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Michael Schmitt alias Meister Ashkyra zieht als geistiges Oberhaupt der Gemeinschaft der LuxColumen (Säulen des Lichts) eine enttäuschende Bilanz: Schwer erkrankt muss er erkennen, dass ihr Zusammenschluss zu einem raffgierigen Esoterikkonzern verkommen ist, der nichts mehr mit den ursprünglichen Idealen gemein hat. Auch als Ehemann und Vater hat er versagt. Von Reue geplagt ist er entschlossen, sein Leben zu ändern. Er beauftragt einen Privatdetektiv mit der Suche nach Frau und Tochter, die er als junger Mann für seine ehrgeizige Berufung verlassen hatte. Bevor er die Auflösung der LuxColumen verkünden kann, bricht er zusammen. Die Ärzte retten sein Leben und verpflanzen ihm den weltweit einzigartigen Prototyp eines Kunstherzens - ein Wunderwerk der Medizintechnik. Zur Rehabilitation kommt er inkognito in den Eifelkurort Oberwolfach. In dem Ort herrscht eine alte Legende vor, deren Mittelpunkt das örtliche Grab eines Unbekannten ist, auf dem keine Blumen wachsen. Schon bald geschehen bizarre Morde. Michael ahnt nicht, dass eine Apokalypse ihren Lauf nimmt und er selbst der Schlüssel zur Legende ist, die weit über das Vorstellbare hinaus geht…
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2020
AURON
Niemand wird dir glauben
Umschlag & Illustration: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung Stockfotografien von janniwet (Flammen) / Shutterstock sowie Inga Nielsen (Sonne); TOMO00 (Strahlen) / Adobe Stock
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
Paperback:
978-3-347-18812-9
e-Book:
978-3-347-18813-6
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet: http://dnb.dbb.de abrufbar.
© 2020 by Markus Dohmen
Nochmal für jene, die mir alles bedeuten:
Ursula, Tanja und Tamara
Die Hauptpersonen des Romans:
Michael Schmitt / Meister Ashkyra:
Sektenguru
Shetana:
seine Geliebte und rechte Hand
Mewosha:
Finanzchef der Sekte
Harry Winter:
Privatdetektiv
Theofila Matzerowski:
exzentrische Aktionskünstlerin
Matthies:
Dorfdepp
Kurt Lochner:
Historiker
Rashid Al Dschabani:
Diplomat
Rüdiger Schratz:
Oberkommissar
Bernd Bolvo:
Kommissar
Johan Bender:
Gießereibesitzer
Friedensreich Bender:
sein Sohn
Dr. Kemper:
Direktor einer Kurklinik
Der Roman spielt in der Eifel und in London.
Prolog
Die Morgensonne strahlte in ihrer ganzen Kraft durch den roten Vorhang und verlieh dem hell gestalteten Zimmer ein beruhigendes Leuchten. Ein warmes, liebendes Willkommen nach diesem wiederkehrenden schlimmen Traum, von dem er nicht wusste, was er bedeutete und was er daraus schließen sollte. Mühsam setzte er sich auf und verzichtete darauf, ein Kissen in seinem Rücken auszupolstern. Es war bereits Anstrengung genug. Fiebrige Schweißperlen glänzten wie Raureif auf seiner blassen Stirn. Er war sehr krank und wusste es. Trocken schluckte er gegen den Schwindel an. Wie einfach wäre es doch, sich einfach wieder hinzulegen und friedvoll einzuschlafen. Er hatte keine Angst mehr davor. Dieser Traum…
Als schaute er durch eine vereiste Scheibe sah er sich selbst: allein in diesem Treppenhaus. Weiße staubige Asche war auf ihn niedergegangen. Tränen hatten sich mit Schmutz vermischt und da, wo er es abgewischt hatte, wirkte es unfreiwillig wie ein Camouflage-Muster. Erschöpft, krank, mit blutenden blanken Füßen stieg er diese, ungeflieste Treppe hinauf und hinterließ blutige Abdrücke. Es roch nach frischem Beton. Kein Geländer, keine Fenster. Nur deren viereckige Aussparungen, die wie leere, gebrochene Augen den Blick seltsam auf ihn vereinten. Die Kälte kroch ihm bis in die Waden.
Gespenstische Stille ließ das leichte sphärische Kindersingen noch unheimlicher klingen:
„….♪ ♫..Sie schloss ihn in die Arme und küsste seinen bleichen Mund…Ach Mündlein könntest du sprechen, so wär mein Herz gesund….♫♪…“
Je höher er stieg, umso mehr fühlte er Unbehagen. Er musste hinauf. Doch was erwartete ihn dort oben? Keuchend erreichte er die Metalltüre zu dieser Dachterrasse. Er zögerte und ängstigte sich vor dem, was sich dahinter verbarg. Seine zittrige Hand war auf halbem Weg zur Klinke, als das Kindersingen abrupt abriss. Irritiert hielt er einen Moment inne. Dann umschloss er das kühle Metall und drückte die Türe auf. Es war, als ob die Sonne persönlich Einlass begehrte. Hellgrelles Licht blendete ihn, dass er fürchtete zu erblinden. Hilflos stand er da. Die Angst bemächtigte sich seiner wie eine kalte Hand, die von hinten an sein Herz drang, um es zu umschließen. Es ist wahr! Allein die Vorstellung in seinem Kopf brannte sich ihm auf Netzhaut und Seele. Voller Schmerz schloss er die Augen wie ein Kind, das hoffte, dadurch unsichtbar zu werden. Niemals wollte er sie je wieder öffnen.
Das war der Moment, in dem er stets keuchend erwachte…
Deutschland, Köln/Rheinland Köln-Arena, 09. März, 20:17 Uhr MEZ- noch 92 Tage, 3 Stunden, 43 Minuten bis Tag „V“
In elliptischen Bahnen kreisten die Lichtkegel über die Köpfe der Menschen hinweg und fachten, in ihrem Wechselspiel von grellen Blenden, Halbschatten und schützendem Dunkel, die euphorische Stimmung in diesem Pulk der etwa 5000 Anhänger an. Der Welt entrückt, wogen sie zu sphärischen Klängen ihre Oberkörper und ließen ihre Arme in harmonischem Fluss über ihren Köpfen schweben wie Seelilien in einer Unterwasserdünung. In Trance verschränkten andere die Arme vor der Brust, als umarmten sie sich selbst. Viele von ihnen trugen ein wasserlösliches Tattoo in Form eines Sonnensymbols auf der Stirn. Begegneten sich zwei „Sonnengezeichnete“, drückten sie einander liebevoll verharrend, bevor sie sich ohne Gesten wieder trennten und weiter wandelten. Dabei vermittelten sie den Eindruck, sie könnten mit diesem Symbol sehen. Als wäre das Tattoo eine Art metaphysische Schnittstelle, über die sie in Kontakt traten - wie ein unsichtbares Band von Stirn zu Stirn.
Über allem zauberte die Lichtanlage das Leuchten eines großen Polarlichtes an den Himmel der Arena. Es war das Treffen der LuxColumen, was vom Lateinischen übersetzt: Säulen des Lichts bedeutet. Gemeinschaft pflegten sie sich zu nennen.
Sie alle huldigten einem Mann, den sie Meister nannten. Eine Begegnung mit ihm war wie eine Offenbarung und es erwuchs das, was man in seinen Grundfesten zu fühlen glaubte. Eine Energie. Eine innere Überzeugung. Nicht sehen, sondern fühlen war das Bestimmende. Seine Worte drangen in das Bewusstsein und streichelten die Seelen der Menschen. Dammbrechende, überwältigende und nicht selten tränenreiche Erkenntnis über das eigene Dasein, den Sinn und die Bestimmung. Das Besondere, das jeder in sich spürte, wurde erweckt und somit ein Weg, eine Richtung aufgezeigt. Alles war auf einmal so klar und deutlich. Wir verändern nicht unser Leben, nein, wir entfalten uns. Derart ergriffen hatten sie mit ihren weltlichen Gepflogenheiten abgeschlossen. Aus der Eihülle zu brechen, durch die Oberfläche zu stoßen, wahrhaftig werden, zu erwachen oder zu sterben. Ihm und nur ihm alles zu weihen, alles aufzugeben und bedingungslos zu folgen - darin lag das Glück, das es nach der Lehre anzustreben galt. Der Weg ist das Ziel und Meister Ashkyra war der Hirte - der Kompass zur Glückseligkeit. LuxColumen!
Die Lichtkegel nahmen ab und das Leuchten des Polarlichtes intensivierte sich und wechselte von Hellblau zu dunkelviolett. Ein glitzernder Reigen von Sternschnuppen fuhr wie eine Kunstfliegerstaffel auseinander.
In der Luft lag ein angenehmes Aroma - eine Mischung aus Weihrauch, Minze und Patschuli. Unterschwellig setzte ein tiefes vibrierendes Brummen ein, während auf einem großen Videobildschirmwürfel die Erde in ihrer ganzen zerbrechlichen Schönheit erschien. Von der Sonne angestrahlt glühte der Rand des blauen Planeten, als wäre er eben erst aus dem Schmiedefeuer der Schöpfung emporgehoben worden. Das Brummen intensivierte sich und stand für die Axialkräfte der Erddrehung, so wie der Antrieb eines gigantischen Raumschiffes. Triumphal schallte es aus den Lautsprechern. Mit leuchtenden Augen verfolgten die Jünger diese Inszenierung eines kosmischen Bewusstseins. Der Verkauf von Seelenkristallen, Amuletten, Traumfängern, Sehnsuchtsbildern, Tees, Tinkturen, Essenzen und Büchern mit schillernden Covern ruhte.
