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AUGENBLICKE DES BÖSEN Nach dem Unfalltod ihres Mannes macht Kathrin Claussen in dessen Arbeitszimmer eine verstörende Entdeckung. Zutiefst beunruhigt beauftragt sie einen Privatdetektiv, der gemeinsam mit einer ehemaligen Ermittlerin der Mordkommission Verbindungen zu einem ungeklärten Fall entdeckt. Zur selben Zeit erhält Autor Eric Teubner von der Millionenerbin Amelie Simon das zweifelhafte, aber finanziell reizvolle Angebot, ein Buch über das Lebenswerk ihres Großvaters Jonathan Simon zu verfassen. Der alte Skandalregisseur abstoßender Filme erweist sich während der Zusammenarbeit als anstrengend und manipulativ, während seine Enkelin Eric zunehmend in ihren Bann zieht. Erste Recherchen für das Buchprojekt wecken den Verdacht, Simon könnte als künstlerisches Vermächtnis einen unfassbaren Tabubruch begangen haben. Außerdem machen Eric die Abgründe der eigenen Vergangenheit zu schaffen. Am Ende fügen sich die Augenblicke des Bösen zu einer düsteren Wahrheit zusammen.
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Seitenzahl: 744
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jeder gute Regisseur weiß, dass Filme einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Jean-Luc Godard
Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in Dir herumzutragen.
Maya Angelou
Prolog: Filmbilder
Kapitel 1: Trauer
Kapitel 2: Motive
Kapitel 3: Zwischentöne
Kapitel 4: Männerclub
Kapitel 5: Innen
Kapitel 6: Nähe
Kapitel 7: Weichenstellung
Kapitel 8: Leidenschaft
Kapitel 9: Verflechtungen
Kapitel 10: Enthüllungen
Kapitel 11: Puzzleteilchen
Kapitel 12: Lust
Kapitel 13: Plötzlich
Kapitel 14: Wahrheiten
Kapitel 15: Trotz
Kapitel 16: Liebe
Kapitel 17: Freundschaft
Kapitel 18: Essen
Kapitel 19: Zweifel
Kapitel 20: Collateralschäden
Kapitel 21: Intim
Kapitel 22: Entscheidungen
Kapitel 23: Vermächtnis
Kapitel 24: Alleingänge
Epilog: Nachlass
Danksagung
Der alte Mann verbrachte viel Zeit im Keller seiner Villa. Im hinteren Bereich hatte er sich vor einigen Jahren ein kleines Privatkino einrichten lassen, das er wegen seiner oft müden Beine auch über einen Treppenlift bequem erreichen konnte. Inzwischen war die Welt der Filme für ihn authentischer geworden als der Rest Leben, der ihm noch blieb.
Einmal in der Woche kam die Haushaltshilfe, deren Nationalität und Namen er sich nicht merken konnte. Amelie hatte die Frau gegen seinen erbitterten Widerstand durchgesetzt. So lief es in dieser Welt, mit der er nichts mehr anfangen konnte: Das Blatt entmündigte die Wurzel! Und das, nachdem er Jahrzehnte den Ton angegeben hatte, im kreativen Dauerkonflikt mit Drehbuchautoren, Schauspielern, Kameraleuten, Kritikern und all den anderen Ahnungslosen, die von seinen Visionen gelegentlich überfordert schienen.
Der von Amelie beauftragten Haushaltshilfe war anzumerken, wie unwohl sie sich in seiner Nähe fühlte. Das begann ihn zureizen und wieder in die Wirklichkeit zu locken. Sobald die nervöse Frau die Villa betreten hatte, folgte er ihr auf Schritt und Tritt und beobachtete jede ihrer Handlungen. Anfangs, weil er ihr misstraute und befürchtete, sie bedrohe die gewohnte Unordnung in den Räumen. Im weiteren Verlauf aber weckte ihre Anwesenheit wieder den Filmemacher in ihm. Dabei hatte er den eigentlich nach seinem letzten Film endgültig beerdigt, weil er nicht mehr daran glaubte, für weitere Projekte noch ausreichend Kraft und Ausdauer zu haben. Sein künstlerisches Vermächtnis war umfassend, drastisch und umstritten. Da hatte er es schon vor Jahren als angebracht empfunden, einen Schlussstrich zu ziehen. Doch die scheue Haushaltshilfe ohne nennenswerte Deutschkenntnisse erweckte den einstigen Skandalregisseur zu neuem Leben.
Nach seiner Ansicht verschwand die Persönlichkeit eines Menschen oft deutlich früher als der Körper, also das, was das Menschsein in seinen Augen überhaupt erst ausmachte. Wenn der Sportler keinen Sport mehr treiben konnte, der Autor keine Bücher mehr schrieb, der Maler nicht mehr malte, der Regisseur keine Filme mehr drehte. So wurde die Verfolgung der Haushaltshilfe zu einer Art Wiedergeburt. Die plumpe Frau mochte Ende Fünfzig sein, mit dichtem, grauem Haar, unstetem Blick und einem von kleinen Fältchen umrahmten, lebensmüden Mund. Sie trug verwaschene Kleidung, immer etwas zu eng, und entsprach überhaupt nicht seinem bevorzugten Frauentyp. In der glanzvollen Vergangenheit hatte er sich am liebsten mit Schönheit und Jugend umgeben. Nur in seinen Filmen hatte er Schönheit und Jugend zerstört, gedemütigt, zerstückelt, sie gehäutet, ihr die Brüste abgeschnitten, sie vergewaltigt und mit dem Blut der cineastischen Opfer sein nächstes Drehbuch verfasst. Seine Filme hatten immer wieder Entsetzen und Verstörung hervorgerufen, waren auf Festivals und Premieren ausgebuht und hitzig diskutiert worden. Man hatte sie bejubelt, verboten, geliebt und gehasst, verstümmelt und verachtet, sie zur Kunst erhoben oder als Perversion eines Psychopaten in Grund und Boden verdammt. Einige kluge Köpfe hatten die Symbolik seiner Filmsprache zu entschlüsseln versucht, aber die Mehrheit hatte sich seinen Filmen so verweigert, als wären sie das Werk Satans und ansteckend wie die Pest.
Ein Münchner Journalist hatte ihn als cineastischen Triebtäter bezeichnet, der mit seiner abartigen Fantasie nicht nur die Leinwände der Kinos besudele, sondern auch die Kritiker zu einer hässlichen Wortwahl zwänge, wenn sie seinen Bildern und Ideen einigermaßen gerecht werden wollten. Würde das Böse Filme drehen, wären sie ungefähr von dieser Art!
Solche Reaktionen waren es, die den Filmemacher besonders antrieben und beflügelten. Tobende Kritiker, entsetzte Kinobesucher. Schauspieler, die nach der ersten Zusammenarbeit nie wieder mit ihm drehen wollten oder mit Klage drohten, weil sie ihren guten Namen und ihr Gesicht vor dem schockierenden Ergebnis retten wollten. Aber das war lange her. Heute musste sich der alte Mann auf anderen Wegen motivieren.
Das Studium einer kleinen verunsicherten Frau, immer darum bemüht, sich so rasch wie möglich aus seiner Nähe zu putzen, inspirierte ihn auch jetzt noch zu aufregenden Szenen. Der amerikanische Filmregisseur Howard Hawks hatte einmal betont, er prüfe bei jedem neuen Drehbuch zunächst, ob sich daraus eine Komödie machen ließe. Dieser Ansatz ließ sich variieren, denn man konnte bei jedem Drehbuch ebenso gut fragen, ob es das Potenzial für einen Schocker bot.
Der Alte trieb die Haushaltshilfe mit seiner imaginären Kamera vor sich her. Sie fürchtete sich vor seiner penetranten, schweratmenden, tippelnden Anwesenheit, die sie weder verstand noch lange ertrug. Das freute ihn und spornte seine Fantasie an. Immer wieder stellte er sich die arme Frau skalpiert vor, nackt und geschändet, davonkriechend, blutend und misshandelt, um Gnade winselnd. Ein kunstvoll arrangiertes blutiges Spektakel in wuchtigen Bildern erzählt, die das fassungslose Publikum in die Kinosessel pressten, als säßen sie in einer Achterbahn durch die Hölle.
Am Ende aller Qualen wurde die kleine Frau von einem maskierten Hünen mit einer Kreissäge zerteilt, gebraten und verspeist. Kannibalismus als Symbol der ultimativen Regel: Die Starken fraßen die Schwachen, die Großen die Kleinen, die Jungen die Alten, die Männer die Frauen, die Monster die Putzfrau. So viel zur Symbolik! Doch sobald man den Moralisten einen Spiegel vor die Nase hielt, verkrochen sie sich hinter der Zensur, die political correctness wie einen Vorschlaghammer schwingend, oder verließen empört die Kinosäle. Verweigerung aber war die Reaktion der Puritaner, der ewig Gestrigen. Viel zu wenige besaßen den Mut, sich auf die Tiefe einzulassen, die hinter den drastischen Filmbildern auszuloten war. Eine optisch verschlüsselte Wahrheit. Das, worauf es wirklich ankam! Wer das Leben verstehen wollte, musste es mit den Augen des Todes betrachten. Darum ging es: wie man starb. An einem Fleischerhaken verblutend, von einer Axt zerstückelt, gehäutet oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Oder im Bett liegend mit gefalteten Händen, am Ende eines ungenutzten Lebens.
