Aufklärung 2.0 (Wissen & Leben) - Manfred Spitzer - E-Book

Aufklärung 2.0 (Wissen & Leben) E-Book

Manfred Spitzer

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Beschreibung

Ein Titel aus der Reihe Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram Überlassen Sie das Denken nicht anderen! "Wir können es uns nicht leisten, nicht nachzudenken. Die Zeit ist reif für eine Aufklärung 2.0." … ist die Quintessenz der neuesten Anthologie von Manfred Spitzer. Auf gewohnt originelle Art stellt er die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft zu unserem Handeln, Denken und Fühlen vor: - Warum sind wir neugierig und warum treten wir so oft in Fettnäpfchen? - Hilft Vertrauen bei Schweinegrippe und Schmerzensgeld bei Schmerzen? - Warum sollten wir nett zu den Alten sein und manchmal auch stolz auf uns selber? - Sollen wir mehr Theater und weniger mit dem Computer spielen? - Was machen Graffiti mit uns, und was passiert, wenn wir "rot" sehen? Ungewöhnliche Fragen à la Spitzer - mit ebenso überraschenden Antworten, die viele unserer so genannten kleinen Schwächen beleuchten und zeigen, wo sie durchaus Stärken sein können und in Evolution oder Sozialisation ihren Sinn haben: Gehirnforschung als Selbsterkenntnis! "Aufklärung 2.0" ist der zweite Band der neuen Schattauer-Reihe "Wissen & Leben".

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Seitenzahl: 288

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Überlassen Sie das Denken nicht anderen!

»Wir können es uns nicht leisten, nicht nachzudenken. Die Zeit ist reif für eine Aufklärung 2.0.«

… ist die Quintessenz der neuesten Anthologie von Manfred Spitzer. Auf gewohnt originelle Art stellt er die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft zu unserem Handeln, Denken und Fühlen vor:

■    Warum sind wir neugierig und warum treten wir so oft in Fettnäpfchen?

■    Hilft Vertrauen bei Schweinegrippe und Schmerzensgeld bei Schmerzen?

■    Warum sollten wir nett zu den Alten sein und manchmal auch stolz auf uns selber?

■    Sollen wir mehr Theater und weniger mit dem Computer spielen?

■    Was machen Graffiti mit uns, und was passiert, wenn wir »rot« sehen?

Ungewöhnliche Fragen à la Spitzer – mit ebenso überraschenden Antworten, die viele unserer so genannten kleinen Schwächen beleuchten und zeigen, wo sie durchaus Stärken sein können und in Evolution oder Sozialisation ihren Sinn haben: Gehirnforschung als Selbsterkenntnis!

Aus dem Inhalt

■    Aufklärung 2.0 – Gott, der Markt, die Gehirnforschung und Denken in der Krise

■    Ja, ich kann! – Selbstbild, Selbstbejahung und nachhaltige Leistungsfähigkeit

■    Schlau, verlässlich und – gesund!

■    Seid nett zu den Alten!

■    Fettnäpfchen und weiße Bären

■    Die Farben des Denkens

■    Pandemie! Und wer geht hin?

Manfred Spitzer

Aufklärung 2.0

Gehirnforschung als Selbsterkenntnis

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm

Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12–14

89075 Ulm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis:

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Das Werk mit allen seinen Teilen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden.

© 2010 by Schattauer GmbH, Hölderlinstraße 3, 70174 Stuttgart, Germany

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.schattauer.de

Printed in Germany

Umschlagabbildung: Eugène Delacroix, „Die Freiheit führt das Volk“, 1830

Satz: am-productions GmbH, Wiesloch

Druck und Einband: CPI–Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-7945-2742-7

herausgegeben von Wulf Bertram

Vorwort

War der geheime Titel der meisten früheren Sammlungen meiner jährlichen Beiträge für die Zeitschrift für Nervenheilkunde im Grunde immer „Vermischtes und Versprengtes aus dem weiten Gebiet der Gehirnforschung und Psychologie“, so fällt das elfte Büchlein dieser Art dadurch auf, dass es so etwas wie einen roten Faden tatsächlich gibt. Man braucht ihn weder im Nachhinein aufzusetzen oder zu konstruieren, noch an den Haaren herbeizuziehen – ohnehin bei einem Faden entweder schwierig oder lächerlich! Nein, er war mit Aufklärung 2.0, dem ersten Editorial vom Januar 2009 vorgegeben und hat, ohne dass ich dies zunächst so recht gemerkt hätte, meine Gedanken in diesem Jahr heftig in Anspruch genommen. Was sollen wir tun? Was sollen wir denken? Was ist richtig, was ist falsch? Was ist moralisch geboten, was sollten wir besser bleiben lassen? Woher nehmen wir die Richtschnur für unser Tun? „Gott“, so lautete die Antwort bis vor etwa 200 Jahren; „der Markt“, so lautete sie bis vor einem Jahr. Beide funktionieren heute nicht mehr und viele fangen in dieser Situation tatsächlich wieder an, selber zu denken. Geht es Ihnen auch so? – Dann ist dieses Buch auch für Sie geschrieben.

Und weil Neugierde die erste Voraussetzung für das eigene Nachdenken ist, und ich Gehirnforschung heute als Selbsterkenntnis verstehe, schließt sich das Kapitel Neugier zwanglos an. Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass man diese vielleicht menschlichste aller Geistestätigkeiten heute so scharf mit den Methoden der Neurobiologie in den Blick nehmen kann? – Ich sicherlich nicht, aber ich bin froh, dass ich hier falsch lag und der Fortschritt meine Skepsis Lügen straft. Neugier ist – rein neuroanatomisch betrachtet, sehr eng verwandt mit anderen positiven Emotionen wie Freude und Glück sowie mit Bewegung und sie hat besseres Lernen zur Folge. Wenn ich neugierig bin, freue ich mich, etwas zu lernen und lerne es nachhaltiger. Und was ich mag, da will ich hin – eigentlich alles ganz einfach! Aber dass das so klar im Scanner herauskommt, freut einen dann doch.