Weit abseits im Oberrang befand sich die nüchterne Schaltzentrale dieses Schauspiels. Hellgrelles Neonlicht erfüllte den Raum und es herrschte rationale Arbeitsatmosphäre.
Ein Techniker mit Bart saß an einem großen Mischpult mit unzähligen Reglern, Knöpfen und blinkenden Dioden. Hinter ihm standen eine Frau und ein Mann mit rotem, krausem Haar. Die Frau trug eine weiße Tunika und die beiden Männer einen weißen Kaftan. Weiß war die bestimmende Farbe ihrer Kleidung.
„Mehr Licht und dreh das Brummen etwas zurück und danach lass nochmal die Sternschnuppen los. Aber diesmal langsamer“, gab der Rothaarige engagiert Regieanweisungen in den Rücken des Technikers.
Dann ließ er seinen Blick bewundernd über das blonde wellige Haar der Frau gleiten. Es gefiel ihm, was er sah: das offene Gesicht mit den akzentuierten Wangenknochen und den blauen Augen unter fein geschwungenen dunkelblonden Brauen. Ihr sinnlicher Mund lächelte und doch war dieses Lächeln nur eine verheißungsvolle Ankündigung, die fließend in bezaubernden, liebreizenden Grübchen ihren Höhepunkt fand, wie ein Orchestertusch - perfekt.
„Sieh nur, Shetana“, sagte er benommen und deutete mit einer ausladenden Geste auf die Menschen unten auf dem Parkett. „Sie sind glücklich. Wir machen sie glücklich!“
„Ja, es ist schön, dies zu sehen und zu spüren“, lächelte sie beseelt und sah in das jungenhafte Gesicht. Mit seinem krausen, roten Haar, dem blassen Teint und den hellen Wimpern um die blaugrauen Augen war er nicht unbedingt ihr Traumtyp. Dennoch imponierte ihr sein Ehrgeiz. Für den Hauch einer Millisekunde sahen sie einander an, als wäre da mehr als bloße Freundschaft.
„Es war eine gute Idee, die Verkaufsstände mit marketingstrategischer Unauffälligkeit mitten in den Pulk der Jünger zu platzieren.“ Sie lächelte anerkennend.
„Vor meinem Erwachen war ich nicht umsonst Betriebswirt. Meister Ashkyra mag ein großer Künstler sein. Aber Künstler sind selten gute Geschäftsleute. Tja und was soll ich sagen…“ Er streckte die Brust raus und deutet auf sich selbst. „…hier bin ich.“ Er wandte sich an den Techniker. „Jetzt die Sternschuppen und noch einen Stoß Aroma. Danach die Sequenz langsam auslaufen lassen. Alle Geräusche langsam verstummen und das Licht hell werden lassen. Stimmungssteigerung!“, mahnte er. „Wenn der Meister die Bühne betritt, will ich, dass alles hell ist und absolute erwartungsvolle Stille herrscht. Ab jetzt noch 15 Minuten und go!“, gab er den Startschuss wie zu einem Rennen. Das Headset war in seinem krausen Haar kaum zu sehen. Mit dem Zeigefinger tippte er sich ans rechte Ohr und lauschte. „Sehr erfreulich“, antwortete er, bog das Mikro wieder weg und schaltete es aus. „Die Verkäufe laufen sehr gut.“ Mit einem Lächeln zwinkerte er ihr zu.
„Wenn wir doch nur sicher gehen könnten, dass Meister Ashkyra durchhält“, sagte sie und ein Anflug von Betrübnis huschte über ihr Gesicht.
„Er braucht Urlaub und muss sich für eine Weile schonen und er wird wieder ganz der Alte sein.“
„Wenn es nur seine Erschöpfung wäre, machte ich mir weniger Sorgen.“
„Was meinst du?“
„Ich liebe und verehre den Meister und ich weiß, dass auch er mich liebt. Immer öfter sehe ich ihn zweifeln und es schmerzt mich. Er spricht nicht darüber und doch kann ich es ganz deutlich spüren. Mewosha! Ich habe große Sorge.“
„Der Meister zweifelt? Woran?“
„Sieh auf die Menschen da unten. Wir machen sie glücklich und ja: wir leben davon! Was kann es Besseres geben als eine Aufgabe, die Gutes stiftet. Bevor sie zu uns kamen, waren sie alle Suchende. Entwurzelt, ohne Halt sehnten sie sich nach Trost, Sinn und Glück. Der Meister gab ihnen Antworten und Zuversicht. Er machte sie glücklich. Und nun fürchte ich, dass er an seinem glückseligen Tun zweifelt und aufhören möchte. Er steckt in einer tiefen Krise.“
Mit Blick auf den Rücken des Technikers zog der Finanzchef sie in den hinteren Teil des Raumes und suchte verstört Augenkontakt. „Du meinst, er will die LuxColumen auflösen?“, flüsterte Mewosha erregt.
„Ich weiß es nicht. Ich habe nur so ein Gefühl. Es ist, als ob seine Erschöpfung ihn verändert hat. Er schweigt, hadert und ist nicht glücklich. Ich fürchte, dass es ihm ernst ist. Ich erreiche ihn nicht mehr. Ich habe Sorge um die Zukunft unserer Gemeinschaft“, sagte sie und ihr Blick wurde leer.
„Das kann er nicht tun. Das darf er nicht tun.“ Sein Griff wurde enger und er schüttelte den Kopf. „Er braucht sicher nur eine Auszeit“, sprach er sich selbst gut zu.
„Und was, wenn nicht. Was, wenn er alles, was wir aufgebaut haben, niederreißen will?“
„Niemand legt ihm Steine in den Weg. Wenn er sich zurückziehen möchte, dann soll er es tun. Er hinterlässt große Fußspuren und es wird nicht einfach, seinem Beispiel zu folgen. Aber wir können es schaffen.“
„Und wenn er keine Nachfolge will?“
Eine Spur zu heftig schüttelte er den Kopf. Seine Lippen wollten Worte formen, doch er blieb stumm.
„Dann werden wir ihn ablösen müssen“, sagte er nach einer Weile. Sein Unterton verriet, dass er einen geeigneten Nachfolger im Sinn hatte. Shetana nickte bedächtig. Es brauchte kein weiteres Wort. Sie verstanden einander. Mewosha sinnierte: „Wir dürfen die Menschen, die sich uns anvertraut haben, nicht alleine lassen. Das sind wir ihnen und uns schuldig.“
„Wir alle haben zu viel aufgegeben für die LuxColumen“, pflichtete sie ihm bei. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Du weißt, dass er alleinige Zeichnungsbefugnis hat. Ich habe wahrlich alles getan, auf ihn Einfluss zu nehmen, das zu ändern. Er ist unbeirrbar.“ Enttäuscht presste sie die Lippen aufeinander.
„Es gibt Mittel und Wege, ihn zum Rücktritt zu zwingen, wenn er es nicht anders will. Es geht um nichts Geringeres als um unsere Existenz.“
„An was hast du gedacht?“
„Wie gesagt: vielleicht ist er ja auch vernünftig und falls nicht, ist es unsere Verantwortung, deutlich zu machen, dass er sich nicht über die Köpfe der Jünger hinwegsetzen kann. Wenn er so ignorant ist, würde ihn das öffentlich diskreditieren und sei es darum, dass wir bei diesem Ansehensverlust nachhelfen müssen“, sagte er und fügte schneidend an: „Wir brauchen die Hoheit über die Konten!“
Für einen Moment schwiegen sie aus Scham über ihre Illoyalität. Doch ihre Zukunftsängste wogen schwerer.
„Und was ist, wenn wir auch damit nicht weiter kommen und er fest entschlossen ist, uns ins Unglück zu stürzen?“ Hinter Shetanas Augen loderte es unheilvoll. Mewosha deutete schweigend ihren Blick. Es war ihm anzusehen, wie es in ihm arbeitete. Er bewunderte Shetana für ihre Umsicht und ihr strategisches Kalkül. Doch so schlau wurde er aus ihr nicht. Es gibt immer einen Plan hinter dem Plan, hatte sie einmal gesagt. Dieser Satz ist ihm in Erinnerung geblieben. Er hatte sich in sie verliebt, ohne es ihr zu gestehen. Aus ersten zaghaften Gunstbeweisen ihrerseits wurde eine innere Vertrautheit. Mewosha litt still und hoffte.
„Er ist ein sehr, sehr kranker Mann“, sagte Shetana tonlos. Damit war ein Gedanke geboren, der in einem ersten Reflex fremd erschien und den man verdrängen möchte und der doch mit zunehmender Hilflosigkeit immer eindringlicher und fordernder wurde. Es war unaussprechlich und zu früh. Eine Option, die nicht auf dem Tisch lag, sondern darunter lauerte.