Eines Tages war der alte Mann auf die Idee gekommen, der Haushaltshilfe Geld zu bieten. Sie schien ihn erst nicht zu verstehen, aber das Wedeln mit Geldscheinen verbesserte die Verständigung. Fünfzig Euro für dieses, hundert Euro für jenes. Manchen Wünschen kam die Frau nur zögernd nach oder erst, wenn der Einsatz erhöht wurde. Bald durfte er die ersten Aufnahmen von ihr machen, mit seiner betagten Handkamera, bei deren Anblick sich ihre Augen vor Erstaunen weiteten. Mit diesem Ausdruck hätte er ihre Augäpfel gern aus den Höhlen geschnitten und in einem Glas aufbewahrt. Der alte Skandalregisseur war in seinem Element! Grenzen überschreiten, Tabus brechen. Den zufälligen Star seines neuesten Werks antreiben. Alles fordern. Eine naive Seele ausbeuten, schleichend entblößen. So steigerte er den Einsatz Woche für Woche. Sie hielt erstaunlich lange durch. Bis sie eines Tages nicht mehr kam.
Nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes hatte sie so perfekt funktioniert, wie alle es von ihr gewohnt waren. Kathrin Claussen, eine starke und gefasste Witwe. Die Frau, die sich mit siebenundvierzig Jahren eine unverändert aparte Ausstrahlung bewahrt hatte, da sah man ihr weder die zwei halbwegs erwachsenen Kinder an, noch eine über zwanzigjährige Ehe. Zwei Jahrzehnte Glück! Stetig bergauf. So hätte es weitergehen können … müssen! Ihr ganzes Denken und Handeln war darauf ausgerichtet gewesen. Gerade jetzt, da die Kinder flügge zu werden begannen, hätten sie ihrer Ehe eine neue Richtung geben können. Mehr reisen, mehr genießen, mehr erleben. Aber dann war Marc Opfer eines Verkehrsunfalls geworden, auf der A7, im letzten Wagen am Ende eines Staus hinter einem Wohnmobil. Ein LKW war ungebremst in seinen Audi gekracht, aus Gründen, die von der Polizei noch untersucht wurden. Der Fahrer war vermutlich abgelenkt gewesen, oder kurzzeitig eingenickt, hatte vielleicht von seiner Familie geträumt, hinter dem Steuer nicht mehr ausreichend konzentriert – was auch immer dazu geführt haben mochte, einen lebenslustigen Mann in eine Leiche zu verwandeln, die nicht mal mehr in einem Stück aus dem Autowrack geborgen werden konnte.
Nach dem Verlust eines Menschen durchleben Hinterbliebene in der Regel verschiedene Phasen der Trauer. Anfangs der Schock. Oft Lähmung, stundenlanges Weinen. Später folgen Anfälle von Zorn. Wut über die Ungerechtigkeit. Hadern mit Gott. Unverständnis für jene, denen es besser geht, die vorbeikommen, um Trost zu spenden, oft ohne den Hauch einer Ahnung von dem Schmerz zu haben, der in den Trauernden wütet. Dann wieder Resignation. Selbstaufgabe. Totaler Stillstand. Das stupide Starren in eine Leere, die andere Menschen nicht kennen, eine Leere, die durch die offenen Augen von draußen in den Kopf fließt.
Aber Kathrin klammerte sich an das, was sie von den Eltern vor allem anderen gelernt hatte: Haltung und Disziplin. Sie ließ sich nicht gehen, stand weiterhin jeden Tag früh auf, duschte, machte sich sorgsam zurecht, kleidete sich passend und stellte sich ihrem veränderten Dasein als unbeugsame Witwe. Sie kümmerte sich um alles, was nach Marcs Tod anfiel. Tröstete die Eltern, die Schwiegereltern, die Kinder Yvonne und Jaschar und gönnte sich nachts höchstens ein paar unterdrückte Verzweiflungsschreie in das Kissen. Marc hatte ihr eine finanziell abgesicherte Existenz hinterlassen. Ein abbezahltes Haus mit Grundstück im Hamburger Stadtteil Flottbek, klug angelegte Vermögenswerte und eine kleine, gesunde Castingagentur.
„Mach dir keine Sorgen“, pflegten Verwandte und Freunde nach seinem Tod gern zu sagen. Aber das war nicht der Punkt. Sie wollte einfach Zeit zum Trauern finden. Genau daran mangelte es, weil ständig jemand um sie herum war. Der Chef des Bestattungsunternehmens sprach mit ihr in mehreren Terminen alles durch, was die Beerdigung betraf. Der Pastor kam vorbei, um sie zu trösten und seine Rede für Marcs Beerdigung abzustimmen. Die Kinder, die trotz Volljährigkeit immer noch viel Unterstützung brauchten, forderten sie jetzt verstärkt. Tochter Yvonne steckte gerade in der Ausbildung und war noch nicht stabil genug, mit dem Tod des Vaters allein fertig zu werden. Letztes Jahr achtzehn geworden war sie trotzdem weit entfernt von echter Volljährigkeit. Sohn Jaschar hatte mit dreiundzwanzig Jahren zwar schon vor einiger Zeit eine eigene Firma gegründet, der Tod des Vaters aber hatte ihn und seine Schwester wieder in hilflose Kinder verwandelt, denen Kathrin Stärke vorleben musste. Auch die Polizei tauchte mehrmals auf. Nebenbei hatte sich Kathrin um die Zukunft von Marcs Agentur zu kümmern, um ihren Halbtagsjob in einer Galerie. Und pausenlos kamen Verwandte oder Freunde vorbei. Angeblich, um Trost zu spenden. Meist aber lief es dann genau umgekehrt. Kathrin fand keine Zeit für Tränen und kümmerte sich stattdessen um jene, die zum Trösten gekommen waren, und das mit ungebrochener Kraft. Sie wurde zum Felsen in der Brandung – eine von Trauer umflutete versteinerte Seele.
Auf der Beerdigung behielt sie die eisern beherrschte Miene vom Anfang bis zum Ende der Zeremonie bei, als wäre ihr Gesicht aus demselben Material wie der schlichte und stilvolle Stein, der in Kürze auf Marcs Grab platziert werden würde – auch darum hatte sie sich allein gekümmert.
Nach der Beerdigung ertrug sie die Trauerfeier bei Kaffee und Kuchen, von ihr im eigenen Haus organisiert. Ein Cateringservice leistete tadellose Arbeit. Während an manchen Tischenschon wieder verhalten gelacht wurde und aus einigen Gesprächen die Betroffenheit über den tragischen Anlass zu weichen begann, der sie hier und heute zusammengeführt hatte, trat Kathrin Claussen in die Mitte des Raumes. Dann tat sie das, was sie schon längst hatte tun wollen:
Sie schrie! Schrie sich die Seele – nein, eher die totale Verzweiflung aus dem Leib.
Ein Schrei, der nicht menschlich klang. Ein Schrei, der aus dem Zentrum ihrer Qual kam, aus einer Tiefe, die niemand der hier Anwesenden von ihr kannte. Auch nicht die Eltern oder die Kinder. Nicht einmal sie selbst. Weil sie bisher immer nur damit beschäftigt gewesen war, eine perfekte Ehefrau zu sein, die perfekte Mutter oder Tochter, verlässliche Freundin und engagiertes Mitglied der Gemeinschaft. Lächelnd. Geduldig. Zuversichtlich. Um Harmonie und Ausgleich bemüht. Ihre volle Aufmerksamkeit mehr auf andere gerichtet. Angepasst und flexibel. Zwischen allen Egos um sich herum hatte sie immer nur beflissen Türen geöffnet und Brücken gebaut.
Damit war ab heute Schluss. Kathrin schrie so lange, bis alle Gespräche verstummt waren. Bis Freunde, Bekannte und weniger Bekannte nach und nach betroffen das Haus verließen. Danach drängte sie auch ihre Eltern und Schwiegereltern zum Aufbruch. Zuletzt die Kinder. Tochter Yvonne, Sohn Jaschar und dessen Verlobte Iris, die immer mit dabei war, ohne besonders aufzufallen. Anfangs sperrten sich Sohn und Tochter, die eigene Traurigkeit als Sorge um die Mutter getarnt. Ob sie denn glaube, es täte ihr gut, gerade jetzt ganz allein zu bleiben. An diesem Tag! Sie bräuchte doch Trost, Unterstützung. Dein Schrei, Mama ...!
Jaschar wollte sie umarmen, aber sie lehnte jede Berührung ab, mit zur Abwehr erhobenen Händen, während sie immer wieder den Kopf schüttelte. Jetzt nicht!
Kathrin entdeckte in den geröteten Augen der drei jungen Menschen nichts, was ihr helfen konnte. Diese Kinder wollten nur nehmen, nichts geben. Sie schickte sie weg. Sollten sie in Jaschars und Iris‘ neuem Haus oder bei irgendwelchen Freunden trauern, bei denen sie sich eh schon ihr halbes Leben herumtrieben. Kathrin wollte diese eine besondere Nacht mit sich und ihrem Kummer allein sein. Ungestört! Ohne das Gefühl, auf jemand anderen Rücksicht nehmen zu müssen.
Sobald die ersehnte Ruhe eingekehrt war, hätte sie beinahe vor Freude gejubelt. Endlich allein in ihrem Haus. Jetzt konnte sie hemmungslos weinen. Erwartungsvoll setzte sie sich auf einen der vielen Stühle, die ohne jede Ordnung herumstanden, und sah sich um. Parallel zum überstürzten Aufbruch der Gäste hatte es der Cateringservice fertiggebracht, fast alle Spuren der Trauerfeier dezent zu beseitigen. Das meiste war verschwunden. Die Räume erinnerten wieder an den ursprünglichen Zustand. Kathrin konnte ihr Zuhause erkennen, und das steckte voller Erinnerungen an Marc und die glückliche Zeit mit ihm.