„Das ist aber nicht werteneutral, Herr Professor“, werden jetzt manche Skeptiker einwenden. Und damit haben sie recht: Ich schreibe nämlich nicht einfach wahllos irgendwelche Ergebnisse aus der Gehirnforschung zusammen; nein, ich wähle Ergebnisse aus, die ich erstens für wichtig und zweitens für vertretbar bzw. vertretenswert halte. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläutern:

(1) Irgendwann im Laufe des Jahres kam mein Kollege Georg und berichtete mir von der Möglichkeit einen unmöglichen „Marathon“ neurowissenschaftlich zu begleiten. Da gibt es tatsächlich Leute, die in ein paar Wochen von Afrika ans Nordkap laufen, sich dabei völlig verausgaben und nichts dagegen haben, noch dazu als Versuchspersonen herzuhalten, deren Muskeln und Gelenke begleitend von Orthopäden mittels eines auf einem Lastwagen montierten Magnetresonanztomographen untersucht werden. Nun seien die Radiologen auf uns zugekommen, ob wir Zeit und Lust hätten, nicht auch noch das Gehirn dieser Leute gewissermaßen auf Herz und Nieren zu überprüfen. – So eine Gelegenheit kommt nicht alle Tage, reizt jeden neugierigen Menschen und klingt sehr verlockend. Aber fünf Minuten gemeinsame Überlegung führten dazu, dass wir uns beide entschieden, nicht mit zu forschen. Warum? – Nun, man kann beim Forschen in unterschiedlicher Weise nachdenken. Eine eher selten verwendete Art solchen Denkens besteht darin, dass man von hinten anfängt: „Nehmen wir an, es kommt etwas dabei heraus, was dann?“ – Uns beiden Hobbyläufern war klar, dass die Leute durch den wochenlangen Dauerlaufstress kaum zu mentalen Höchstleistungen auflaufen würden – eher im Gegenteil. Und dann würden wir am Ende „wissenschaftlich“ festgestellt haben, dass Sport dumm macht. „Wollen wir das wirklich?“ – Nein wir wollten nicht und so fuhren die Radiologen eben allein mit dem Scanner quer durch Europa.

(2) Britische Wissenschaftler aus Plymouth haben sich solche Gedanken nicht gemacht und eine Studie publiziert, die Georg und ich weder so durchgeführt noch publiziert hätten (Schnall et al. 2008). Unter dem Titel „A hidden cost of happiness in children“ publizierten sie zwei Experimente, die beide zeigten, dass glückliche Kinder in entsprechenden Tests etwas weniger auf Details achten als traurige bzw. unglückliche. Dies ist bei Erwachsenen längst nachgewiesen und zeigt lediglich, dass Emotionen die Art unserer Informationsverarbeitung beeinflussen. Gefahr, Angst und schlechte Stimmung verstärken unseren Blick auf Kleinigkeiten (den Depressiven stört ja buchstäblich die Mücke an der Wand), was mich beim Reisen per Flugzeug immer zur Hoffnung veranlasst, der Fluglotse möge sich doch bitte gerade in mindestens subdepressiver Stimmungslage befinden. Er wird dann die am Radarschirm dargestellte Situation besser im Griff haben als der „Happy-go-lucky“-Optimist, der mit den Füßen auf dem Tisch und einem Lächeln auf den Lippen seinen gelegentlichen Blick auf den Radarschirm nur mit „passt schon“ respondiert. Als Fluglotse ist der Depressive eindeutig dem gut gelaunten Menschen vorzuziehen, als Werbetexter jedoch wird er versagen. Und als Wissenschaftler wird er neidisch auf die Ideen anderer sein und selbst keine haben. Lernen, das hat die Gehirnforschung der letzten Jahre klar gezeigt, hat sehr viel mit positiven Emotionen zu tun und wird durch negative Emotionen behindert. Daher ist auch die Schlussfolgerung der Autoren, dass die Maxime der heutigen Pädagogik, Kinder sollten glücklich beim Lernen sein, kritisch zu überdenken sei (Motto: Nur der trauig-zerknirschte Schüler ist ein genauer und damit ein guter Schüler) völliger Unsinn. Pädagogen sind sich nämlich einig darin, dass Kreativität im Unterricht gefördert (und keineswegs behindert) werden sollte, denn kreatives Problemlösen werden unsere Kinder in jedem Fall beherrschen müssen, um die Zukunft erfolgreich zu meistern. Kurz: mir ist schleierhaft, wie man als verantwortungsvoller Wissenschaftler ein solches Experiment planen, durchführen und publizieren kann.

Das antagonistische Verhältnis von Genauigkeit einerseits und Kreativität andererseits ist auch bei den Farben des Denkens Thema, zeigt sich doch ein Zusammenhang zwischen Rot und Detailgenauigkeit sowie zwischen Blau und kreativer Vogelperspektive. Ob wir also lauter Bäume sehen oder den Wald, hängt nicht zuletzt davon ab, ob wir gerade eine rote oder eine blaue Brille tragen.

„Aber die Wahrheit ist in der Wissenschaft doch eben einfach so, wie sie ist. Für eine schlechte Interpretation guter (d. h. methodisch sauber gewonnener) Daten kann doch der Wissenschaftler nichts“, höre ich nun schon fast laut den Einwand des Skeptikers. Der Einwand übersieht, dass es auch dem neutralsten Wissenschaftler nicht egal sein darf, womit er sich beschäftigt, und dass er zumindest darüber nachdenken sollte, wer seine Ergebnisse wie missverstehen und fehlinterpretieren könnte.

