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Dezember 1979. Als mitten auf dem Kiez die Leiche eines jungen Mannes gefunden wird, stört das die vorweihnachtliche Ruhe in der Hamburger Mordkommission doch erheblich. Was auf den ersten Blick noch wie eine typische Bluttat im Milieu wirkt, zieht schnell deutlich weitere Kreise. Je mehr Wegner im Zuge seiner Ermittlungen gräbt, desto tiefer versinkt er im Sumpf der Korruption, die bis ganz nach oben reicht. Am Ende muss der junge Kommissar alles auf eine Karte setzen, nicht nur, um einen Mörder zu finden …(Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Auge um Auge
Wegners erste Fälle (4. Teil)
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 2.0
Cover: Titel: Sven Hallmann / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an diesen Mann:
Lektorat, Korrektorat: worttaten.de – Michael Lohmann
Dezember 1979. Als mitten auf dem Kiez die Leiche eines jungen Mannes gefunden wird, stört das die vorweihnachtliche Ruhe in der Hamburger Mordkommission doch erheblich. Was auf den ersten Blick noch wie eine typische Bluttat im Milieu wirkt, zieht schnell deutlich weitere Kreise. Je mehr Wegner im Zuge seiner Ermittlungen gräbt, desto tiefer versinkt er im Sumpf der Korruption, die bis ganz nach oben reicht. Am Ende muss der junge Kommissar alles auf eine Karte setzen, nicht nur, um einen Mörder zu finden … (Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
»Eisiger Tod« (Teil 1)»Feuerprobe« (Teil 2)»Blinde Wut« (Teil 3)»Auge um Auge« (Teil 4)»Das Böse« (Teil 5)»Alte Sünden« (Teil 6)»Vergeltung« (Teil 7)»Martin« (Teil 8)»Der Kiez« (Teil 9)»Die Schatzkiste« (Teil 10)Aus der Reihe Wegner & Hauser (Hamburg: Mord)
»Mausetot« (Teil 1)»Psycho« (Teil 2)Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:
»Der Hurenkiller« (Teil 1)»Der Hurenkiller – das Morden geht weiter …« (Teil 2)»Franz G. - Thriller« (Teil 3)»Blutige Rache« (Teil 4)»ErbRache« (Teil 5)»Blutiger Kiez« (Teil 6)»Mörderisches Verlangen« (Teil 7)»Tödliche Gier« (Teil 8)»Auftrag: Mord« (Teil 9)»Ruhe in Frieden« (Teil 10)Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:
»Kaltes Herz« (Teil 1)»Skrupellos« (Teil 2)»Kaltblütig« (Teil 3)»Ende gut, alles gut« (Teil 4)»Mord: Inklusive« (Teil 5)»Mörder gesucht« (Teil 6)»Auf Messers Schneide« (Teil 7)»Herr Müller« (Teil 8)Aus der Reihe "Hannah Lambert ermittelt":
»Ausgerechnet Sylt« (1)»Eiskaltes Sylt« (2)»Mörderisches Sylt« (3)»Stürmisches Sylt« (4)»Schneeweißes Sylt« (5)»Gieriges Sylt« (6)»Turbulentes Sylt« (7)Aus der Reihe "Zwischen Mord und Ostsee":
»Nasses Grab« (1)»Grünes Grab« (2)Weitere Titel aus der Reihe Auftrag: Mord!:
»Der Schlitzer« (Teil 1)»Deutscher Herbst« (Teil 2)»Silvana« (Teil 3)Unter meinem Pseudonym „Thore Holmberg“:
»Marthas Rache« (Schweden-Thriller)»XIII« (Thriller)Weitere Titel:
»Zwischen Schutt und Asche« (Nachkrieg: Hamburg in Trümmern 1)»Zwischen Leben und Tod« (Nachkrieg: Hamburg in Trümmern 2)»E.S.K.E.: Blutrausch« (Serienstart E.S.K.E.)»E.S.K.E.: Wiener Blut« (Teil 2 - E.S.K.E.)»Ansonsten lächelt nur der Tod«
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»Schau dir doch den ganzen Mist hier mal an! Dein armseliges Leben und …« Martin Rupert verstummte abrupt, als die flache Hand seines Vaters sein Gesicht mit voller Wucht traf. Mit wütenden Gesichtern standen die beiden Männer danach mitten in der Küche und funkelten sich gegenseitig an.
»Ich weiß nicht mal, was du mit ›armseliges Leben‹ überhaupt meinst.« Horst Rupert sah traurig aus. Er bereute längst sein unüberlegtes Handeln und hätte es am liebsten rückgängig gemacht.
