingekriegt. Wenn ich heutzutage das Wehklagen über alleinerziehende Mütter höre, denke ich immer an meine. Alleinerziehend war damals der Normalzustand, nicht nur für meine Mutter.

Weil meine Mutter sich nicht hängen ließ und jeder mitbekam, wie sie für ihre beiden Kinder kämpfte, bot der junge Bauer Dopfer ihn und meiner Tante an, ihnen ein Stück Land zur Verfügung zu stellen, auf dem sie selbst Kartoffeln und Gemüse anbauen konnten.

Dieses Stück Land war hundert Quadratmeter groß (haben die beiden später immer erzählt), das war dann unser »Garten«. Der Bauer hatte mit Pferd und Pflug einfach ein Stück einer seiner Wiesen umgepflügt. Zaun drumrum gab’s natürlich nicht, und der Garten lag etwa einen Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Mit geliehenem Spaten und Rechen haben die beiden Frauen dann auf dem schweren Boden Pflanzbeete angelegt.

Wasser zum Gießen musste von einem entfernten Brunnen geholt werden. Und natürlich mussten auch wir Kinder mit ran. Samen säen, Unkraut jäten, Wasser holen, Erwachsene volle Gießkanne, Kinder halbe Gießkanne, jeder, so viel er tragen konnte.

Anfangs schaute der Bauer noch misstrauisch, ob die Stadtfrauen denn irgendwas zustande brächten, aber – oh Wunder – es wuchs tatsächlich was. Vielleicht ist an dem Spruch »Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln« doch mehr Wahrheit, als man glaubt. Aber das betrifft schon das Jahr 1946, da ging’s uns durch den Garten auch schon »richtig gut«.

Aber davor kam noch der schlimme Winter ’45/’46. Es war bitterkalt, an manchen Tagen minus 25 Grad. Wir froren erbärmlich. Kohlen zum Heizen gab’s nicht, außer den paar geklauten. Man konnte allenfalls im Wald abgefallene Äste aufheben. Auf die Idee kamen aber alle. Und selbst wenn man noch etwas fand, musste man das stundenlang nach Hause schleifen. Und gerade so viel, wie man tragen konnte. Zeit für Langeweile war jedenfalls nie. In der Regel saßen wir in Decken eingemummelt zusammen im Bett und wärmten uns gegenseitig.

Die Kalb-Schwestern hatten mittlerweile auch ihren Frieden mit uns gemacht. Und so durften wir uns in ihrer Küche, in der ein großer Herd stand, aufwärmen. Wir Kinder nannten sie mittlerweile auch schon »Tante Hedwig« und »Tante Bertha«. Tante Hedwig, die drahtigere und herbere, innerlich aber die sensiblere, steckte uns Kindern auch schon mal einen Apfel oder eine Birne zu, wenn Tante Bertha es nicht sah.

Und natürlich hatten wir für diese Kälte weder warme Kleider noch vernünftiges Schuhwerk. Wenn wir unbedingt rausmussten, wurden die Schuhe mit altem Zeitungspapier ausgestopft. Das Zeitungspapier wurde – wenn es mal zufällig eine Zeitung gab – nie weggeworfen. Wenn wir dann wieder zu Hause waren, waren die Schuhe völlig durchgeweicht und mussten erst wieder getrocknet werden. Schuhputzzeug, um sie gegen die Nässe zu schützen, gab es selbstverständlich auch nicht.

Und Sachen zum Anziehen für uns Kinder hat meine Mutter selbst gemacht. Ich erinnere mich, dass sie irgendwoher einen alten Wehrmachtspullover ergattert hatte. Die Wolle von diesem Pullover hat sie aufgeribbelt, das heißt die verstrickten Fäden wieder rausgezogen. Nun war dieser Pullover maschinengestrickt, und jeder herausgezogene Faden endete an der Seitennaht. Die einzelnen Fäden hat sie als Erstes aneinandergeknotet, und den immer länger werdenden Gesamtfaden auf ein Knäuel gewickelt. War das erledigt, musste der buckelige Faden gestreckt werden. Dazu wurde das gerade aufgewickelte Knäuel wieder abgewickelt und der Faden oben um eine Stuhllehne herumgewickelt. Dann wurde die Wolle mit Wasser eingesprüht und blieb da eine ganze Nacht. Durch die Feuchtigkeit hatte sich der Faden über Nacht gestrafft und die Buckel von der ersten Verstrickung waren weitgehend verschwunden. Dadurch, dass der Faden sich aber zusammengezogen hatte, war er kaum noch von der Stuhllehne herunterzubekommen. Meine Mutter hat sich dabei regelmäßig die Fingernägel abgebrochen. War diese Prozedur abgeschlossen, bekam ich den Strang um die ausgestreckten Arme gelegt, und der Faden wurde erneut zu einem Knäuel zusammengewickelt. Ich erinnere mich noch deutlich, wie die Arme immer müder wurden und wehtaten und ich das Gefühl hatte: Hört das denn nie auf?