Wollen wir also publizieren, dass Sport und Freude dumm machen, sogar bei Kindern? – Nein, das wollen wir nicht! Ganz einfach deswegen, weil es nicht zutrifft. Und Experimente, die das vermeintlich zu zeigen scheinen, wollen wir weder durchführen noch publizieren. Auch das gehört für mich zur Verantwortung in der Wissenschaft.

Umgekehrt halte ich es für mindestens genau so wichtig, dass man weitergehende Schlüsse aus vorliegenden Daten nicht nur bedenkt, sondern auch laut ausspricht, sofern sie relevant sind. Ein Beispiel hierfür liefert das Kapitel Kindertheater. Es beginnt mit einer Studie zur kortikalen Plastizität, die den schönen Titel „Erfahrung hinterlässt eine überdauernde strukturelle Spur in Schaltkreisen der Gehirnrinde“ trägt (Hofer et al. 2009) und geht der einfachen Frage nach: Wenn das so ist, was folgt? Denkt man ein bisschen hierüber nach, dann kommt jeder schon von ganz alleine zu der Einsicht, dass wir unseren Kindern in Kindergärten und Schulen nicht unbedingt nur die richtigen Erfahrungen angedeihen lassen.

Wie schädlich Frust und mangelndes Selbstvertrauen beim Lernen sind und wie wichtig umgekehrt eigene Ziele und eine positive Einstellung zu sich selbst sein können, zeigen die Kapitel über Stolz und über das Motto des amerikanischen Präsidenten Obama Ja, ich kann. Wer stolz auf sich ist, bleibt 60% länger an der ihm gestellten Aufgabe dran, und wer ein selbst gestecktes positives Ziel verfolgt, wird besser: nicht nur im Hinblick auf das Ziel, sondern ganz allgemein und – nicht zuletzt – in der Schule. Was bei dieser wichtigen Selbstkontrolle im Gehirn geschieht und welche Auswirkungen dies noch hat, bis hin zu Gesundheit und einem langen Leben, zeigen die beiden nachfolgenden Kapitel (Schlau, verlässlich und – gesund; Seid nett zu den Alten!).

Zum aufgeklärten Dasein gehört auch, dass man die vielen automatisch in uns ablaufenden Prozesse gut kennt. Denn nur wer sein Unbewusstes durchschaut, wird nicht von ihm beherrscht, sondern hat es seinerseits im Griff. Wie rasch es arbeitet, zeigt nicht zuletzt die Studie zum (kaum für möglich gehaltenen) sehr raschen moralischen Bewerten (Moral in Millisekunden). Hat man sich aber einmal verdeutlicht, was es bedeutet, dass das Gehirn plastisch ist und modular aufgebaut, dann wundert einen schon deutlich weniger, dass sogar das Erleben von Natur unsere Bewertungen beeinflussen kann (Natur und Gemeinschaft); dass zahlenmäßige Größen auch einfachste kleine Bewegungen verändern können (Geist in Bewegung); dass gelernte pantomimische Handlungen auch in Allgemeinwissen eingehen (Werkzeuge des Geistes); dass Orientierung in Sanskritschulen besser gelernt wird als hierzulande; und dass Geld bei Schmerzen tatsächlich helfen kann. Diese Liste von Beispielen der wunderbaren Funktionalität unseres Geistes ließe sich sehr deutlich verlängern (und der Leser kann davon ausgehen, dass der Autor daran künftig weiterarbeitet). Zuweilen jedoch sorgt diese Funktionalität aber auch für unser Scheitern, indem wir genau das tun, was wir nicht tun wollten und ins Fettnäpfchen treten. Zudem wurde gezeigt, dass unsere Neigung, soziale Normen einzuhalten, durch unsere Wahrnehmung dessen, was andere diesbezüglich tun, stark beeinflusst wird – auch dann, wenn es um ganz andere soziale Normen geht: Wir sehen Unordnung und schließen unbewusst, dass man hier auch stehlen darf. Der Zusammenhang gilt jedoch nicht nur für Normverletzungen, sondern auch für das Einhalten von Normen: Wenn wir Vertrauen haben, neigen wir selbst angesichts lebensbedrohlicher Situationen wie einer Pandemie eher dazu, das Richtige – d.h. für die Gemeinschaft Förderliche – zu tun.

Ganz schlimm ist es, wenn wir uns und vor allem unseren Kindern das Falsche richtiggehend antrainieren, oder wenn uns jemand das Falsche antrainiert, nur um damit Geld zu verdienen. Wer glaubt, dass dies in unserer doch so „aufgeklärten“ Gemeinschaft nicht vorkomme, der irrt, wie der durchschnittlich mehrere Stunden täglich erfolgende mediale Umgang mit Gewalt und dessen Folgen sehr eindrücklich zeigen. Entsprechende Studien zeigen: Wer Gewalt konsumiert, der stumpft ab, wird gemütlich dumpf, kümmert sich nicht mehr um andere Menschen und deren Leid. Und noch etwas konnte die Forschung klar zeigen: Wer glaubt, dass die Nutzung mehrerer Medien zur gleichen Zeit – das viel beschworene Multitasking – Vorteile bringt oder gar den souveränen kontrollierten Aufgabenwechsel trainiert, der irrt. Was durch diese Art des Gebrauchs des eigenen Geistes trainiert wird, ist Oberflächlichkeit sowie Kontrollverlust im Hinblick auf irrelevante äußere Reize und irrelevante Gedächtnisinhalte. Wer also noch keine Aufmerksamkeitsstörung hat, der kann sich eine durch entsprechende mediale Gewohnheiten antrainieren. Wollen wir das? Wollen wir das als staatlich gefördertes Bildungsziel, wie uns manche Medienpädagogen glauben machen wollen? – Es ist an der Zeit, dass wir unser diesbezügliches Handeln auf Wissen basieren und nicht auf Ideologien und unbegründeten Meinungen. Das Jahrzehnt des Geistes (2010–2020) dämmert herauf (Spitzer 2007, Schultz 2009) und mit ihm die Hoffnung, dass wir Menschen uns besser verstehen und sich dies auf unsere Lebensbedingungen positiv auswirkt, wenn aus diesem Wissen Handlung wird. Gehirnforschung ist Selbstverständnis, und damit Aufklärung, im besten Sinne des Wortes. Und wer meint, dass derjenige, der dies dächte, sich hinterm Monde befände, der täuscht sich.