»Überleg doch mal, was du in deinem Leben zustande gebracht hast!«, fauchte sein Sohn und machte einen Schritt zurück. »Diese ganze beschissene Sparerei und wofür das alles? Wenn Mama noch am Leben wär …«
»Lass deine Mutter aus dem Spiel, Junge!« Horst Rupert hob schon wieder die Hand. Es sah nicht aus, als würde er mit einer zweiten Ohrfeige lange zögern. »Alles, aber nicht deine Mutter«, flüsterte er verbittert und ließ den Kopf hängen.
»Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, Papa. Mama hatte auch schon lange die Schnauze voll, bevor sie …«
Klatsch! Die zweite Ohrfeige landete im Gesicht des jungen Mannes. Und es wäre vermutlich noch eine dritte geworden, wenn sich Martin Rupert nicht vor seinem Vater aufgebaut und die Fäuste gehoben hätte. Immerhin überragte der Junior seinen Erzeuger um fast einen Kopf. Und auch was die Statur anging, brachte er mindestens vierzig Pfund mehr auf die Waage.
»Ich habe dir gesagt, dass du deine Mutter aus dem Spiel lassen sollst«, rechtfertigte sich Rupert senior kopfschüttelnd. Er holte zweimal tief Luft, um mit der Abrechnung fortzufahren. »Ich habe mir elf Jahre lang Tag und Nacht den Arsch abgefahren, um mein erstes eigenes Taxi zu kaufen.«
»Bravo, Papa!« Martin Rupert klatschte in die Hände und verzog das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Elf Jahre hast du deine Familie an jedem Weihnachten und jeden Feiertag alleine gelassen. Und das alles nur für ein beschissenes Auto mit einem Schild auf dem Dach. Reife Leistung!«
»Und du?«, ereiferte sich der Senior. »Was hast du denn bisher geschafft? Außer einem schlechten Hauptschulabschluss, zwei abgebrochenen Lehren und einer Reihe Vorstrafen?« Der Vater machte einen weiteren Schritt nach vorne. Es sah schon so aus, als wollte er seinem Sohn gleich die nächste Ohrfeige verpassen. »Na los, rede! Was hast du geschafft?«
Wie erwartet, brachte Rupert junior keine vernünftige Antwort zustande. Stattdessen stand er nur vor seinem Vater und grinste dämlich. Diese Art von Moralpredigt hatte er gefühlte tausendmal über sich ergehen lassen müssen. Da kam es auf ein Mal mehr oder weniger nicht an.
»Vielleicht erklärst du mir eine andere Sache ...« Horst Rupert drehte sich zum Küchenbuffet. Er zog eine der Schubladen auf und holte einen prall gefüllten Umschlag heraus. Ohne ein weiteres Wort klatschte er ihn auf den Küchentisch und schaute seinen Sohn erwartungsvoll an.
»Du hast tatsächlich in meinem Zimmer rumgeschnüffelt?« Rupert junior schüttelte den Kopf und starrte seinen Vater fassungslos an. »Du warst in meinem Zimmer und hast meine Schränke durchsucht?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig, wenn ich von dir sowieso nur Lügen höre?«
»Das gibt dir noch lange nicht das Recht, mein Zimmer zu betreten!«
»Dein Zimmer? Dass ich nicht lache!« Horst Rupert lehnte sich gegen das Küchenbuffet und lachte jetzt tatsächlich. »Wo wärst du denn ohne mein – wie nennst du es – armseliges Taxifahren? Ich sorge dafür, dass hier an jedem Tag der Schornstein raucht, nicht du!« Er deutete auf den Umschlag, der bei seiner Landung auf dem Küchentisch aufgerissen war. Einige Hundertmarkscheine schauten heraus. »Oder wollen wir vielleicht von dem Geld leben, das du und deine seltsamen Kumpel euch ergaunert?«
»Lass meine Freunde aus dem Spiel!«
»Freunde?« Horst Rupert wurde von einem neuen Lachen geschüttelt. »Das sind höchstens solange deine Freunde, wie du nach deren Pfeife tanzt. Wenn mal eins von euren krummen Geschäften in die Hose geht, dann stehst du danach ganz alleine im Regen. Du wirst sehen, Junge.«
»Sprach der große Taxifahrer, der sich in dieser Welt so unheimlich gut auskennt«, verspottete der junge Mann seinen Vater. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was in diesem Leben zählt und was nicht.«