Sie war mehr als bereit, hier und jetzt sofort mit der persönlichen Trauer zu beginnen. Wartete. Gab sich Mühe. Richtete den Blick nach innen, um der ersten Schmerzwelle sofort nachzugeben. Aber wo immer sich Kummer und Tränen auch verkrochen hatten, sie regten sich nicht. Der Urschrei vorhin hatte ihre gesamte Gefühlswelt lahmgelegt. Der Nachhall war immer noch in ihr gefangen. Kathrin fühlte sich in ihren Grundmauern erschüttert, wie ein verlassenes Gebäude.
Unten im Gäste-WC betrachtete sie sich im Spiegel. Braune Augen, die größer wirkten, weil das Gesicht schmaler geworden war, eingefallen und blass, mit markanten Wangenknochen und spitzem Kinn. Das dunkelblonde Haar in einen strengen Knoten gezwängt, sie hatte es immer gern so getragen, auch während der guten Zeiten.
Marc hatte oft von ihrer klassischen Schönheit geschwärmt, schon damals, als sie ihn an der Uni entschieden auf Distanz gehalten hatte, weil er ihr zu oberflächlich vorgekommen war; dazu noch begehrt von viel zu vielen anderen Kommilitoninnen. Ein sportlicher Draufgänger mit Charme und Witz. Er hatte zu sehr ihrem Ideal entsprochen, um sich einfach so auf ihn einzulassen. Für solche Entscheidungen war sie prinzipiell zu vorsichtig gewesen. Aber Marc hatte nicht lockergelassen, hatte die richtigen Worte zur richtigen Zeit gefunden. Selbst, als Kathrin sein Lob ihrer klassischen Schönheit anzweifelte.
Er hatte von ihren hohen Wangenknochen geschwärmt, den ebenmäßigen Zügen, dem feinen Mund, auf dem ein Lächeln nie bedeutungslos wirkte, den aufmerksamen Augen – etwas zu dunkel, um sie durchschauen zu können – und dem makellosen Hals, geschaffen für wunderbaren Halsschmuck, mit dem er sie besonders gern beschenkte. Kathrin war ziemlich groß und schlank und in Pumps mit Marc fast auf Augenhöhe gewesen. Ob zu einer klassischen Schönheit auch ein eher kleiner Busen, ein ihrer Ansicht nach zu flacher Hintern und ein etwas zu breites Becken passe, hatte sie einmal von Marc wissen wollen, und da hatte er sie mit all seiner unbändigen Kraft und Lebenslust gepackt und auf eine Weise geküsst, die ihr bis heute noch in Erinnerung geblieben war. Genau wie seine beruhigende Nähe. Der Duft. Die Hände. Auch jetzt, vor dem Spiegel im Gäste-WC, während sie nach ersten Tränen in ihren unergründlich braunen Augen Ausschau hielt. Wo seid ihr, wenn man euch braucht?
Die klassische Schönheit von Kummer ramponiert. Trauer stand ihr nicht, betonte die Blässe und ließ sie kränklich aussehen. Ihr Mund schien in den letzten Tagen noch schmaler geworden zu sein. Hätte sie sich jemals für Eingriffe durch einen Schönheitschirurgen entschieden, dann an ihren Lippen! Die hatte sie sich schon immer etwas voller gewünscht. Das wäre ihr sogar wichtiger gewesen als ein größerer Busen oder ein praller Hintern.
Kathrin konzentrierte sich auf ihre Unterlippe. War da ein leichtes Zittern?
Weine!, trieb sie sich an. Weine endlich!
Die Stille wurde unerträglich; jetzt, da Kathrin begriff, dass sich genau diese Stille von nun an in ihrem Leben ausbreiten würde. Ab sofort musste sie nachts mit ihr ins Bett gehen und morgens mit ihr aufwachen. Eine Stille, die nie lachte, sie nicht abends nach dem Job zur Begrüßung küsste, umarmte und festhielt. Die sie nicht streicheln und lieben konnte, sie nicht morgens wachschmuste, mit piekenden Bartstoppeln. Eine Stille, die sich nicht unmelodisch pfeifend im Badezimmer rasierte, nicht den Toast anbrennen ließ, Zeitung auf dem Tablet las oder bereits während des Frühstücks mit zwei flinken Daumen erste Nachrichten ins Smartphone tippte. Diese Stille war wie der Tod. Sie ließ alles grau werden. Das Haus. Seine Räume. Kathrins Gedanken. Das Leben, das nun vor ihr lag.
Die Tränen kamen, als sie gerade auf dem Weg in die oberen Räume war. Als sie sich in Marcs Arbeitszimmer wie zu einer heiligen Stätte flüchtete, sich auf das Gästebett warf, in dem er manchmal schlief, wenn er bis tief in die Nacht gearbeitet hatte. Dieses Bett duftete so stark nach ihm, als hätte er es erst vor wenigen Minuten verlassen. Sie grub das Gesicht tief ins Kissen und weinte, dann umklammerte sie die Decke und weinte. Sie dachte an ihn und weinte. Er war ihr plötzlich so nahe, als läge er neben ihr, bereit sie zu umarmen und zu trösten, nachdem sie aus einem furchtbaren Traum aufgeschreckt war.
Ich habe geträumt, du wärst mit dem Wagen tödlich verunglückt, hätte sie ihm ins Ohr geflüstert, und er hätte sie festgehalten, gelacht und gesagt, dass solche Dinge doch nur in traurigen Filmen oder trostlosen Büchern geschähen.
Kathrins Weinen wurde zu einem Dammbruch. Es war das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, nach all der Disziplin, zu der sie sich die letzten Wochen gezwungen hatte. Davon war inzwischen nichts mehr übrig. Auch, weil Haltung in diesem Moment keinen Sinn mehr ergab.
Warum sie plötzlich den USB-Stick in der Hand hielt, konnte sie sich selbst nicht erklären. Unwirklich wie der Moment in einem Film, und gleichzeitig verbunden mit der Erwartung, es könne gleich jemand „Cut!“ rufen, damit sie ungestört weiterweinen konnte. Der Stick musste im Gästebett gelegen haben – warum auch immer. Es kam ihr wie ein Zeichen vor. Wie etwas, das sie vor dem Absturz in die tiefste Verzweiflung bewahren wollte. Mechanisch erhob sie sich, setzte sich an Marcs Schreibtisch, fuhr seinen Rechner hoch und schob den Stick in den passenden Anschluss. Mehrere Dateien wurden sichtbar. JPG-Dateien. Durchweg mit Datumsangabe und irgendwelchen Buchstabencodes, alles schon gut zwei Jahre alt. Sie klickte das erste Foto an. Marc. Mit einer jungen Frau im Arm, beide strahlend und sehr vertraut. Eine Arbeitskollegin? Nein! Sie kannte alle Mitarbeiterinnen aus Marcs kleiner Agentur. Vielleicht ein Modell, oder eine Schauspielerin? Sie klickte weiter und weiter, und mit jedem Bild verwandelte sich ihre Neugier über Erstaunen in Ungläubigkeit. Die Fotos zeigten meistens Marc. Häufig mit dieser äußerst hübschen und äußerst jungen Person. Als wären die beiden ein Paar. Auf einigen Fotos so eng umschlungen, wie sich nur Liebende präsentierten. Auf dem einen oder anderen Foto küssten sie sich sogar auf … intime Weise.
Dann eine Folge verwirrender Motive, auf denen die junge Frau nackt posierte, vor mehreren Personen mit venezianisch anmutenden Masken. Dann Marc und das unbekleidete Mädchen in ein ernstes Gespräch vertieft, sie den Kopf gesenkt, seine Hände auf ihren Schultern, sein Blick eindringlich. Dann Marc, der ihr von hinten eine Perlenkette um den Hals legte. Dann das Mädchen allein, irgendwie abwesend, mit einem Messer in der Hand.
Kathrin klickte sich nochmals durch die Fotos, dann wieder zurück und schließlich wahllos hin und her; kam sich vor wie ein Eindringling beim Ausspionieren eines fremden Lebens, das sie nichts anging.
Natürlich blieb die Option, es könne sich um das Casting einer Nachwuchsschauspielerin handeln, für Film, Fernsehen oder Werbung, eingebettet in Probeaufnahmen. Aber irgendwas an diesen Fotos wirkte beklemmend. Unecht. Böse. Bedrohlich. Alles entzog sich einer nachvollziehbaren Erklärung. Zumal Marcs Rolle rätselhaft schien. Was hatte er bei diesen Aufnahmen zu suchen?
Marc und das fremde Mädchen. Marc, ihr verstorbener Mann. Ein verstorbener Lügner? Ein Ehemann und Vater mit einer Geliebten, kaum älter als seine Tochter. Eine Affäre? In diesem Ausmaß? Eine Affäre, die er vor maskierten Menschen auszuleben wagte? Das Gegenteil von Diskretion, und so gesehen eher unwahrscheinlich. Aber Marc musste etwas getan haben, von dem sie keine Ahnung hatte. Die Fotos erzählten eine Geschichte. Vermutlich keine gute. Vielleicht sogar eine, die man lieber im Verborgenen ließ. Aber egal, was auch immer dahinterstecken mochte, warum hatte sie nie etwas bemerkt? Keine fremden Düfte an ihm. Keine Spuren an seiner Kleidung. Keine Reste eines Lippenstifts am Hemdkragen. Nicht mal das verräterisch lange Haar am Sakko. Nichts Fremdes in seinem Blick. Kein verlogenes Lächeln, kein geheimnisvoller Anruf oder irgendwelche Heimlichkeiten. Ihr war überhaupt nichts dergleichen aufgefallen. Nicht einmal etwas geahnt hatte sie. Aber hatte sie überhaupt jemals darauf geachtet?