Erst danach konnte meine Mutter damit beginnen, einen »neuen« Pullover zu stricken. Weil es ja auch noch häufig Stromsperren gab und das Licht nicht funktionierte, machte sie das bei Tag, setzte sich ans Fenster, um möglichst gutes Licht auf ihrer Arbeit zu haben. Ordentliche Stricknadeln hatte sie auch nicht. Sie strickte mit einem Paar alter Fahrradspeichen, auf deren Ende Korken draufgedrückt waren, damit die Maschen nicht hinten runterfielen. Waren die einzelnen Teile des Pullovers fertig, hat sie die mit einem nassen Handtuch und einem Kohlebügeleisen geglättet. Danach die einzelnen Teile zusammengenäht, und schließlich kam noch eine Besonderheit.

Es war damals verboten, Kleidungsstücke in Feldgrau, also der Uniformfarbe unserer ehemaligen Soldaten, zu tragen. Weil das Ausgangsmaterial aber ein Wehrmachtspullover gewesen war, musste der neue Pullover gefärbt werden. Weil es selbstverständlich keine Stofffarbe gab, hat sie das mit Rote-Beete-Saft gemacht. Welche Farbe dabei schließlich herauskam, war völlig egal, Hauptsache nicht feldgrau. Und der ganze Färbevorgang fand in einem Kessel statt, in dem sonst Suppe gekocht wurde, und auf dem kleinen Kanonenöfchen, mit dem unser Zimmer geheizt wurde. Und ich erinnere mich auch noch deutlich, wie die Knoten der zusammengestückelten Fäden später beim Tragen des Pullovers am Körper gekratzt haben.

Auf ähnlich komplizierte Weise hat sie aus einem alten Militärmantel, den sie auf links gedreht hatte – also die ehemalige Innenseite zur Außenseite gemacht –, eine Hose für mich, einen Rock für meine Schwester und noch andere Sachen geschneidert. Alles ohne Schnittmusterbogen und ohne Nähmaschine, alles mit der Hand genäht. Woher sie das alles konnte, ob sie jemanden um Rat gefragt hat; es gab da eine Frau Sabadil, ob die geholfen hat, keine Ahnung.

Noch im Herbst ’45 kam mein Onkel nach seiner mehrwöchigen Abenteuerfahrt aus dem Westen zurück. Er hatte es irgendwie geschafft, das von den Amerikanern geforderte Material zusammenzubekommen. Es soll ziemlich wüst zugegangen sein. Trotz des Durchfahrtscheines wurde er an mehreren Sektorengrenzen aufgehalten, das Auto durfte keinen Augenblick unbeaufsichtigt bleiben, sonst wären auf der Hinfahrt die Kartoffeln und auf der Rückfahrt das eingetauschte Material geklaut worden. Aber diese Ereignisse kenne ich nur aus Erzählungen. Nur an eines erinnere ich mich aus eigener Anschauung: Von dieser Tour hatte mein Onkel einen halb verhungerten Hund mitgebracht. Der sprang morgens früh in die Betten und wollte was zu fressen haben. Meine Tante schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Es gab eh nichts zu essen, und jetzt dazu auch noch einen Hund! Er konnte nur ein paar Tage bei uns bleiben, wurde dann an einen Bauernhof in Schöffau gegeben, wo er es wohl besser hatte.

Von meinem Vater und dem Sohn meiner Tante noch immer keine Spur. Damals gab es beim Deutschen Roten Kreuz eine Stelle, an die man schreiben konnte. Denen musste man Namen, Dienstgrad und letzten bekannten Aufenthaltsort mitteilen, und diese Stelle versuchte dann, etwas über die Vermissten herauszufinden. Im Falle meines Vaters und meines Cousins ohne Erfolg.