Mit geschulter Arglosigkeit sah Shetana hinunter in die Arena. Der Baum der Erkenntnis präsentierte seine Früchte. Es ist ein langer Weg und die selbstgerechte Einleitung eines Urteils beginnt mit dem Satz:
„Haben wir nicht alles getan, es zum Guten zu wenden?
Unweit der Arena, im angrenzenden Parkhaus fuhr ein klappriger, alter Citroën CX die spiralförmige Auffahrt hinauf. Die heulende, rutschende Kupplung schallte durch die Ebenen, dass es einem Vollblutmechaniker körperliche Schmerzen bereitete. Am Steuer saß Harry Winter, dessen eckiges, schmallippiges Gesicht -wie immer- finster dreinblickte. Seine fast schwarzen Augen stachen förmlich unter gemeißelten, dunklen Brauen hervor. Sein Gesichtsausdruck war die Manifestation seiner Berufserfahrung. Die Skepsis und Abgeklärtheit eines Privatdetektivs. Es gab nicht viele Menschen, die sich in diesen Zeiten einen privaten Ermittler leisten konnten. Daher war es umso wichtiger, dass er nicht durch Unpünktlichkeit einen unzuverlässigen Eindruck vermittelte. Diese verdammte Kupplung!
Der Auftrag, der ihn nach Köln geführt hatte, war einer der Merkwürdigsten, die er je angenommen hatte. Chronisch pleite wie er war, stellte er eines Tages misstrauisch fest, dass ihm ein Unbekannter 5.000 €uro auf sein Konto überwiesen hatte. Zwei Tage später flatterte ihm ein Brief ins Haus, indem seine Mission beschrieben stand. Nun hatte er ein Ergebnis und konnte seinem mysteriösen Geldgeber berichten. Er kannte den Mann, zu dem er unterwegs war. Aber viel ließ sich nicht über ihn in Erfahrung bringen, außer, dass er ein Sektenguru war. Er hatte ein paar kritische Zeitungsberichte über diese streng abgeschirmte Sekte gesammelt und fand es bemerkenswert, dass er bei der Vielzahl der Anhänger keine Indiskretion in die Presse durchgestochen wurde. Der Mann scheint seinen Laden im Griff zu haben, erachtete Harry. Mit gepressten Lippen sah er auf seine Uhr. Er war spät dran. Verärgert klatschte er mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. Das Auto eines Privatdetektivs ist seine Visitenkarte. Es steht für Zuverlässigkeit und diese Klapperkarre war weit davon entfernt.
In Höhe Ebene 4 bog er ab und dies wurde höchste Zeit, da es im Wageninneren bereits übel nach Verbranntem stank. Vorzeitig den Motor abstellend rollte er geräuschlos in die Parkbucht und kam qualmend neben einer Stretchlimousine zum Stehen. Harry Winter stieg aus, sah sich kritisch um und ruderte wedelnd mit den Armen, um den Gestank zu verflüchtigen. Die abgedunkelte Scheibe surrte einen Spaltbreit nach unten.
„Kommen Sie herein. Es ist offen“, hörte er es schwach aus dem Dunkel des Wageninneren. Winter stieg ein und zog mit einem satten Geräusch die schwere Türe zu. Schlagartig wurde es schummrig. Harrys musste sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Nur eine kleine Salzkristalllampe gab ein diffuses Licht ab. Stille! Bis auf dieses stetige, blubbernde Sprudeln, dessen Ursache er nicht ausmachen konnte. Der Detektiv kniff die Augen zusammen. Sein Auftraggeber saß ihm gegenüber in einem bequemen Sessel. Der Oberkörper befand sich im Schatten und das Gesicht war schemenhaft auszumachen. Nur die Hände, die auf den Lehnen ruhten, ragten aus dem Dunkel heraus.
„Meister Ashkyra“, grüßte Harry und hoffte, mit seiner Anrede richtig zu liegen. Der Kunde ist König, auch wenn er dieses Sektengetue für Vodoozeug hielt.
„Nein bitte…“ flüsterte die Stimme müde und heiser. „…nennen Sie mich Schmitt“, betonte er freundschaftlich.
„Meister Schmitt.“ Harry nickte verständig.
„Nein, bitte nur Herr Schmitt. Es ist mein richtiger Name. Michael Schmitt, der Name meiner Kindheit.“ Ein Anflug von Glück schwang in seiner Stimme, bevor er zu hüsteln begann. Die rechte Hand zog sich in den Schatten zurück und kehrte mit einer transparenten Atemmaske wieder. Die Maske schwebte empor, um erneut in das Schwarz einzutauchen. Das Surren und Blubbern kam von einem Inhalationsgerät. Soweit es die Schwäche des Mannes zuließ, inhalierte er tief. Unheimlich. Mit Blick auf den Tür-Öffnungshebel musste Harry an Darth Vader denken. Mit einem Räuspern senkte sich Hand und Maske wieder auf die Armlehne zurück.
„Haben Sie Nachricht von meiner Frau und meiner Tochter?“
„Es tut mir leid…“, begann Harry zaghaft. Es war das Beste, nicht lange drumherum zu reden. „Ihre Frau Martha ist vor vier Jahren bei einem Autounfall gestorben.“
„Vier Jahre…“, hauchte Schmitt heiser, als ob er es nicht glauben könne. Er schluchzte. „Als ich sie verließ, hätte ich noch 18 Jahre Zeit gehabt, sie um Verzeihung zu bitten. 18 Jahre, die ich in meiner Selbstsucht vergeudet habe.“ Wieder setzte er die Atemmaske auf und nahm einen tiefen Zug. „18 Jahre, die ich meine Tochter nicht habe aufwachsen sehen. Wie oft wird sie an mich gedacht haben? Sich nach mir gesehnt und geweint haben?
Ich war nicht da, als sie mich brauchte“, klagte er sich selbst an. „Kinder brauchen Väter…aber ich, ich, habe sie im Stich gelassen“, resümierte er angestrengt. Die Schuld lastete schwer auf seinem Gewissen. Im Dunkel blitzte das silbrige Brillengestell auf. Mit zittriger Hand legte er es zur Seite, um sich mit einem Tuch die Tränen abzuwischen.
„Das Grab Ihrer Frau befindet sich auf dem Alten Friedhof in Hamburg-Wandsbek.“ Harry sprach so einfühlsam wie möglich. „Es wird durch eine Friedhofsgärtnerei gepflegt. Also habe ich bei der Gärtnerei nachgefragt, wer die Pflege bezahlt und wo die Rechnung hingeht.“
Der Mann in dem Sessel bäumte sich auf und seine Hände krallten sich in die Lehnen. Die Hoffnung und Sehnsucht, die von ihm ausging, war geradezu greifbar.
„Ihre Tochter lebt und bezahlt die Grabpflege. Sie haben mir auch die Rechnungsadresse gegeben, aber…“ Harry scheute sich ein wenig, weiter zu berichten. „Es ist eine Postfachadresse in London. Soll ich weitermachen? Ich meine, der Kosten wegen.“
Der Mann beugte sich vor und sein Gesicht schälte sich langsam sich aus der Dunkelheit.
„Ich komme für alles auf Herr Winter.“ Der Schmerz oder auch die Schuld, bei dem Gedanken an sein Kind, schienen ihn zu überwältigen. „Nur bitte finden Sie meine Tochter Christiane“, flehte er mit zittriger Stimme.
Harry sah gebannt in das Antlitz seines Gegenübers. Wie jeder gute Privatdetektiv tat er gut daran, sein Bauchgefühl bei der Begegnung mit Menschen nicht gänzlich außer Acht zu lassen und wenn es sich meldete, so war es stets Misstrauen und hatte den Charakter einer Warnung. Doch das, was Harry in diesem Moment fühlte, konnte er nicht einordnen. Er empfand tiefes Zutrauen und seltsamerweise Trost beim Anblick dieses Verzweifelten und offenbar sehr kranken Mannes. So etwas hatte er noch nie erlebt und er begann, seinem Bauch für dieses so untypische Empfinden zu misstrauen. Derartig mit sich im Zwiespalt musterte der Detektiv den Mann scharf. Dann wusste er, warum dieser Mann Tausende begeisterte und ganze Hallen füllte: in ihm sah man etwas, das tiefes Vertrauen auslöste. Merkwürdig! Dieser Guru war etwas Besonderes…
Im Schutz der Kapuze bahnte er sich abseits den Weg durch die Arena. Jetzt nur keinen Tumult! Die Euphorie seiner Jünger und dieses kollektive beseelte Erwarten seines Bühnenauftritts beschämten ihn. Der Weg zurück war eine einzige Tortur. Doch schlimmer war der Sturm der beiden Seelen in seiner Brust. Ashkyra und Michael Schmitt trugen einen unerbittlichen Kampf aus…
Nach einer gefühlten Ewigkeit und mehr schlecht als recht erreichte er seine Garderobe. Er bat sich noch ein paar Minuten Ruhe aus und schickte die Maskenbildnerin wieder weg.
Mit zittrigen Fingern nahm er einen Hub aus seiner Asthmapumpe.