»Aber du, ja? Ihr vergreift euch heute am Eigentum anderer oder schlagt morgen irgendeinem Typen den Schädel ein, nur weil der irgendwo auf sein gutes Recht pocht.« Horst Rupert stand kopfschüttelnd mitten in seiner Küche. »Und ausgerechnet du willst mir erklären, was zählt? Du?«
»Ich hab die Kohle ehrlich verdient.« Mittlerweile stand Rupert junior vor dem Küchentisch und schob eilig die Scheine zusammen, um sie in seiner Tasche verschwinden zu lassen. »Du denkst doch immer, ich hätte irgendwo ein krummes Ding gedreht, nur, weil ich mal ein paar Mark in der Tasche hab. Was wäre denn, wenn ich schon seit zwei Monaten auf dem Großmarkt arbeite?«
»Wäre klasse, wenn es sich dabei um die Wahrheit handeln würde.«
»Und woher willst du wissen, dass es nicht die Wahrheit ist?«
»Weil ich von meinen Kollegen fast jeden Tag etwas anderes höre, Martin! Du scheinst vergessen zu haben, wo ich arbeite. Es gibt keinen Tag, an dem du dich nicht auf dem Kiez herumtreibst!«
»Du und deine scheiß Mischpoke. Wenn da einer einen Furz lässt, dann weiß das fünf Minuten später jeder über Funk und freut sich mit dem Glücklichen. Ihr kotzt mich an, du und deine armseligen Kollegen!«
»Damit wäre noch immer nicht meine Frage beantwortet, woher du das Geld hast. Wenn du es mir nicht sagst, dann gehe ich zur Polizei und hol mir dort die Antwort.«
»Du würdest allen Ernstes zu den Bullen marschieren und deinen eigenen Sohn anschwärzen?« Rupert junior stand mit hängenden Schultern vor dem Küchentisch und schüttelte den Kopf, während er seinen Vater musterte. »Dein eigen Fleisch und Blut verraten, nur, weil dein Verstand zu klein ist, um zu verstehen, womit die großen Jungs in dieser Welt spielen?«
»Ich frage mich gerade, von wem du solche bekloppten Sprüche hast. Vermutlich stammt dieser Müll von deinen Möchtegern-Ganoven. Woher sonst?«
Statt seinem Vater eine Antwort zu geben, machte der Sohn kehrt, um sein Heil in der Flucht zu suchen.
»Vielleicht hast du mich nicht verstanden. Ich will wissen, woher du das Geld hast.« Rupert senior schaffte es, seinen Sohn noch vor der Wohnungstür abzufangen. Es sah aus, als drückte ein Zwerg einen Riesen gegen die Wand. »Sag mir, woher du das Geld hast, sofort!«
Wieder bekam der Vater keine Antwort. Stattdessen spürte er die Hände seines Sohnes, die ihn packten und quer durch den Flur schleuderten. Horst Rupert schlug am Ende seiner Reise sogar mit dem Kopf gegen das kleine Telefonschränkchen. Obendrauf kippten die gesammelten Bilder der Familie wie Dominosteine um. Ein großes Porträt von Elke Rupert landete auf dem Boden und zerbarst mit lautem Getöse. Kurz darauf krachte die Wohnungstür ins Schloss; zurück blieb ein ratloser Vater.
»Was willst du deiner Mutter eigentlich zu Weihnachten schenken, Manni?« Kallsen blätterte wie üblich in seiner Zeitung. Seit dem Mittagessen hatte er sich kaum bewegt und schaute bei seiner Frage nicht einmal auf. »Es sind nur noch zehn Tage. Da sollte ein Sohn wissen, womit er seiner Mutter eine Freude macht.«
»Weiß ich doch!«, blaffte Wegner zurück. »Am 23. lauer ich dir hinter ’ner Ecke auf und erlös uns alle vom Schicksal deiner Existenz.«
»Dann back ich dir einen extra schönen und großen Kuchen, Manfred«, frotzelte Irmgard von hinten. »Nein! … ich back dir zwei.«
Statt zu antworten, steckte Kallsen seinen Kopf noch tiefer in die Zeitung. Wegner wollte gerade etwas hinterherschicken, als es an der Tür klopfte. Ein junger Mann, schwer bepackt mit einigen Paketen und Umschlägen, schob sich ins Büro der Mordkommission und stand kurz darauf vor den Schreibtischen. »Sitzt hier ein Manfred Wegner?«, fragte er keuchend.