Aus solchem Wissen ist nun wieder ein Buch geworden (dieses Mal in der neuen von Wulf Bertram herausgegebenen Taschenbuchreihe Wissen & Leben) – und so wird daraus auf indirektem Wege vielleicht auch Handlung. Für diese Transformation von Gedanken in gedruckte Worte in einem Outfit, das dem Lesevergnügen gut tut, möchte ich den Mitarbeitern des Schattauer-Verlags und den Kollegen in der Nervenheilkunde auf allen Ebenen danken: Den Verlegern Herrn Dieter Bergemann und Dr. Wulf Bertram, Frau Ruth Becker, Frau Dr. Anja Borchers, Frau Dr. Dagmar Brummer, Frau Birgit Heyny, Frau Dr. Andrea Schürg, Frau Franziska Sokollik sowie meinem Schriftleiterkollegen bei der Nervenheilkunde Herrn Prof. Dr. Dieter Soyka.

Man erlebt in diesen schwierigen Zeiten auch im schönsten Beruf Höhen und Tiefen. Jeden Morgen gehe ich gerne in die Klinik, freue mich auf die Aufgaben, die Herausforderungen und vor allem die Begegnungen. Am wichtigsten sind mir dabei meine Freunde und Mitarbeiter, die für meine Arbeit so wichtig sind wie die Luft zum Atmen. In der offenen und konstruktiven Atmosphäre, in wechselseitigen Kommentaren, Anregungen, Ratschlägen oder Kritik gleichsam den ganzen Tag miteinander zu baden, erscheint mir als großes Privileg, für das ich meinen Mitarbeitern sehr dankbar bin, zugleich hoffend, dass sie unsere gemeinsame Zeit ähnlich konstruktiv und positiv erleben. Schade nur, dass man dauernd das Gefühl hat, auf einer kleinen Insel zu sein, inmitten der permanenten Bedrohung von überall her, dass diese Atmosphäre des Wachstums, der Kreativität und der Gesundheit gegen nahezu täglich auftretende Angriffe verteidigt werden muss. Schade um die viele Zeit, die man mit solchem Unfug verbringen muss. Noch nagt das Ganze nicht so sehr, dass man schon das Handtuch werfen möchte. Aber manchmal erschrickt man über entsprechende Phantasien.

Spätestens dann ist man reif für die Insel und sollte ein paar Tage Urlaub machen. Dann sehnt man sich fast schon wieder nach dem Morgenplausch im Café Trögele oder Ferreau ...

Mönchgut auf Rügen, am 1. Oktober 2009Manfred Spitzer

Literatur

Hofer SB, Mrsic-Flogel TD, Bonhoeffer T, Hübener M. Experience leaves a lasting structural trace in cortical circuits. Nature 2009; 457: 313–317.

Schnall S, Jaswal VK, Rowe C. A hidden cost of happiness in children. Developmental Science 2008; 11: F25–F30.

Schultz N. Primed to have learning in mind. New Scientist 2009; 203 (2726): 8–9.

Spitzer M. Jahrzehnt des Geistes. Nervenheilkunde 2007; 26: 957–964.

Für Markus

Dieses Buch ist meinem jüngsten Sohn Markus gewidmet, der in diesem Jahr 18 und damit offiziell erwachsen wurde. Er erlebt, dass Aufklärung – zu wissen und zu bestimmen, wo es lang geht – die Aufgabe eines jeden Einzelnen ist, die er nur selbst erledigen kann. Er erlebt die Freude an Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit, an dem, was er sich jeweils ganz allein (auch in einer Gruppe) erarbeitet hat. Den Vater macht das stolz und glücklich; und daran ist gar nichts auszusetzen oder verkehrt.

Inhalt

1 Aufklärung 2.0

Gott, der Markt, die Gehirnforschung und Denken in der Krise

2 Neugier und Lernen

3 Kindertheater

Kreativität, Vorstellungen und Gehirnforschung

4 Warum sind wir stolz?

5 Ja, ich kann!

Selbstbild, Selbstbejahung und nachhaltige Leistungsfähigkeit

6 Selbstkontrolle

Die Rolle der Werte bei Entscheidungen

7 Schlau, verlässlich und – gesund!

Psychologie und Lebenserwartung

8 Seid nett zu den Alten!

9 Geist in Bewegung

10 Unordnung ist nicht in Ordnung

Graffiti und die Verletzung sozialer Normen

11 Fettnäpfchen und weiße Bären

12 Werkzeuge des Geistes

13 Moral in Millisekunden! – Ethik im EEG?

14 Orientierung im Kindergarten, in Ulm und in Sanskrit

15 Natur und Gemeinschaft

Auswirkungen des Naturerlebens auf prosoziale Motive

16 Gemütlich dumpf

17 Multitasking – Nein danke!

18 Die Farben des Denkens

19 Das Geld, die Einsamkeit und der Schmerz

20 Aus Wissen wird Handlung

Medizin als Modell translationaler Forschung

21 Pandemie! Und wer geht hin?

22 Die Mondtäuschung und die Form des Himmelszelts

Sachverzeichnis

1 Aufklärung 2.0

Gott, der Markt, die Gehirnforschung und Denken in der Krise

Mit dem Begriff „Aufklärung“ wird ganz allgemein das Bestreben benannt, selbst zu denken anstatt es anderen zu überlassen. Der Prozess läuft zunächst einmal im Denken jedes einzelnen Menschen ab. Ebenso wie Freiheit zunächst den Einzelnen betrifft, man aber auch von einer freien Gesellschaft spricht, kann auch die Aufklärung eine ganze Gesellschaft betreffen, die dann als deren Subjekt zu verstehen ist. So spricht man vom Zeitalter der Aufklärung und meint damit Mitteleuropa um 1800 herum.

