Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman - Diane Setterfield - E-Book

Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman E-Book

Diane Setterfield

3,9
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Roman der Autorin des Bestsellers »Die dreizehnte Geschichte«

William Bellman tötet als Kind eine Krähe, um seinen drei besten Freunden zu beweisen, wie gut er mit der Steinschleuder umgehen kann. Am Abend nach der Tat glaubt er, unter dem Baum, auf dem die Krähe saß, einen schwarz gekleideten Jungen zu sehen. Zunächst scheint dies kein schlechtes Omen zu sein: Als Jugendlicher beginnt William in der Wollspinnerei seines Großvaters zu arbeiten, sein Onkel ernennt ihn bald zum Teilhaber, und als die beiden plötzlich sterben, übernimmt William die Spinnerei und macht daraus ein Erfolgsunternehmen. Doch dann häufen sich die mysteriösen Todesfälle in seiner Umgebung, seine Frau und seine Kinder erkranken schwer. Und William begegnet immer wieder einer dunklen Gestalt, die ihm schließlich einen verhängnisvollen Pakt anbietet, um seine Existenz und sein Glück zu retten ...

Eine kluge und fesselnde Geschichte, so unheimlich wie »Der Rabe« von Edgar Allan Poe und so parabelhaft wie »Das kalte Herz« von Wilhelm Hauff.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 508

Bewertungen
3,9 (18 Bewertungen)
7
4
5
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Diane Setterfield ist unübertroffen in der Kunst des Erzählens.«     The Guardian

William Bellman tötet als Kind eine Krähe, um seinen drei besten Freunden zu beweisen, wie gut er mit der Steinschleuder umgehen kann. Am Abend nach der Tat glaubt er, unter dem Baum, auf dem die Krähe saß, einen schwarz gekleideten Jungen zu sehen.

Zunächst erscheint dies kein schlechtes Omen zu sein: Als Jugendlicher beginnt William in der Wollspinnerei seines Großvaters zu arbeiten; sein Onkel ernennt ihn bald zum Teilhaber, und als die beiden plötzlich sterben, übernimmt William die Spinnerei und macht daraus ein Erfolgsunternehmen.

Doch dann häufen sich die mysteriösen Todesfälle in seiner Umgebung, seine Frau und seine Kinder erkranken schwer. Und William begegnet immer wieder einer dunklen Gestalt, die ihm schließlich einen verhängnisvollen Pakt anbietet, um seine Existenz und sein Glück zu retten …

Diane Setterfield ist promovierte Romanistin und lebte viele Jahre in Frankreich. Bevor sie sich Vollzeit der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Lehrerin. Ihr Debüt, Die dreizehnte Geschichte,

Diane Setterfield

Aufstieg

und Fall des

Wollspinners

William

Bellman

Aus dem Englischen

von Anke und Eberhard Kreutzer

Karl Blessing Verlag

Originaltitel: Bellman & Black

Originalverlag: Orion, London

1. Auflage

Copyright © 2013 by Diane Setterfield

Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, Christian Otto,

unter Verwendung mehrerer Illustrationen von © shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-13790-8

www.blessing-verlag.de

Von Leuten, die es unmöglich wissen können, habe ich mir sagen lassen, der Mensch sähe in seinen letzten Sekunden sein ganzes Leben noch einmal vorüberziehen. Wenn dem so wäre, könnte ein Zyniker daraus schließen, William Bellman habe eine endlose Folge an Kalkulationen, Verträgen und Geschäftsabschlüssen Revue passieren lassen, bevor er seinen letzten Atemzug tat. Tatsächlich aber galten seine Gedanken an der Schwelle zu jenem anderen Ort – an der unser aller Pfad früher oder später endet – den Menschen, die dieses unbekannte Terrain schon vor ihm betreten hatten: seiner Frau, dreien seiner Kinder, seinem Onkel, seinem Cousin und einigen Freunden aus Kindertagen. Nachdem er sich diese geliebten Menschen noch einmal in Erinnerung gerufen hatte und der Tod ihm noch eine kurze Frist gewährte, fand er die Zeit für ein allerletztes Gedenken. So legte er in diesen letzten Sekunden frei, was in seinem Kopf seit vierzig Jahren verschüttet war. Was er unter Schichten von Geröll aus den Tiefen seiner Erinnerung ans Licht des Tages hob, war eine Krähe. Eine Saatkrähe, um genau zu sein.

Und das kam so.

Will Bellman war zehn Jahre und vier Tage alt, als ihm das Hochgefühl über seine Ruhmestat noch in den Adern prickelte. Seine Freunde und er waren draußen in den Auen zwischen Wald und Fluss, wo die Felsen in eine Senke übergingen, auf der Suche nach Schnakenlarven, die sie mit Sprüngen und Schlägen auf den Boden an die Oberfläche lockten, um sie mit ihren angespitzten Stöcken aufzuspießen. Charles, der einmal die Bellman’s Mill erben würde, war Wills Cousin. Ihre Väter waren Brüder, was einfacher klingt, als es war. Fred war der älteste Sohn des Bäckers. Seine Mutter stammte aus einer Meierei. Er galt als der bestgenährte Junge in ganz Whittingford, und wenn man ihn mit seinen weißen Zähnen und dem festen Fleisch auf den kräftigen Knochen sah, nahm man ihm ab, dass man ihn schon als kleines Kind mit Brot und Sahne gefüttert hatte. Er sprach davon, eines Tages die Bäckerei zu übernehmen. Luke gehörte zu den Kindern des Schmieds. Für ihn gab es nichts zu übernehmen, da er zu viele ältere Brüder hatte. Sein helles kupferfarbenes Haar leuchtete schon von Weitem, wenn es gewaschen war. Um die Schule machte er einen großen Bogen. Was sollte sie ihm nützen? Eine Tracht Prügel konnte er sich auch zu Hause einfangen; trieb ihn nicht der Hunger heim, machte er um sein Elternhaus einen großen Bogen. Wenn er nicht genug zu essen erbetteln konnte, versuchte er es mit Mundraub, und scheiterte selbst das, wurde er zum Dieb. Schließlich brauchte ein Junge etwas zu essen. Williams Mutter, die ihm ab und zu Brot und Käse zusteckte oder Hühnerknochen zum Abnagen, hatte er ins Herz geschlossen.