»Nicht mehr lange!«, moserte Kallsen zurück. »Wat haste denn für uns, mien Jung?«
»Der Umschlag ganz oben kommt von der Polizeihochschule. Keine Ahnung, was da drin ist«, erwiderte der Bote eher lustlos, während er den ganzen Stapel auf einem der Schreibtische ablud. Jetzt wedelte er mit dem Empfangsschein herum. »Ich brauch ’nen Kaiser Wilhelm von einem der Herren.«
»Das sind deine Klausuren, Manfred«, jubelte Irmgard. »Endlich!«
»Gib mal her!«, murmelte Kallsen. »Ich unterschreib dir den Wisch.« Der Hauptkommissar nahm den Umschlag grinsend entgegen und ließ ihn danach auf seinen Schreibtisch klatschen. Blitzschnell parkte er seine Unterschenkelprothese darauf und tauchte wieder voll in seine Zeitung ein.
»Ist das richtig so?«, erkundigte sich der Paketbote skeptisch. Er schaute Wegner und Irmgard abwechselnd an, bekam jedoch nur ein gemeinsames Kopfschütteln als Antwort. »Dann bin ich mal lieber weg.«
»Gib uns sofort den Umschlag!«, fauchte Irmgard bereits zum dritten Mal.
Kallsen schaute die Schreibkraft völlig unbeeindruckt an. »Und was willst du machen, wenn nicht?«
Wegner gestikulierte aufgeregt im Hintergrund. Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung stand unmittelbar bevor.
»Zuerst mal werden Manfred und ich meinen Schokoladenkuchen heute alleine essen.«
»Na und? Dann geh ich eben in die Kantine und hol mir ein Stück von dem leckeren Butterkuchen. Den bekommst du nur selten so gut hin, Irmilein.« Der Hauptkommissar wirkte bei dieser Bemerkung noch immer relativ gelassen.
»Ich hab warmen Kakao in meiner Thermosflasche und wollte nachher Sahne dazu schlagen«, sinnierte Irmgard vor sich hin. Mittlerweile schaute sie nur noch Wegner an. »Diese leckere, mit Vanille drin.«
»Die liebt Rex auch«, presste Wegner lachend heraus. Er deutete auf den Schäferhund, der mit zitternden Pfoten in seinem Korb lag und das Scharmützel völlig verschlafen hatte. »Der wird sich freuen, wenn er Kalles Portion bekommt.«
»Dann nehmt doch Mannis gesammelte Lügenmärchen und macht damit, was ihr wollt«, knurrte Kallsen. Er packte seine Prothese mit beiden Händen zugleich und ließ sie auf den Boden krachen. »Irgendwann werden sie euch beide noch dranbekommen – wegen Erpressung und dich obendrein wegen Betrugs«, ging es in Wegners Richtung weiter.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schnappte sich Irmgard den Umschlag und riss ihn sofort mit zitternden Fingern auf. Kurze Zeit später tanzte sie mit dem Deckblatt quer durchs Büro und umschlang Wegner mit beiden Armen, nachdem der sich ebenfalls hochgestemmt hatte. »Bestanden, Manfred! Du hast die Zwischenprüfung bestanden.«
»Fragt sich nur, wie viel davon er selbst verzapft hat«, unterbrach Kallsen den aufkeimenden Freudentaumel. »Das hat doch alles deine Lehrerin verfasst, diese Angela. Wenn ihr mich fragt, dann ist das eine reine Schmierenkomödie.«
»In Kriminaltechnik und Personalorganisation hab ich fast die Hälfte selbst geschrieben«, protestierte Wegner halbwegs energisch.
»Und den Rest?«
»Dabei hat mir Angela schon ein bisschen geholfen«, gab der junge Kommissar kleinlaut zurück.
»›Ein bisschen geholfen‹ ... ich lach mich tot.« Kallsen schlug sich mit der Hand gegen den Kopf. »Was die anderen Klausuren angeht, hast du es gerade noch mit Mühe und Not geschafft, die eigenhändig zu unterschreiben. Mehr nicht!«
»Jetzt gönn ihm doch den Erfolg, Kalle!« Irmgard fingerte an ihrer großen Einkaufstasche herum und zog eine Kuchenform heraus. »Außerdem hast du es doch erst möglich gemacht, dass Manfred die Klausuren zu Hause schreiben durfte. Ohne dich …«
»Und das ist der Dank dafür«, monierte Kallsen kurze Zeit später. Er deutete auf ein schmales Stück Schokoladenkuchen, das Irmgard soeben vor seiner Nase auf dem Schreibtisch abgestellt hatte. »Soll ich hier verhungern, oder was? Man kann ja die Zeitung durch das dünne Stück lesen.«
»Hoffentlich bleibt es bis Weihnachten so ruhig«, meinte Kallsen schmatzend. Mittlerweile beschäftigte er sich mit dem dritten Stück Schokoladenkuchen. Irmgard füllte seinen Becher zum zweiten Mal mit Kakao und garnierte den mit einem Berg Schlagsahne.
