Aus Angst wird Mut - Thich Nhat Hanh - E-Book
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Thich Nhat Hanh

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Beschreibung

Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit? Wie entstehen unsere Gedanken und Gefühle, und wie können wir sie beeinflussen? Ist ein Umgang mit negativen, hemmenden Gefühlen wie Wut oder Angst möglich, der uns zu freien, mutigen Menschen werden lässt? Antworten auf diese Fragen gibt Thich Nhat Hanh in seinem grundlegenden Buch zur buddhistischen Psychologie. Er zeigt, dass letztlich wir selbst die Schöpfer unserer Lebenswirklichkeit sind.

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Seitenzahl: 375

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THICH NHAT HANH

Aus Angst wird Mut

Grundlagen buddhistischer Psychologie

____________

Fünfzig Verseüber dieNatur des Bewusstseins

Aus dem Englischen von Thomas Geist

Besuchen Sie Theseus im Internet: www.Theseus-Verlag.de

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Transformation at the Basebei Parallax Press, P. O. Box 7355, Berkeley, CA 94707, USA

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book Ausgabe 2014

© 2001 by Unified Buddhist ChurchCopyright der deutschen Ausgabe © 2003 by Theseus inJ. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld.

Lektorat: Dr. Ulrich Scharpf / Ursula Richard

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld, www.mbedesign.deUnter Verwendung eines Fotos: © Hildegard Morian Satz und Gestaltung: Ingeburg Zoschke E-Book Gesamtherstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.

www.weltinnenraum.de

ISBN Print 978-3-89901-966-7ISBN E-Book 978-3-89901-939-1

Inhalt

Einführung

Fünfzig Verse über die Natur des Bewusstseins

Kommentare

Teil ISpeicherbewusstsein

Eins Der Geist ist ein Feld

Zwei Vielfalt der Samen

Drei Manifeste und nicht manifeste Samen

Vier Übertragung

Fünf Individuelle und kollektive Samen

Sechs Die Qualität der Samen

Sieben Gewohnheitsenergien

Acht Felder der Wahrnehmung

Neun Reifung und das Gesetz der Affinität

Zehn Die Fünf Universellen

Elf Die Drei Dharmasiegel

Zwölf Samen und Gebilde

Dreizehn Indras Netz

Vierzehn Vorstellungen überschreiten

Fünfzehn Große Spiegelgleiche Weisheit

TEIL IIManas

Sechzehn Samen der Verblendung

Siebzehn Begreifen

Achtzehn Das Zeichen eines Selbst

Neunzehn Die Basis des Heilsamen und des Unheilsamen

Zwanzig Die Begleiter von Manas

Einundzwanzig Manas folgt stets dem Speicherbewusstsein

Zweiundzwanzig Erlösung

TEIL IIIGeistbewusstsein

Dreiundzwanzig Sphäre des Erkennens

Vierundzwanzig Wahrnehmung

Fünfundzwanzig Der Gärtner

Sechsundzwanzig Nicht-Wahrnehmen

Siebenundzwanzig Geisteszustände

TEIL IVFormen des Sinnesbewusstseins

Achtundzwanzig Wellen auf dem Wasser

Neunundzwanzig Direkte Wahrnehmung

Dreißig Die geistigen Gebilde

TEIL VDie Natur der Wirklichkeit

Einunddreißig Subjekt und Objekt

Zweiunddreißig Wahrnehmender, Wahrgenommenes und Ganzheit

Dreiunddreißig Geburt und Tod

Vierunddreißig Andauernde Manifestation

Fünfunddreißig Reifung

Sechsunddreißig Kein Kommen, kein Gehen

Siebenunddreißig Ursachen

Achtunddreißig Bedingungen

Neununddreißig Wahrer Geist

Vierzig Konstruierte, wechselseitig abhängige und erfüllte Natur

TEIL VIDer Pfad der Praxis

Einundvierzig Der Weg zur Praxis

Zweiundvierzig Blumen und Abfall

Dreiundvierzig Intersein

Vierundvierzig Rechte Sicht

Fünfundvierzig Achtsamkeit

Sechsundvierzig Verwandlung an der Basis

Siebenundvierzig Der gegenwärtige Augenblick

Achtundvierzig Sangha

Neunundvierzig Nichts zu erreichen

Fünfzig Furchtlosigkeit

Anmerkungen

Einführung

Der vietnamesische Zenmeister Thuong Chieu (12. Jh.) sagte: »Wenn wir verstehen, wie unser Geist funktioniert, wird die Praxis einfach.« Das vorliegende Buch zur buddhistischen Psychologie soll helfen, die Arbeitsweise des Geistes zu verstehen, indem es die Natur des Bewusstseins begreifbar macht. Die Fünfzig Verse lassen sich als eine Art Straßenkarte für den Pfad der Praxis lesen. Der Buddha hat durch Meditation seinen eigenen Geist zutiefst verstehen können, und seit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren arbeiten auch die, die seiner Lehre folgen, daran, sich so um ihren Körper und Geist zu kümmern, dass Transformation und Frieden möglich werden.

Die Fünfzig Verse beruhen auf den wichtigsten Strömungen buddhistischen Denkens in Indien, von den Abhidharma-Lehren des Pali-Kanon1 bis zu den späteren Mahayana-Lehren wie dem Avatamsaka-Sutra. Die Entwicklung der buddhistischen Philosophie und Lehre in Indien wird gemeinhin in drei Perioden unterteilt: Ursprungsbuddhismus, Buddhismus der Vielen Schulen und Mahayana-Buddhismus.2 Die Fünfzig Verse enthalten Elemente aus den Lehren aller drei Perioden.

Der Abhidharma (wörtlich »Besonderes Dharma«) ist ein Grundlagentext des Ursprungsbuddhismus. Einhundertvierzig Jahre nach dem Hinscheiden des Buddha, teilte sich die Sangha3 in zwei Strömungen, die Sthaviras4 und die Mahasanghikas. Dies war der Übergang zur Periode der Vielen Schulen, in der achtzehn oder zwanzig neue Schulen entstanden, in den meisten Fällen aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über einzelne Punkte der Lehre.5 Aus den Sthaviras entstanden später zwei Unterschulen, die Sarvastivadins und die Sautrantikas. Der andere Hauptzweig des Buddhismus der vielen Schulen, die Mahasanghikas, bildete einen der Vorläufer der dritten großen Phase des Buddhismus in Indien, dem Mahayana (wörtlich »Großes Fahrzeug«).6

Während seiner Lebzeit war es der Buddha, der die Lehren lebte und verkörperte, aber nach seinem Tod blieb seinen Schülern die Aufgabe, seine Lehren zu systematisieren, damit sie auch in Zukunft studiert werden konnten. Der Abhidharma war die erste dieser Sammlungen, aber die Arbeit ging auch in den folgenden Jahrhunderten weiter, in denen sich die buddhistische Philosophie entwickelte. Im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung verfasste Buddhaghosa ein für die Systematisierung äußerst wichtiges Werk, den Weg zur Reinheit (Visuddhi-Magga).7 Etwa zur gleichen Zeit erarbeitete der Mönchsgelehrte Vasubandhu eine Zusammenfassung und einen Kommentar der Lehren Buddhas unter dem Titel Schatz des Abhidharma (Abhidharma-kosha-bhashya).8

Vasubandhu studierte und praktizierte mit einer Reihe buddhistischer Schulen in der Gegend von Gandhara im heutigen Nordpakistan. Dann begab er sich nach Kaschmir, dem Zentrum der Sarvastivada-Schule (die zur Basis eines Großteils des frühen chinesischen Buddhismus wurde). Die Sarvastivadins gestatteten ausschließlich Kaschmiris, mit ihnen zu studieren und zu praktizieren. Vasubandhu verkleidete sich daher, um die Lehren hören zu können. Nachdem er seine Studien bei den Sarvastivadins abgeschlossen hatte, verfasste Vasubandhu sein Abhidharma-kosha-bhashya. Seine Lehrer erkannten, dass er ein großes Verständnis der Lehren ihrer Tradition erworben hatte, allerdings bemerkten sie nicht, dass das Abhidharma-kosha-bhashya auch Lehren der Sautrantika und anderer Schulen enthielt.