Alle Autoritäten, bis hin zur höchsten, wurden in Frage gestellt. Gott lässt sich nicht beweisen (aber auch nicht widerlegen), die Kaiserkrone wurde Napoleon nicht – wie seit über tausend Jahren üblich – vom Papst aufgesetzt; nein, er setzte sie sich selber auf.

Aufklärung, also selbst zu denken und damit die eigene Vernunft in all ihrer – klar erkannten (2) – Begrenztheit als letzte Instanz der Erkenntnis von Welt und unserer Stellung in ihr zu denken, ist seither ein integraler Bestandteil unserer westlichen Kultur, die daher auch als „aufgeklärte“ bezeichnet wird.

Ebenso wie es in freien Gesellschaften Zwänge (seien sie selbst auferlegt oder pathologisch bedingt) gibt, so ist auch nicht jedes Mitglied einer aufgeklärten Gesellschaft aufgeklärt. Mancher kann nicht und manch anderer will nicht selber denken. Dennoch können solche Gesellschaften „frei“ und „aufgeklärt“ genannt werden, etwa so wie man einem Sportverein auch nicht gleich seinen Namen aberkennt, wenn ein Dicker eintritt. Es scheint sogar zum Wesen von Kultur allgemein zu gehören, dass die meisten Menschen sie zwar tragen, weitaus weniger jedoch über sie, und damit über die Grundlagen der Gemeinschaft in der sie leben, nachdenken.

Kulturen implementierten und legitimierten sich seit Jahrtausenden über Traditionen und Rituale, Mythen und Mächte, Geister und Götter (12, 13). Diesen ist der Einzelne unterworfen, ob er dies will oder nicht. Betrachten wir als Beispiel die Muttersprache. Sie gehört zu den Traditionen im besten Sinne des Wortes, denn sie wird tradiert, das heißt, weitergegeben, zumeist völlig ohne darüber nachzudenken. Die Älteren plappern mit den Jüngeren, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, ohne nachzudenken, dass genau hierdurch die Jüngeren den ganzen Apparat der Sprache, ihre vielfältigen Formen und ihre Inhalte (die Bedeutungen der Wörter, und damit letztlich die Welt, wie sie gelebt wird) in sich aufnehmen. All dies geschieht völlig gedankenlos, so könnte man sagen, denn die Muttersprache lernt man weder durch das Memorieren grammatischer Regeln noch durch das Pauken von Einzelheiten und Kategorien, Namen und Eigenschaften. Viel später denken manche über Sprache nach, erkennen deren Regeln und hinterfragen die durch sie nahegelegte Systematik der Welt.

Nicht anders steht es um die Werte (6). Auch sie nehmen wir nicht durch Predigten auf, sondern dadurch, dass wir miteinander leben und handeln: Essen verteilen und andere Bedürfnisse befriedigen sowie gegenseitige Ansprüche ausgleichen, Streit schlichten, Vertrauen entwickeln und selber vertrauenswürdig sind. Ebenso wie wir beim Nachdenken über Sätze erkennen, dass Subjekte, Prädikate, Objekte und Eigenschaften zu ihren allgemeinen formalen Bestandteilen zählen, erkennen wir beim Nachdenken über unser Tun, dass Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu den allgemeinen formalen Bestimmungen unseres Handelns zählen. Und ebenso, wie wir beim Nachdenken über Sprache an Grenzen und auf Paradoxien stoßen (wie steht es um die Wahrheit des Satzes „ich lüge jetzt gerade“?; ist „Existenz“ ein Prädikat?; passt die Sprache auf die Welt?; und wie kann ich sinnvoll daran zweifeln?), geht es uns beim Nachdenken über die Werte (wie ist in einer freien und gerechten Welt Gleichheit – auf Dauer – möglich?; wieso bestrafen wir Mord und sogar die bloße Androhung von Folter zur Rettung unschuldigen Lebens und bedauern zugleich das Scheitern des Grafen von Stauffenberg?; warum sind diejenigen, die gegen die Todesstrafe sind, meist auch für Abtreibung, und umgekehrt?).

Gerade weil das Nachdenken so schwierig und dessen Resultate im Einzelfall schwer vorhersehbar sind, waren die angeführten Legitimationen von Kultur, die Mythen und Mächte, Geister und Götter von so großer Bedeutung. „Auch wenn Du es nicht verstehst, der Herrscher/die Macht der Mächtigen/der Naturgeist/Gott verstehen es und tun das Richtige“ – so oder so ähnlich lautete die tradierte und keineswegs notwendig reflektierte Formel der (Legitimation von) Kultur. Man hätte auch sagen können „das haben wir schon immer so gemacht und daher machen wir es jetzt auch so“, aber das klingt schon deutlich schwächer; nicht so kraftvoll und überzeugend wie „Du sollst ...“

Ganz offensichtlich ist eine der Wurzeln von Kultur, die Fähigkeit des menschlichen Geistes, „irrationale“ Ideen – und damit auch Kultur – hervorzubringen. Evolutionsbiologen und Anthropologen diskutieren dies als wichtigen Meilenstein der Menschwerdung, neben Feuer, Sprache und großen Gemeinschaften. Gerade aus evolutionsbiologischer Sicht ist Irrationalität ein Problem: Gehirne entwickelten sich schließlich zunächst dahingehend, die Natur um den Organismus herum immer besser zu erkennen: Wer den Ast, auf den er springen möchte, oder die Frucht, die er essen möchte, falsch erkannte, gehörte nicht zu unseren Vorfahren (8)! Wie konnten also Gehirne entstehen, die den Glauben an etwas hervorbringen, das jenseits der (erkennbaren) Realität liegt (4)?