Auf den ersten Blick hatten die Jungen nicht viel gemeinsam, doch zu Beginn dieses Sommers führte sie ein wichtiger Umstand zusammen – sie waren gleich alt. Sie waren alle im selben Monat desselben Jahres geboren. Die Magie dieses Jubiläums hatte sie wie eine Art Schwerkraft erfasst, und so trieb sie im Laufe dieses August nicht mehr nur die Freundschaft Tag für Tag zu den Hecken und Wiesen. Sie kamen auch, um sich miteinander zu messen.

Sie liefen um die Wette, kletterten auf Bäume, fochten im Spiel Zweikämpfe aus, versuchten, sich gegenseitig im Armdrücken zu besiegen. Jeder Meter, den sie aus Leibeskräften rannten, machte sie schneller, jeder Ast, den sie bis in die höchsten Wipfel erklommen, weitete ihren Horizont. Sie stachelten sich zu immer waghalsigeren Abenteuern an, wichen keiner Mutprobe aus, suchten täglich größere Gefahren. Über Schrammen lachten sie nur, Blutergüsse waren Ehrenmale, Narben sahen sie wie Trophäen. Jede Minute und jeden Tag boten sie der Welt und einander die Stirn.

Mit zehn Jahren und vier Tagen war Will mit sich und der Welt zufrieden. Zwar war er noch lange kein Mann, das wusste er wohl, aber auch kein kleiner Junge mehr. Den ganzen Sommer lang hatte er frühmorgens in der Hütte seiner Mutter, vom Krächzen der Saatkrähen in den Bäumen geweckt, das wie ein Kreischen von Mahlsteinen in der Mühle klang, seine wachsenden Kräfte gefühlt. Aus der Küche und dem Garten war er herausgewachsen und hatte sich längst das Territorium der Wiesen, Felder, Flüsse, Wälder und den Himmel darüber erobert. Es gab immer noch eine Menge zu lernen, doch er wusste, dass er es so wie alles andere im Leben lernen würde – leicht. Und während er lernte, konnte er sich jeden Tag an diesem erhebenden Gefühl berauschen, wieder etwas Neues zu beherrschen.

»Wetten, dass ich den Vogel da drüben abschießen kann?«, sagte Will und deutete mit dem Finger auf den weit entfernten Zweig einer der Eichen nahe ihrem Haus. Auch die Hütte war von ihrer Warte aus zu sehen, wenn auch halb hinter den Hecken versteckt.

»Kannst du nicht«, sagte Luke und sprang mit wenigen Sätzen den Hang hinauf, um es den anderen zu sagen. »Will behauptet, er könne diesen Vogel treffen«, rief er ihnen zu und zeigte auf die Eiche. »Nie im Leben«, bescheinigten ihm die anderen beiden, kamen aber dennoch herbeigerannt, um sich den Versuch aus der Nähe anzusehen. Will zog seine Zwille aus dem Gürtel und genoss das Ritual, mit umständlicher Sorgfalt nach einem Stein zu suchen. Die besten Geschosse für eine Zwille waren eine geheimnisvolle, ehrfurchtgebietende Sache. Ein gutes Auge für den richtigen Stein brachte jedem Schützen Bewunderung ein. Standen mehrere zur Auswahl, wurden sie in einem langen Für und Wider nach Größe, Glätte, Textur und Farbe gegeneinander abgewogen. Natürlich waren Murmeln allem anderen überlegen, doch welcher Junge wagte schon, eine Murmel zu verlieren? William war insgeheim zu dem Schluss gekommen, dass jeder einigermaßen glatte, runde Stein genauso zweckmäßig war, doch da er wie alle Jungen wusste, wie gut sich eine geheimnisumwitterte Suche machte, ließ er sich Zeit.

Unterdessen weckte seine Zwille das Interesse der anderen. Bevor er sich auf die Suche begab, vertraute er sie seinem Cousin an. Charles hielt sie anfänglich achtlos in der Hand; als er jedoch spürte, wie gut sie in seinen Fingern lag, sah er genauer hin. Die beiden Enden der Gabel formten zusammen mit dem Griff ein derart vollendetes Y, dass es kaum mit rechten Dingen zugehen konnte. Man mochte einen ganzen Wald danach absuchen und keins finden, das diesem auch nur annähernd gleichkam. Will hatte ein gutes Auge.

Fred trat heran und musterte die Schleuder. Er verzog die Mundwinkel, als inspizierte er ein Fass mit schlecht gequirlter Butter.