Vasubandhu hatte einen Halbbruder, Asanga, der ein verwirklichter Mönch des Mahayana-Buddhismus war. Dieser verfasste eine wichtige Abhandlung zum Abhidharma vom Standpunkt des Mahayana, das Mahayana-samgraha-shastra9. Asanga sprach mit Vasubandhu oft über die Bedeutung der Mahayana-Lehren; Vasubandhu jedoch blieb skeptisch. Er schätzte die Lehren und die Praxis der Mahayana-Schulen, war jedoch der Meinung, dass die späteren Entwicklungen, einschließlich des Mahayana, kein authentischer Buddhismus mehr seien. In einer Vollmondnacht dann, als Vasubandhu Gehmeditation übte, begegnete er Asanga, der an einem klaren Teich stehend Mahayana-Lehren rezitierte. Plötzlich erlebte Vasubandhu einen Durchbruch zu der Tiefe und Schönheit des Großen Fahrzeugs, und von diesem Zeitpunkt übten und lehrten die Brüder den Mahayana-Buddhismus gemeinsam.

Vasubandhu gilt als Patriarch und bedeutendster Vertreter der Vijnaptimatra- oder Nur-Manifestation-Schule, die aus der Yogacara-Schule des Mahayana hervorging.10 Er schrieb Kommentare über Asangas Werke und verfasste selbst zwei wichtige Abhandlungen in Versform zu den Lehren der Nur-Manifestation-Schule, das Vimshatika (Zwanzig Verse) und das Trimshika (Dreißig Verse).11

Aufgrund von Vasubandhus Training in den unterschiedlichen Traditionen hat sich die Nur-Manifestation-Schule aus dem Abhidharma der Sarvastivada-Schule und Vasubandhus eigenem Werk, dem Abhidharma-kosha-bhashya, das er noch vor seinem Kontakt mit dem Mahayana verfasste, entwickelt. Daher enthält die Nur-Manifestation-Schule viele Elemente nicht mahayanischen Ursprungs. Die Werke Vasubandhus haben dem Großen Fahrzeug tief und wirksam gedient, aber sie wurden niemals hundertprozentig Mahayana. Selbst zweihundert Jahre nach seiner Zeit galt die Nur-Manifestation-Schule noch als »Übergangsfahrzeug«.12

Im siebten Jahrhundert reiste der chinesische buddhistische Mönch Xuanzang (600–664), der auch der »Pilger« genannt wurde, nach Indien und besuchte die Universität von Nalanda, den Hauptsitz buddhistischer Studien. In seinen Reisechroniken aus Zentralasien und Indien beschreibt Xuanzang, dass zu seiner Zeit zehntausend Mönche in Nalanda studierten.13 Unter der Anleitung von Meister Shilabhadra studierte Xuanzang den Nur-Manifestation-Buddhismus. Shilabhadra, damals schon einhundert Jahre alt, war der Rektor von Nalanda und der letzte der berühmten »Doktoren« der Nur-Manifestation-Schule. (Vasubandhu war der erste, Sthiramati14 ein weiterer und Dharmapala, Shilabhadras eigener Lehrer, war der neunte.)

Im Vergleich der Werke Sthiramatis und Dharmapalas lässt sich ihr unterschiedlicher Zugang zur Nur-Manifestation deutlich erkennen. Der Originalkommentar Vasubandhus wurde zudem von Dignaga erweitert, indem er Elemente der Epistemologie und der Logik hinzufügte. Diese Mischung der Lehren studierte Xuanzang in Nalanda und später in China. Gegründet auf die Lehren von der Manifestation des Bewusstseins begründete er eine Schule, die Wei Shi (Nur-Bewusstsein) genannt wurde. Außerdem verfasste er einen Kommentar zu Vasubandhus Dreißig Versen mit dem Titel Standardverse über die Acht Formen des Bewusstseins15. Xuanzang vertrat auch die Idee der »drei Bereiche« der Wahrnehmung, ein System, das die Qualitäten der Wahrnehmung in Bezug auf unterschiedliche Ebenen des Bewusstseins beschreibt. Er schrieb ein kurzes Gedicht über die drei Bereiche der Wahrnehmung, »Das Wesen des Wahrgenommenen-an-sich, wenn es nicht nach unserem Geist geht«, das in Kapitel Vierundzwanzig des vorliegenden Buches wiedergegeben ist.

Ein Jahrzehnt nach Xuanzang präsentierte der chinesische Mönch Fazang die Lehren der Nur-Manifestation auf eine ganz und gar dem Mahayana entsprechende Weise. Fazang war ein Student der Blumenschmuck-Lehrrede (Avatamsaka-Sutra) und sein wichtiges Werk Die Wunderbare Bedeutung des Avatamsaka16 nahm diese Lehren auf, besonders die Idee des »eins ist alles, alles ist eins«, um die Lehren der Nur-Manifestation zu bestätigen. Fazangs Bemühungen hatten allerdings keine langfristige Wirkung, und nach ihm hat niemand mehr die Arbeit fortgesetzt, die Nur-Manifestation-Lehren ganz im Sinne des Mahayana vorzustellen. Auch heute noch lesen Gelehrte und Praktizierende die Dreißig Verse, ohne sie als bedeutende Mahayana-Lehren zu erkennen.

Als Novize habe ich Vasubandhus Zwanzig und Dreißig Verse auf Chinesisch auswendig gelernt und studiert. Als ich in den Westen kam, erkannte ich, dass diese wichtigen Lehren buddhistischer Psychologie für die Menschen hier Türen zum Verständnis würden öffnen können. Also verfasste ich im Jahre 1990 die Fünfzig Verse, um die von Buddha, Vasubandhu, Sthiramati, Xuanzang, Fazang und anderen übertragenen kostbaren Juwelen zum Strahlen zu bringen. Nachdem Sie die Fünfzig Verse studiert haben, werden Sie die klassischen Werke dieser großen Meister besser verstehen können, und Sie werden erkennen, welches Werk die Grundlage für welchen der Fünfzig Verse ist.

Ich habe versucht, in diesem Buch die Lehren der Nur-Manifestation ganz im Sinne des Mahayana vorzustellen. Wenn Sie bei Ihrer Lektüre gelegentlich ein Wort oder einen Satz nicht verstehen sollten, dann bitte bemühen Sie sich nicht zu sehr. Lassen Sie die Lehren einfach in sich hineinfließen, so wie Sie vielleicht Musik hören oder wie die Erde sich vom Regen durchdringen lässt. Wenn Sie nur Ihren Intellekt gebrauchen, um diese Lehren zu studieren, dann ist das so, als wäre die Erde mit Plastik abgedeckt. Wenn Sie aber den Dharma-Regen Ihr Bewusstsein durchdringen lassen, werden die Fünfzig Verse Ihnen die ganzen Lehren des Abhidharma »in einer Nussschale« zugänglich machen.