Die Antwort der Evolutionsbiologen lautet kurz: weil Gehirne nicht zum Erkennen da sind, sondern zum Überleben. Und wenn eine Gemeinschaft von Menschen, die an „irrationale“ Ideen, Geister und Götter, Mythen und Märchen glaubt, überlebensfähiger ist als eine Gemeinschaft „rationaler“ Wesen, dann wird es langfristig solche Gemeinschaften geben. Und damit auch Kultur – möchten wir an dieser Stelle ergänzen. Entsprechend war das Vertrauen in diese Ideen und Institutionen seit Jahrtausenden ein wichtiger Bestandteil jeder Kultur. Zweifler wurden verb(r)annt! „Gott wird es schon richten“ – so lässt sich der Gedanke des religiösen Urvertrauens beschreiben. Es entsteht im Denken eines Menschen, der über sich und die Welt nachdenkt und seine eigene Kleinheit angesichts der Komplexität des Großen und des Ganzen überdeutlich und erdrückend erkennt. Und Gott spricht zu uns über (vermeintlich) von ihm legitimierte Autoritäten, die wir daher nicht anzuzweifeln brauchen.

Erst mit der Aufklärung, also zunächst nur in Europa und auch erst seit gut zweihundert Jahren, wird dies anders: Selber denken heißt nun der kulturelle Leitsatz, den man als zarte Pflanze betrachten kann, die dauernd davon bedroht ist, zertrampelt zu werden: Nicht nur von Königen und Kriegern, Predigern und Priestern, sondern vor allem von uns selbst, die wir ängstlich werden, wenn man uns gleichsam den Boden unter den Füßen hinwegzieht. Wer Angst hat, denkt gar nicht oder schlecht. Glaube mindert Angst.

Auch wer sein Leben wirklich selbst zu bestimmen versucht, wird daher zuweilen Sehnsucht haben nach etwas, das größer ist als er selbst, was ihn trägt und hält, was bleibt, wenn er nicht mehr ist. Wenn es gut geht, denkt er dann besser. Wenn der Glaube dogmatisch wird, geht der Schuss nach hinten los!

Vielleicht aus diesem Grunde führte die Aufklärung nicht zur Abschaffung der Religion (der christlichen, innerhalb derer die Aufklärung faktisch hervortrat und möglicherweise nur hat hervortreten können), sondern zu deren Veränderung: Wir leben nicht im Zeitalter des Atheismus, sondern im Zeitalter des aufgeklärten Christentums.

Zugleich ist es eine Tatsache, dass heute kaum noch jemand zur Kirche geht. Sie gibt zwar – im starken Fall – vielen Menschen noch Halt bei Extrem- oder Grenzsituationen wie Geburt, Hochzeit oder Tod (oder bildet dafür – schwach gewendet – nichts weiter als eine weitgehend akzeptierte Kulisse). Im Alltag spielen Gott und unsere Gedanken an ihn jedoch kaum eine Rolle. Wie der an der Harvard Universität lehrende Theologe Harvey Cox sehr anschaulich dargestellt hat, trat der Markt an seine Stelle (1): Der Markt weiß es besser, regelt alles zum Besten, ist überall und beherrscht alle Aspekte unseres Daseins. Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart kennzeichnen ihn ebenso wie die Tatsche, dass wir ihm blind vertrauen und dieses Vertrauen auch noch dadurch rechtfertigen, dass wir ihn nicht verstehen. Credo quia absurdum est (ich glaube [es], weil es widersinnig ist) sagte der frühchristliche Theologe Tertullian (ca. 150 bis 230 nach Christus). Er meinte die Entstehung des unschätzbaren Leibes des Herrn aus bloßem Brot und Wein. Bis Herbst 2008 war dies ganz offensichtlich auch das Leitmotiv der Manager und Banker (und leider auch von vielen Kleinanlegern): An Kapitalmärkten entstand dauernd unschätzbarer Reichtum aus Nichts (8). Sie verstanden es nicht, glaubten jedoch genau deswegen umso fester daran.

Der Markt hatte im vergangenen Jahrhundert schleichend die Systemstelle von Gott eingenommen. Er legte fest, was uns wie viel wert ist, nicht nur im Hinblick auf Autos oder Kartoffeln, sondern auch im Hinblick auf Bereiche, wo er traditionell nicht zuständig war. Land und Luft, Wasser und Rohstoffe, Sauberkeit und Sicherheit, Bildung und Schadstoffe, Jugend und Alter, Gesundheit und Keuschheit, Freundschaft und Konkurrenz, Organe in uns und die ganze Erde um uns: Alles hat (s)einen Preis. Wer dies nicht glaubt, nehme drei Beispiele zur Kenntnis:

•  Was Keuschheit kostet, wissen muslimische Frauen, die vor der Hochzeit ihre Jungfernschaft chirurgisch wiederherstellen lassen.