Wie versteinert saß Kathrin vor dem iMac und versuchte mit aller Macht, die guten Erinnerungen an Marc festzuhalten. Doch obwohl es davon kein Foto gab, sah sie ihn plötzlich mit dem Mädchen lachend in ein Hotel verschwinden, in einer Bar angeregt plaudernd, hörte, wie er ihr die an seiner Frau erprobten Komplimente machte. Sah, wie er in Champagnerlaune mit diesem halben Kind in einem Hotelzimmer verschwand, ihre vollen Lippen küsste, ihre üppigen Brüste entblößte, die junge Frau auf das Bett drängte, um mit ihr den besten Sex seines Lebens zu haben. Genau das sah sie Marc tun und befürchtete, dieses Bild von ihm ab sofort nicht mehr loszuwerden. Das Bild eines eiskalten Betrügers, der einer nackten Fremden eine Perlenkette umlegte, fast so wie er das zuvor so oft bei Kathrin getan hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob die junge Frau auf der Beerdigung gewesen war. Eigentlich hätte sie ihr auffallen müssen, mit langen dunklen Haaren, dieser Traumfigur und dem beneidenswerten Schmollmündchen. Aber am Ende war Kathrin mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt gewesen. Selbst wenn sie sich mit aller Macht konzentrierte, fehlten ihr nahezu alle Gesichter der vielen Trauernden, die Marc die letzte Ehre erwiesen hatten. Am liebsten hätte sich Kathrin mit den Fäusten gegen den Kopf getrommelt, um sämtliche unwichtigen Erinnerungen und Bilder zu vertreiben, damit ihr Verstand wieder klar und der Blick wieder frei für das Wesentliche wurden. Nur eine Erkenntnis hielt sich hartnäckig und ließ sich nicht mehr verdrängen. Die Fotos auf diesem Stick zeigten einen Mann, der ihr fremd war, in einem Leben, von dem sie nichts wusste! Sie erschauderte.
***
Amelie Simon war mit zweiundzwanzig Jahren keine typische Vertreterin ihrer Generation. In ihrem schlichten grauen Kostüm auf den etwas zu hohen Schuhen mit den etwas zu roten Lippen wirkte sie weder lässig noch cool. Die rotblonden Haare trug sie sorgfältig hochgesteckt, die blassblauen Augen waren wach und neugierig, die Hände besonders aktiv, wenn sie sprach, als müsse sie jedes Wort an die richtige Stelle winken. Optisch auffällig war allein die äußerste Spitze eines Tattoos, rechts an ihrem Hals oberhalb der bis zum Kragen zugeknöpften Bluse. Nur eine Ahnung vielleicht, die Spitze eines viel umfangreicheren Motivs, das einen großen Teil ihres grazilen Körpers bedecken könnte. In Eric Teubner weckte es die Neugier auf den vermutlich beeindruckenden Rest des Kunstwerks. Dazu brach der kleine Brillantsplitter im Nasenflügel der jungen Frau ein wenig den biederen Gesamteindruck.
Auf Amelies Wunsch hatten sie sich in einem Café im Schanzenviertel zum Frühstück getroffen.
Amelie hatte Eric gleich zur Begrüßung von der hausgemachten Marmelade vorgeschwärmt. Er hatte schon davon gehört, war allerdings ein Frühstücksmuffel, für ihn war das die belangloseste Mahlzeit des Tages. Er bevorzugte ein ausgiebiges Abendessen mit guten Speisen und passenden geistigen Getränken, begleitet von Diskussionen über die Welt und ein bisschen auch über Gott, wenn’s sein musste, aber jederzeit gern mit einem Flirt gewürzt, der im Idealfall in einer aufregenden Nacht mündete.
Amelie Simon allerdings wirkte selbst für sein flexibles Beuteschema zu jung. Ein Mädchen, das in die für sie bestimmte Frauenrolle erst noch hineinwachsen musste, aber schon dazu fähig war, das Bild wenigstens vorzutäuschen. Es mochte ihr an Reife und weiblicher Ausstrahlung mangeln, aber ganz sicher nicht an Erotik. Und sie wusste, was sie wollte. Auch Tattoo und Nasenpiercing wirkten mehr wie ein Konzept, weniger wie pure Auflehnung. Gegen wen hätte sie auch aufbegehren sollen? Die wohlhabenden Eltern waren verstorben und der tabulose Großvater setzte ihr gewiss keine Grenzen.
Amelie kommunizierte scharfzüngig, klug und hintergründig, ein Kind der gehobenen Hamburger Gesellschaft mit berühmtem Großvater und Eltern, die ihr von klein auf an ein wunschloses Dasein ermöglicht hatten, bis sie die Tochter im letzten Jahr nach dem Absturz mit einem Sportflugzeug in ihrem Wohlstand allein zurücklassen mussten.
Amelie schlug Eric gleich nach dem Lob der Marmelade das Du vor. Das hätte wohl eher dem doppelt so alten Mann vorbehalten sein müssen, aber Eric wäre es sowieso schwergefallen, dieses lolitahafte Wesen zu siezen.
Ob er mehr Journalist oder mehr Autor sei, wollte sie zunächst über eine üppig mit hausgemachter Marmelade beladene Brötchenhälfte hinweg wissen.
Das – Eric grinste – bestimme immer die Person, die ihn bezahle.
Wenn Amelie lachte, wirkte sie am wenigsten erwachsen, etwas zu extrovertiert und mit schlechtem Timing.
Eric trank Kaffee und wartete ab. Sie brauchte noch eine Weile, bevor sie zur Sache kam. Vor ihr auf dem Tisch sah es inzwischen bunt aus, Krümel, Klekse, zerknüllte Servietten. Sie wischte sich mit der letzten frischen Serviette den Mund und strahlte. Kultiviertes Essen musste sie auf jeden Fall noch üben – ganz besonders wenn es um Marmeladenbrötchen ging. Eric machte sie dezent auf Himbeerreste an Lippen und Mundwinkel aufmerksam, und sie wischte so lange nach, bis alles bereinigt war.
Wieder überbrückte sie die Aktion mit Lachen, bevor sie weitersprach.
Sie bedankte sich für seine spontane Zusage zu diesem Treffen im Schanzenviertel, das habe sie cool gefunden. Es wäre auch viel zu kompliziert geworden, ihm das alles am Telefon zu erläutern.
Was alles?, dachte Eric ungeduldig.
Immerhin habe sie am Telefon die Zauberformel ausgesprochen, sagte er.
Jetzt sah sie ihn fragend an.
Welche denn?
Gute Bezahlung, half er ihr auf die Sprünge.
Sie staunte. So simpel?
Da blieb ihm nur ein Achselzucken. Kein Thema, das es zu vertiefen lohnte. Nach anfänglicher Irritation fasste sie sich wieder und schien den verlorenen Faden zu suchen. War Eric in ihrer Gunst gerade etwas gesunken?
„Aber die Literatur steht doch wohl im Mittelpunkt“, sagte sie, und es klang hoffnungsvoll. „Ich habe deine Bücher gelesen. Das mit der Sängerin mag ich besonders. Janina Nossak war für mich echt wie eine Schwester. Ich hab mich ihr so wahnsinnig nah gefühlt.“
Eric betrachtete Amelie nachdenklich. Wollte wissen, ob sie selbst gern singe, welche Beziehung sie zur Musik habe.
Keine. Nein, sie habe eher die Momente gemeint, wenn im eigenen Leben plötzlich das Licht ausging.
„Wenn das Schicksal aus dem Hinterhalt zuschlägt“, erklärte sie dramatisch. „Das ist krass, wie du das beschrieben hast. Kunst eben.“
Erics Grinsen wirkte bemüht.
„Geht es in diesem Gespräch etwa um Kunst?“
Amelie ignorierte den Spott.
„Und wenn?“
„Am Telefon sagtest du, im Mittelpunkt stünden die Filme deines Großvaters.“
Genau darum ging es! Um Filmkunst. Sie musterte ihn trotzig.
„Du hast alle gesehen?“ Eric bemühte sich, die Frage neutral klingen zu lassen, was ihm aber misslang.
„Mehrfach“, entgegnete sie stolz.
Eric war beeindruckt. Er war zweimal mit Jonathan Simons Filmen in Berührung gekommen, während seines Studiums, als man viele Filme nicht aus Interesse ansah, sondern um mitreden zu können. In beiden Fällen hatte er vorzeitig das Kino verlassen und sich gewundert, dass solche kranken Machwerke überhaupt in die Öffentlichkeit gelangten – trotz FSK. Aber Öffentlichkeit war zu viel gesagt. Außer ihm und seinen Freunden hatten sich nur noch ein Dutzend andere Besucher in die Spätvorstellung des Programmkinos verirrt – die Hälfte davon mit anderen Dingen als dem Film beschäftigt.
„Du hältst nichts von den Werken meines Großvaters“, stellte Amelie enttäuscht fest.
Dazu wollte er sich nicht äußern, erwähnte lediglich seine beiden gescheiterten Versuche. In dem einen Film hatte eine Horde nackter Frauen einen Mann ausgeweidet und sich mit seinen Innereien beworfen, und beim zweiten Film habe er bis zu der Szene durchgehalten, in der sich ein alter Mann am Kadaver seines überfahrenen Hundes ...
Amelie schnitt ihm mit ärgerlicher Geste das Wort ab.
Sie hielt es für unsinnig, einzelne Filmszenen aus dem Kontext zu reißen und eine Kritik daran aufzuhängen. So funktionierten solche Filme nicht. Gerade von einem einfühlsamen Autor hätte sie sich mehr Objektivität erhofft. Sie seufzte etwas zu theatralisch.
„Es hat mir auch objektiv nicht gefallen“, beharrte Eric.
Amelie runzelte die Stirn.
„Für ein objektives Urteil hast du viel zu wenig gesehen.“ So schloss sich der Kreis. Aber Eric ließ sich nicht beirren. „Das Wenige war mir schon zu viel“, sagte er.
„Dann macht es wohl keinen Sinn“, murmelte sie bitter.