Die Nur-Manifestation-Lehren sind außerordentlich tiefgründig und komplex, und man kann sein ganzes Leben damit verbringen, sie eingehend zu betrachten und zu erforschen. Bitte lassen Sie sich von ihrer Komplexität nicht einschüchtern. Machen Sie langsam. Versuchen Sie, nicht zu viele Seiten auf einmal zu lesen, und nehmen Sie sich die Zeit, jeden Vers und den dazugehörigen Kommentar in sich aufzunehmen, bevor Sie zum nächsten übergehen. Mit Achtsamkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl werden Sie diese Lehren ganz leicht und natürlich verstehen.

Fünfzig Verse über die Natur des Bewusstseins

Teil ISpeicherbewusstsein

Eins

Der Geist ist ein Feld,

das alle Arten von Samen aufnimmt.

Dieses Geistfeld kann man auch

»alle Samen« nennen.

Zwei

Eine unendliche Vielfalt von Samen gibt es in uns –

Samen des Samsara und Samen des Nirwana, Samen der Verblendung und Samen der Erleuchtung,

Samen des Leidens und Samen des Glücks,

Samen der Wahrnehmungen, der Namen und Begriffe.

Drei

Samen, die als Körper und Geist manifest werden,

als Daseinsbereiche, Stufen und Welten,

sind sämtlich in unserem Bewusstsein gespeichert.

Deshalb wird es »Speicherbewusstsein« genannt.

Vier

Einige Samen sind uns angeboren,

sie wurden uns von unseren Ahnen vererbt.

Andere wurden gesät, als wir uns noch im Mutterleib befanden,

wieder andere gehen auf unsere Kindheit zurück.

Fünf

Seien sie nun von Familie, Freunden,

der Gesellschaft oder durch Erziehung übertragen,

alle unsere Samen sind

sowohl individueller als auch kollektiver Natur.

Sechs

Die Qualität unseres Lebens

hängt von der Qualität

der Samen ab,

die tief in unserem Bewusstsein ruhen.

Sieben

Die Funktion des Speicherbewusstseins ist es,

die Samen und ihre entsprechenden Gewohnheitsenergien

aufzunehmen und zu bewahren,

damit sie in der Welt manifest werden oder weiter ruhen können.

Acht

Manifestationen aus dem Speicherbewusstsein

werden als »Dinge-an-sich« wahrgenommen

oder als Abbilder von Dingen oder als bloße Vorstellungen.

Alle sind in den achtzehn Elementen des Seins enthalten.

Neun

Sämtliche Manifestationen tragen die Zeichen

sowohl des Individuellen als auch des Kollektiven.

Die Reifung des Speicherbewusstseins funktioniert ebenso

durch seine Teilhabe an den verschiedenen Stufen

und Daseinsbereichen.

Zehn

Unverstellt und unbestimmt

fließt das Speicherbewusstsein in dauernder Veränderung.

Gleichzeitig ist es mit den

fünf universellen geistigen Gebilden versehen.

Elf

Obwohl vergänglich und ohne eigenständiges Selbst,

enthält das Speicherbewusstsein sämtliche Phänomene des Kosmos

– sowohl bedingte als auch unbedingte –

in Form von Samen.

Zwölf

Samen können Samen hervorbringen.

Samen können Gebilde hervorbringen.

Gebilde können Samen hervorbringen.

Gebilde können Gebilde hervorbringen.

Dreizehn

Sowohl Samen als auch Gebilden

wohnt die Natur des Interseins und der wechselseitigen Durchdringung inne.

Das eine wird hervorgebracht von allem,

alles hängt vom einen ab.

Vierzehn

Das Speicherbewusstsein ist weder gleich noch verschieden,

weder individuell noch kollektiv.

Gleichheit und Vielfalt bedingen und durchdringen einander.

Das Kollektive und das Individuelle bringen einander hervor.

Fünfzehn

Wird Verblendung überwunden, herrscht Verstehen vor

und das Speicherbewusstsein ist keinen Trübungen mehr unterworfen.

Es wird zur Großen Spiegelgleichen Weisheit

und spiegelt den Kosmos in allen Richtungen. Sein Name lautet nun Reines Bewusstsein.

Teil IIManas

Sechzehn

Samen der Verblendung bringen

die geistigen Gebilde des Begehrens und Anhaftens hervor.

Diese Kräfte bestimmen unser Bewusstsein,

sobald Körper und Geist manifest werden.

Siebzehn

Manas entsteht

gestützt auf das Speicherbewusstsein.

Seine Funktion ist das Begreifen.

Es greift nach den Samen, die es für ein »Selbst« hält.

Achtzehn

Manas’ Objekt ist das Zeichen eines Selbst,

das sich im Feld der Abbilder findet,

dort, wo Manas

und Speicherbewusstsein sich berühren.

Neunzehn

Als Basis alles Heilsamen und Unheilsamen

in den übrigen sechs manifest werdenden Bewusstseinsformen,

unterscheidet Manas unaufhörlich.

Seiner Natur nach ist es sowohl unbestimmt als auch verdunkelt.

Zwanzig

Manas hängt zusammen mit den fünf universellen geistigen Gebilden,

mit »Mati« von den fünf speziellen

sowie mit den vier Haupt- und mit acht Nebenplagen des Geistes.

Sie alle sind unbestimmt und verdunkelt.

Einundzwanzig

Wie der Schatten der Form folgt,

folgt Manas stets dem Speicherbewusstsein.

Manas ist der fehlgeleitete Versuch, durch die Suche nach

Dauerhaftigkeit und blinder Befriedigung zu überleben.

Zweiundzwanzig

Ist die erste Stufe des Bodhisattva-Pfades erlangt,

sind die Hindernisse des Wissens und die Geistesplagen verwandelt.

Auf der zehnten Stufe transformiert der Yogi, die Yogini, den Glauben an ein eigenständiges Selbst,

und das Speicherbewusstsein ist von Manas befreit.

Teil IIIGeistbewusstsein

Dreiundzwanzig

Mit Manas als Basis

und den Phänomenen als Objekten

wird das Geistbewusstsein manifest.

Der Bereich seiner Wahrnehmung ist der umfassendste.

Vierundzwanzig

Das Geistbewusstsein verfügt über drei Arten der Wahrnehmung.

Es hat Zugang zu den drei Feldern der Wahrnehmung und kann von dreifacher Natur sein.

Alle geistigen Gebilde – universelle, spezielle, heilsame, unheilsame und neutrale –

werden im Geistbewusstsein manifest.

Fünfundzwanzig

Das Geistbewusstsein ist die Wurzel aller Handlungen von Körper und Sprache.

Es ist seine Natur, geistige Gebilde manifest werden zu lassen, seine Existenz ist jedoch nicht kontinuierlich.

Das Geistbewusstsein lässt Handlungen entstehen, die zur Reifung führen.

Es spielt die Rolle des Gärtners, der alle Samen aussät.

Sechsundzwanzig

Das Geistbewusstsein ist ständig in Funktion,

außer in Zuständen des Nicht-Wahrnehmens,

den zwei Verwirklichungen,

dem Tiefschlaf, der Ohnmacht oder dem Koma.

Siebenundzwanzig

Das Geistbewusstsein funktioniert auf fünf verschiedene Arten:

in Zusammenarbeit mit den fünf Formen des Sinnesbewusstseins, unabhängig von ihnen,

zerstreut, konzentriert oder instabil.

Teil IVFormen des Sinnesbewusstseins

Achtundzwanzig

Gegründet auf das Geistbewusstsein,

manifestieren sich die fünf Formen des Sinnesbewusstseins

getrennt von oder zusammen mit dem Geistbewusstsein

wie Wellen auf dem Wasser.

Neunundzwanzig

Das Feld ihrer Wahrnehmung ist das der Dinge-an-sich.

Der Modus ihrer Wahrnehmung ist direkt.