Niemand wusste von der Sehnsucht nach seinem früheren Leben und dem Treffen mit dem Detektiv. Traurig über den Tod seiner Ehefrau und doch so voller Hoffnung, seine geliebte Tochter zu finden, war es eben dieser gute Glaube, der ihm Kraft gab. Kraft für die Wahrheit und das Geständnis, dass er seinen Jüngern heute machen wollte. Eingehend betrachtete er sein bleiches, wächsernes Gesicht im Spiegel. Wie in Trance reiste er über die Stationen seines Lebens in die Vergangenheit. Reiste von Station Müdigkeit zurück zu Triumph, zur Hoffnung, den ersten Wagnissen bis hin zu seinen leidenschaftlichen Ambitionen. Er war jung, hatte Ideale und Energie. Vieles wollte er besser machen. Redegewandt wie er war, spürte er, dass er Herzen erreichen konnte. Überdies war es sein Aussehen, das tiefe Zuversicht erweckte. Mit der Zeit erwuchs in ihm das Gefühl, dass es seine Bestimmung war, den Menschen Heil zu geben, ihnen Orientierung, Liebe und Zutrauen angedeihen zu lassen. Er kündigte seine Stellung als Elektroingenieur, verfasste ein Grundsatzmanifest und gründete die LuxColumen. Er predigte in Fußgängerzonen und hielt Versammlungen in den Hinterzimmern von Gaststätten. Mit dem aufkommenden Internet verbreitete er seine Lehre weiter und fand immer mehr Anhänger. Mittlerweile füllte er Hallen. Dass in den Medien regelmäßig kritisch über ihn berichtet und gewarnt wurde, tat dem Zuspruch der Gemeinschaft keinen Abbruch - ganz im Gegenteil. Viele Menschen hatten das Vertrauen in die Gesellschaft verloren und so schien es, dass die öffentliche Warnung eines Sektenbeauftragten, ihm neue Anhänger nur so zutrieb. Martha hatte sich in ihn verliebt, als er noch ein bürgerliches Leben führte. Sie war seine Kommilitonin. Nach seiner Erleuchtung, wie er es nannte, unterstützte sie ihn anfangs - wenn auch mit gemischten Gefühlen. Martha erkannte, dass sie dem Ideal nicht gerecht werden konnten. Dass sie Menschen waren, überfordert, fehlbar und mit eigenen Interessen. Geduld ist nicht unbegrenzt. Hinzu kamen Anhänger, die weniger an das Ideal und die Lehre glaubten, als denn vielmehr an den Nutzen, der sich daraus ziehen ließe. Jede Idee, jedes Ideal zieht unweigerlich Glücksritter an. Beseelt und angezogen von Macht, unfähig durchzuhalten und intrigant. Martha wollte das alles nicht. Sie war ein guter Mensch. Wieder zischte die Asthmapumpe. An einem verregneten Augustabend kam es zum Abschied. Es war ihm, als wäre es erst gestern gewesen. Sein Blick verlor sich im Spiegel. Deutlich sah er die Szenerie vor sich und es schmerzte ihn:
Das wartende und hupende Taxi im Regen, davor Martha mit dem Baby im Arm wie sie ihn anflehte einzusteigen, wie sie auf ihn einredete, ihn bat, zu ihr zurückzukehren und ihr vertrautes Leben wieder aufzunehmen. Alles bot sie auf: ihre Liebe, ihr Baby Christiane, ihre gemeinsame Zukunft und Glück, eine übersichtliche und bescheidene Welt.
Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen, vor dem sie ihr Baby so gut wie möglich schützte. Eine Frau, die um ihr Glück kämpfte. Wieder hupte das Taxi und der Moment war gekommen. Bestärkt von den zweifelhaften Einflüssen seiner engeren Anhänger, erklärte er ihr, dass es ihm bestimmt sei, diesen Weg zu gehen und es ihr frei stehe, daran mitzuwirken oder ihn zu verlassen. Martha erkannte, dass sie ihn verloren hatte. Sie wandte sich um, stieg kraftlos in das Taxi. Mit dem Anfahren brach für sie eine Welt zusammen. Er sah sie nie wieder.
Mit der Gemeinschaft beschäftigt, seinem Narzissmus und seiner eitlen Überzeugung, unfehlbar zu sein, geradezu von höherer Macht dazu auserwählt, hatte er ganze 18 Jahre nicht an jene gedacht, die ihn wirklich geliebt hatten. Es war wie ein böser Traum, aus dem er erwacht war und sich in der monströsen Welt einer gewinnorientierten Fast-Food-Religion wiederfand - eine Welt, die er selbst geschaffen hatte. Er war das Zentrum, der Chairman dieses Konzerns, den er auch noch Kirche nannte.
Er war der Götze dieses verachtenden Mammons geworden, ein goldenes Kalb, um den alle herumtanzten. Wie hatte es nur soweit kommen können?
Ein Schock wallte in ihm auf und er musste keuchen. So groß die empfundene Schuld, so schwach sein Körper, als dass er etwas hätte unternehmen können. Panik bestürmte ihn. Es war die Angst, keine Zeit mehr zu haben, um wieder gut zu machen, was er in seiner Selbstsucht anderen angetan hatte. Der Gedanke mit dieser Schuld sterben zu müssen war ihm unerträglich. Was hatte er aus seinem Leben gemacht? Die Welt wollte er umpflügen. Aber sein Talent, die Menschen zu erreichen, war dazu bestimmt, in einem bescheidenerem Leben seinem Umfeld Trost und Halt zu geben. Martha hatte das gewusst. Sein schwaches Herz krampfte und übersprang einen Schlag. Er wusste, was zu tun war. Die LuxColumen hatten den Menschen nichts zu bieten, außer Klimbim, salbungsvolles Getue und Zinnober. Er war nur ein Mensch wie seine Jünger, dessen Zeit gekommen war. Das Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen kam ihm in den Sinn. Der in dem Märchen entführte Junge hieß Kay und dieser hatte einen Eissplitter im Herzen…
Der Überschwang freudiger Erwartung drang bis in seine Garderobe. Mit sehnsuchtsvoller Begeisterung forderten Einzelne sein Erscheinen. Die Türe flog auf und Shetana und Mewosha traten ein.
„Wo hast du nur gesteckt? Ich war in Sorge um dich“, flüsterte sie tadelnd und lächelte mild. „Hörst du…“ Mit einem schrägen Kopfnicken deutete sie zur Türe. „Sie lieben dich und verlangen nach dir.“ Shetana umarmte ihn von hinten und einander sahen sie sich über den Spiegel in die Augen.
„Meister Ashkyra, wir dürfen sie nicht länger warten lassen. Es ist Zeit…“, drängte Mewosha und senkte ergeben das Haupt.
„Ja, es ist Zeit“, wiederholte er. „Zeit zu tun, was getan werden muss“, sagte er so bedeutungsvoll wie immer und doch ließ es die beiden Besucher aufhorchen. Kaum merklich streiften sich ihre Blicke. War ihre Welt in Gefahr? Was der Finanzchef und Ashkyras Geliebte nicht wussten: Der Kampf war entschieden. Michael Schmitt hatte Ashkyra besiegt. Der Eissplitter war aus dem Herzen gezogen…
Die Lichtkegel, die wie übergroße Laserschwerter über die Köpfe der Anhänger sausten, verloren allmählich an Fahrt und glühten aus, während das intensive Rot der Flutlichter ebenso langsam ausglomm Die sphärischen Klänge nahmen ab, bis sie verstummten. Eher beiläufig hatte sich die ganze Arena erhellt. Die Sprechchöre ebbten ab. Eine sehnsüchtige Stille erfüllte das Oval. Nicht mehr lange und der Meister würde erscheinen. Ihn nur zu sehen, würde viele von ihnen in einen ekstatischen Glückszustand versetzen.
„Scharlatan!“, zischte es leise. „Dein Auftritt wird unvergesslich, das verspreche ich dir und deinen dummen Lämmern!“, flüsterte die Person mit leidenschaftlichem Hass. Schon fürchtete sie, gehört worden zu sein, und sah sich widerwillig um. Niemand beachtete sie. Die ganze Arena war eine dicke, klebrige Soße einer grenzenlosen, alles erstickenden Affenliebe. Diese Gehirngewaschenen waren der Gestalt zuwider. Eigentlich hatten sie nichts anderes verdient. Sollten sie doch nach Strich und Faden ausgenommen werden! Aber ich werde ihnen die Augen öffnen, schwor sie sich in Gedanken und ballte die Faust. Nur ein kleines Weilchen und ihr liegt euch heulend in den Armen. Ein hoffentlich heilsamer Schock.
Diese Person hatte andere Motive, als die Lehre des Meisters zu hören und das Glück der Gemeinschaft zu erfahren. Nein, sie war hier, um ein Zeichen zu setzen, eine Aktion durchzuführen. Tumult und Entsetzen waren die Attribute ihrer Botschaft. Nur so war sicherzustellen, dass die Gazetten in Deutschland und Europa dieser Nachricht die notwendige Aufmerksamkeit einräumten. Es war nicht zu vermeiden. Sie hatte den Plan gewissenhaft vorbereitet und geheim gehalten.