»Ist nicht von einem Haselnussstrauch.«

Ohne von seiner Suche aufzusehen, erwiderte Will: »Haselnuss bricht zu leicht. Aber es gibt was Besseres.« Er hatte sein Messer gewetzt, war auf den Baum gestiegen und hatte sich geduldig genau die Gabel herausgeschnitten, die ihm perfekt erschien. Der Holunder war alt genug für festes Holz und jung genug für die nötige Biegsamkeit.

Die Schlinge war vertraut: Will hatte seine alte wiederverwandt. Sie stammte aus der Lasche eines Schuhs, aus dem er herausgewachsen war. Dank einiger mit einer scharfen Klinge eingeritzter Kerben ließ sich der Lederriemen mit einem passenden Geschoss darin weit genug dehnen. Ein Merkmal seiner Schleuder allerdings hatte es noch nie gegeben. Da, wo die Schlinge am Holz befestigt war, hatte Will zwei bis drei Zentimeter breite Rillen angebracht. In diese Rillen waren die dünnen Lederriemen zur Befestigung der Schlinge gewunden. Doch auch unter und über den jeweiligen Knoten hatte er Schnüre gewickelt und straff gespannt. Charles strich voller Bewunderung darüber. Es war geschickt gemacht, auch wenn er nicht verstand, wofür.

»Wozu dient das?«, fragte er.

Auch Luke streckte den Finger aus und tastete über die gewundenen Stränge. »Verhindert, dass die Schlinge nach unten rutscht, stimmt’s?«

Will zuckte die Achseln. »Wir werden sehen. Jedenfalls ist sie noch nie verrutscht.«

Bis zu diesem Tag hatten die Jungen nicht geahnt, dass es eine so vollkommene Schleuder geben konnte. Für sie lag es in göttlicher Hand, wie gut oder schlecht eine Zwille war, es unterlag dem Zufall oder dem Geschick. Sobald man anlegte, forderte man sein Glück heraus; die Chancen, danebenzuschießen, standen fünfzig zu eins. Bei Wills Waffe dagegen war nichts dem Zufall überlassen – sie war das Ergebnis wohlüberlegter Auswahl, kluger Planung und handwerklichen Geschicks.

Luke prüfte die Elastizität der Lederstreifen. Sie waren geschmeidig genug, doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen, selbst einen kleinen Beitrag zu dieser beneidenswerten Schleuder zu leisten. Er spuckte sich auf die Fingerspitzen und strich damit hingebungsvoll über die Schnüre.

Als Will endlich einen zufriedenstellenden Stein gefunden hatte, konnte er selbst kaum glauben, dass der Vogel immer noch da war. Er nahm seine Zwille wieder an sich und lud sie. Er war versiert, mit scharfen Augen sowie einer ruhigen Hand gesegnet. Er übte oft.

Der Vogel war zu weit weg.

Als die Jungen schließlich statt der Waffe das Ziel ins Auge fassten, schüttelten sie grinsend den Kopf. Wills prahlerische Behauptung war so lächerlich, dass er selbst in ihr Lachen einfiel. Doch dann ballten sich seine Beobachtungsgabe, Sicherheit und Kraft, seine Erfahrung aus zehn Jahren, in diesem einen Moment zusammen, als hätten sie nur darauf gewartet. In seinem Kopf verstummte das Gespött seiner Gefährten.

Während er mit dem Auge die Strecke – die unglaublich weite Strecke – zwischen Geschoss und Zielobjekt einschätzte, berechnete er im Kopf die Flugbahn und richtete mit allen Gliedern seine Waffe aus. Er wechselte die Stellung der Füße, fand den Schwerpunkt seines Körpers, spannte die Muskeln in Beinen, Rücken und Schultern an, veränderte kaum merklich den Griff der Finger an der Schleuder und erprobte mit den Händen die Spannung der Schlinge. Er zog die Schlinge zurück.

Als er den Stein abschoss – nein, kurz davor, in der Sekunde, als er von selbst losließ und er ihn nicht mehr anhalten konnte –, erlebte er einen Augenblick der Perfektion. Junge, Schleuder, Stein. Kopf, Auge, Körper. Er hatte Gewissheit, und das Geschoss löste sich aus der Schlinge.

Eine Weile flog der Stein auf seiner vorgezeichneten Bahn. Jedenfalls schien es so, und William hoffte, dass der Vogel endlich mit den Flügeln flattern und sich vom Ast erheben würde. Der Stein würde einfach nur zu Boden fallen und irgendwo am Himmel würde ihn das steinerne Kreischen verspotten.

Der schwarze Vogel rührte sich nicht.

Der Stein erreichte den höchsten Punkt seiner Bahn und flog in einem leichten Bogen nach unten weiter. Die Jungen verstummten. William schwieg. Das Universum stand still. Nur der Stein bewegte sich.

Es ist immer noch Zeit, dachte William. Ich könnte schreien, so dass der Vogel vor Schreck auffliegt. Doch ihm klebte die Zunge am Gaumen, der Moment schien kein Ende zu nehmen, und William war wie versteinert.

Das Geschoss vollendete seine Bahn.

Der schwarze Vogel fiel.

Die Jungen starrten fassungslos auf den leeren Ast. War das wirklich passiert? Unmöglich! Aber sie hatten es selbst gesehen … Drei Köpfe fuhren zu Will herum. Er konnte sich immer noch nicht von dem Ast losreißen, auf dem der Vogel gesessen hatte. Immer noch sah er ihn fallen und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

Als Erster brach Fred das Schweigen mit einem mächtigen Gebrüll; zugleich sausten drei Jungen über die Aue Richtung Eiche; Luke, stets der Letzte, stolperte über Baumwurzeln und Furchen. Schließlich rannte auch William los. Er kam an, als die anderen unter der Eiche auf dem Boden kauerten. Sie rückten für ihn zur Seite.