Ihre Natur kann heilsam, unheilsam oder neutral sein.

Sie arbeiten aufgrund der Sinnesorgane und des Empfindungszentrums des Gehirns.

Dreißig

Sie treten mit den

universellen, den speziellen und den heilsamen,

den grundlegend und zweitrangig unheilsamen sowie

den unbestimmten geistigen Gebilden in Erscheinung.

Teil VDie Natur der Wirklichkeit

Einunddreißig

Bewusstsein beinhaltet stets

Subjekt und Objekt.

Selbst und andere, innen und außen

sind sämtlich Kreationen des konzeptuellen Geistes.

Zweiunddreißig

Bewusstsein hat drei Teile –

Wahrnehmender, Wahrgenommenes und Ganzheit.

Alle Samen und geistigen Gebilde

sind gleich.

Dreiunddreißig

Geburt und Tod sind von Bedingungen abhängig.

Bewusstsein ist von Natur aus eine unterscheidende Manifestation.

Wahrnehmender und Wahrgenommenes hängen voneinander ab

als Subjekt und Objekt der Wahrnehmung.

Vierunddreißig

In individueller und kollektiver Manifestation

sind Selbst und Nicht-Selbst nicht zwei.

Der Zyklus von Geburt und Tod vollendet sich in jedem Augenblick.

Bewusstsein entwickelt sich im Ozean von Geburt und Tod.

Fünfunddreißig

Raum, Zeit und die vier großen Elemente

sind sämtlich Manifestationen des Bewusstseins.

Im Prozess des Interseins und der wechselseitigen Durchdringung

gelangt unser Speicherbewusstsein in jedem Augenblick zur Reife.

Sechsunddreißig

Wesen werden manifest, wenn die Bedingungen ausreichen.

Reichen die Bedingungen nicht mehr aus, erscheinen sie nicht länger.

In Wahrheit gibt es kein Kommen, kein Gehen,

kein Sein und kein Nichtsein.

Siebenunddreißig

Wenn ein Samen ein geistiges Gebilde entstehen lässt,

handelt es sich um die Primärursache.

Das Subjekt der Wahrnehmung hängt vom Objekt der Wahrnehmung ab.

Dies nennt sich Objekt als Ursache.

Achtunddreißig

Günstige oder nicht hinderliche Bedingungen

sind unterstützende Ursachen.

Die vierte Art der Bedingung

ist die Unmittelbarkeit der Fortdauer.

Neununddreißig

Wechselseitig abhängige Manifestation hat zwei Aspekte –

verblendeten Geist und wahren Geist.

Verblendeter Geist ist die Konstruktion von Abbildern.

Wahrer Geist ist erfüllte Natur.

Vierzig

Das Konstruierte erfüllt den Geist mit Samen der Verblendung,

was zum Elend von Samsara führt.

Das Erfüllte öffnet das Tor der Weisheit

zum Bereich der Soheit.

Teil VIDer Pfad der Praxis

Einundvierzig

Über die Natur der wechselseitigen Abhängigkeit zu meditieren,

kann Verblendung in Erleuchtung verwandeln.

Samsara und Soheit sind nicht zwei.

Sie sind ein und dasselbe.

Zweiundvierzig

Noch während die Blume blüht, ist sie bereits im Kompost,

und der Kompost ist schon in der Blume.

Blume und Kompost sind nicht zwei.

Verblendung und Erleuchtung bedingen und durchdringen einander.

Dreiundvierzig

Fliehe nicht Geburt und Tod.

Blicke einfach tief in deine geistigen Gebilde.

Wird die wahre Natur der wechselseitigen Abhängigkeit erkannt,

ist die Wahrheit des Interseins verwirklicht.

Vierundvierzig

Übe bewusstes Atmen,

um die Samen des Erwachens zu gießen.

Die Rechte Sicht ist eine Blume,

die im Feld des Geistbewusstseins erblüht.

Fünfundvierzig

Wenn die Sonne scheint,

lässt sie alle Pflanzen wachsen.

Wenn die Achtsamkeit erstrahlt,

verwandelt sie alle geistigen Gebilde.

Sechsundvierzig

Wir erkennen innere Knoten und latente Neigungen

und können sie dann verwandeln.

Wenn unsere Gewohnheitsenergien sich auflösen,

findet Verwandlung an der Basis statt.

Siebenundvierzig

Der gegenwärtige Augenblick

enthält Vergangenheit und Zukunft.

Das Geheimnis der Verwandlung liegt darin,

wie wir mit eben diesem Augenblick umgehen.

Achtundvierzig

Verwandlung findet

in unserem Alltagsleben statt.

Übe mit einer Sangha,

um die Arbeit der Verwandlung zu erleichtern.

Neunundvierzig

Nichts wird geboren, nichts stirbt.

Nichts gibt es festzuhalten, nichts loszulassen.

Samsara ist Nirwana.

Es gibt nichts zu erreichen.

Fünfzig

Wenn wir erkennen, dass die Geistesplagen nichts anderes sind als Erleuchtung,

können wir in Frieden auf den Wellen von Geburt und Tod reiten.

Im Boot des Mitgefühls auf dem Ozean der Verblendung reisend,

lächeln wir das Lächeln der Furchtlosigkeit.

Teil ISpeicherbewusstsein

Nach den Lehren des Nur-Manifestation-Buddhismus1 hat unser Geist acht Aspekte oder, wie wir auch sagen können, gibt es acht Formen oder Arten des Bewusstseins. Die ersten fünf basieren auf den physischen Sinnen. Es sind die Bewusstseinsaspekte, die entstehen, wenn unsere Augen Formen sehen, unsere Ohren Klänge hören, unsere Nase Gerüche riecht, unsere Zunge etwas schmeckt oder unsere Haut ein Objekt berührt. Die sechste Bewusstseinsform, das Geistbewusstsein (manovijnana), entsteht, wenn unser Geist einem Objekt der Wahrnehmung begegnet. Die siebte, manas, ist der Teil des Bewusstseins, der das Geistbewusstsein entstehen lässt und als seine Stütze dient. Die achte, Speicherbewusstsein (alayavijnana), ist der Grund oder die Basis der sieben übrigen Bewusstseinsarten.2

In den Versen eins bis fünfzehn geht es um das Speicherbewusstsein. Das Speicherbewusstsein hat drei Funktionen. Die erste besteht darin, alle »Samen« (bijas) unserer Erfahrungen zu speichern und zu bewahren. Die in unserem Speicherbewusstsein vorhandenen Samen repräsentieren alles, was wir je getan, erlebt oder wahrgenommen haben. Die durch diese Taten, Erlebnisse und Wahrnehmungen gepflanzten Samen sind das »Subjekt« des Bewusstseins. Das Speicherbewusstsein zieht all diese Samen an, wie ein Magnet Eisenspäne anzieht.

Die zweite Funktion des Speicherbewusstseins bezieht sich auf die Samen selbst. Ein Museum zum Beispiel ist mehr als das Museumsgebäude. Es umfasst ebenso die Kunstwerke, die in ihm ausgestellt sind. Ebenso ist auch das Speicherbewusstsein nicht nur der »Speicher« für die Samen, sondern zugleich die in ihm enthaltenen Samen. Die Samen lassen sich zwar vom Speicher unterscheiden, aber nur in ihm können sie gefunden werden. Wenn man einen Korb Äpfel hat, lassen sich die Äpfel vom Korb unterscheiden. Wäre der Korb jedoch leer, könnte man nicht von einem Korb Äpfel sprechen. So ist das Speicherbewusstsein zugleich sowohl der Speicher als auch der gespeicherte Inhalt. Auf diese Weise sind die Samen auch das »Objekt« des Bewusstseins. Wenn wir also von »Bewusstsein« sprechen, beziehen wir uns gleichzeitig sowohl auf das Subjekt als auch das Objekt des Bewusstseins.