Ich erinnere mich, dass mein Onkel von der Tour auch Spiralen mitgebracht hat. Und ich meine mich zu erinnern, dass das Material, aus dem die bestanden, »Kanthaldraht« hieß. Jedenfalls hat sich dieser Begriff bei mir eingeprägt. Und damit hatte es folgende Bewandtnis. Es gab damals sehr einfache Kochplatten: außenrum ein Gehäuse aus Blech mit drei Füßen. Obendrauf ein Teil aus irgendeiner Keramik. Dieses Keramikteil besaß Vertiefungen, die aussahen wie ein Labyrinth. In dieses Labyrinth waren dann solche Spiralen eingelegt und an der Seite des Gehäuses mit einem Gerätestecker verbunden. Mit einer Verlängerungsschnur konnte man diese Kochplatten an den Strom anschließen (wenn es denn grade mal welchen gab), dann fingen die Spiralen an zu glühen, und darauf konnte man sich dann etwas kochen. Es gab keine Abdeckung, so wurden die Spiralen auch dazu benutzt, sich daran eine Zigarette anzuzünden. Wenn etwas überkochte oder durch andere unsachgemäße Behandlung brannten diese Spiralen auch gerne mal durch, dann hatte man keine Kochplatte mehr.

Nun hatte sich durch Mundpropaganda schnell herumgesprochen, dass mein Onkel Spiralen hatte. Und so kamen alle möglichen Leute mit einer kaputten Kochplatte unter dem Arm. Und so habe ich von meinem Onkel mit fünf Jahren gelernt, wie man die reparierte. Keramikplatte und Gehäuse auseinanderschrauben, alte Spiralenden vom Gerätestecker abschrauben, alte Spirale aus dem Labyrinth rausfriemeln, neue Spirale einziehen, von der Mitte aus anfangen (ganz wichtig), und gleichmäßig auseinanderziehen, sodass die einzelnen Windungen ungefähr gleich weit voneinander entfernt waren (auch ganz wichtig), Enden der neuen Spirale an den Gerätestecker anschrauben, Gehäuse und Keramikteil wieder zusammenbauen, ausprobieren, fertig. Ich fand das absolut spannend und war stolz darauf, dass ich schon mithelfen durfte. Natürlich hat mein Onkel mir immer auf die Finger geschaut, ob ich auch keinen Mist baue, und er hat alles hinterher noch mal selbst überprüft. Aber für so eine Reparatur konnte man schon wieder etwas eintauschen, und alle waren glücklich.

Etwas später haben meine Mutter, meine Tante und mein Onkel aus solchen Spiralen auch Heizkissen gebaut. Mir kam dabei die Aufgabe zu, über die Spiralen Keramikringe aufzufädeln. Diese Keramikringe waren an der einen Seite dünner und hatten an der anderen Seite ein größeres Loch, sodass das dünnere Ende in das große Loch des vorigen Ringes passte. Auf die Weise entstand eine lange, biegsame Keramikschlange. Wichtig war nur, dass die Spirale an keiner Stelle rausschaute. Diese Schlange wurde dann in wasserabweisendes Material eingenäht, von Hand natürlich, dann kam Glaswolle drüber, und außenrum ein Stoffüberzug. Daran, wie die Glaswolle juckte, kann ich mich noch deutlich erinnern. Zu kaufen gab es elektrische Heizkissen schon lange nicht mehr, und so war jedes fertige Heizkissen ein kleiner Schatz, für den man einiges eintauschen konnte.

In diesem Winter ’45/’46 geschah noch etwas. Von dem Weiher direkt hinter dem Bahnübergang und gegenüber vom Gasthof Hirschvogel habe ich ja schon erzählt. Auch, dass es wahnsinnig kalt war. Irgendwann sah ich die Leute vom Hirschvogel auf dem Weiher stehen und das Eis aufsägen. Die ausgesägten Eisblöcke fuhren sie dann mit einem Schlitten ins Haus. Ich nehme an, sie haben sie zur Kühlung für Bier oder sonst etwas gebraucht, denn Kühlschränke im heutigen Sinne gab es noch nicht.

Da bin ich neugierigerweise auch auf das Eis gegangen, an eine Stelle, wo sie am Vortag gesägt hatten. Das Wasser war schon wieder zugefroren. Da bin ich dann draufgegangen und prompt eingebrochen, das Eis war noch zu dünn. Die Hirschvogel-Leute haben mich dann schreien gehört und mich rausgezogen. Schnell nach Hause, große Freude bei meiner Mutter, alle Sachen klatschnass, da gab’s dann erst mal ’ne Ohrfeige. Eine von insgesamt zweien in meinem ganzen Leben. Ich glaube, sie hatte mehr Angst, dass ich krank würde, denn mit Medikamenten war ja auch nichts. Aber dieses Mal ist es gut gegangen, wahrscheinlich weil ich schon ein paar Minuten nach dem Malheur zu Hause gewesen war.