Geübt in dem typischen harmonischen Gebaren der Anhänger und getarnt mit einer Sonne auf der Stirn, bewegte sie sich unscheinbar. Das glückselige hochgehaltene Gesicht war so gut eingeübt, dass es zu häufigen, spontanen Umarmungen anderer „Sonnengezeichneter“ kam. Die Gestalt war kein Eisklotz. Derart im Arm gehalten, bat sie jedes Mal stillschweigend um Verzeihung für das, was sie zu tun gedachte. Dieser Kontakt hatte damit tatsächlich etwas Authentisches. Mit bedächtigen Schritten bewegte sie sich an den Rand der Arena, hin zu einer verschlossenen Türe, die in die Oberränge führte.
Alles war von langer Hand geplant. Aus einem spitz zulaufenden Edelstahlbehälter spritzte sie eine Mischung aus Salpeter- und Salzsäure in den Zylinder.
Das sogenannte Königswasser zerfraß das Metall. Es qualmte leicht und die Person drehte sich ab, um dem ätzenden Dampf zu entgehen. Ein verstohlener Blick über die Schulter, dann trat sie hinein und zog die Türe wieder zu.
Zielstrebig ging sie zu dem Mülleimer und zog die Tüte mit dem stinkenden Müll heraus. Mit einem Saugknopf, wie ihn Glaser benutzen, löste sie sodann den Boden. Darunter lag eine Werkzeugrolle, die sie an sich nahm. Ein Blick auf die Uhr: allerhöchste Zeit. Gleich würde Ashkyra erscheinen. Über die Treppen huschte sie ungesehen in den Oberrang und erreichte ihre Position. Von hier oben hatte man freie Sicht auf die Bühne. Im Schutz eines Pfeilers rollte sie die Werkzeugrolle auf.
Fein säuberlich geordnete Teile aus mattschwarz beschichtetem Stahl. Der Schaft verriet, dass es sich um ein Gewehr handelte. Geübt wurden die Teile klickend und schraubend zusammengesetzt. Dann kam das Herzstück: ein handgroßer blankpolierter Pfeil aus Titan. Ein Meisterwerk der Schmiedekunst! Die Spitze war wie eine Holzschraube gedreht. Drei Rillen durchzogen spiralförmig den Schaft und wurden zum Ende hin tiefer, wo sie sich übergangslos zu einem Propeller mit drei Flügeln ausbildeten. Dieser Propeller würde dafür sorgen, dass der Pfeil mit einer Rotation von 7.000 U/min sein Ziel erreichte. Der Vorhang zur Bühne öffnete sich…
Shetana strich ihm über das Haar und suchte besorgt seinen fiebrigen Blick. „Du wirst mir jetzt versprechen, dass dies der vorerst letzte Auftritt ist.“
Ashkyra wollte antworten, als sie ihm den Zeigefinger auf den Mund legte. „Meister!“, gebot sie bestimmt. „Bitte keine Ausflüchte. Das hier ist der letzte Auftritt und danach wirst du in eine Klinik fahren und ich komme mit. Du hast der Welt noch so viel Wichtiges mitzuteilen, dass wir auf die weltliche Medizin vertrauen sollten. Was musst du noch beweisen? Niemand hegt einen Zweifel an deiner Bestimmung“, stellte sie eindringlich fest.
Mewoshas Blick signalisierte Zustimmung.
Ashkyra erwiderte ihre Fürsorge mit nachsichtiger Güte und strich ihr über die Wange. Sein Gesicht strahlte Frieden aus. Alles war so deutlich. Für einen Augenblick nur atmete er befreit ein.
„Die Medizin ist mir bereits gegeben worden“, sagte er mit einem wissenden Glanz in den Augen. Dann gebot er ihnen Schweigen und betrat die Bühne. Einsam stand er vor dem geschlossenen Vorhang. Nur die Wahrheit würde ihn retten. Dieser Spuk musste beendet werden.
Der Vorhang glitt auseinander und schwebte auf dem letzten Drittel seines Weges in die Höhe. Bis in die kleinsten Ecken durchdrang einmütige Stille die Arena.
Auf der Bühne stehend schien er in sich zu ruhen und schwieg spannungssteigernd. Dann hob er sein Haupt und blickte über die Massen seiner Jünger. Dies tat er so andächtig und fließend, dass die Menschen beseelt die Zeit vergaßen und sich liebevoll von seinem Blick gestreichelt fühlten.
Mewosha stand abseits der Bühne und beneidete den Meister um eben diese Gabe, die Jünger derart in den Bann zu ziehen. Perfekt, dachte er, großartig. Ein Technokrat wie Mewosha wusste nicht, dass zu einem guten Schauspiel immer Authentizität gehörte. Niemals würde er deshalb Ashkyra das Wasser reichen können. So sehr er sich auch Chorgesänge a la Meister Mewosha in seiner Vorstellung wünschte.
Ashkyra stand einfach nur da. Etwa 5.000 Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Es war ihm anzusehen, dass er Scham und Demut empfand. Die Menschen liebten ihn. Hatten möglicherweise mit ihren Familien und Freunden gebrochen oder ihren Besitz aufgegeben, um ihm zu folgen.
Hälse reckten sich. Einige stellten sich wippend auf die Zehen und hielten sich erregt die Hände vor den Mund. Wieder andere schauten zwischen dem Videowürfel und der Bühne derart hin und her, als sähen sie ein Tennisspiel zu.
Der Meister war etwas größer als der Durchschnitt und von schlanker und zarter Gestalt. Das weiße Gewand langte ihm bis zu den Knöcheln und seine Füße steckten in schlichten Sandalen. Sein goldbraunes Haar war in der Mitte gescheitelt und ging ihm bis über die Schultern. Er hatte ein ebenmäßiges, offenes Gesicht. Seine Augen waren hellblau und hatten lange Wimpern wie die eines Kindes. Ein milder Glanz leuchtete darin und doch zugleich eine sinnende Nachdenklichkeit. Der Bart fiel ihm in geschmeidigen Wellen auf die Brust. Seine ganze Erscheinung war zutiefst beruhigend, wohltuend und von einer Reinheit und Schönheit, die in dieser Welt ihresgleichen suchte. Wer ihn sah spürte etwas in sich; eine aufkommende Ahnung, dass da mehr war, als der Alltag zugestand. Sein bleiches Gesicht leuchtete wie sein weißes Gewand und verstärkte die Emotionen bei seinem Anblick. Dann begann er zu sprechen…
„Ich danke euch für euer Kommen.“ In einer Geste breitete er den Arm in einem Halbkreis über die Jünger, als wolle er sie segnen „Und glücklich der Mensch, der euch zum Freund hat. Doch heute stehe ich hier zum letzten Mal, denn ich habe eure Freundschaft nicht verdient.“
Vor Erschöpfung machte Ashkyra eine Pause und schluckte trocken. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
„Das, was euch hergeführt hat, das, was ihr sucht, ist bereits in euch. Denn da, wo Sehnsucht ist, ist auch Erfüllung. Ihr formuliert die Frage und weil ihr das könnt, seid ihr der Antwort auf der Spur. Der Weg ist das Ziel. Habt keine Erwartung und sucht nicht in der Ferne, sondern sucht in euch selbst und ihr werdet finden. Es ist euch alles gegeben. Die LuxColumen oder mich braucht ihr dazu nicht.“ Das Geständnis fing an, ihn zu erleichtern.
Shetanas und Mewoshas schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich. Der Meister war drauf und dran, alles zunichte zu machen. Mit stockendem Atem hörten sie seine Worte. Shetana fing sich als erste.
„Dreh ihm das Mikro ab! Sofort!“, zischte sie.
Nervös fingerte Mewosha nach seinem Handy, um die Regiezentrale entsprechend anzuweisen. Eher beiläufig bemerkte er, wie im Oberrang etwas aufblitzte. Komisch, da oben ist doch abgesperrt, dachte er noch und tippte mit fliegendem Finger auf sein Smartphone. Diese verflixten Presseleute. Das Freizeichen ertönte. „Nun geh schon ran!“, presste er genervt und sah auf die Bühne, als ob er einer fatalen Kettenreaktion beiwohnte.
„Geht hin und konzentriert euch auf euch selbst. Vergesst nicht, das Gerechte und Gute zu tun. An euch selbst legt aber keinen Maßstab an, den nur Heilige erfüllen können. Das würde euch nur deprimieren. Tut was in euren Kräften steht. Schweigt darüber und ihr habt mehr getan als ihr euch vorstellen könnt. Ihr seid fehlbar und ich bin es auch.“
Es war ihm unheimlich, aber er musste feststellen, dass seine Jünger die Worte aufnahmen wie eine spendende Predigt. Kein Tumult, kein ungläubiges Staunen. Wie immer klebten sie glückselig an seinen Lippen und lauschten andächtig seinen Worten. Aber verstanden sie ihn? Er nahm sich vor, deutlicher zu werden, auch wenn es ihn Kraft kostete.
„Es ist an der Zeit, euch die Wahrheit zu sagen. Ich bin ein Betrüger und die LuxColumen sind nichts weiter als ein Geschäftsmodell. Ich bitte euch um Verzeihung und habe beschlossen….“
Plötzlich sirrte und pfiff etwas durch die Luft. Mit gehörigem Getöse schlug es in den Träger ein, der die Bühne zur rechten begrenzte. Der Beton platzte auf und spritzte weg. Als der Staub sich legte, kam ein Pfeil zum Vorschein, der sich bis zu Hälfte in die Säule gebohrt hatte. Vom Ende dieses Pfeils spannte sich nunmehr bis zum Oberrang ein feines Stahlseil. Dann zitterte das Seil wie eine Angelschnur und etwas donnerte auf die Bühne zu. Ashkyra war zutiefst erschrocken. Er fasste sich ans Herz und hatte höllische Schmerzen in der Brust.