In seiner dritten Funktion schließlich ist das Speicherbewusstsein ein »Speicher für das Anhaften an einem Selbst«.3 Das liegt an der subtilen und komplexen Beziehung zwischen Manas – der siebten Form des Bewusstseins – und dem Speicherbewusstsein. Manas erwächst aus dem Speicherbewusstsein, ergreift seinerseits dann einen Teil des Speicherbewusstseins und hält daran als eine separate, unterscheidbare Entität – ein »Selbst« fest. Ein Großteil unseres Leidens rührt aus dieser Fehlwahrnehmung durch Manas, und dies ist Thema des zweiten Teils dieses Buches.

EinsDer Geist ist ein Feld

Der Geist ist ein Feld,das alle Arten von Samen aufnimmt.Dieses Geistfeld kann man auch»alle Samen« nennen.

Die Hauptfunktion des Speicherbewussteins besteht darin, alle Samen zu speichern und zu bewahren. Ein Name für das Speicherbewusstsein lautet sarvabijaka, »Gesamtheit aller Samen«. Ein weiterer ist adana und bedeutet »bewahren«, »halten«, »nicht verlieren«. Das Bewahren aller Samen – sie lebendig zu erhalten, damit sie jederzeit manifest werden können – ist somit die grundlegende Funktion des Speicherbewusstseins.

Samen (bijas) verleihen den Phänomenen die Fähigkeit zu überdauern. Wenn man im Frühling einen Samen pflanzt, wird im Herbst eine Pflanze ausgereift sein, die Früchte trägt. Von diesen Früchten wiederum fallen neue Samen zur Erde, wo sie bewahrt werden, bis sie aufkeimen und weitere Pflanzen hervorbringen. Unser Geist ist ein Feld, in das alle Arten von Samen gepflanzt werden – Samen des Mitgefühls, der Freude und Hoffnung, Samen der Sorge, der Angst und der Probleme. Tag für Tag pflanzen unsere Gedanken, Worte und Handlungen neue Samen in das Feld unseres Bewusstseins, und was diese Samen hervorbringen, wird zur Substanz unseres Lebens.

In unserem Geistfeld gibt es sowohl heilsame als auch unheilvolle Samen, gesät von uns selbst, von unseren Eltern, unseren Mitschülern und Lehrern, unseren Vorfahren und der Gesellschaft. Wenn wir Weizen säen, wird Weizen wachsen. Wenn wir heilsam handeln, werden wir Glück erfahren. Wenn wir unheilsam handeln, gießen wir die Samen von Gier, Zorn und Gewalt in uns selbst und in anderen. Die Praxis der Achtsamkeit hilft uns, sämtliche Samen in unserem Bewusstsein zu identifizieren, und mit diesem Wissen können wir uns dafür entscheiden, nur die heilsamen gießen zu wollen. Wenn wir die Samen unserer Freude pflegen und gleichzeitig die Samen des Leidens verwandeln, werden Verständnis, Liebe und Mitgefühl in uns erblühen.

ZweiVielfalt der Samen

Eine unendliche Vielfalt von Samen gibt es in uns –Samen des Samsara und Samen des Nirwana,

Samen der Verblendung und Samen der Erleuchtung,

Samen des Leidens und Samen des Glücks,Samen der Wahrnehmungen, der Namen und Begriffe.

Unser Speicherbewusstsein enthält alle möglichen Arten von Samen. Einige Samen sind schwach, andere stark, einige sind groß, andere klein, aber es sind die Samen für alle Erfahrungen vorhanden – die Samen des Samsara und des Nirwana, die Samen des Leidens und die Samen des Glücks. Wenn ein Samen der Verblendung in uns gegossen wird, nimmt unsere Ignoranz zu. Wenn der Samen der Erleuchtung in uns wächst, erblüht unsere Weisheit.

Samsara, der Kreislauf des Leidens, ist unser Aufenthaltsort, wenn wir in Ignoranz leben. Aus diesem Kreislauf auszusteigen ist äußerst schwierig. Schon unsere Eltern haben gelitten, und sie haben die negativen Samen ihres Leidens an uns weitergegeben. Wenn es uns nicht gelingt, die unheilvollen Samen in unserem Bewusstsein zu erkennen und zu transformieren, werden wir sie ohne jeden Zweifel auch an unsere Kinder weitergeben. Diese fortwährende Übertragung von Angst und Leiden treibt den Kreislauf von Samsara an. Gleichzeitig haben unsere Eltern uns aber auch Samen des Glücks übertragen. Durch die Praxis der Achtsamkeit können wir die heilsamen Samen in uns und anderen erkennen und sie jeden Tag gießen.

Nirwana bedeutet Stabilität, Freiheit und das Ende von Samsara. Erleuchtung kommt nicht von außen; niemand kann sie uns geben, auch nicht der Buddha. Der Samen der Erleuchtung liegt bereits jetzt in unserem Bewusstsein. Das ist unsere Buddhanatur – die uns allen innewohnende Qualität des erleuchteten Geistes, die nur genährt werden muss.

Um Samsara in Nirwana zu verwandeln, müssen wir klar erkennen, dass sowohl Samsara als auch Nirwana Manifestationen unseres eigenen Bewusstseins sind. Die Samen von Samsara, Leiden, Nirwana und Glück liegen bereits in unserem Speicherbewusstsein. Wir müssen nur die Samen des Glücks statt die Samen des Leidens gießen. Wenn wir jemanden lieben, versuchen wir die positiven Samen in diesem Menschen zu erkennen und sie mit freundlichen Worten und heilsamen Taten zu stärken. So werden die Samen des Glücks genährt, während die Samen des Leidens immer mehr an Kraft verlieren, weil wir sie nicht durch unfreundliche Worte und unheilsame Taten stärken.

Unser Speicherbewusstsein enthält auch Samen, die durch unsere Wahrnehmung erzeugt worden sind. Wir nehmen viele Dinge wahr, und die Objekte dieser Wahrnehmungen werden dann in unserem Speicherbewusstsein gespeichert. Wenn wir ein Objekt sehen, dann sehen wir, in buddhistischer Terminologie ausgedrückt, sein »Zeichen« (lakshana). Das Sanskritwort Lakshana bedeutet auch Merkmal, Bezeichnung oder Erscheinung. Das Zeichen eines Dings ist das Bild, das wir durch unsere Wahrnehmung (samjna) von ihm erschaffen.

Angenommen wir sehen eine hölzerne Platte auf vier Beinen – dieses Bild wird zu einem Samen in unserem Bewusstsein. Der Name, den wir diesem Objekt zuordnen, »Tisch«, ist ein weiterer Samen in uns. »Tisch« ist das Objekt unserer Wahrnehmung, wir selbst, der Wahrnehmende, sind das Subjekt. Beide sind verbunden: Jedes Mal, wenn wir das von uns als »Tisch« bezeichnete Objekt sehen oder auch nur das Wort »Tisch« hören, wird unser Bild eines Tisches in unserem Geistbewusstsein manifest.

Der Buddhismus unterscheidet drei Zeichenpaare. Das erste Paar besteht aus dem allgemeinen und dem speziellen Zeichen von etwas. Wenn wir ein Haus erblicken, so ist das Zeichen oder Bild »Haus« anfänglich allgemein. Das allgemeine Zeichen »Haus« ist eine Art Gattungsbegriff. Bis vor einigen Jahren konnte man noch im Supermarkt Dosen kaufen, die keine bunten Bilder und Markennamen hatten, sondern auf denen schlicht zum Beispiel das Wort »Mais« in schwarzer Schrift auf einfachem weißen Papier stand. So ähnlich verhält es sich mit dem allgemeinen Zeichen eines Objekts.