„Was?“
„Der Auftrag.“
„Welcher Auftrag?“
„Das Buch. Über meinen Großvater.“
„Über deinen Großvater oder über die Filme deines Großvaters?“
„Na, irgendwie wohl beides, oder? Kann man doch nicht trennen.“
Eric neigte den Kopf hin und her.
„Ja und nein. Natürlich ist dein Großvater mit seinem Schaffen verbunden. Aber der Blickwinkel kann unterschiedlich gewählt werden. Über das Werk kann ich den Schöpfer entschlüsseln, oder über das Leben des Schöpfers sein Werk.“
Amelie nickte und schnippte mit dem Finger.
„Genau!“
„Genau was?“
„Beides wär cool! So, wie du es für richtig hältst.“
Eric rieb sich das Kinn. Er dachte an seine zurückliegenden Projekte, die mal mehr mal weniger erfolgreich verlaufen waren, aber immer ein Höchstmaß an psychischer und emotionaler Kraft von ihm gefordert hatten.
Mit seinem letzten Buch über die verurteilte Kindesmörderin Angelika Wiechert hatte Eric viele Lesungen in ganz Deutschland gehalten, war in Talkshows aufgetreten und hatte sich Interviewwünschen der Kollegen verschiedener Medien gestellt. Dafür hatte er jedes Mal wieder über seinen Schatten springen müssen. Öffentlichkeit hasste er. Er hasste es, Fragen beantworten zu müssen statt sie selbst zu stellen. Genau genommen hasste er die Früchte seines Schaffens. Das, wozu ihn sein Agent Florian Siegel immer wieder überreden musste, mit Schmeicheleien oder Drohungen, je nachdem, wie Eric gerade drauf war. Nach zwei wenig erfolgreichen Entziehungskuren war er noch immer ein treuer Weinfreund und sehnte sich bereits zum Frühstück nach einem Muntermacher. Sogar ein Projekt konnte man sich schöntrinken!
Er mochte Amelie, weil sie mit Leidenschaft für ihre Sache eintrat, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Inzwischen aber hatte er Mühe, ihrem munteren Geplapper zu folgen, mit dem sie weiter den Skandal-Opa und seine schlimmen Filme anpries. Im Grunde genommen käme ihm eine neue Herausforderung gar nicht so ungelegen, schon um ein schlagkräftiges Argument gegen weitere Lesereisen und Interviewtermine zu finden. Dieses Touren durch die Lande mit Lesungen und Signierstunden in Buchhandlungen, Kulturzentren, Theatern, Kneipen und auf Kleinkunstbühnen hatte er restlos satt, es zermürbte ihn. Gegen den ausdrücklichen Willen seines Agenten hatte er weitere Veranstaltungen erst einmal gestoppt. Wozu ständig die Werbetrommel rühren? Das Buch lief auch so ganz passabel.
Was denn Großvater Simon von dem geplanten Projekt halte, wollte Eric wissen. Er fragte es direkt in Amelies Redeschwall hinein, ohne ihr weiter zugehört zu haben.
Sie geriet ins Stocken. Ihre Augen weiteten sich leicht. Sie beherrschte Gesichtsausdrücke, die sie auf verschiedene Weise hübsch aussehen ließen.
Eric beobachtete sie, lernte bevorzugt aus den Reaktionen seiner Gesprächspartner, indem er sie irritierte. Amelie schlug die Augen nieder und schwieg eine Weile. Es war ein aufregender Moment, denn jetzt, da sie nichts mehr sagte, war sie endlich echt. Auf sich selbst reduziert sah sie bezaubernd aus, weil sie keine Rolle mehr spielte. Schon bald, davon war Eric überzeugt, würde sie reihenweise Männer verrückt machen, sobald sie entspannt genug war, einfach nur sie selbst zu sein, und nicht das Kind aus gutem Hause, das in einem Kostüm der Mutter Eindruck zu schinden versuchte. Da wirkte sie hauptsächlich darum bemüht, so zu tun, als habe sie den Tod der Eltern bereits problemlos verarbeitet und zum Großvater mit seinen provokanten Ekelfilmen ein fantastisches Verhältnis. Wollte sie Eric davon überzeugen, er säße heute der verständnisvollsten Tochter und Enkelin der Welt gegenüber?
Erstmal musste sie ihm kleinlaut eingestehen, dass ihr Großvater von den aktuellen Plänen noch keine Ahnung hatte.
Warum überraschte Eric das nicht?
Und wenn der es wüsste?
Amelie verdrehte die Augen, beließ es dabei, lächelte die Bedenken einfach weg. Sie wollte über ein großartiges Projekt sprechen, nicht über kleinkarierte Einwände.
Nun wurde das Gespräch für Eric überhaupt erst interessant. Irgendeinen Plan musste sie schließlich haben, mit dem sie am Ende ihren eigensinnigen Großvater mit ins Boot locken konnte.
„Hab ich auch“, sagte sie. „Mein Großvater darf nur nichts von unserem Treffen heute wissen. Du musst zu ihm Kontakt aufnehmen. Es soll deine eigene Idee sein. Du musst ihm sagen, dass du unbedingt über ihn und seine Filme schreiben willst. Interesse für sein Werk zeigen.“
„Vortäuschen“, korrigierte Eric.
„Zeigen!“, beharrte sie. „Du könntest ein ausführliches Interview mit ihm führen. So wie Truffaut damals mit Hitchcock.“
Es war verblüffend, wie subtil und fintenreich Amelie argumentierte. Natürlich beneidete Eric ganz besonders Truffaut um diese damalige Gelegenheit – während ihm heute ein Interview mit Jonathan Simon in Aussicht gestellt wurde, den als ruppig und schwierig geltenden Regisseur abstoßender Schocker, der sich vor Jahren zur Ruhe gesetzt hatte. Vermutlich war Simon inzwischen längst altersstarrsinnig und senil geworden, was einem möglichen Gespräch mit ihm den letzten Funken Glanz raubte. Aber Eric war erfahren genug, um auch die einmalige Chance in dieser Idee zu wittern. Sollte er einen Typen wie Simon knacken, könnte ein Buch über eine derart umstrittene Persönlichkeit eine spannende Sache werden. Simon hatte in der Öffentlichkeit –- wenn überhaupt – meistens über seine Filme gesprochen. Provoziert und gestritten. Über private Dinge – das hatte Eric auf die Schnelle recherchiert – war nahezu nichts bekannt. Da fand man deutlich mehr über Amelie, die in der öffentlichen Wahrnehmung bisher oft durch modische Fehltritte aufgefallen war, anlässlich ihrer seltenen Besuche irgendwelcher Veranstaltungen in der Vergangenheit. Dazu gab es ein paar wenig schmeichelhafte Fotos von ihr im Netz, begleitet von dem einen oder anderen Shitstorm. Einen hatte sie ausgelöst, weil sie zu einer Gala mal im Pelzjäckchen erschienen war, vermutlich aus dem Nachlass der Oma.
Amelie unterbrach Erics Grübeleien und wollte seine Meinung zu ihrem Plan wissen.
Na ja, er müsse darüber schlafen, vielleicht sogar mehr als nur eine Nacht.
Das war nicht die Antwort, die sie hören wollte!
„Wie uncool. Das ist doch so was von klar, dass so ein Buch genau dein Ding ist. Mein Großvater kennt tausend grandiose Geschichten. Nicht nur über seine Filme. Auch aus seinem Leben. Das ist ein kluger und mutiger Mann. Zeitzeuge. Da ist so Vieles, was ... was ich ... was wir der Nachwelt erhalten müssen, bevor ...“
„... er stirbt?“
„Ja, genau. Du sagst es. Bevor er eines Tages nicht mehr da ist. Er ist über achtzig, sein Körper will nicht mehr so richtig. Aber im Kopf ist er total klar. Wenn der mit dem Erzählen loslegt, willst du nicht mehr, dass er aufhört. Ehrlich!“
Eric schloss die Augen. Wein, dachte er. Nur ein verdammtes Glas! Er hätte sich mit Amelie lieber abends in einem Restaurant treffen sollen, dann hätte er jetzt schon einen angenehmen Pegel haben können, würde gutgelaunt sein „Okay“ geben, und alles wäre geritzt. Der nüchterne Eric Teubner aber zögerte gern und verkroch sich hinter Zweifeln.
„Die Filme“, sagte er jetzt und spürte Schweiß auf der Stirn. Er befürchtete, Amelie könnte ihm die Sehnsucht nach Alkohol ansehen. Vermutlich erkannte jeder in diesem gut besuchten Café, wie dringend er was zu trinken brauchte. Aber Amelie starrte ihn nur verständnislos an.
„Was ist mit den Filmen?“, fragte sie.
Eric wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, trank einen Schluck Wasser.
„Ich müsste mir erst einmal alle Filme deines Großvaters ansehen“, stieß er hervor. „Verdammt!“
„Na und?“
„Wie viele?“
„Er sagt zweiundzwanzig. Aber ich kenne nur einundzwanzig, und mehr habe ich bei ihm auch nicht gefunden.“
Eric stöhnte.
„Einundzwanzig!“
„Wir schauen sie zusammen an“, schlug Amelie begeistert vor. „Und danach reden wir, wenn du willst. Falls du noch Fragen hast.“
„Die du dann klärst?“ Eric seufzte. Amelie antwortete mit einem honigsüßen Lächeln.
„Du wirst dich wundern, was ich dir alles zum Werk meines Großvaters erzählen könnte.“
Jetzt schwieg er lieber – und fragte sich, was er bemerkenswerter finden sollte, ihr Selbstbewusstsein oder ihre Dickköpfigkeit.