In einem Klettergurt sitzend, der über einen Karabinerhaken mit einer Seilwinde verbunden war, sauste niemand anderes als Theofila Matzerowski auf die Bühne zu. In der Linken hielt sie einen Regenschirm, dessen gebogenes Griffstück sie auf das Seil setzte, um die Fahrt abzubremsen. Eine verrückte Aktionskünstlerin und prominent. Trotz ihrer 60 Jahre federte sie tänzelnd den Schwung ab und hatte sich im Nu ausgeklinkt. Nun stand sie resolut auf der Bühne. Gedrungene leicht untersetzte Gestalt, runde Hornbrille mit dicken Gläsern, auftoupierte lilafarbene Haare, straffe Schulterhaltung und eine energische Kinnpartie, die auf einen starken Willen schließen ließ. Zu ihrer Latzhose aus Jeansstoff trug sie ein kurzärmeliges T-Shirt, aus dem kurze fleischige Arme ragten. Ein indianisches Tattoo war zu sehen. An ihrem Klettergurt klimperten allerhand Karabiner und Keile, als ob sie den Mount Everest besteigen wollte und ihre Schuhe sahen aus wie die Einsatzstiefel eines Sondereinsatzkommandos. Ihre Erscheinung mutete an wie eine Mischung aus Miss Marple und James Bond.
Derart überrumpelt, kniff Mewosha die Augen zusammen. Er kannte diese Frau. Mit spektakulären Aktionen hatte sie bereits für Berggorillas, gegen Atomkraftwerke, für Frauenhäuser und gegen die Beschneidung von Frauen in Afrika gekämpft. Sie übergoss korrupte Politiker mit Gülle, überfuhr die Motorräder einer verbrecherischen Gang mit einer Straßenwalze und führte einen brünftigen Gorilla in die Zweizimmerwohnung eines Pädophilen, der Kinderpornografie ins Netz gestellt hatte - nicht ohne von außen abzuschließen. Bei ihren Aktionen setzte sie immer allerhand technische Spielereien und Gadgets ein. Dagegen mutete James Bond wie ein Waisenknabe an. Unvergessen wie sie mit einer Sitzblockade gegen Tiertransporte demonstriert und so den ganzen Verkehr lahmlegte. Unzählige Medienvertreter waren vor Ort. Die Polizei erschien, um sie fortzutragen. An beiden Armen untergehakt wollten die Polizisten sie abführen, als sie plötzlich stehen blieb und einen Schritt zurückging. Ihre Arme wurden immer länger und letztlich schielten die Polizisten verdutzt auf die Armattrappen in ihren Händen. Blitzlichtgewitter! Die Beamten hatte sich gerade von ihrem Schrecken erholt, da platzten Airbags aus den Oberarmen der Attrappen, auf denen stand: nieder mit der Fleischmafia. Für einen kurzen Moment wurden die Polizisten wieder zu kleinen furchtsamen Jungen. Theofila Matzerowski hatte sogar ihren eigenen Fanclub. Hartnäckig wie sie war, hatte sie mit den LuxColumen ihr endgültiges Thema gefunden. Diese Frau stand nun auf der Bühne. Der Überraschungsmoment kam ihr zugute. Sie ergriff das mitgeführte Megafon.
„Ich warne euch vor diesen Betrügern. Die LuxColumen sind falsche Propheten und die Botschaft, die sie für euch haben, lautet: SELBSTAUFGABE und AUSBEUTUNG“, schallte es aus dem Trichter.
Dann spannte sie den Regenschirm auf. Darauf stand: Sekten sind Menschenfeinde!
Theofila wunderte sich, dass sie nicht ergriffen und abgeführt wurde. Sie hatte einige Erfahrung und schätzte, dass sie ca. fünf Sekunden Zeit hatte, für ihre Botschaft. Was war nur los? Gehetzt legte sie nach. „Wenn ihr das mit euch machen lasst, dann seid ihr armselig bis dorthinaus! Ihr depperten Zombies!“
Drückende Stille. Kein Tumult, kein Protest, keine Sicherheitsmänner. Nichts! Theofila beschlich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. „Wo sind die Wachleute? Hier bin ich, nehmt mich fest“, spottete es aus dem Megafon. Die Gesichter in den ersten Reihen sahen traurig aus. Niemand schien sich, für sie zu interessieren. Die Augen der Menschen konzentrierten sich eher auf die linke Seite der Bühne. Ratlos folgte sie dem Blick des Publikums. Unglück und Schuld wallten in ihr auf. Hatte sie es mit dieser Aktion womöglich übertrieben?
Leblos lag er auf der Bühne. Sein Gesicht sah verkrampft aus und sein blondes Haar fächerte sich wie ein Heiligenschein auf dem Boden aus. Die rechte Hand hatte sich in Höhe seiner Brust in den Stoff gekrallt. Dann entspannte sie sich und glitt herunter. Er musste den Jüngern doch ein Geständnis machen und sie frei geben. Seine Tochter Christiane! Sie lebte. Er wollte sie kennen lernen und sie um Verzeihung bitten. Ich darf noch nicht gehen. Hilfe! Flehte er in seinen letzten Gedanken. Bevor er die Augen schloss, rollten diese nach hinten weg. Nein…Nein…bitte nicht…
Großbritannien, Tower of London, 18. März, 14:15 Uhr MEZ
Ein strahlend blauer Himmel über London. Die weite Ebene der Themse strömte eine gewisse Kühle ab und so war die Luft am Ufer stets etwas Erquickender als in der pulsierenden City.
London - Millionenmetropole, Sitz der Finanzwelt, altehrwürdig-traditionell und postmodern. Die Architektur als Sammelsurium ihrer Epochen: Skulpturen in Nischen, Türmchen und Erker, gewundene Treppen und Säulen in Nachbarschaft zu kühl wirkenden Hochhausfassaden. Von verziertem Fachwerk im Tudorstil über stuckverzierte weiße viktorianische Villen bis zur extravaganten 180 Meter hohen gläsernen „Gewürzgurke“ im Londoner Finanzbezirk. Goldbeschichtete Reiterdenkmäler und Videokunst. Backstein und Mörtel vis á vis zu Edelstahl und Glas.
Touristen ließen sich vor der Tower Bridge fotografieren. Gaukler jonglierten, Zauberer verblüfften mit ihren Tricks und Statuen wurden lebendig, wenn man ein paar Pence in den Hut warf. Kinder hielten Luftballons in den Händen. Es wurde Eis geschleckt, flaniert, beobachtet und das Leben genossen. Manch einer entschloss sich zu einem Besuch im Tower…
Yeoman Sergeant Jack Jeffries und Yeoman Warder Winton Delhayny standen auf dem Gelände des Towers bei den Volieren. Über den Rasen hinweg sahen sie den Besuchergruppen zu, die gemächlich vorüber schlenderten. Die Rasenfläche vor ihnen war mit einem kniehohen Drahtgeflecht umzogen. Dahinter pickten die königlichen Raben im Gras, sprangen mit ihren gestutzten Flügeln übermütig aufeinander zu oder stolzierten nickend mit hoch erhobenem Haupt umher.
Die beiden waren gerne Tower-Wächter. Darauf angesprochen antwortete Jack stets, dass es eine Berufung und kein Beruf sei. Nachdem er 28 Jahre verdienstvoll in der britischen Armee gedient hatte, entschied er sich für den Tower. Viele seiner alten Kameraden spotteten freundschaftlich. Museumsführer, Operettensoldat oder königlicher Juwelenputzer bekam er zu hören. Ihm machte das nichts aus. Seinen Entschluss hatte er nie bereut. Seit sieben Jahren trug er würdevoll den traditionellen blauen Waffenrock mit der rot-gestickten Königskrone auf der Brust und den blankpolierten Messingknöpfen. Roter steifer Kragen und blauer weiter Tudorhut. Er liebte es, Auskünfte zu erteilen, Besuchergruppen zu führen oder mal ein Wundpflaster aufzukleben. Gerne gab er Tipps für den weiteren Aufenthalt in der Stadt.
Hier war die Zeit stehen geblieben. Jack musste schmunzeln, bei dem Gedanken, dass das Towergelände vielleicht so etwas wie ein Raum-Zeit-Kontinuum war, innerhalb dessen nichts alterte - also auch er und seine Frau nicht.
35 Yeoman Warders wohnten mit ihren Familien hier und bildeten eine richtige Dorfgemeinschaft. Und wie in jedem Dorf gab es ein oder zwei Leute, die nicht miteinander redeten, einen Bürgermeister, seines Zeichens ihrer aller Chief, eine Kirche, einen Dorfanger und einen nicht öffentlichen eigenen Pub - den Yeoman Warders Club. Angst vor Einbrechern brauchte man nicht zu haben und von wo auch immer auf der Welt eine Postkarte abgeschickt wurde: Tower und London genügte und sie kam an.
Winton Delhayny nahm sich den Tudorhut vom Kopf, fächelte sich Wind zu und sah hinauf in den wolkenlosen blauen Himmel.