Dort, auf dem Gras, lag der Vogel. Eine Saatkrähe. Noch jung, mit schwarzem Schnabel.

Dann stimmte es also. Er hatte es getan.

Plötzlich spürte er, wie sich in seiner Brust etwas bewegte, als würde ihm ein Organ entfernt und durch etwas Unbekanntes ersetzt. Eine Empfindung breitete sich in ihm aus, deren Existenz er nie für möglich gehalten hätte. Durch seine Adern strömte sie von der Brust bis in alle seine Glieder. Sie stieg ihm zu Kopfe, betäubte ihm die Ohren, verschlug ihm die Sprache und sammelte sich in Händen und Füßen bis zu den Finger- und Zehenspitzen. Da er keine Worte dafür fand, blieb er stumm. Dabei merkte er, wie sich dieses Etwas in ihm einnistete. Auf Dauer.

»Wir könnten ihn beerdigen«, sagte Charles. »Eine kleine Trauerfeier ausrichten.«

Die Idee, ein Ritual zu begehen, fand Zuspruch. Doch bevor sie sich unsicher kichernd darauf einigen konnten, wie sie es anfangen sollten, griff Luke zögernd nach dem Flügel und breitete ihn aus. Ein Lichtstrahl brach durch das Laub, und als er auf die tote Kreatur fiel, war das Schwarz plötzlich nicht mehr schwarz; stattdessen leuchtete das Gefieder in Tintenblau, Violett und Grün. Dabei verhielten sich diese Farben nicht wie Farben. Sie schimmerten und changierten wie etwas Lebendiges, das Auge und Wahrnehmung betörte. Jeder der Jungen fragte sich in dem Moment, ob der Vogel am Ende doch nicht tot sei, was er natürlich war. Was denn sonst.

Die Freunde tuschelten und wandten sich wieder erwartungsvoll an Will. Auch dieser Moment gehörte ihm.

Inzwischen hatte Luke Mut gefasst.

»KRÄÄH!«

Mit Schwung warf er den Kadaver Fred, dann Charles, nicht aber Will entgegen. Die beiden stolperten mit erleichtertem Lachen zurück. Als Nächstes trieb Fred seinen Spaß mit dem toten Vogel, indem er seine Flügelfedern wie im Flug ausfächerte und dabei nach Herzenslust krähte. Will brachte nur ein klägliches Lachen heraus. Vom Aufruhr der Gefühle fühlte er sich elend, und seine Lungen waren erschöpft.

Es dauerte nicht lange, bis Fred sich darüber ärgerte, dass sich die Federn nicht wieder zusammenfalten ließen und dass der Kopf so schlaff herunterhing; überhaupt fand er den Kadaver so abstoßend, dass er ihn in hohem Bogen von sich schleuderte.

Jeder Gedanke an eine Beerdigung war jetzt vergessen, und sie hatten nur noch Augen für das tödliche Geschoss. Dieser Stein besaß jetzt einen Wert. Geduldig machten sie sich auf die Suche danach und hoben einen runden Kiesel nach dem anderen auf.

»Zu groß«, stellten sie übereinstimmend fest.

»Falsche Farbe.«

»Er hatte nicht solche Rillen.«

Der Stein fand sich nicht wieder. Nachdem das Wunder vollbracht war, hatte er seine Einzigartigkeit eingebüßt und war von all den anderen ähnlichen Steinen nicht mehr zu unterscheiden.

Außerdem, erklärte Charles, und ausnahmsweise einmal waren sie alle einer Meinung, hatte es ja nichts mit dem Stein zu tun. Das Wunder hatte Will vollbracht.

Sie konnten von der Geschichte gar nicht genug bekommen; jeder schilderte sie immer wieder aufs Neue und versuchte zu erklären, was sie dabei gedacht und gesehen hatten; sie stellten das Ereignis nach und holten in ihrer wilden Fantasie ganze Krähenschwärme vom Himmel.

Will stand dabei. Wie jeder zehnjährige Held musste er einiges an Fopperei und Rangelei über sich ergehen lassen. Er fühltesich kleinlaut, todtraurig, stolz, betreten, beschämt. Zum Schein grinste und stupste er zurück.

Die Sonne ging unter, die Luft kühlte sich ab. Herbst lag in der Luft, und die Jungen hatten Hunger. Es war Zeit, heimzukehren. Sie trennten sich und gingen ihrer Wege.

Will hatte es nicht weit; bis zur Küche seiner Mutter waren es nur ein paar Minuten.

Auf der Kuppe einer Böschung drehte er sich aus irgendeinem Grund noch einmal um. Er blickte zu der Stelle, an der die Krähe heruntergefallen war. In den wenigen Minuten seit dem Verschwinden der Jungen waren andere Krähen gekommen. Fünfzehn oder zwanzig kreisten über der Eiche, und aus allen Richtungen flogen immer mehr herbei. In einer weitläufigen, lockeren Formation aus schwarzen Punkten kreisten sie am Himmel, bevor sie sich über dem Baum zu einer dunklen Wolke zusammenballten und sich eine nach der anderen in den Zweigen niederließen. Normalerweise wäre mit einer solchen Versammlung lautes Krächzen, das klang wie das Knirschen von Kies, einhergegangen. Diese Zusammenkunft war anders: Sie vollzog sich in absichtsvollem, beredtem Schweigen.