„Ich hab ja auch alle deine Bücher gelesen“, fuhr sie fort. „Sie haben mir gefallen. Aber zwei stechen besonders heraus. Blue Note Girl war fast eine Liebeserklärung, fand ich. Eine Affäre des Autors mit einer unerreichbaren Figur. Die hat dich total gepackt, mit ihrer Unschuld und Zerbrechlichkeit. Überirdisch soll sie gesungen haben, meinten die Kritiker. Das ist Kunst, oder? Nicht für jeden verständlich. Zuletzt dein Buch über die Wiechert. Die ist durch dich wieder auferstanden. Ihr krasses Schicksal, die Zeit im Knast und dass sie am Ende todkrank war. Du hast aus dieser Frau eine Heilige machen wollen, aber die Leser waren nur auf die schmuddeligen Details der Liebschaften scharf. Weil sie es mit so vielen Männern trieb. Im Knast sogar mit einer Frau. Und dann mit Satan persönlich. Das war der Schlüssel zum Erfolg. Sex and Crime. Wetten! Ich bin nicht zu blöd, deine Bücher zu verstehen. Auch nicht für das Werk meines Großvaters. Du denkst, es wär was Besonderes, sich in andere Menschen reinzuversetzen? Ich mach das ständig. Aber du findest immer genau die richtigen Worte. Das ist der Unterschied!“
Eric schluckte. Er hatte eine ausgedörrte Kehle. Im weiteren Verlauf würden da bald keine Worte mehr durchpassen, während seine Gesprächspartnerin gerade zur Höchstform auflief. Sie funkelte ihn siegessicher an, ihre Augen wirkten plötzlich blauer als zu Beginn des Gesprächs, und aus ihren hochgesteckten Haaren hatte sich eine Strähne gelöst.
„Lass uns noch was bestellen“, schlug sie vor. „Du bist mein Gast. Wir können mit Schampus auf unsere Partnerschaft anstoßen, okay? Das wäre doch ein Anfang.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf, um diese Idee sofort in eine Bestellung umzusetzen. Eric ließ sie gewähren. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren, vor allen Dingen wusste sie, wie man zum Ziel kam. Ja, er würde wohl zustimmen, aber seine endgültige Entscheidung erst treffen, nachdem er mit Jonathan Simon gesprochen hatte. Er musste wissen, wie der Mann tickte. Ob ein kreativer Gedankenaustausch überhaupt möglich war. Wie der Rhythmus von Frage und Antwort zwischen ihnen funktionierte. Ob er mit Simons Antworten und Ansprüchen etwas anfangen konnte. Ob es irgendetwas in dessen Schaffen gab, was ihn erreichte. Damit er ihn zu seiner Figur machen konnte.
Er dachte an seine Treffen mit Angelika Wiechert zurück. Er war so tief in ihrer Seele gewesen, dass sie sich den Sex hätten sparen können. Doch sich mit einer todkranken Frau zu lieben, hatte ihn am Ende gepusht. Ihre schwindende Kraft in seinen Armen, abgemagert und kahlköpfig wie sie war, und trotzdem entspannt und friedlich, ihr Atem an seiner Wange, der wenige Wochen später versiegte. Der letzte Geliebte Angelika Wiecherts! Und seit ihrem Tod hatte er in Hamburg regelmäßig zwei Gräber zu besuchen: das des Privatdetektivs Frank Jensen und Angelikas.
Beide hatte er beim Sterben begleitet. Beide hatten Lücken hinterlassen, die er mit Büchern aufgefüllt hatte. Erfolgreichen Büchern. Persönlichen Büchern!
„Mein Leben war scheiße, egal was du draus gemacht hast“, hatte Angelika mit ihren letzten wütenden Atemzügen hervorgestoßen, die knochigen Finger fest um seine Hand geklammert, den Blick auf ihn gerichtet, bis der letzte Funken Leben erloschen war. In seinem Buch hatte er ihr Leben … ein bisschen frisiert.
Wenig rücksichtsvoll knallte Amelie eine Champagnerflasche und zwei Gläser auf den Tisch – mitten in Erics Gedanken. Er war so weit weg gewesen, dass er ein paar Sekunden der Orientierung benötigte.
„Sind wir jetzt Partner?“, wollte sie wissen.
„Ich werde mit deinem Großvater ein Gespräch führen“, versprach Eric. „Sofern er überhaupt Interesse hat. Danach gibt’s die Antwort.“
Sie nickte mäßig zufrieden.
„Das ist immerhin ein Anfang. Also, du rufst ihn an und sagst, dass du mit ihm über sein Leben und seine Filme sprechen willst. Lass dich bloß nicht abspeisen. Er kennt dich als Autor. Hat dein Buch über diesen Verleger gelesen und fand es, glaub ich, ziemlich gut. Er wird dich einladen, da bin ich mir sicher. Wenn’s klappt und es nach dem ersten Gespräch zu einer Einigung kommt, setzen wir einen Vertrag auf. Am Geld wird es auf keinen Fall scheitern. Wenn überhaupt, dann nur an dir!“
Eric hatte die ganze Zeit beobachtet, wie ihre Hände wirkungslos an der Flasche herumfummelten. Ungeduldig riss er den Champagner an sich, öffnete die Flasche geübt und schenkte zwei Gläser voll. Amelie und er stießen an. Dann trank er. Was für eine Erleichterung. Er atmete wieder! Nachdem er das Glas geleert hatte, schenkte er sich gleich nach, holte tief Luft und fühlte sich mit einem Glas in der Hand und einer Flasche in Griffnähe wieder lebendig.
Amelie beobachtete ihn zufrieden mit diesen Augen, die erwachsener wirkten als der Rest von ihr. Sie wusste mehr als ihre Altersgenossen. Offensichtlich auch mehr, als Eric lieb war. Sie hatte ihn ausgetrickst. Durchschaut. Tat aber weiter harmlos und unschuldig.
„Ich freue mich“, sagte sie fast demütig, den Blick endlich mal wieder gesenkt und ein wissendes Lächeln auf den roten Lippen.
Gierig leerte er das Glas und unterdrückte die aufsteigende Luft.
„Worauf oder worüber?“
Sie blieb die Antwort schuldig. Als sie ihn wieder ansah, spürte er erste Zweifel an seiner Fähigkeit, Menschen schnell und präzise einschätzen zu können. Plötzlich hatte er das beunruhigende Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein.
Mit ihren Fragen zu den rätselhaften Fotos wendete sich Kathrin zunächst an Marcs Assistentin Joy Ahrens, die sie am besten von allen kannte. Joy war eine fast zwei Meter große junge Frau, extrem kurzsichtig und mit einnehmend sanftem Wesen. In Marcs Agentur galt sie als Organisationswunder und betreute mit unendlicher Geduld hauptsächlich die schwierigsten Klienten. Ohne Joy hätte Marcs Castingagentur in den letzten Jahren kaum so erfolgreich werden können. Oft genug hatte er das betont.
Mit ihrer Hilfe konnte Kathrin von Anfang an ausschließen, in der Datei der Agentur mehr über die unbekannte Frau zu finden; was bedauerlich war, weil damit die einfachste Lösung wegfiel. Kathrin hatte Joy nur zwei neutrale Fotos für die Suche gezeigt. Nachdem die Datei kein Ergebnis lieferte - was die Assistentin mit ihrem guten Gedächtnis schon im Voraus prophezeit hatte – wuchs Kathrins Unbehagen. Ratlos blieb sie auf dem unbequemen Bürostuhl sitzen, und die Assistentin blickte sie durch ihre dicken Brillengläser mitfühlend an. Alles an Joys Haltung wirkte hilfsbereit, freundlich und warmherzig, und doch konnte sich Kathrin des Eindrucks nicht erwehren, dass Marcs guter Ruf für Joy mehr zählte als alles andere – auch über seinen Tod hinaus.
Ansonsten schien sie durchaus alles in ihrer Macht Stehende tun zu wollen. Kathrin senkte den Blick und dämpfte die Stimme. Wirklich überraschend kam es für sie nicht, am Ende doch tiefer in das Thema einsteigen zu müssen, um die wahre Geschichte der seltsamen Fotos herauszufinden. Nach ihrer Bitte um Vertraulichkeit erhob sich Joy und schloss die Bürotür. Sie setzte sich wieder und wirkte jetzt wie eine einfühlsame Pädagogin mit viel Verständnis. Vor ihr saß die Frau ihres verstorbenen Chefs. Alle in der Agentur hatte sein Tod erschüttert. Er war beliebt gewesen.
Zaghaft erkundigte sich Joy, warum Kathrin mit zwei Fotos einer bildschönen jungen Frau aufgetaucht war und auffällig konspirativ um diese Überprüfung gebeten hatte.
Kathrin erläuterte die Hintergründe, trotz geschlossener Bürotür weiterhin mit leiser Stimme. Vor allen Dingen machte sie deutlich, in diesem Fall nicht von einer harmlosen Bekanntschaft auszugehen.
Joy nickte. Sie hatte verstanden. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Suchte sie nach einer bequemeren Position oder nach passenden Worten? Kathrin kannte sie nicht gut genug, um das einschätzen zu können.
Joy betonte noch einmal, die Frau auf den Fotos nie gesehen zu haben. Was schon längst geklärt war. War das Ratlosigkeit oder steckte mehr dahinter?
Kathrin hob den Kopf. Sie fixierte Joy mit festem Blick, als sie über eine mögliche Affäre sprach, die Marc mit dem Mädchen gehabt haben könnte. Womit sie das Naheliegendste thematisierte.
Joy widersprach diesem Verdacht mit großer Entrüstung. Auf ihren Wangen zeigten sich hektische Flecken, sie wirkte kämpferisch. Aber wie konnte sie sich so sicher sein? Kathrin fand es irritierend, dass die Assistentin mehr von Marcs Unschuld überzeugt war als sie selbst. Schämte sich schon wieder für ihr Misstrauen und beneidete Joy um deren klare Überzeugung.