»Warum sollte denn einer ausgerechnet zu Weihnachten einem anderen was Böses wollen?«, plapperte sie vor sich hin und schaute danach Wegner an. »Jetzt mal ernsthaft, Manfred, hast du schon ein Geschenk für deine Mutter?«
»Sie bekommt jedes Jahr von mir warme Socken und ein neues Teil für ihren Setzkasten. Außerdem«, Wegner deutete grinsend auf sich selbst, »… bin ich nicht eigentlich Geschenk genug?«
Kallsen hob den Kopf und runzelte die Stirn. Er meinte wohl, eine Antwort sei überflüssig.
»Ich hab übrigens auch einen Setzkasten und sammle diese kleinen Tierchen aus Bernstein, falls sich einer der Kollegen Gedanken darüber macht, was er mir schenken will.«
»Keine Angst, Irmgard! Darüber macht sich hier niemand Gedanken.« Kallsen grinste im Kreis. Selbst Wegner konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und erntete nun ebenfalls einen giftigen Blick seiner Kollegin.
»Das ist unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest in dieser Abteilung«, stellte Irmgard mit theatralischer Stimme fest. »Wenn ich von euch kein Geschenk bekomme, dann könnt ihr euch im Januar nach einer neuen Schreibkraft umsehen.«
»Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?«, wollte Kallsen wissen.
»Beides! Und warte ab – wenn ihr zwei tatsächlich nichts für mich habt, dann ...«
»Was ist eigentlich zwischen den Tagen?«, warf Wegner in den Raum. »Wenn es weiterhin so ruhig bleibt, könnten wir die Bude doch von außen abschließen und mal ein paar Tage Urlaub machen. Ansonsten nehme ich zweieinhalb Wochen mit ins nächste Jahr.«
»Einer muss die Stellung halten, Jungchen«, gab Kallsen gähnend zurück. »Deine Mutter und ich haben beschlossen, zusammen an die Ostsee zu fahren. Wäre also nett, wenn du mal für mich einspringen könntest.«
»Mal einspringen?« Wegner starrte Irmgard und Kallsen abwechselnd fassungslos an. Diese seltsame Liaison zwischen seinem Chef und seiner Mutter hielt nun schon fast ein Jahr. Kommentare dazu hatte er sich längst abgewöhnt oder schluckte sie herunter. »Und wann bitte soll ich Urlaub machen? Vielleicht im Januar, wenn ich ohnehin keine Kohle hab, weil alle Rechnungen gleichzeitig ins Haus flattern?«
»Das ist alles nur eine Frage der Organisation. Die Klausur hast du ja schließlich fast zur Hälfte selbst geschafft«, plärrte Kallsen kopfschüttelnd zurück. »Wenn du heute was beiseitelegst, dann kannst du davon morgen Urlaub machen.«
»Bin ohnehin fast pleite«, gab Wegner frustriert zu. »Meine neue Bude frisst mir die Haare vom Kopf – wenn das so weitergeht, muss ich mir ’nen Untermieter suchen.«
»Das gibt doch nur Streit, Jungchen. Du kommst doch hier schon mit keinem aus.«
Wegner schaute erneut zu Irmgard hinüber, die unaufhörlich mit dem Kopf schüttelte. »Wenn ich ihn jetzt erschießen würde …?«
»… dann hab ich nichts gesehen und gehört, Manfred. Garantiert nicht!«, vollendete Irmgard.