Jeder Vogel auf jedem Ast blickte in Wills Richtung.

Er sprang von der Kuppe und rannte schneller heim, als er jemals gerannt war. Erst als er den Türknauf in der Hand hielt, wagte er einen Blick zurück. Der Himmel war leer. Er starrte zur Krone der Eiche, doch auf diese Entfernung und gegen die untergehende Sonne war schwer zu erkennen, ob er Vögel oder Laub sah. Vielleicht entsprangen die vielen Augenpaare, die ihn anstarrten, nur seiner Fantasie.

Für einen Moment dachte er, einer seiner Freunde sei zur Eiche zurückgekehrt – ein Junge, der wie eben noch er selbst dort im Schatten des Wipfels stand. Für Charles war die Gestalt zu klein, für Fred zu schlank, und sie hatte auch nicht das rote Haar von Luke. Außerdem war dieser Junge, falls ihm nicht Licht und Schatten Streiche spielten, ganz in Schwarz gekleidet.

Beim nächsten Wimpernschlag war die Gestalt verschwunden – wahrscheinlich auf dem Heimweg durch den Wald.

Will drehte den Türknauf und trat ins Haus ein.

»Was hast du?«, wollte seine Mutter wissen, als sie ihn sah.

An diesem Abend war Will auffallend schweigsam, und seiner Mutter fiel sein ungewöhnlich bleiches Gesicht auf. Ihre Fragen entlockten ihm keine Erklärung, und sie verstand, dass ihr Junge inzwischen alt genug war, um Geheimnisse vor ihr zu haben.

»Denk doch nur mal. In einer Woche bist du schon mit Charles in Oxford an der Schule.«

Als sie neben ihm stand und ihm Suppe einschenkte, schmiegte er sich ihr unauffällig in die Seite, und als sie den Arm um ihn legte, ließ er es geschehen, statt sie daran zu erinnern, dass er schon zehn Jahre alt war. Hatte ihr sonst so furchtloser Sohn doch ein wenig Angst davor, sie zu verlassen und nach Oxford zu gehen? In dieser Nacht wärmte sie ihm, obwohl es nicht kalt war, sein Bett und ließ seine Kerze brennen. Als sie eine Stunde später noch einmal zum Gutenachtkuss hereinkam, blieb sie stehen und betrachtete sein schlafendes Gesicht. Er sah so blass aus. War das wirklich noch ihr Sohn? Sie verändern sich so schnell.Er ist erst zehn, und ich bin schon dabei, ihn zu verlieren, dachte sie mit einem Stich ins Herz. Wenn ich ihn nicht schon verloren habe.

Am nächsten Morgen erwachte Will mit Fieber. Eine halbe Woche lang blieb er unter der Pflege seiner Mutter im Bett. Sein Blut wurde immer heißer, er schwitzte und schrie vor Schmerzen, doch in diesen Tagen nahm William die ganze Findigkeit und Entschlossenheit eines Zehnjährigen zusammen und schwang sich zum größten Kraftakt seines Lebens auf: Er versuchte – zu vergessen.

Weitgehend mit Erfolg.

&

Eine Saatkrähe ist eine gewöhnliche Kreatur, bis man genauer hinschaut.

Ihr Gefieder ist von verschwenderischer Schönheit. So wie es die Jungen an jenem Tag mit eigenen Augen sahen, kann ihr Gefieder in den atemberaubenden Farben eines Pfaus schillern, obwohl es rein faktisch keinerlei blaue, violette oder grüne Pigmente besitzt. An Kopf und Rücken ist sie von seidigem Schwarz, das an der Brust zu den Beinen hin in weiches, noch tieferes Samtschwarz übergeht. Sie ist nicht einfach nur schwarz, sondern vom tiefsten Schwarz, eine Sättigung an Schwarz, mit der sich kein anderes Geschöpf unter dem Himmel messen kann.

Wie kommt es also zu dem prächtigen Farbspiel?

Nun, die Krähe verfügt über magische Fähigkeiten. Ihre schwarzen Federn können eine unglaubliche optische Wirkung erzielen.

»Aha, also doch nur eine Sinnestäuschung!«

Weit gefehlt. Die Krähe ist kein Gaukler mit billigen Zaubertricks. Das Gegenteil ist der Fall: Sie ist ein Magier des Realen. Man frage seine Augen, welche Farbe Licht hat. Sie können es uns nicht sagen. Eine Krähe schon. Sie bündelt das Licht, bricht es, absorbiert einen Teil, während es den Rest in einem Feuerwerk aus Spektralfarben zurückwirft. Sie führt uns eine Wahrheit über das Licht vor Augen, für die wir normalerweise blind sind.

Dabei ist ihr Federkleid zu noch mehr als dieser Glanzleistung fähig. Zwar kommt es nur äußerst selten zu diesem Spektakel, doch eine Handvoll Zeugen haben es beschrieben: Wendet sich eine Saatkrähe an einem strahlenden Sommertag der Sonne zu, wechselt sie ihre Farbe von Schwarz zu überirdisch blendendem Weiß.