Das aber änderte nichts an der Frage, ob ihr die junge Frau andernfalls davon erzählen würde. Kathrin war entschlossen, sich von Joy nicht so schnell von dieser Möglichkeit abbringen zu lassen.
Die Assistentin bewies ihren souveränen Umgang mit Konflikten und schwierigen Gesprächssituationen, indem sie Kathrins kühle Beharrlichkeit mit einem warmen Lächeln zum Schmelzen brachte. Unerschütterlich beharrte sie darauf, es müsse eine ganz normale Erklärung für die Fotos geben. Da stecke bestimmt nichts Schlimmes dahinter, sie verfüge über ein gutes Gespür für solche Dinge. Sie sei Sternzeichen Fisch und deshalb ausgesprochen sensitiv.
„Ich bin das leider nicht“, bekannte Kathrin. „Ich hatte mir über so was nie Gedanken gemacht. Marc war immer ...“
„Er war Ihr Mann“, betonte Joy. „Für uns war er ein toller Chef! So sollten wir ihn in Erinnerung behalten.“
Kathrin musterte Joy argwöhnisch. Dieses freundliche Wesen mit den endlos langen Beinen und den dünnen Haaren zog in diesem Gespräch eine rhetorische Schublade nach der anderen auf, und alles aus ihrem hübschen Mund klang ausweichend und beschwichtigend. Plötzlich erkannte Kathrin schlagartig die Wahrheit. Die lag auf der Hand, und Joy gab sich kaum Mühe, sie zu verbergen. Sie war verknallt gewesen! In Marc. Der Klassiker! Die Assistentin fühlte sich dem Chef zutiefst verbunden. Enger als die Ehefrau. Egal was passiert sein mochte, sie schützte den geliebten Chef über den Tod hinaus gegen alle Widrigkeiten, notfalls auch gegen eine misstrauische Ehefrau.
„Sie haben in Marc nicht nur den Chef gesehen“, sagte Kathrin es ihr auf den Kopf zu, immer noch leise. Das meinte sie nicht mal vorwurfsvoll. Sie sprach nur die Erkenntnis aus, die sie gerade gewonnen hatte.
Jetzt flossen bei Joy erste Tränen, und sie nickte, während sie nach einem Taschentuch wühlte.
Sie habe ihn sehr gemocht, stieß die große Frau mit brüchiger Stimme hervor. Warum solle sie das leugnen? Aber es tue nichts zur Sache, denn zwischen ihnen war ja nie etwas gewesen.
“Glauben Sie mir. Er war ... er hat sie nicht ... bestimmt nicht!“
Die ganze Souveränität war dahin und zurück blieb das heulende Elend.
Kathrin ließ sich nicht beeindrucken. Eine hoffnungslos in den Chef verknallte Assistentin war keine zuverlässige Informationsquelle. Vielleicht haderte Joy auch nur mit der Vorstellung, ihr Chef könnte eine heimliche Geliebte gehabt haben, von der auch sie trotz ihrer Nibelungentreue nichts mitbekommen hatte. Und das, obwohl sie selbst vermutlich keine Gelegenheit ausgelassen hatte, ihn für sich zu gewinnen. Mit Blicken, Gesten und kleinen, als Zufall getarnten Berührungen während der engen Zusammenarbeit.
Kathrin ärgerte diese Vorstellung, denn sie hatte Joy eigentlich immer vertraut. In ihr hatte sie keine Konkurrenz gesehen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass Marc sie auch nur ansatzweise hätte attraktiv finden können – fast einen Kopf größer als er, mit dicken Brillengläsern und der typisch ungelenken Körperhaltung großer Frauen, die gern kleiner wären. Aber was spielte sich wirklich in Männern ab, wenn ihnen täglich bedingungslose Liebe signalisiert wurde? Hatte Marc je darüber nachgedacht, wie das wohl wäre, es mit einer Frau wie Joy zu treiben? Groß, etwas linkisch, mit dieser warmherzigen Art und betörender Ruhe. Kathrin ertappte sich bei dem Versuch, Joy mit den Augen eines Mannes zu betrachten. Immerhin hatte die junge Frau volle Lippen. Einen schönen Mund. Makellose Zähne! Lange schlanke Beine und auch eine beachtliche Oberweite, die wegen ihrer gebeugten Haltung nicht ganz zur Geltung kam. Aber sonst? Hatte Marc je einen Gedanken daran verschwendet, mit Joy eine Affäre zu beginnen, ihre Lippen zu küssen und ihre blinzelnden Augen zu betrachten, während er … sie vielleicht sogar hier im Büro?
„Ich war nicht sein Typ“, sagte Joy bitter, als könnte sie Gedanken lesen. Vielleicht auch eine besondere Fähigkeit des Sternzeichens Fisch.
Kathrins schmaler Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie sich eisig erkundigte, wer denn nach Joys Ansicht Marcs Typ gewesen sei.
„Na, Sie! Sie waren sein Typ!“, entgegnete Joy entschieden. „Ganz egal, welche Fotos Sie da gefunden haben. An Ihrer Stelle ...“
Aber sie war nicht an Kathrins Stelle, wie oft sie sich das auch gewünscht haben mochte.
Kathrin starrte sie ungerührt an. Joy senkte schuldbewusst den Kopf. In solchen Gesprächen konnte man eigentlich nur zu viel oder zu wenig sagen. Kathrin wusste längst, dass Trauer nicht nur traurig machte – sie jedenfalls nicht. Sie war zornig, ungerecht und aggressiv geworden. Entschuldigend legte sie ihre Hand auf Joys Arm und hoffte, sie damit wieder zu besänftigen.
Die hob den Kopf und lächelte unsicher.
„Was werden Sie jetzt tun?“
„Weiterforschen. Ich möchte wissen, wer dieses Mädchen ist.“
„Gibt es noch ... andere Fotos von ihr und Marc?“
„Sie ist auf einigen wenigen Fotos unbekleidet. Aber das wirkt irgendwie gestellt. Künstlerisch arrangiert. Zum Teil sind auch andere Personen mit drauf, die Masken tragen. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen.“
Joys Augen blinzelten wieder, und Kathrin wurde den Verdacht nicht los, dass die junge Frau mehr wusste.
„Vielleicht Aufnahmen von einer Produktion. Einer Werbung.“
„Aber dann hätten Sie dazu doch Unterlagen gefunden. Zumindest davon gewusst. Oder nicht?“
„Nicht unbedingt. Ich weiß natürlich nicht über alles Bescheid, was Marc gemacht hat. Und wenn diese Fotos nicht ...“
„Nicht was?“
„Wenn sie nicht eindeutig ...“
„Mit eindeutig meinen Sie, dass Marc das Mädchen vögelt?“
Joy zuckte zusammen.
„Nein, so eindeutige Fotos gab es nicht“, fuhr Kathrin fort. „Aber die Tatsache, dass mein Mann mit fremden Menschen in diesen für mich unverständlichen Situationen zu sehen ist, beunruhigt mich trotzdem und zwingt mich zum Handeln.“
Joy nickte, als könne sie das verstehen. Aber ihre Miene passte nicht dazu. Viel lieber schien sie nichts mehr darüber hören zu wollen und wäre vermutlich froh, wenn das Gespräch endlich beendet würde.
„Und was werden Sie jetzt tun?“, fragte sie.
„Mich an eine Detektei wenden“, entschied Kathrin und erhob sich. „Kennen Sie eine?“
„Ich?“ Joy starrte sie entgeistert an. „Warum sollte ich eine Detektei kennen? Aus dem Fernsehen, ja.“
Kathrin verabschiedete sich.
„Es tut mir leid“, sagte sie.
„Mir auch“, entgegnete Joy.
Was damit gemeint war, hätte keine von ihnen definieren können. Aber die Erleichterung darüber, dieses mühsame Gespräch hinter sich gebracht zu haben, vereinte sie immerhin.
***
Jonathan Simon thronte im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel. Er trug eine fleckige Pyjamahose und ein ungebügeltes, schief zugeknöpftes Oberhemd. In dem geräumigen Wohnzimmer lag auf dem Tisch eine beträchtliche Menge Lebensmittel. Obst, Gemüse, Joghurt, halb aufgetaute Tiefkühlkost, Salat. Er hatte fast den gesamten Inhalt des Kühl- und ein Teil des Gefrierschranks mit der Begründung hier ausgebreitet, sich in aller Ruhe überlegen zu wollen, worauf er Appetit habe.
Die Beseitigung solcher chaotischen Auswüchse zählten inzwischen zu Amelies täglichen Aufgaben. Daran gewöhnt hatte sie sich noch nicht, schimpfte leise vor sich hin, war aber gleichzeitig um den Großvater besorgt, angesichts seiner schwindenden Fähigkeiten, im Alltag allein klarzukommen. Umso ärgerlicher, dass er vor wenigen Tagen die letzte Haushaltshilfe vertrieben hatte. Deren Tochter hatte sich bei Amelie gemeldet und verkündet, ihre Mutter würde das Haus nie wieder betreten. Das hatte wie ein heiliger Schwur geklungen. Leider ohne jede Begründung. Vorerst würde Amelie das Putzen wieder selbst übernehmen müssen, bis sie jemand Neues auftreiben konnte, die sich von den unberechenbaren Allüren des alten Despoten nicht so schnell abschrecken ließ.
„Was hast du nur mit Magda angestellt?“, wollte Amelie von ihrem Großvater wissen, nachdem sie das Durcheinander auf dem Wohnzimmertisch wieder beseitigt hatte und nun in der Küche ohne große Diskussionen ein Nudelgericht für ihn aufwärmte.
„Wer ist Magda?“, erkundigte er sich.
„Sie hat hier die letzten Monate geputzt.“
Er dachte kurz nach, dann erhellte sich seine Miene.