„Pfhhh…“, stöhnte er. „Verdammt heiß heute. Sir! Bitte um Genehmigung, Nachtschicht machen zu dürfen“, sagte er kraftlos, kratzte sich am Kopf und setzte den Hut wieder auf. „Abgelehnt. Der Schichtplan eines Yeoman Warder ist kein Wunschkonzert!“, entgegnete Jack mit der ihm eigenen nüchterner Autorität eines Vorgesetzten.
„Hast du schon einmal durch den Sucher einer dieser neuen japanischen Kameras geblickt?“, grinste Delhayny schelmisch. Jack wusste, was kam. Seinem Mitarbeiter steckte mal wieder der Schalk im Nacken.
„Nein, habe ich nicht.“
„Du wirst es nicht glauben. Letztlich bat mich eine japanische, chinesische, taiwanesische, vietnamesische oder thailän…“
„Was willst du mir eigentlich sagen, Winton?“
„Asiaten. Es waren Asiaten aus Fernost.“
„Und?“
„Ach ja! Sie baten mich, ein Foto von ihnen zu machen.“
„Das ist ja noch nie vorgekommen, Sachen gibt es!“, bemerkte Jack mit süffisantem Unglauben.
„Nein, was ich dir sagen will und das ist wirklich unfassbar: die Reisegruppe postiert sich vor dem White-Tower, ich dirigiere sie ein bisschen und wie ich durch den Sucher blicke…“ Winton schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben: „…sehen die auf einmal ganz verändert aus. Also ich meine: schlanker, interessanter, kontrastreicher, ein Hingucker halt. Ich schau wieder über die Kamera hinweg und sehe wieder eine typische chinesische Reisegruppe. Du weißt schon: Werktätigen-Hose, Faltenrock, Gesundheitsschuhe, hautfarbener Parker, ausgeglichenes Grinsen und irgendwie alle einander ähnlich.
Ich gucke nochmal durch den Sucher und sehe regelrechte Filmstars - wie aus einem Modemagazin entsprungen.“ Winton schüttelte mit ungläubiger Begeisterung den Kopf. „Ich sage dir: die Japaner haben eine Kamera erfunden, die einen schönt. Doppelkinn, Tränensäcke, Glatze, Warzen, Klappohren, Trinkernase, Überbiss - alles kein Problem mehr. Mit dieser Kamera gelingt jedes Foto. So ne Art Autokorrektur.“ Winton machte begeistert eine ausladende Geste. „Wenn wir eine solche Kamera hätten, könnten wir uns selbständig machen. Die Leute rennen uns die Bude ein.“
Jack schaute seinem Untergebenen prüfend ins Gesicht.
„Dir ist wohl zu heiß unter dem Hut geworden. Vielleicht sollte ich von dir auch mal ein Foto machen“, sagte er mit Blick auf den gedehnten Waffenrock seines Kollegen.
Winton ging nicht darauf ein. „Und jetzt kommt es…“ kündigte er mit großen Augen an. „Dann sollte ich noch ein Foto machen. Also, guck ich wieder durch den Sucher…“, sagte er und suchte gestikulierend nach Worten.
„Und?“, wiederholte Jack gespannt „Alles Micky-Mäuse?“, mutmaßte er.
„Nein,…alle splitterfasernackt. Stell dir vor: sechs nackte Chinesen vor dem White-Tower- Gruß aus London.“
„Aber kein Kontrabass, oder?“ Jack konnte sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen.
Plötzlich zupfte Winton seinen Vorgesetzten hektisch am Ärmel. „He Jack! Sieh mal da rüber. Was ist denn das?“ Winton deutete auf den Zaun in 30 Yards Entfernung.
Prustend merkte Jack auf und wurde mit einem Mal sehr ernst. Von dort hinten kroch etwas auf sie zu. Das Ding bewegte sich sehr behäbig, war schienbeinhoch und hatte eine Kuppel.
„Hähh?“, stieß Winton unschlüssig aus.
„Das ist ja eine Schildkröte!“, erkannte Jack das Wesen. „Winton! Wenn das wieder einer deiner Späße ist…“
„Ich habe keine Ahnung und ich schwöre dir: mit Schildkröten habe ich nichts im Sinn. Schau nur wie groß die ist“, staunte er. „Das ist eine große Landschildkröte oder Galapagos Schildkröte. Hab ich mal in einem Tierfilm gesehen“, erinnerte sich Winton.
Die Raben hüpften flatternd auf dieses seltsame Ding zu, sprangen auf den Panzer und pickten neugierig darauf herum, um es zu untersuchen.
Jack Ward pustete kraftlos aus und versuchte, sich zu erinnern, wo das Telefonbuch war, um die Nummer eines Tierheims oder Zoos in Erfahrung zu bringen. In jedem Fall bedeutet das Scherereien, Telefonate, Abstimmung und wiederholende Erklärungen, bis das Reptil untergebracht war.
„Schöne Tierfreunde sind das!“, empörte sich der Sergeant. „Erst holen sie sich solche Viecher ins Haus und wenn sie zu groß oder unbequem werden, setzen sie sie einfach aus.“
„Und das ausgerechnet im Tower“, stellte Winton deprimiert fest. „Na ja, hier können sie wenigstens sicher sein, dass für die Kröte gesorgt wird“, schlussfolgerte er. Die beiden gingen dem Tier entgegen. Wenige Schritte davor blieben stehen. Das Geräusch irritierte sie.
„Hörst du das?“ Jack neigte den Kopf, um besser zu hören.
„Ich höre das Summen von Elektromotoren!“, war sich Winton sicher. Dann traten sie näher heran, um das Ding unschlüssig, jedoch höchst interessiert, in Augenschein zu nehmen.
„Das ist keine Schildkröte, sondern eine Maschine“, stellte Jack verblüfft fest. „Sieh nur!“ sagte er und deutete auf ein kleines Röhrchen am Heck, aus dem unablässig etwas herauskullerte. Den Raben schien es zu schmecken. Futterneidisch kreischten, hüpften und flatterten die Raben um die Maschine herum und pickten es begierig auf.
Jack hob eines auf und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe, um es besser betrachten zu können. „Hundekuchen! Das Ding hier gibt stetig Hundekuchen aus.“ Ein Rabe zu seinen Füßen stieg flatternd auf, um ihm das Leckerli aus den Händen zu stibitzen.
„Wir müssen die Raben verscheuchen. Sie dürfen das nicht fressen.“ Kaum hatte Winton den Satz beendet, geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatten: aus der Schildkrötenattrappe ertönte kratzend die englische Nationalhymne.
„♫ ♪..God save the Queen♫ ♪♪…“
In einem Reflex machten sie Anstalten Haltung anzunehmen, bemerkten aber sofort, wie absurd das war.
Der Sergeant suchte die Umgebung ab. Vielleicht konnte er irgendwo eine Funkantenne erblicken. Das Ding war bestimmt ferngesteuert und der Pilot nicht fern. Sollten sie Akteure der Versteckten Kamera sein? Ihrer beider Aufmerksamkeit wurde von einem erneuten mechanischen Surren unterbrochen. Vor Schreck sprangen sie einen Schritt zurück und bekamen eine Ahnung, dass hier etwas gehörig faul war. Die Nationalhymne klang aus. Der Panzer teilte sich in der Mitte und unter ihren misstrauischen Blicken fuhren die beiden Hälften gleichmäßig auseinander. Es zischte und Trockeneisnebel stieg auf. In den Nebel projizierte ein grüner Laser einen Totenkopf, der nunmehr über dem geöffneten Panzer schwebte.
Böse loderten grüne Flammen in den Augenhöhlen. In diabolischer Verzückung machte der Totenkopf einen Spitzmund, als wolle er einen lieblichen Vers von sich geben. Stattdessen lachte er kalt und gemein. Winton bekam eine Gänsehaut.
„Hahh…Hahhh….Hahhhhh“, spie der Schädel mit elektronischer Stimme, während zischend Nebel nachgeschossen wurde. „Es ist noch nicht vorbei, ihr Königstreuen“, flüsterte dieser in grotesker Weise lieblich schmeichelnd.
Einige Raben fingen an, orientierungslos zu torkeln, andere flatterten im Todeskampf auf dem Rücken. Wiederum andere lagen tot im Gras. Die Projektion höhnte währenddessen munter weiter: „Habt euch wohl von eurer Familie verabschiedet, nicht dass ihr noch Zukunftspläne schmiedet. Habt genossen das Morgenrot, denn in wenigen Sekunden seid ihr tot. ICH BIN EINE BOMBE! Ha..Ha..Ha..“ Ein Trommelwirbel, wie bei einem Erschießungskommando, erklang. „Sieben…“ Jack und Winton erfasste schiere Panik. „Schnell weg hier!“, rief Winton panisch. Beide schrien „Runter! Runter!“ und machten ausladende engagierte Gesten, um die Touristen zu warnen. Auf seiner Flucht riss Jack einen kleinen Jungen mit.
Emotionslos zählte die Bombe runter. „…sechs….fünf…vier…drei.“ DETONATION! Die Druckwelle war so gewaltig, dass die Scheiben an der Südseite des White Towers und der königlichen Kapelle St. Peter and Vincula barsten. Der Knall war bis South Kensington zu hören und als er über den Himmel der Stadt verhallte, trat eine Stille ein, die wie geschaffen dafür war, die Szenerie des Grauens in Gänze und ungefiltert in sich aufzunehmen.