»Von unseren Jungs hat ihn keiner gesehen, Horst. Tut mir leid!« Renate Möller lächelte gequält. »Ich nerve alle Fahrer jetzt schon, seitdem du mich heute Mittag angerufen hast – ohne Ergebnis.«
Horst Rupert hatte seiner Kollegin in der vergangenen halben Stunde umfangreich sein Herz ausgeschüttet. Selbst die zwei Ohrfeigen, die er seinem Sohn verpasst hatte, konnte er ihr am Ende nicht verschweigen. »Ich hätte ihn gestern Abend nicht einfach so gehen lassen dürfen«, stellte der Mann mit trauriger Stimme fest. »Er ist und bleibt mein Junge, ganz egal, was er tut.«
»Trotzdem ist es kein Beinbruch, wenn einem mal die Hand ausrutscht«, warf Renate relativ gelassen ein. »Meine beiden Jungs haben von ihrem Vater auch oft genug was an die Ohren bekommen.«
»Und?«
»Geschadet hat’s ihnen auf jeden Fall nicht.«
»So was darf einfach nicht passieren!«, fuhr Rupert unbeirrt fort. »Elke hätte mir anständig Feuer unterm Arsch gemacht, wenn sie …«
»Elke ist seit über vier Jahren tot, Horst.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Rupert nahm einen großen Schluck Kaffee und donnerte seinen Becher danach etwas zu heftig auf den Tisch zurück. »Sei mir nicht böse, Renate … ich hab heute einfach keinen guten Tag.«
»In ’ner Viertelstunde ist es sechs, dann beginnt deine Nachtschicht«, erwiderte die Frau unverändert heiter. Es gehörte schon mehr dazu, um ihre gute Laune zu ersticken. »Wenn du erst mal auf der Straße bist, dann sieht die Welt ganz anders aus. Du brauchst ein bisschen Ablenkung.«
Horst Rupert stand vor seiner Kollegin und schaute zu ihr hinunter. »Wäre lieb, wenn du bei den guten Touren an mich denkst, Netti.« Er schaffte es, ein Lächeln zu produzieren. »Falls sich die Nacht lohnt, steck ich dir morgen früh wieder einen Zwanziger in dein Sparschwein, versprochen!«
»Ich gehe heute erst gegen zehn. Soll ich mich weiter umhören, ob einer was von Martin gesehen hat?«
Rupert nickte müde. Er legte seiner Kollegin eine Hand auf die Schulter und lehnte sich fast auf sie. »Ich weiß nicht, warum – aber irgendwie hab ich ein schlechtes Gefühl.«
»Mach dir keine Sorgen, Horst! Wenn du morgen früh nach Hause kommst, dann liegt Martin in seinem Bett und schläft seinen Rausch aus. Das ist doch immer so bei den jungen Leuten.«
»Ich hoffe, du hast recht. Ich hoffe es!«
***
»Das sind aber Preise hier – Donnerwetter!« Angela klappte die Speisekarte zu und schaute Wegner zweifelnd an. »Hier kostet eine Vorspeise mehr als ein Hauptgericht bei meinem Lieblingsitaliener.«
»Daran soll es heute nicht scheitern, Mädchen. Immerhin gibt es etwas zu feiern.« Wegner hatte sein Konto fast bis zum Anschlag überzogen – und das, obwohl noch ein gutes Stück vom Monat übrig war. Selbst das Weihnachtsgeld hatte kaum für Besserung gesorgt, sondern war für lange überfällige Anschaffungen draufgegangen.
»Ein Wunder, dass sich eure Chefetage derart an der Nase herumführen lässt. Ich hätte nicht geglaubt, dass wir damit einfach so durchkommen.«
Wegner klatschte in die Hände und lachte röhrend. Ein älteres Ehepaar am Nebentisch schaute kopfschüttelnd hinüber und schimpfte vor sich hin. »Die Prüfer sind Holzköpfe«, stellte er unverändert lachend fest. »Wenn das bei der Abschlussprüfung genauso läuft, dann kann ich mir hinterher einen Posten in der Führungsetage aussuchen.«
»Also hast du nicht vor, etwas an deiner Arbeitsmoral zu ändern? Und ich könnte eigentlich schon anfangen, deine letzten Klausuren zu schreiben, richtig?«
»Ist dagegen etwas einzuwenden?«, erkundigte sich Wegner vorsichtig. Jetzt griff er nach Angelas Händen und streichelte beide gleichzeitig. »Ist doch perfekt gelaufen, meine kleine Heldin.«
»Ich kann dich nicht verstehen. Du scheinst keinerlei Ehrgeiz zu haben, sonst würdest du …«
Wegner hob die Hand, um seiner Freundin Einhalt zu gebieten. »Und ich weiß nicht, ob du dich erinnerst … bei diesem Job in der Mordkommission ist niemals Feierabend.«
»Wann hattet ihr denn euren letzten Mordfall?«
»Das war die Sache mit der Tochter vom Justizsenator, vor etwa drei Monaten«, gab Wegner kleinlaut zurück. »Aber das ändert doch nichts. Wir sind schließlich auch für Prävention zuständig und arbeiten immer zeitgleich an einigen alten Fällen.«
Angela schwieg beharrlich. Sie nickte zwar, was ihre beiden knallroten Pippi-Langstrumpf-Zöpfe tanzen ließ, trotzdem blieb ihr Gesichtsausdruck unverändert skeptisch. Dafür wusste sie mittlerweile zu viel über den Alltag in der Mordkommission, der in erster Linie aus Kaffeetrinken und Augenpflege bestand.