Mit Hilfe unseres unterscheidenden Geistes nehmen wir jedoch schnell tausende Einzelheiten wahr – Ziegel, Holz, Nägel und so weiter, die für dieses Haus spezifisch sind. Ein Haus kann also als Ganzes gesehen werden – sein allgemeines Zeichen – und ebenso als eine Kombination seiner Teile – sein spezielles Zeichen. Alles hat sowohl eine allgemeine als auch eine spezielle Natur.

Das zweite Zeichenpaar besteht aus Einheit und Vielfalt. Der Begriff »Haus« entspricht einem Konzept von Einheit. Alle Häuser fallen unter die Bezeichnung »Haus«. Doch die allgemeine Idee »Haus« zeigt uns kein in seinen spezifischen Merkmalen individuelles Haus. Häuser gibt es in zahllosen Variationen – das ist die Natur der Vielfalt. Wenn wir irgendein beliebiges Phänomen betrachten, sollten wir die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit erkennen können.

Das dritte Zeichenpaar ist Aufbau und Auflösung. Ein Haus kann sich gerade im Prozess des Aufbaus befinden und ist doch gleichzeitig auch im Prozess der Auflösung. Obwohl das Holz neu und das Haus noch nicht einmal ganz fertig ist, beginnt es durch die Feuchtigkeit oder Trockenheit der Luft, bereits zu verwittern. Wenn wir etwas Form annehmen sehen, sollten wir erkennen können, dass es sich gleichzeitig schon im Prozess der Auflösung befindet.

Unsere Meditationspraxis sollte uns dazu befähigen, stets beide Aspekte jedes dieser Zeichenpaare zu erkennen. Wenn wir die Teile betrachten, sehen wir das Ganze, und wenn wir das Ganze betrachten, sehen wir jedes Teil. Wenn ein Schreiner einen Baum betrachtet, kann er sich die Blockhütte bereits vorstellen, denn er ist darin ausgebildet, aus dem Holz eines Baumes ein Haus zu bauen. Er sieht die allgemeinen und die spezifischen Aspekte eines Baumes. Achtsamkeit hilft uns, alle sechs Zeichen zu sehen – das Allgemeine und das Spezifische, die Einheit und die Vielfalt sowie den Aufbau und die Auflösung – wann immer wir ein einzelnes Zeichen, ein spezifisches Objekt wahrnehmen. Das ist die Lehre der wechselseitigen Verbundenheit und Durchdringung, die Lehre des Interseins.

Den Objekten unserer Wahrnehmung ordnen wir Namen, Worte oder Bezeichnungen wie »Berg«, »Fluss«, »Buddha«, »Gott«, »Vater« oder »Mutter« zu. Jeder Name, den wir einem Phänomen zugeordnet haben, jeder Begriff wird als Samen in unserem Bewusstsein gespeichert. Diese Samen lassen wiederum andere Samen in uns entstehen, die wir »Bilder« nennen. Sobald wir den Namen von etwas hören, entsteht in unserem Bewusstsein ein Bild, und dieses Bild halten wir dann für die Wirklichkeit. Sagt zum Beispiel jemand in unserer Umgebung die Worte »New York«, berühren wir augenblicklich die in unserem Speicherbewusstsein liegenden Samen unseres Bildes von New York. Wir sehen zum Beispiel die Insel Manhattan oder die Gesichter von Menschen, die wir dort kennen, vor uns. Diese Bilder können sich jedoch von der gegenwärtigen Wirklichkeit New Yorks stark unterscheiden. Vielleicht sind sie sogar voll und ganz Schöpfungen unserer Einbildung, aber wir sind selten in der Lage, die Grenze zwischen Wirklichkeit und unserer eingebildeten Wahrnehmung zu erkennen.

Wir benutzen Begriffe, um auf etwas zu verweisen – ein Objekt oder ein Konzept. Diese Begriffe können der »Wahrheit« des Bezeichneten, die sich letztlich nur durch eine direkte Wahrnehmung seiner Wirklichkeit erkennen lässt, entsprechen oder nicht. In unserem Alltagsleben nehmen wir nur äußerst selten direkt wahr. Auf der Basis der in unserem Speicherbewusstsein vorhandenen Samen jener Bilder, die wir von den Dingen haben, erfinden und erschaffen wir uns Wahrnehmungen. Sind wir verliebt, kann sich das Bild des geliebten Menschen in unserem Geist erheblich von der tatsächlichen Person unterscheiden. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass wir am Ende eher unsere falsche Wahrnehmung heiraten als den Menschen selbst.

Falsche Wahrnehmungen sind für sehr viel Leid verantwortlich. Wir sind uns so sicher, dass unsere Wahrnehmungen richtig und vollständig sind, doch häufig trifft das einfach nicht zu. Ich kenne einen Mann, der den Verdacht hatte, sein Sohn sei nicht von ihm, sondern von einem Nachbarn, der seine Frau oft besucht hatte. Der Mann war zu stolz und schämte sich zu sehr, um mit seiner Frau oder irgendjemandem über seinen Verdacht zu sprechen. Eines Tages erwähnte ein zu Besuch gekommener Freund, wie sehr der Junge doch seinem Vater glich. Erst da begriff der Mann, dass das Kind tatsächlich sein Sohn war. Weil er an seiner falschen Wahrnehmung festgehalten hatte, musste die Familie jahrelang viel Schmerz erdulden.

Es geschieht so leicht, dass wir unser geistiges Bild, unser Zeichen von etwas, mit dessen Wirklichkeit verwechseln. Der Prozess der Verwechslung unserer Wahrnehmung mit der Wirklichkeit ist so subtil, und wir erkennen nur sehr schwer, dass er überhaupt stattfindet. Achtsamkeit hilft uns, diesen Prozess nicht zu übersehen. Bei der Meditation üben wir, unseren Geist in unmittelbarer, also korrekter Wahrnehmung zu schulen. Wir blicken tief in unsere Wahrnehmungen hinein, um ihre Natur zu entdecken und herauszufinden, welche Elemente korrekt und welche eingebildet sind.

Wahrnehmungen können auf Vorurteilen beruhen, die sich aus den Samen vergangener Erlebnisse in unserem Speicherbewusstsein entwickelt haben. Wenn wir nicht achtsam sind, werden wir solche Wahrnehmungen für korrekt halten. Halten wir aber eine falsche Wahrnehmung auf Dauer aufrecht, fügen wir uns selbst und anderen Schaden zu. Tatsächlich bringen Menschen sich sogar wegen ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung ein und derselben Wirklichkeit gegenseitig um.

Wir leben in einem von falschen Bildern und Einbildungen erfüllten Universum. Doch wir sind davon überzeugt, mit der Welt wirklich in Kontakt zu sein. Wir mögen tiefen Respekt vor dem Buddha haben und sicher sein, dass wir uns, begegneten wir ihm persönlich, vor ihm verbeugen und alle seine Unterweisungen anhören würden. In Wirklichkeit jedoch hätten wir dem Buddha in unserer eigenen Stadt längst begegnet sein können, ohne den geringsten Wunsch verspürt zu haben, ihm nahe zu sein, weil er schlicht nicht unserer Vorstellung vom Aussehen eines Buddha entsprach. Wir glauben vielleicht, dass ein Buddha in schöne Roben gekleidet und von einer Aura des Lichts umgeben sei. Wenn wir dann einem Buddha in gewöhnlicher Alltagskleidung begegnen, erkennen wir ihn folglich nicht. Wie kann ein Buddha ein Sporthemd tragen? Wie kann eine Buddha keine Lichtaura haben?