Dort, wo die Attrappe gestanden hatte, war ein knietiefes, rauchendes Loch mit einem Durchmesser von zwei Yards. Vereinzelt kippten Scherben aus den geborstenen Fensterrahmen, Besucher lagen auf dem Boden, hielten schützend die Hände über dem Kopf und wagten nicht, sich zu rühren. Unheimliche Todesstille untermalte wie eine Melodie das Bild der Verwüstung. Taubheit trat ein. Allmählich bewegten sich die Menschen wieder. Vorsichtig sahen sie auf, stöhnten, husteten und suchten Orientierung. Kinder begannen zu weinen oder schrien auf und Eltern hielten ihnen die Augen zu. Von überall her näherten sich die Sirenen der Rettungswagen, der Metropolitan Police und der City of London Police. Das Geheul der Sirenen forcierte das Beleben der Szenerie. Vereinzelt brach Panik aus.
In lieblich verspielten Kapriolen schwebte aus der Höhe eine einzige schwarze Feder dem Erdboden entgegen und setzte sanft auf. Alle königlichen Raben waren tot. Der Sage nach ist das Königreich in großer Gefahr, wenn die Raben den Tower verlassen…
Deutschland, Herzzentrum Uniklinik Köln, 24.April; 11:39 Uhr MEZ- noch 46 Tage, 12 Stunden, 21 Minuten bis Tag „V“
Erinnerungsfetzen eines Alptraums blitzten in seinem Hirn auf. Er warf den Kopf hin und her, als könne er diese Bilder aus seinen Ohren schütteln. Leben und Tod. Geräusche, Stimmen. Hektik, Schock. Er sah sich selbst auf der Bühne liegen. Sie zeterten, schrien, ohrfeigten ihn und hämmerten auf seiner Brust herum. Dann kamen Männer. Drei an der Zahl. Sie ähnelten einander und bahnten sie sich ruppig ihren Weg, drängten und schubsten. Sie knieten sich zu ihm herab und zerrissen sein Obergewand. Es wurde heiß auf seiner Brust und er stürzte in ein endloses tiefschwarzes Nichts. Er war weder glücklich noch traurig. Zeitlos, beruhigend, behütet und irgendwie fließend. Er hatte das tröstliche Gefühl, nicht allein zu sein. Leben und Tod verhandelten miteinander. Jeder, der einen Blick in die andere Welt getan hatte, war nicht mehr der gleiche, der er vorher war. Er fuhr die Rückenlehne seines Krankenbetts etwas hoch und sah in den Innenhof, mit dem gepflasterten Rondell, den dekorativen Geflechtpyramiden. Unter kleinen Bäumchen standen Holzstühle. Er schob die Gardine ein wenig zur Seite. Um das Rund leuchtete der Rasen im gleißend warmen Sonnenschein. Das Licht schmeichelte seinen Augen. Sehr lange hatte ihn das Weiß seiner Zimmerdecke geblendet – unfähig, aufzustehen oder sich zur Seite zu drehen. Durch das geöffnete Fenster strömte der liebliche Duft eines Frühsommers. Die leichte Brise ließ die Blätter leise rauschen. Die Sonne brach vereinzelt durch die Kronen und sorgte rund um den Stamm bodenseitig für ein zauberhaftes Muster - gemalte Tupfer aus Licht und Schatten, die sich zärtlich aufeinander zu bewegten, miteinander wogen wie kleine Gesichter, die sodann einander küssten. Ein Windhauch ließ sein dünnes Krankenhemd plustern; seine Haut blühte förmlich auf.
Einige Patienten in Rollstühlen und ihre Besucher genossen den Aufenthalt im Freien. Die Menschen waren zutiefst dankbar in diesem glücklichen Bewusstsein des Lebens und der Ehrfurcht davor. Es gab ihm Kraft, die Gelassenheit, Demut und Zuversicht zu spüren. Diese Empfindungen freuten ihn. Ganz allmählich begann er, wieder neu zu erfahren, zu fühlen, zu schmecken, zu sehen - er lebte. Lange war er in dieser Zwischenwelt gefangen gewesen. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern, an diesen gleichförmigen Zustand, der Größeres versprach und dennoch ungewiss blieb. Mehr als einmal war er versucht, loszulassen und sich derart treibend aller Erkenntnis zu ergeben. Störend drangen aus dem irdischen Leben Bruchstücke, Fragmente zu ihm hindurch. Hektik, Lichtblitze und Schmerzen in und auf seiner Brust, Hubschrauberdröhnen und panische Worte wie: er stirbt, Blutgruppe, Einverständnis, nicht serienreif und Prototyp.
Er durfte noch nicht gehen. Zwei Dinge hatten ihn kämpfen lassen. Wie ein heißer Sturm weckten sie seinen Appetit, seine Sehnsucht und den Drang nach Leben. Er musste den Menschen zurückgeben, was er ihnen an Hab und Gut und besonders an Seele gestohlen hatte. Und er musste seine Tochter Christiane finden. Er durfte noch nicht sterben, sondern wollte versöhnen und versöhnt werden. Wie ein Taucher aus den Tiefen des Ozeans arbeitete er sich mühsam empor. Auf seinem Weg begleitete ihn Schuld, die Hoffnung auf Vergebung und schließlich Dankbarkeit, als er wie ein Ertrinkender durch die Wasseroberfläche brach. Michael Schmitt wusste, dass seine zweite Chance gekommen war, als man ihm mit einer Lampe in die Augen leuchtete und ihn streng und bestimmt zum Sprechen aufforderte.
Es brauchte seine Zeit und er fühlte eine glückliche kindliche Neugier, im Erfahren der ersten Sinneseindrücke, der Farben, der Geräusche - wenn es auch nur asthmatisch pumpte, piepte surrte und fauchte. Für ihn war es wunderbar.
„Prototyp“, flüsterte er. Was hatten die Ärzte nur mit ihm angestellt? Trotz der Schmerzmittel taten ihm Rücken und der Brustkorb höllisch weh, als wäre eine Elefantenherde darüber getrampelt. Mit Befremden sah er auf die monströse Apparatur, die neben seinem Bett stand. Mit den Kabeln, Schläuchen, Schaltern, Monitoren und blinkenden Dioden sah dieses unübersichtliche Ding aus, als würde es alle Technik, die ihm zu nahe kam, einverleiben und derart immer weiter wachsen. Eines der fingerdicken roten Kabel führte von der Maschine weg zu ihm. Unterhalb vom Saum seines Krankenhemdes nahm es Körperkontakt zu auf und schlängelte sich über den Bauch hinauf zu seiner Brust, wo es endete. Eine Beule auf dem Hemd markierte die Stelle. Wie der Fangarm einer Krake hielt ihn dieses Technikungeheuer gepackt, als wolle es ihn gleichfalls heranziehen und einverleiben.
Von seinem Blut ernährte es sich schon. Davon zeugten Kanülen in seiner Leiste und Armbeuge, deren transparente Schläuche seinen Lebenssaft transportierten.
Das war bei weitem nicht der einzige beunruhigende Gedanke. Weitaus schlimmer war für ihn, dass er keinen Puls mehr fühlte. So sehr er danach tastete - nichts. Etwas war in seiner Brust. Ein Fremdkörper - das konnte er deutlich fühlen, dennoch traute er sich nicht, die Stelle zu untersuchen, wo das Kabel in sein Fleisch überging. In diesem Moment öffnete sich die Tür zu seinem Krankenzimmer.
Der Professor mit höfischem Gefolge betrat den Raum. Das Weiß der Arztkittel weckte in Michael ungute Assoziationen an Tunika und Kaftan der LuxColumen. Der Chefarzt hatte schütteres Haar und einen ehrfurchtgebietenden durchdringenden Blick.
Es waren die Augen eines Menschen in dessen Brust Technokratie und Humanismus stetig miteinander kämpften und der wusste, dass es für die Qualität seiner Arbeit wichtig war, dass keines dieser Elemente jemals die Oberhand gewann.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte der Mediziner und schien unschlüssig wie er Michael anreden sollte.
„Herr Ashkyra“, vollendete er und sah sich unsicher im Kreise der jungen Assistenzärzte um. Im Gegensatz zu ihrem Chef machten sie einen abgeschlagenen und müden Eindruck. Ränder unter den Augen und der Dreitagebart der Männer sprachen für sich. Dennoch leuchteten ihre Gesichter bewundernd, wenn der Professor sprach und ehrfürchtige Aufmerksamkeit begleitete jede seiner Äußerungen, als wäre sein Tun eine heilige Handlung - Halbgötter in Weiß.
Auf dem Weg zum Krankenbett streckte ihm der Arzt freudig die Hand entgegen.
„Mein Name ist Michael Schmitt“, stellte sich Michael vor und versuchte, einen kräftigen Händedruck.
„Im Kollegenkreis waren nicht alle der Meinung, dass Sie es schaffen werden“, sagte der Arzt ernst.
„Was ist mit mir geschehen?“ Michael sah auf das Namensschild auf dem weißen Kittel. „Professor Richartz“, fügte er an und musterte den Arzt.