„Ach die! Kommt die nicht mehr?“
„Nein. Offensichtlich nicht. Hast du eine Ahnung, warum?“
Bedauernd schüttelte er den Kopf.
„Ich habe sie gut bezahlt. Jedes Mal.“
„Aber ich habe sie bezahlt! Sie hat ihr Geld monatlich von mir bekommen. Du hast ihr auch noch Geld gegeben? Warum? Wie kommst du nur dazu?“
Der alte Mann musterte die aufgebrachte Enkelin beleidigt.
„Was fällt dir ein, so respektlos mit mir zu sprechen?“
„Na hör mal, ich versuch doch nur, mich um dich zu kümmern. Wir müssen dein riesiges Haus sauber halten, und du musst dich sauber halten. Außerdem solltest du jeden Tag vernünftig essen und viel trinken.“
„Ich soll mich besaufen?“
„Wasser. Es geht um deine Gesundheit. Wenn das mit dir hier allein nicht mehr klappt, müssen wir uns was anderes überlegen.“
„So, so“, brummte er und kratzte sich ausgiebig zwischen den Beinen. „Was ist mit was anderes gemeint, junge Dame? Und was soll der drohende Unterton? So fangen wir schon mal gar nicht an. Ich habe einige ziemlich bedeutende Werke der Filmgeschichte geschaffen, falls du das vergessen hast. Wie die Presse mal schrieb, bin ich ein verkanntes Genie. Jemand hat mich auf eine Stufe mit Welles und Fellini gestellt, obwohl ich mich selbst sogar noch höher sehe. Aber immerhin. Und du willst mich in ein Heim stecken?“
„Das hab ich nicht gesagt.“
„Was hast du sonst gemeint, wenn du sagst, wir müssten uns was anderes überlegen. Ich bin alt, aber nicht blöd. Such dir endlich einen Freund, lass dir die Seele aus deinem magersüchtigen Leib bumsen. Kümmer dich mehr um deinen Kram. Ich kümmer mich um meinen. Das ist mein verdammtes Haus. Mein Leben. Jedenfalls der jämmerliche Rest davon. Hier gibt es keine Oscars oder Bambis zu entstauben. Auch keine gerahmten Fotos mit irgendwelchen Erinnerungen an bessere Zeiten. Wenn du mir was Gutes tun willst, besorg mir lieber eine erstklassige Hure.“
„Die besorg dir mal schön selbst!“
„Ja. Dann kann ich mich auch um den Rest kümmern, wenn ich sowieso alles allein machen muss.“
„Wie du dich kümmerst, hab ich grad gesehen. Und weggeräumt.“
„Na wenn schon?“
„Opa!“
„Ja, Opa. Wir reden hier über Lebenserfahrung. Ich habe in deinem Alter wochenlang durchgearbeitet, Drehbücher verfasst, erste Filme gedreht, Filmteams geleitet, Kameraleuten ihren Job erklärt, Schauspielern in den Arsch getreten, ich habe Produzenten und Banken Geld aus dem Kreuz geleiert, um meine Filmprojekte auf die Beine zu stellen. Ich habe gesoffen, gekokst, gespritzt, rumgehurt. Ich war in der Hölle und hab den Teufel mit meinen Ideen erschreckt. Hab Dinge getan, die anderen den Schlaf rauben würden. Hab sämtliche Fratzen des Horrors vor Augen gehabt, und da muss ich mir nicht von einer verwöhnten Göre irgendwas befehlen lassen.“
„Auch nicht, wenn deine Schlafanzughose richtig eklig aussieht?“
„Dann erst recht nicht. Warum kümmerst du dich nicht um deine scheiß Angelegenheiten?“
„Aber das bist du, Opa“, fauchte sie ihn wütend an. „Du bist meine scheiß Angelegenheiten!“
Ihr Ausbruch schien ihn etwas milder zu stimmen. Er betrachtete sie mit einem großväterlicher werdenden Blick und schmunzelte zufrieden. Es war ihm stets ein besonderes Vergnügen, A-melie auf die Palme zu bringen. In ihrem Zorn wurde sie ihm so wunderbar ähnlich, das gefiel ihm.
„Dummes Kind“, brummte er gutmütig, um lauter hinzuzufügen: „Die Welt da draußen interessiert sich plötzlich wieder für mich, verstehst du? Da hat mich doch heute so ein Autor angerufen. Dieser Typ da, der über das Leben besonderer Leute schreibt. Wie heißt er noch gleich?“
Ächzend stemmte er sich hoch und tippelte auf schwachen dünnen Beinen barfuß durch den Raum, um ein Buch aus dem Regal zu ziehen. Damit kehrte er zurück und hielt es Amelie triumphierend vor die Nase. Die Biografie über Heinrich Michaelsen. Von Eric Teubner.
„Der Teubner will mich interviewen. Vielleicht macht er sein nächstes Buch über mein Leben. Er kommt bald vorbei. Wir werden reden. Ich hätte Stoff für mehrere tausend Seiten, das weißt du. Eine verdammte Haushaltshilfe wäre da nur im Weg.“
Amelie spielte dermaßen überzogen die Überraschte, dass Jonathan Simon gleich misstrauisch wurde. Gott sei Dank missverstand er ihr miserables Schauspiel.
„Sollte ich das lieber nicht machen? Der Kerl soll ein Kotzbrocken und Säufer sein.“
„Na, dann müsstet ihr ja super miteinander auskommen.“
„Warum guckst du dann so komisch? Findest du, ich sollte lieber nicht mit dem reden?“
„Natürlich solltest du das machen. Ich fände es cool!“
„Cool? Na bitte! Anschauen können wir uns den Knaben ja mal.“
Jonathan Simon starrte auf seine imposante Bücherwand, als gäbe es dahinter eine Ferne, die sich nur ihm erschloss.
„Teubner versteht jedenfalls sein Handwerk“, sagte er mehr zu sich selbst. „Außerdem bin ich in einem Alter, in dem ich langsam auch über mein Vermächtnis nachdenken muss. Ich habe immer noch nicht den Platz im Deutschen Film bekommen, der mir zusteht. Deshalb ist das alles auch nicht vollendet. Meine zweiundzwanzig Filme sollen endlich mal vereint in einem anspruchsvollen Überblick betrachtet werden. Eingebettet in mein Leben.“
„Einundzwanzig Filme“, verbesserte ihn Amelie.
Simons Blick kehrte blinzelnd aus der Ferne in den lichtarmen Wohnraum zurück.
„Es ist gut“, murmelte er müde und wedelte vage mit der Hand in ihre Richtung. „Gut, dass du dich um mich sorgst … die letzten Jahre. Wir haben nur noch uns. Das müssen wir bewahren wie einen kostbaren Schatz. Verstehst du?“
Wenn jemand das verstand, dann Amelie. Seit dem Tod ihrer Eltern lebte sie konsequent nach diesem Motto. Dass ihr Großvater dies in einem Moment der Klarheit als eigene Erkenntnis propagierte, war ihr nur recht. Hauptsache, er kam überhaupt mal zur Einsicht. Sie waren der kleinstmögliche Familienverbund. Die letzten der Simons.
„Was hältst du davon?“, fragte der Alte.
Amelie lächelte.
„Dass wir auf uns aufpassen?“
„Dass ich mit dem Schriftsteller rede. Ihm vielleicht erlaube, ein Buch über mich zu schreiben.“
„Das wäre so was von krass, Opa! Ich habe von Teubner Blue Note Girl gelesen. Fantastisch!“
Wieder beschäftigte sich Simon intensiv mit seinen Genitalien. Jetzt richtete Amelie ihr Interesse auf die Bücherwand.
„Ach, Papperlapapp, Blue Note Trallala“, knurrte er. „Kinderkram! Das Buch über Heinrich Michaelsen ist großartig. Ein reifes Werk über das Leben und den unbedingten Erfolg. Ein Mann, der seinen Weg gegangen ist und drauf geschissen hat, was andere über ihn dachten. Man konnte dem Text viel mehr entnehmen als das, was da geschrieben stand. Verschlossene Türen. Düstere Geheimnisse. Verborgene Schuld. Ich habe das erkannt. Zwischen den Zeilen. Ein großes Geheimnis, das in dem Buch steckte, in diesem Leben, ohne vom Autor offenbart zu werden. Aber alles, was er schrieb, war von umfassendem Wissen erfüllt. So konnte das Böse in den Worten verweilen wie etwas, das auf seine Chance lauert. Latent, geradezu hinterhältig. Das machte die Dramaturgie eines menschlichen Schicksals gewichtiger, tiefgründiger, aufregender. Ein Autor wie Teubner wird sich mit Begeisterung auf mein Leben stürzen. Ich werde ihm die Abgründe liefern, die er braucht, um mit seiner Sprache noch weiter zu gehen. Ich werde diesem Burschen den nächsten Bestseller bescheren.“
„Das hast du dir alles schon so genau überlegt?“, staunte Amelie. „Bist du dir mit diesem Teubner denn schon einig?
Simon legte seine Hände auf die Knie und blieb eine Weile still. Fast schien es, als habe er den Faden verloren. Aber dann sagte er ganz ruhig:
„Michaelsen mag mit einem Bein in der Hölle gewesen sein. Aber ich, mein Kind, war dort Stammgast. Meine Filme erzählen davon. Deshalb muss ich erst mal herausfinden, ob Teubner solchen Einsichten überhaupt gewachsen ist. Wenn ich mich öffne, muss er auch verstehen, was ich sage. Das fängt mit den Filmen an und hört erst auf, wenn ich es will.“
„Dafür ist der bestimmt der Richtige“, wagte sich Amelie etwas mehr aus der Deckung, aber die Miene ihres Großvaters verdunkelte sich.