•  Was ein Jahr menschliches Leben wert ist, wurde seitens der Weltgesundheitsorganisation und der Vereinten Nationen kontrovers diskutiert. WHO und UN müssen jedoch immer dann einen Preis annehmen, wenn es darum geht, gesundheitspolitische Entscheidungen rational zu treffen (wie viel bringt die Maßnahme, die soundsoviel kostet?) und zu rechtfertigen. Als die Amerikaner 100 000 Dollar für einen Amerikaner und 10 000 Dollar für einen Inder in die Gleichungen einsetzen wollten, gab es nicht nur heftige Diskussionen – auch die Fragwürdigkeit des ganzen Unterfangens wurde deutlich.

•  Auch der Marktwert des Ökosystems der gesamten Erde wurde bereits berechnet.

Spätestens hier jedoch wird deutlich, dass sich das System ad absurdum führt. Was bedeutet es, dass saubere Luft soundsoviel kostet? Was geschieht, wenn wir den Preis nicht bezahlen können? Ist es denkbar, dass wir den Preis des Ökosystems Erde für zu hoch halten und es aus diesem Grunde nicht kaufen?

Die Analogie von Gott und Markt geht noch weiter: Es gibt für beide Propheten, die Botschaften verkünden und des Lobes voll sind. Und ebenso wie im Gottesdienst durch unseren gottvertrauenden Glauben aus profanem Brot und Wein der unschätzbare Leib Gottes entsteht, entstehen an der Börse aus Gedanken und Hoffnungen unschätzbare Werte. Wie sehr diese beiden Prozesse sich ähneln, zeigt gerade der jüngst im deutschen Sprachschatz aufgetauchte Begriff der Realwirtschaft. Er bezeichnet die wirkliche Welt, in der echte Menschen in wirklichen Unternehmen real arbeiten – ganz im Gegensatz zu dem, was am Kapitalmarkt geschieht. Dieser Markt ist wie Gott: allgegenwärtig, allmächtig, allwissend und nicht real!

Wenn wir uns nun im Hinblick auf die Steuerung unserer Geschicke seit zwei Jahrhunderten zunehmend an den Gedanken gewöhnt haben, dass es Gott nicht richten wird, und wenn wir seit Herbst 2008 wissen, dass es der Markt auch nicht richtet, stellt sich unausweichlich und dringend die Frage: Wer dann?

Wir selbst! So lautet die Antwort der Aufklärung nach wie vor. Anders als noch zur Zeit der Aufklärung wissen wir jedoch heute mehr, nicht nur über die Welt, sondern vor allem über uns selbst. Und dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Gehirnforschung dabei ist, sehr viele Erkenntnisse über die Funktion unseres Geistes – und damit über uns selbst – zu Tage zu fördern. Ich möchte dies in aller Kürze an einigen wenigen Beispielen erläutern. – Aber geht das nicht zu weit? Wird hier nicht die „Deutungsmacht der Biologie“ maßlos überzogen? Weil dieser Einwand wahrscheinlich an dieser Stelle vielen Lesern auf der Zunge liegt, sei er zuvor kurz diskutiert.

Wenn bei Ihnen der Abfluss verstopft ist, wer hat dann die Deutungsmacht über Ihr Problem? Ich nehme an, Ihr Klempner. Nicht etwa, weil Ihr Klempner ganz allgemein eine besonders große Deutungsmacht hat, sondern weil er sich mit verstopften Rohren gut auskennt. Neurowissenschaftler kennen sich mit Lernen, Denken und Handeln zunehmend besser aus. Und wenn es daher darum geht, wie wir besser Lernen, Denken und Handeln könnten, ist es sinnvoll, wenn sich Neurowissenschaftler einmischen. Dass dies nicht all denen gefällt, die sich traditionell für auserkoren und befähigt halten, über diese Dinge nachzudenken, ist eine andere Sache. Aber statt zu schimpfen, über Deutungsmacht und Reduktionismus, sei allen Kritikern empfohlen, sich die Argumente anzusehen und über die Dinge selbst zu reden. Wenn jemand einen besseren Vorschlag hat, bin ich der erste, der seine Meinung ändert. Denn wenn sich die Daten ändern, ändere ich als Wissenschaftler meine Meinung! Interessant ist, dass dies nach meinen (zugegebenermaßen privaten und begrenzten) Beobachtungen bei vielen, die sich mit Stolz „Geistes“-Wissenschaftler nennen, nicht der Fall ist. Wenn sich bei ihnen die Fakten ändern – umso schlimmer für die Fakten. Das geht so weit, dass mancher von ihnen die Existenz von Fakten überhaupt leugnet. Nach meiner Erfahrung geht das immer nur solange gut, wie es um nichts geht. „Gibt’s noch etwas zu essen?“, „Stürzt das Flugzeug ab?“, „Ist sie schwanger?“, „Ist es Krebs?“ – Plötzlich sind die Fakten ganz wichtig, nicht mehr relativ, und die Antwort besteht nicht in einem wortreichen Traktat sondern lautet „Ja“ oder „Nein“.

Betrachten wir also ganz ruhig und gelassen ein paar Beispiele für mögliche Beiträge der Neurowissenschaft zu einer neuen Aufklärung, die aus meiner Sicht den Namen „Aufklärung 2.0“ durchaus verdienen könnte.

1. Wie entsteht Vertrauen?

Die Literatur zum Thema Vertrauen ist kompliziert und dies scheint dem Gegenstand nur zu angemessen. Geht es doch schließlich bei Vertrauen um ein komplexes soziales Geschehen, um Wechselwirkungen zwischen Individuen, deren Charaktere und Hoffnungen, Motive und Wünsche, Bildungsstand sowie kulturellemotionalen und psycho-sozialen Hintergrund. All dies trifft sicherlich zu, ebenso wie ein Magengeschwür bei psychosozialen Problemen und Krisen (und in unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlicher Häufigkeit) entsteht, obwohl es durch nichts weiter als ein Bakterium verursacht wird. Entsprechend behandelt man es heute ganz einfach mit einem Antibiotikum.