Angesichts solcher Schönheit und solch aufsehenerregender magischer Verwandlungskünste drängt sich die Frage auf, wieso man die Krähe auf gewöhnlichen Wiesen und Feldern vorfindet, wo sie nach Larven scharrt. Wieso befinden sich diese prächtigen Geschöpfe nicht im Besitz von Prinzessinnen, in goldenen Vogelbauern, wo sie aus der Hand livrierter Diener die delikatesten Häppchen verspeisen? Wieso ziehen sie die Gesellschaft von Kühen vor, wo doch Einhörner, Greife und Drachen standesgemäß erscheinen?

Die Antwort lautet: Die Krähe lebt so, wie es ihr gefällt. Ist ihr nach menschlicher Gemeinschaft, wird sie sich wohl eher dem betrunkenen Poeten oder der schrulligen alten Vettel zugesellen als einer liebreizenden jungen Dame mit Krönchen. Böte sich zufällig ein Leckerbissen aus Drachenleber oder Einhornzunge, wäre sie sicher nicht abgeneigt, und auch Greifsfleisch würde sie nicht verschmähen.

Teil eins

Die Saatkrähe sieht wahrlich weit mehr,

als wir ihr zubilligen,

hört mehr, als wir ahnen,

denkt mehr, als wir denken, dass sie denkt.

Reverend Boswell Smith, Bird Life and Bird Love

1

An sechs von sieben Tagen herrschte in der Gegend rings um die Burford Road der unablässige Lärm aus der Bellman’s Mill – ein Rumpeln, Scheppern, Dröhnen, Rasseln und Klirren. Die Weberschiffchen sausten im Sekundentakt hin und her, wurden jedoch von den strudelnden, brausenden Wassermassen des Windrush übertönt, der das Wasserrad und damit das ganze hektische Treiben im Werk in Gang hielt. So groß war der Lärm, dass es am Ende eines langen Tages, wenn die Schiffchen endlich ruhten und das Wasserrad zum Stillstand kam, den Arbeitern immer noch in den Ohren sauste und sie die Vibration noch eine Weile in den Gliedern spürten. Das Sausen begleitete sie auf dem Heimweg zu ihren kleinen Hütten und gab oft genug noch keine Ruhe, wenn sie sich am Abend schlafen legten. Selbst in ihren Träumen hörte es nicht auf.

Vögel und anderes kleines Getier hielten sich, zumindest unter der Woche, von der Bellman’s Mill fern. Nur die Saatkrähen waren dreist genug, darüber zu kreisen, als liebten sie den Krach, zu dem sie mit dem eigenen heiseren Schreien genüsslich ihren Beitrag leisteten.

Heute war Sonntag, und im Werk herrschte friedliche Stille. Vom anderen Ufer des Flusses, ein Stück die Hauptstraße hinauf, drangen dafür andere, menschengemachte Misstöne ans Ohr.

Eine Krähe – welcher Untergattung, war schwer zu sagen, sie ähnelten sich zu sehr – ließ sich unbeeindruckt auf dem Dach der Kirche nieder, legte den Kopf schief und horchte.

Komm und wohn’ in mir, ach

Heil’ger Geist, Born der Kraft,

Bezwinge Sünd’ und Ungemach

Mit deiner ew’gen Macht.

Beim ersten Vers des Kirchenlieds sang die Gemeinde so schräg und durcheinander wie eine blökende Herde Schafe. Einige machten einen Wettstreit daraus: Wer am lautesten sang, gewann. Andere, die Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, als zu singen, brachten es möglichst schnell hinter sich, wohingegen umsichtigere Naturen aus Angst, zu sehr vorzupreschen, auf Nummer sicher gingen und eine Sechzehntelnote hinterherhinkten. Im Rücken dieser Sänger saß eine große Schar Arbeiter der Blackman’s Mill, deren Gehör schon bessere Tage erlebt hatte. Diese Männer steuerten ein monotones Hintergrunddröhnen bei, wie von einer Orgel, bei der ein Fußpedal klemmte.

Zum Glück gab es noch den Chor, dem auch William Bellman angehörte. Sein klarer, tragender Tenor gab die Kompasspeilung vor, dank ihm fanden die einzelnen Stimmen Norden und wussten, wohin die Reise ging. Hinter seiner schönen, festen Stimme scharten sie sich zusammen, ihr leisteten sie, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten, Gefolgschaft. Ihre Schallwellen schienen sogar die Trommelfelle der Schwerhörigen in Schwingung zu versetzen, denn unter seiner Führung wandelte sich das dumpfe Dröhnen fast zu musikalischen Tönen. War die Gemeinde bei »Bezwinge Sünd’ und Ungemach« über ein frisch-fröhliches Blöken nicht hinausgelangt, so einigte sie sich bei »Eil dem Tag der Seligkeit entgegen« bereits auf ein Tempo. Als »das Alte überwunden« war, stimmte sie sich auf eine Melodie ein, und als sie in der letzten Strophe »ewige Glückseligkeit« errang, fand sie dank William zu einem Wohlklang, wie sie dem Gesang einer Kirchengemeinde würdig war.

Die letzten Takte des Lieds verhallten, das Kirchenportal ging auf, die Frommen strömten hinaus, standen noch eine Weile plaudernd zusammen und genossen die herbstliche Sonne. Unter ihnen waren zwei Frauen, eine ältere und eine junge, beide mit Korsagen, Spangen, Schleifen und dergleichen für den erbaulichen Anlass gewappnet.