Es sind so viele Samen falscher Wahrnehmungen in unserem Bewusstsein. Dennoch sind wir uns ziemlich sicher, dass unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit richtig ist. »Dieser Mensch hasst mich. Er schaut mich nicht einmal an. Er will mich verletzen.« Das ist möglicherweise nicht mehr als eine Phantasie unseres Geistes. In dem Glauben aber, dass unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit entspricht, handeln wir aufgrund dieser Wahrnehmung. Das ist überaus gefährlich. Eine falsche Wahrnehmung kann zahllose Probleme schaffen. Tatsächlich lässt sich unser gesamtes Leiden auf unser Unvermögen zurückführen, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wir sollten uns stets bescheiden fragen: »Bin ich mir sicher?«, und uns dann Zeit und Raum geben, unsere Wahrnehmungen tiefer, klarer und stabiler werden zu lassen.

DreiManifeste und nicht manifeste Samen

Samen, die als Körper und Geist manifest werden,als Daseinsbereiche, Stufen und Welten,sind sämtlich in unserem Bewusstsein gespeichert.Deshalb wird es »Speicherbewusstsein« genannt.

Bevor etwas manifest wird, behaupten wir, dass es nicht existiert. Können wir es aber wahrnehmen, dann sagen wir, es existiert. Aber auch wenn ein Phänomen nicht manifest ist, so ist es doch vorhanden – als Samen in unserem Bewusstsein.

Dieser Vers bezieht sich auf verschiedene buddhistische Vorstellungen im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Seinsweisen lebender Wesen, die in späteren Kapiteln des Buches ausführlicher beschrieben werden. Kurz gesagt handelt es sich bei den »Daseinsbereichen« (dhatus) um den Bereich der Begierde (kamadhatu), den Bereich der Form (rupadhatu) und den Bereich der Nichtform (arupadhatu). Der Bereich der Begierde wird von Begehren, Zorn, Hass, Arroganz und Verblendung geprägt. Die Lebewesen in diesem Bereich leiden sehr, weil sie ständig Dingen hinterherrennen. Wenn wir uns entschließen, einfach zu leben und einige unserer Begierden aufzugeben, gelangen wir in den Bereich der Form. In diesem Bereich leiden wir weniger und können sogar ein gewisses Maß an Glück erfahren. Im dritten, dem Nichtform-Bereich, gibt es keine Materie mehr. Es ist nur noch Energie vorhanden, und diese Energie manifestiert sich als unser Geist, unser Zorn, unser Leiden und so weiter. Das Leben geht weiter, aber es gibt keine Wahrnehmung von Form.

Der Bereich der Begierde, die vier Ebenen des Bereichs der Form und die vier Ebenen des Nichtform-Bereichs ergeben zusammen die neun Stufen des Seins. (Die einzelnen Stufen werden in Kapitel Neun beschrieben.) Solange wir uns nicht von unseren falschen Wahrnehmungen befreit haben, werden wir uns in den Bereichen von Begierde, Form und Nichtform verfangen. Frühe buddhistische Texte vergleichen die drei Bereiche samsarischer Existenz mit einem »brennenden Haus«. Die drei Bereiche stehen in Flammen, und wir selbst sind es, die durch unsere falschen Wahrnehmungen das Feuer gelegt haben.

Der Sinn und Zweck buddhistischer Praxis besteht darin, das Leiden dieser Bereiche und Stufen zu transformieren. Wenn wir uns darin üben, tief in das Wesen der Begierde hineinzuschauen, dann befreien wir uns vom Bereich der Begierde und beginnen, im Bereich der Form, einem höheren Bereich, zu leben. Schauen wir noch tiefer, können wir auch unsere Anhaftung an die Form lockern und anfangen, im Bereich der Nichtform zu existieren. Auch im Bereich der Nichtform gibt es noch Leiden, weil nicht alle falschen Vorstellungen beseitigt sind und noch viele Begierden in der Tiefe unseres Geistes ruhen. Es ist möglich, alle drei Bereiche im gegenwärtigen Augenblick zu berühren, und zwar sowohl in uns als auch um uns herum.

Jeder Daseinsbereich ist das Ergebnis des kollektiven Bewusstseins derer, die in ihm leben. Wenn unsere Welt ein friedlicher, glücklicher Ort ist, dann aufgrund unseres kollektiven Bewusstseins. Wenn sie in Flammen steht, dann sind wir auch dafür mitverantwortlich. Ob ein Ort angenehm oder unangenehm ist, hängt immer vom kollektiven Bewusstsein der dort Lebenden ab. Wenn fünf oder sechs Menschen gemeinsam praktizieren und die Früchte von Freude, Frieden und Glück ernten und wenn diese Menschen dann ein Praxiszentrum errichten, in dem auch andere an diesem Glück teilhaben können, dann haben sie ein kleines »Reines Land« geschaffen. Die Daseinsbereiche entstammen alle unserem Geist, sie manifestieren sich aus den in unserem Speicherbewusstsein vorhandenen Samen.

Die Samen werden generell als zwei Arten von Welten manifest. Die erste ist die Welt der fühlenden Wesen – der menschlichen, tierischen und pflanzlichen Spezies also. Die menschliche Gesellschaft entsteht, genauso wie die Gesellschaften der tierischen und pflanzlichen Spezies, im kollektiven Bewusstsein. Die zweite ist die instrumentale Welt, die von den so genannten nicht-fühlenden Wesen – Bergen, Flüssen, Luft, Erde, Ozonschicht und so weiter – gebildet wird. Die instrumentale Welt ist die Welt der Natur, der Umwelt, und auch sie ist die Schöpfung unseres kollektiven Bewusstseins. Unser Speicherbewusstsein enthält und manifestiert die Samen dieser Welten, die alle nach bestimmten Gesetzen und Rhythmen funktionieren.

Alle Gebilde sind Manifestationen unseres Bewusstseins. In seinem Text, Standardverse über die Acht Formen des Bewusstseins, sagt Xuanzang: »(Bewusstsein) empfängt, imprägniert, erhält und bewahrt die Körper-Basis und die instrumentale Welt.«4 Das Bewusstsein empfängt alle Erfahrungen und Wahrnehmungen, die uns über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren erreichen, und wird von ihnen durchdrungen. Sämtliche unserer Erfahrungen und Wahrnehmungen werden zu Samen in unserem Speicherbewusstsein. Das wird »Imprägnierung« (vasana) genannt. Alles, was wir lernen, gelangt in unser Speicherbewusstsein, hinterlässt seinen »Geruch« und wird dort bewahrt. Vielleicht glauben wir, etwas vergessen zu haben, aber nichts von dem, was das Speicherbewusstsein aufnimmt, geht jemals verloren. Alles bleibt dort gespeichert, doch manifestiert es sich erst dann, wenn die Umstände dafür reif sind.

VierÜbertragung

Einige Samen sind uns angeboren,sie wurden uns von unseren Ahnen vererbt.Andere wurden gesät, als wir uns noch im Mutterleib befanden,wieder andere gehen auf unsere Kindheit zurück.