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Schulzeit in Bayern

Endlich kam das Jahr 1946, der strenge Winter war zwar noch nicht vorbei, aber die Situation schien sich ein wenig zu normalisieren. Es gab zwar immer noch nichts zu kaufen, aber das wenige einigermaßen organisiert. Der Schwarzmarkt feierte jeden Tag fröhliche Urständ, obwohl das natürlich verboten war; manchmal fuhren auch schon wieder Züge. Die waren derartig überfüllt, dass man sich das heute gar nicht mehr vorstellen kann. Die Leute saßen auf den Puffern, auf den Treppen zu den Bremserhäuschen, auf den Dächern oder hingen auf den außen an den Wagen angebrachten Trittbrettern und hielten sich an den Griffstangen fest. Aus den Städten kamen Leute aufs Land, um etwas zu hamstern.

Erster Schultag, 1946, Uffing

1946 war auch das Jahr, in dem ich in die Schule kommen sollte. Ich wurde im Herbst, nach den Sommerferien, eingeschult. Wir waren 66 Kinder in der Klasse, und nicht in jedem Fenster war Glas. Wir saßen in Bank-Tisch-Kombinationen zu zweit nebeneinander und dicht hintereinander. Wir hatten keine Bücher, die alten Schulbücher waren verboten worden, neue gab es noch nicht. Wir hatten auch kein Papier, keine Bleistifte, Kugelschreiber oder Füller. Wir hatten Nottafeln, auf denen man mit einem Stöckchen schreiben konnte. Die funktionierten so ähnlich wie die Zaubertafeln, die heute manchmal an Bürotüren hängen – »Komme gleich zurück« –, und wenn man drüberwischte, war alles wieder weg. Die Hausaufgaben musste man also ganz vorsichtig in den Tornister packen, damit sie in der Schule noch vorzuzeigen waren. Mein Tornister war ebenfalls nicht meiner, der hatte vorher schon einigen anderen Kindern gehört. Meine Mutter hatte ihn eingetauscht. Außerdem mussten wir im Winter noch ein Stück Holz zum Heizen des Klassenzimmers mitbringen und ein Gefäß für die Schulspeisung. Wir Kinder waren damals alle unterernährt, und deswegen gab’s die Schulspeisung.

Dazu wurde die ganze Schule in der großen Pause in ein nahe gelegenes Gasthaus geführt, und jedes Kind bekam eine warme Mahlzeit. Das war zum Beispiel Haferbrei, ein Erbseneintopf oder Grießbrei. Am ekligsten fand ich immer die Käsesuppe. Manchmal gab es auch eine kleine Tafel Schokolade. Das war dann eine sensationelle Ausnahme.

Weil wir zu Hause nichts anderes hatten, war mein »Gefäß« für die Schulspeisung einer unserer drei Suppenteller. Eines Tages bin ich auf dem Weg in die Gastwirtschaft mit einer Kuh zusammengestoßen. Ich hatte vor mich hin geträumt und nicht gemerkt, dass ein Bauer grade seine Kuhherde über die Straße trieb. Ich lief also frontal in eine Kuh hinein, erschrak mich und ließ den Teller fallen. Passiert ist nichts, nur der Teller war kaputt, für uns zu Hause eine kleine Katastrophe, denn danach konnten wir nicht mehr alle zusammen essen, sondern nur nacheinander, und es hat eine ganze Weile gedauert, bis meine Mutter wieder einen dritten Teller auftreiben konnte.

Weil wir alle so unterernährt waren, verschrieb uns der Arzt Lebertran. Davon mussten wir jeden Tag einen Esslöffel voll nehmen. Und zwar Lebertran pur, nicht, wie es den später gab, mit Orangensaft vermengt als »Sanostol«. Dieses Zeug roch furchtbar, und es schmeckte noch schlimmer. Ich verspürte jedes Mal Brechreiz, aber es nützte nichts, das Zeug musste runter. Noch heute stellen sich mir die Haare hoch, wenn ich nur daran denke.

Mit dem Lernen hatte ich in der Schule keine Schwierigkeiten. Wie schon gesagt, wir waren 66 Kinder in der Klasse, und zwar Mädchen und Jungen zusammen. Es ergab sich zufällig, dass ich hinter einem Mädchen zu sitzen kam, das Christa hieß.