»Da wünscht man sich fast, wir hätten jeden Tag Sonntag«, sagte die junge Miss Young sehnsüchtig über Williams Stimme, und Mrs. Baxter, die ihre Bemerkung hörte, entgegnete: »Wenn Sie William Bellman jeden Abend hören wollen, brauchen Sie sich nur unters Fenster des Red Lion zu stellen. Auch wenn vielleicht«, fügte sie vielsagend und so laut hinzu, dass Williams Mutter, die ein wenig abseits stand, jedes Wort verstehen konnte, »… auch wenn vielleicht das, was dem Ohr wohlgefällig ist, nicht unbedingt der Seele zuträglich ist.«

Dora hörte sich die Spitze mit freundlich-gelassener Miene an, bevor sie sich mit demselben Lächeln zu ihrem Schwager umdrehte, der gerade auf sie zukam. »Dora, womit beschäftigt sich dein Sohn dieser Tage, wenn er nicht gerade das Missfallen von Seelen erregt, die am Fenster des Red Lion lungern?«

»Er arbeitet bei John Davies.«

»Gefällt es ihm auf dem Hof?«

»Du kennst William, er ist überall glücklich.«

»Und wie lange will er bei Davies bleiben?«

»Solange er sich nützlich machen kann. Er ist sich für keine Arbeit zu schade.«

»Fändest du etwas Dauerhafteres nicht besser für ihn?«

»Was schlägst du denn vor?«

Sie sah ihn mit einem Blick an, dass er eine ganze Geschichte darin lesen konnte, eine lange obendrein. In dem Blick, den er zurückwarf, war zu lesen: Das alles ist wahr, aber …

»Mein Vater ist alt geworden, und ich bin für die Fabrik verantwortlich.« Sie protestierte, doch er setzte sich darüber hinweg. »Ich will mich nicht über andere äußern, aber sag mir eins, Dora: Habe ich dir oder William je ein Leid angetan? Bei mir, in der Fabrik, hätte William Aufstiegsmöglichkeiten, Sicherheit, eine Zukunft. Findest du es richtig, ihm das vorzuenthalten?«

Er wartete.

»Du hast mir niemals Unrecht getan, Paul«, sagte sie schließlich. »Angenommen, du bekämst von mir nicht die Antwort, die du hören willst, wendest du dich wohl direkt an William?«

»Es wäre mir entschieden lieber, wir kämen alle drei zu einer Einigung.«

Die Chorsänger hatten ihre Roben abgelegt und kamen, darunter auch William, aus der Kirche. Kaum erschien er, zog er die Blicke an, denn er erfreute nicht nur das Ohr, sondern mindestens so sehr das Auge. Er hatte dasselbe dunkle Haar wie sein Onkel, eine intelligente Stirn, wache Augen, die vieles zugleich aufnahmen, und er bewegte sich mit einer Eleganz, als höbe seine unerschöpfliche Energie das Gewicht seines muskulösen Körpers auf. Etliche junge Frauen, die an diesem Sonntagmorgen vor der Kirche standen, malten sich aus, wie es wohl wäre, in William Bellmans Armen zu liegen – und mehr als eine junge Frau hätte es ihnen sagen können.

Als er seine Mutter entdeckte, lächelte er noch breiter und winkte ihr zu.

»Ich werde es ihm vorschlagen«, erklärte sie Paul. »Die Entscheidung liegt bei ihm.«

Sie trennten sich, Dora ging zu William hinüber, Paul machte sich allein auf den Heimweg.

In Sachen Eheschließung hatte Paul versucht, nicht denselben Fehler zu machen wie sein Vater und sein Bruder. Auf eine dumme Gans mit einem Haufen Geld konnte er ebenso verzichten wie auf Liebe und Schönheit mit leeren Taschen. Ann war klug gewesen und von liebenswürdiger Natur – ihre Mitgift hatte gerade dazu gereicht, die Färberei zu bauen. Er hatte sich für Vernunft und Mäßigung entschieden; häuslichen Frieden, eine herzliche Verbundenheit mit seiner Gefährtin und eine Färberei waren sein Lohn. Doch bei all seiner Klugheit und Vernunft haderte er mit sich, denn er trauerte nicht um seine verstorbene Frau, wie es sich für einen liebevollen Ehemann gehörte. Wenn er sich in einsamen Momenten der unbequemen Wahrheit stellte, gestand er sich ein, dass er öfter an seine Schwägerin dachte, als es rechtens war.

Dora und William kehrten heim.

Die Krähe auf dem Kirchendach flatterte gemächlich auf, erhob sich mühelos in die Lüfte und flog davon.

»Ich würde es gerne annehmen«, erklärte Will seiner Mutter in der kleinen Küche. »Du hast doch nichts dagegen?«

»Und wenn doch?«

Er grinste und legte ihr zärtlich den Arm um die Schulter. Mit siebzehn war es immer noch ein wenig ungewohnt und ein Vergnügen, so viel größer als seine Mutter zu sein. »Du weißt, dass ich dir keinen Kummer bereiten werde, wenn ich es irgendwie vermeiden kann.«

»Genau da liegt das Problem.«

Eine Weile später hatte Will an einem lauschigen Plätzchen, im Schutz von Ried- und Binsengras, den Arm zärtlich um eine andere Schulter gelegt. Die andere Hand war unter einer Fülle von Unterröcken verschwunden, und das Mädchen legte manchmal ihre Hand darüber, mit der stummen Anweisung: langsamer, schneller, nicht so fest oder fester. Er machte eindeutig Fortschritte, dachte er. Anfänglich hatte sie seine Hand die ganze Zeit geführt. Die weißen Beine des Mädchens erschienen auf dem grünen Moos noch heller, und sie hatte ihre Stiefel angelassen: Falls sie jemand überraschte, mussten sie rennen, was das Zeug hielt. Ihr Atem kam keuchend und stöhnend. Es erstaunte ihn immer noch, dass Lust so wie Schmerz klang.