»Aber, was soll das eigentlich bedeuten?«, erkundigte sich Wegner vorsichtig. »Willst du keine weiteren Klausuren mehr für mich schreiben, oder was?«
»Ich habe dir gesagt, dass ich zum Halbjahresende nach Karlsruhe umziehen will – zumindest vorübergehend.« Angela versuchte, Wegners Blicken auszuweichen. »Ich habe es dir gesagt, Manfred. Tausend Mal!«
»Ist das immer noch die Sache mit diesen Grünen?«
»Ja! … Es ist immer noch die Sache mit diesen Grünen«, äffte Angela ihn giftig nach. »Im Januar geht es los und ich werde eines der Gründungsmitglieder sein.« Mittlerweile war ihr Gesicht rot vor Wut. »Im Gegensatz zu dir habe ich gewisse Ideale und bin bereit, etwas dafür zu tun.«
»Aha.« Wegner konzentrierte sich jetzt vollständig auf die Speisekarte. Immer, wenn solche Diskussionen anstanden, zog er am Ende ohnehin den Kürzeren, weil seine Freundin sich grundsätzlich in Rage redete.
»Es geht darum, das Schlimmste zu verhindern, Manfred: Krieg, Atomkraft, diese ganze verdammte Umweltverschmutzung. Juckt es dir da nicht auch manchmal in den Fingern?«
Wegner klappte die Speisekarte geräuschvoll zu. Danach schaute er Angela eine Zeit lang durchdringend an. »Ich glaub, ich nehm die Lasagne.«
»Was willst du eigentlich machen, wenn ich unter der Woche in Karlsruhe bin?« Angela und Wegner standen vor der Tür des Restaurants. Das Essen hatten sie weitestgehend schweigend genossen. Eine seltsame Spannung lag in der Luft, die sich mit einfachen Mitteln augenscheinlich nicht zerstreuen lassen wollte.
»Was soll ich schon machen?«, entgegnete Wegner etwas zu gereizt. »Ich warte die Woche über auf dich und höre mir am Samstag und Sonntag an, wie du die Welt gerettet hast.«
»Ich finde das nicht besonders lustig, Manfred! Manchmal habe ich das Gefühl, als ob wir zwar wunderbar miteinander …« Die letzten Worte verschluckte Angela. »Nur, was wesentliche Dinge angeht, liegen wir momentan scheinbar nicht auf einer Wellenlänge.«
»Das war bis vor Kurzem noch kein Problem.« Wegner lachte verbittert. »Und entschuldige bitte, dass ich nicht das Bedürfnis habe, mich mit dir über meine Arbeit zu unterhalten. Oder interessiert es dich vielleicht, warum ein Familienvater aus Lokstedt meint, dass er seiner Frau und den Kindern etwas Gutes tut, wenn er sie mit einem Schlachtermesser aufschlitzt?«
»Das meine ich nicht, Manfred, und das weißt du ganz genau.«
»Was meinst du dann? Du wusstest doch von Anfang an, dass ich nicht der Typ bin, der am Sonntag mit Latzhose und Karohemd auf die Straße geht, um für die Freiheit der Pinguine bei Hagenbeck zu demonstrieren. Oder habe ich dir vielleicht jemals was vorgemacht?«
Angela schien noch auf ihrer nächsten Antwort herumzukauen, da legte Wegner ein weiteres Mal nach: »Du willst nach Karlsruhe – na gut! Falls du deine Pläne auch als Vorwand nutzen möchtest, um unsere Beziehung zu beenden, dann kann ich es nicht ändern.« Er lachte schon im Voraus über seine folgenden Worte: »Und wenn du lieber mit irgendeinem langhaarigen Müsli-Junkie auf Walfischen reiten willst, werde ich dich garantiert nicht davon abhalten. Du wusstest, worauf du dich mit mir einlässt.«
»Das klingt für mich aber nicht so, als ob du große Lust hättest, auf mich zu warten«, erwiderte Angela in bissigem Ton. »Außerdem finde ich es nicht nett von dir, wenn du dich über meine Ziele lustig machst.«
»Ich mache mich nicht lustig, sondern sage einfach nur die Wahrheit. Es kann schließlich nicht jeder herumlaufen und den Anspruch haben, die Welt zu retten. Ich tue auch Gutes in meinem Job!«
Angela verzichtete auf eine Antwort und runzelte nur die Stirn.