Vertrauen entsteht, wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs einer Handlung steigt, für deren gutes Ausgehen ein anderer Mensch wesentlich mitverantwortlich ist. Weiß ich im Vorhinein, wie er sich verhalten wird, kann ich ihm vertrauen und mein Handeln auf ihm (auf seinem vorhersehbaren Handeln) aufbauen. Der „Mechanismus“ der Entstehung von Vertrauen ist damit letztlich ganz einfach, auch neuronal, wie entsprechende Studien gezeigt haben. Hierzu passt der Befund, dass Vertrauen durch ein ganz einfaches kleines Molekül beeinflusst (auch: hergestellt) werden kann: Das aus gerade einmal neun Aminosäuren bestehende Hormon Oxytocin, als Nasenspray verabreicht, führt im placebokontrollierten doppelblinden Experiment zu einer signifikanten Zunahme des Vertrauens von Investoren in ihre Schuldner, selbst wenn die Investoren wissen, dass sie gerade unter dem Einfluss von Oxytocin stehen (3). Dies zeigt sich im Verhalten: Sie investieren mehr!

Was folgt in der Krise? Das Versprühen von Oxytocin in den Schalterräumen und vor allem den Chefetagen von Banken ... wirklich nur im äußersten Notfall! Mittel- und langfristig sei allen gesagt, die sich fragen, wie Vertrauen entsteht: Seien Sie vertrauenswürdig! Dies bedeutet letztlich: Verhalten Sie sich konsistent, also vorhersehbar für andere; und in dem Maße, in dem Sie dies tun, wird man Ihnen Vertrauen entgegenbringen.

2. Wie finden wir den richtigen Mix aus Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit (Fairness)?

Die Geschichte dieser Frage ist so alt wie die Kulturgeschichte menschlicher Gemeinschaften (5, 9, 11). Was aber war über die Jahrtausende hinweg der Motor kultureller Veränderung? Die Antwort ist nicht berauschend: Kriege, Mord und Totschlag! Die einen eroberten die anderen, töteten oder versklavten Männer und Kinder, schwängerten die Frauen und verbreiteten so ihre (in der Schlacht erfolgreichere) Kultur. Dass auf diese Weise nur der Aggressivere gewinnen kann, ist offensichtlich! Was wir bei allem Wohlstand – selbst in der Krise hungert und friert in Westeuropa niemand! – gerne vergessen, ist das Resultat dieser Entwicklung: Die Menschheit verfügt über ein militärisches Zerstörungspotenzial, das es erlaubt, den Globus gleich mehrfach als Lebensraum für höhere Arten (manche Insekten kommen vielleicht durch) zu zerstören. Man könnte einwenden, dass seit einigen Jahrhunderten der Krieg zumindest teilweise durch die Wirtschaft ersetzt wurde: Man kämpft um Märkte und der ökonomisch Stärkere gewinnt und drückt dem anderen seine Kultur auf. So geschehen im vergangenen Jahrzehnt, als auch jenseits des fallenden Eisernen Vorhangs klar zu werden schien, dass nur der relativ ungezügelte Kapitalismus – also ein Mix aus viel Freiheit und wenig Gleichheit (mit einem Anteil an Gerechtigkeit, der stark von deren Definition abhängt) – zum Gewinn ökonomischer Schlachten führt. (Was geschehen wäre, wenn die gegenwärtige Krise 30 Jahre früher gekommen wäre, ist ein sehr interessantes Gedankenspiel für lange Winterabende unter Freunden!) Solange der Gewinn von Schlachten – seien sie militärisch oder ökonomisch – den Motor kulturellen Fortschritts darstellt, zieht nicht nur zwangsläufig die Ökologie, sondern auch das friedliche Zusammenleben der Menschen den Kürzeren. Was könnte man tun? – Nachdenken! Ich glaube daran, dass es möglich sein muss, auch mittels eines wissenschaftlich begründeten Grundverständnisses menschlicher Lebensbedingungen dieses Problem besser zu lösen, man ist fast versucht zu sagen: professioneller als durch Krieg.

3. Wie setzen wir Menschen gemäß ihren Begabungen, ihrem Alter, ihrem Geschlecht richtig ein?

Mit anderen Worten: Wie fördern wir Lernprozesse bei allen Menschen und zu allen Zeiten richtig (7)? – Dieses Problem ist mit dem gerade angesprochenen nicht unverwandt! Denn nur dann, wenn wir unsere Begabungen einsetzen, werden wir für beide zu Lösungen kommen. Bildung ist ganz sicher eine wichtige und vielleicht sogar die wichtigste Voraussetzung für Stabilität und Nachhaltigkeit. Wer das Ökosystem wirklich versteht, der handelt auch entsprechend. Und wer die Menschen wirklich versteht (und seine Mitmenschen mag), der auch! Wie Menschen lernen, ist keine Frage der Ideologie (auch wenn unser föderales Bildungssystem dies nahezulegen scheint), sondern eine Frage der Wissenschaft. Es wird höchste Zeit, dass wir diesen Gedanken ernst nehmen!

4. Wie werden wir glücklich?

Gewiss nicht als Unfreie in einer ungerechten Gesellschaft. Die Neurobiologie des Lernens und des Belohnungssystems hat in den vergangenen fünf Jahren sehr deutlich gezeigt, wie eng Glück mit Lernen zusammenhängt. Damit ist auch klar: In einem schlechten Bildungssystem kann niemand glücklich sein! Und wieder wird klar: Die Probleme hängen erstens zusammen und zweitens sind sie wissenschaftlich, um genau zu sein: neurowissenschaftlich, angehbar.