Ganz plötzlich verstummte sie, und ihr Gesicht verspannte sich ein wenig wie in höchster Konzentration. Sie drückte seine Hand so fest, dass sie ihm fast wehtat, und presste die weißen Beine zusammen. Fasziniert verfolgte er die Veränderung – wie sich in ihrem Gesicht und auf ihrer Brust die Haut rötete, während ihre Augenlider zitterten. Dann entspannte sie sich mit geschlossenen Augen, und an ihrem Hals pulsierte eine Ader. Nach einer Minute schlug sie die Augen auf.

»Jetzt du.«

Er legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Nicht nötig, ihre Hand zu führen. Jeannie wusste, was sie tat.

»Hast du denn nie Lust, dich auf mich zu setzen und es richtig zu machen?«, fragte er.

Sie hörte auf und wackelte in gespielter Strenge mit dem Finger. »William Bellman, ich habe vor, eines Tages eine anständige Ehefrau zu werden. Das setze ich ganz bestimmt nicht mit einem Baby aufs Spiel!«

Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu.

»Was denkst du denn von mir? Meinst du, ich würde dich nicht heiraten, wenn ein Baby unterwegs ist?«

»Red kein dummes Zeug. Natürlich würdest du das.«

Sie streichelte ihn, zart genug, fest genug. Es war genau richtig.

»Na also.«

»Du bist ein guter Kerl, Will. Ich hab nie was anderes behauptet.«

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest und richtete sich halb auf, um ihr ins Gesicht zu sehen.

»Aber?«

»Will!« Als sie sah, dass er sich ohne eine Antwort nicht zufriedengeben würde, machte sie ihrem Herzen Luft. »Ich weiß, was ich mir für ein Leben wünsche. Verlässlich, normal.« Er nickte zur Ermunterung, und sie redete weiter. »Wie sähe mein Leben aus, wenn ich dich heiraten würde? Das stünde in den Sternen. Alles ist möglich. Du bist kein schlechter Kerl, Will, du bist nur …«

Er legte sich wieder hin. Ihm kam ein Gedanke, und er sah sie aufs Neue an.

»Du hast jemand anders im Sinn!«

»Nein!« Doch wie sie erschrak und rot anlief, verriet ihm, dass er recht hatte.

»Wer ist es? Wer? Sag schon!« Er packte sie, kitzelte sie, und für eine Weile waren sie wieder wie Kinder, die sich lachend und quiekend balgten. Von einem Moment zum anderen waren sie wieder erwachsen und brachten zu Ende, was sie begonnen hatten.

Als er die Gräser und den Himmel über sich wieder klar erkennen konnte, stellte er fest, dass sein Hirn unterdessen herausgefunden hatte, was sie wollte: Achtbarkeit und Respekt. Sie war Arbeiterin, ein müßiges Leben beeindruckte sie nicht. Und wenn sie sich mit Will die Zeit vertrieb, während sie wartete, hatte sie ein Auge auf jemanden geworfen, der bis jetzt noch keine Notiz von ihr genommen hatte. Allzu groß war die Auswahl der Kandidaten im richtigen Alter nicht, und die meisten davon konnte man aus dem einen oder anderen Grund von der Liste streichen. Von den wenigen, die übrig blieben, kam eigentlich nur einer infrage.

»Es ist Fred von der Bäckerei, stimmt’s?«

Ihr fuhr der Schreck in die Glieder. Sie hob ihre Hand an den Mund, kam zur Besinnung und hielt stattdessen ihm den Mund zu.

»Verrate es bitte nicht, Will, bitte! Kein Wort!« Und dann weinte sie.

Er nahm sie in die Arme. »Psst. Ich sag keinem was. Keiner Menschenseele. Versprochen.«

Sie schluchzte, schluckte und beruhigte sich nach einer Weile. Er nahm ihre Hand. »Jeannie! Keine Sorge! Ich wette, bevor das Jahr um ist, bist du verheiratet.«

Sie wuschen sich die Hände im Fluss und nahmen Abschied; in entgegengesetzten Richtungen liefen sie nach Hause.

Will machte einen Umweg flussaufwärts, dann über die Brücke und auf der anderen Seite wieder zurück. Es war früh am Abend und immer noch sommerlich warm. Irgendwie war die Sache mit Jeannie ein Jammer, dachte er. Sie war ein gutes Mädchen. Ihm knurrte laut der Magen und erinnerte ihn daran, dass seine Mutter zu Hause einen guten Käse und eine Schale Pflaumenkompott für ihn bereithielt. Er ging in den Laufschritt über.

2

William streckte zum Gruß die Hand aus. Die Hand, die sie entgegennahm, war wie ein Handschuh, mit Schwielen so dick und hart wie Rindsleder. Wahrscheinlich konnte der Mann kaum die Finger biegen.

»Guten Morgen.«

Sie waren im Lieferhof, und selbst im Freien schlug ihnen aus den spanischen Kisten ein beißender Gestank entgegen. »Hier wird ausgepackt, gezählt und gewogen«, erklärte Paul. »Dafür ist Mr. Rudge zuständig, er ist schon seit einer Ewigkeit bei uns. Seit wie vielen Jahren?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!