»Ich fange Mörder.« Wegner betonte jedes einzelne Wort. »Vielleicht erinnerst du dich noch: Vor einigen Monaten wollten dir ein paar deiner Musterschüler ans Leder. Ohne uns wäre es damals verdammt eng für dich geworden.«
»Darauf können wir aber nicht bis zum Ende unserer Tage herumreiten, Manfred. Es geht im Leben um größere Dinge, aber das scheinst du nicht zu verstehen.«
»Wenn du meinst.«
»Ja, das meine ich.«
Renate Möller schaute auf ihre Liste und nickte zufrieden. Alle Fahrer waren beschäftigt, und sie hatte noch diverse Touren in der Hinterhand, die sie notfalls auch an ihre Ablösung weitergeben könnte. Der Abend hatte gut angefangen. Wenn es den Rest der Nacht so weiterliefe, dann würden die meisten Fahrer am Ende ihrer Schicht sicherlich an ihr Trinkgeld-Sparschwein denken. Nur noch zwei, vielleicht drei Wochen, dann hätte sie genug Geld gespart, um sich den hübschen Wintermantel zu kaufen, den sie in einem Schaufenster in der Mönckebergstraße gesehen hatte.
»Netti … kannst du bitte mal nachfragen, was in der Talstraße los ist. Hier geht seit fünf Minuten nichts mehr vor oder zurück.«
Das Krächzen aus dem Funkgerät hatte Renate Möller sogar einen kleinen Schrecken eingejagt. Gedanklich war sie gerade in den Mantel geschlüpft und sah sich darin schon – als heimliche Prinzessin von Hamburg-Barmbek – durch die Straßen flanieren. »Bist du es Paul?«, presste sie jetzt heraus.
»So ist es. Frag doch bitte mal nach! Ich kann nicht mal mehr wenden und mein Fahrgast hat’s eilig.«
»Warte einfach, ich rufe in der Davidwache an.« Renate Möller ließ den Finger auf dem Sendeknopf ihres Mikrofons, so dass der Fahrer mithören konnte. Mit der anderen Hand hatte sie längst den Hörer abgehoben und gewählt.
»Möller hier, vom Taxi-Ruf … habt ihr was Besonderes in der Talstraße? … Okay, ich warte.«
Einige Sekunden vergingen. Vermutlich musste der Beamte in der Wache sich selbst erst mal erkundigen, um ihr eine halbwegs verlässliche Information geben zu können. »Das wird dauern!«, gab der Polizist dann irgendwann in seltsamem Ton zurück.
»Was ist denn los? Ein Unfall, oder was?«
Der Beamte zögerte noch einen Moment lang, entschied sich dann jedoch für die Wahrheit: »Die Streifenkollegen haben eine Leiche gefunden. Wir warten auf den Staatsanwalt und die Mordkommission. Eure Fahrer sollten die Ecke am besten meiden.«
»Danke!« Renate Möller fühlte sich wie gelähmt. Irgendetwas in ihr schürte böse Vorahnungen. Auch wenn es völliger Blödsinn und in einer Millionenstadt wie Hamburg mehr als unwahrscheinlich war.
Ein doppelter Gong wies darauf hin, dass jemand per Funk anklopfte. Eilig nahm Renate den Finger vom Sendeknopf am Mikrofon und horchte in den Lautsprecher. »Haste mich vergessen?«, erkundigte sich dieser Paul mürrisch.
»Das kann auf jeden Fall dauern. Die Polizei sperrt gerade einen Tatort ab.«
»Was heißt das, ›Tatort‹? Haben sie wieder einem die Rübe weggepustet?«
»Ich hab keine Ahnung, Paul! Du musst warten und ich hab zu tun.«
»Ist ja gut, Mädchen, bleib friedlich!«
***
Diesen Feierabend und den damit verbundenen Start ins Wochenende hatte sich Wegner ganz anders vorgestellt. Nach dem Essen beim Edel-Italiener sollte es eigentlich in Angelas kleiner Wohnung weitergehen. Auch wenn sie sich immer häufiger kabbelten, so gab es andere Unternehmungen, bei denen sie deutlich besser harmonierten. So bieder, wie die junge Lehrerin nach außen wirkte, umso entspannter und hemmungsloser war sie, wenn es um horizontale Aktivitäten ging. Ähnlich wie bei einem Vulkan, dem man heute ja auch nicht ansah, dass er morgen ausbrechen wollte.
Aber das hatte sich wohl erst mal erledigt!