Einige Samen empfangen wir im Laufe unseres Lebens in der »Sphäre unserer Erfahrung«. Andere waren jedoch schon vorhanden, als wir geboren wurden – die »Sphäre der angeborenen Samen«. Zum Zeitpunkt unserer Geburt waren diese Samen bereits in unserem Bewusstsein vorhanden – Samen des Leidens und des Glücks, die uns von vielen Generationen von Vorfahren vererbt wurden. Viele unserer Fähigkeiten, Verhaltensweisen und körperlichen Merkmale wie auch unserer Werte sind uns von unseren Vorfahren vererbt oder »übertragen« worden. Und wenn dann im Laufe unseres Lebens sich entsprechend günstige Umstände ergeben, werden einige dieser Samen manifest. Andere werden in unserem ganzen Leben nicht manifest, aber wir geben sie an unsere Kinder weiter, die sie dann an ihre Kinder weitervererben. Und vielleicht werden viele Generationen später, zu Lebzeiten eines unserer Ururenkel, die Umstände günstig und einige der übertragenen Samen werden dann manifest.

Die Genetik hat gezeigt, dass die »Blaupause« für die Merkmale unseres Körpers und Geistes von vielen Generationen von Vorfahren stammt. Die Wissenschaft hat in Experimenten nachgewiesen, dass es bei Ratten sieben Generationen dauern kann, bis ein bestimmtes Merkmal wieder auftritt. Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, so sorgen wir damit nicht nur für unser eigenes Wohl, sondern ebenso für das unserer Vorfahren und zahlloser nachfolgender Generationen. Alle diese Generationen sind bereits jetzt in uns. Die Erfahrungen aller Ahnen sowie unendliche Zeit und unendlicher Raum sind schon im Bewusstsein eines winzigen Embryos enthalten. Wenn wir das verstehen, empfinden wir eine ungeheure Verantwortung für alles werdende Leben.5

Wenn wir uns an einem Tag der Woche in besonderer Weise um Frieden, Freude und Glück bemühen, dann bringen wir in diesen vierundzwanzig Stunden unseren Vorfahren und den zukünftigen Generationen Glück und Frieden. Lassen wir hingegen eine ganze Woche verstreichen, ohne uns darin zu üben, haben nicht nur wir selbst eine Gelegenheit zur Freude verpasst, sondern auch unsere Vorfahren, unsere Kinder und deren Kinder haben eine Gelegenheit verloren. Wenn wir vom Leiden befreit sind und Frieden und Glück verwirklichen, erfahren auch unsere Vorfahren Frieden und Glück und wir übertragen die Samen von Frieden und Glück auf zukünftige Generationen.

Die Samen, die uns übertragen wurden, können wir auch als »Gewohnheitsenergien« (vasana, »Imprägnierung«) bezeichnen. Vielleicht glauben wir, nicht singen zu können, aber die Samen des Singens, die von unserer Großmutter stammen, die singen konnte, sind auch in uns. Unter den richtigen Umständen werden wir uns nicht nur daran erinnern können, wie man singt, sondern wir werden das Singen sogar genießen. Die Samen des Singens in uns können schwach sein, weil sie über lange Zeit nicht gegossen wurden. Aber sobald wir beginnen, uns tatsächlich im Singen zu üben, keimen diese Samen aus und werden kräftiger. Samen wie diese sind weitgehend angeboren. Alles, was sie brauchen, um zu erblühen, sind förderliche Umstände.

Dasselbe gilt für die Erleuchtung. Wenn wir erstmals von den Lehren des Erwachens hören, glauben wir, auf etwas für uns ganz Neues gestoßen zu sein. Aber auch die Samen des Erwachens tragen wir bereits in uns. Unsere Lehrerinnen und Lehrer, unsere Freundinnen und Freunde auf dem Pfad geben uns nur die Gelegenheit, diese Samen zu berühren, und helfen uns, sie wachsen zu lassen. Als der Buddha den Pfad des großen Verstehens und der grenzenlosen Liebe verwirklichte, rief er aus: »Wie erstaunlich, dass sämtliche Lebewesen die grundlegende Natur des Erwachens besitzen und sie doch nicht kennen. Darum treiben sie Leben um Leben im Ozean des großen Leidens.«6 Es gibt bereits jetzt viele heilsame und gesunde Samen in unserem Bewusstsein. Mit Hilfe eines Lehrers, einer Lehrerin und einer Sangha, einer Gemeinschaft von Praktizierenden, können wir zu uns selbst zurückkehren und in Kontakt mit diesen Samen gelangen. Der Zugang zu einem Lehrer, einer Lehrerin und einer Sangha sind die förderlichen Umstände, die unsere Samen des Erwachens heranreifen lassen.

In jeder Zelle unseres Körpers, in unserem Speicherbewusstsein, befinden sich alle Samen, die uns von allen Generationen unserer Vorfahren übertragen wurden. Die »Imprägnierung« unseres Bewusstseins findet bereits vor unserer Geburt statt, während wir uns noch im Leib unserer Mutter befinden. Schon bald nach der Zeugung beginnen wir weitere Samen aufzunehmen. Jede Wahrnehmung, jede Freude und jede Sorge unserer Mutter und unseres Vaters hinterlassen in uns einen neuen Samen. Das größte Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, ist ihr eigenes Glück. Wenn die Eltern glücklich und friedvoll miteinander leben, empfängt das Kind Samen des Glücks. Wenn die Eltern jedoch voller Wut miteinander umgehen und sich gegenseitig Leid zufügen, imprägnieren diese negativen Samen das Speicherbewusstsein des Kleinkindes.

Neues Leben in diese Welt zu bringen ist eine sehr ernste Angelegenheit. Ärzte und Therapeuten brauchen bis zu zehn Jahre, um eine eigene Praxis eröffnen zu können. Aber jeder kann ohne jede Ausbildung und Erfahrung Mutter oder Vater werden. Wir sollten eine Art »Schule der Familie« gründen, in der junge Menschen vor ihrer Hochzeit ein Jahr lang lernen können, tief in sich hineinzuschauen und herauszufinden, welche Samen in ihnen stark und welche schwach sind. Wenn die positiven Samen zu schwach sind, müssen die zukünftigen Eltern Mittel und Wege finden, sie zu gießen und damit zu kräftigen. Sollten die negativen Samen zu stark sein, müssen sie Mittel und Wege finden, sie zu verwandeln, und sie müssen auf eine Weise zu leben lernen, in der diese Samen nicht mehr so stark gegossen werden.

Ein Jahr Vorbereitungszeit, bevor man heiratet und eine Familie gründet, ist keine übertriebene Forderung. Zukünftige Mütter könnten lernen, wie sie statt unheilvoller Samen solche des Glücks, des Friedens und der Freude in das Speicherbewusstsein ihres ungeborenen Babys säen können. Und auch zukünftige Väter müssen sich darüber klar sein, dass die Art und Weise ihres Handelns Samen in das Speicherbewusstsein ihres ungeborenen Kindes sät. Strenge Worte, ein abweisender Blick oder eine lieblose Handlung – das Baby im Mutterleib nimmt alles auf. Das Speicherbewusstsein des Fötus nimmt alles auf, was in der Familie geschieht. Ein gedankenloses Wort oder eine entsprechende Tat begleitet das Kind vielleicht für den Rest seines Lebens.

In einer solchen Familienschule könnten die jungen Frauen und Männer auch zu einem neuen Kontakt mit ihren Eltern und Vorfahren finden. Dies hilft ihnen dabei, sich selbst kennen zu lernen – die eigenen Stärken und Schwächen – und einen angemessenen Umgang mit den eigenen Samen zu finden. Das ist ein wichtiges Projekt.

Junge Eltern sollten alle Freuden und Schwierigkeiten festhalten, die sie in der Zeit vor und nach der Zeugung erleben; ebenso sollten sie alle wichtigen Ereignisse von der Geburt des Kindes bis etwa zu seinem zehnten Lebensjahr festhalten. Die Kinder vergessen wohl die meisten Dinge, die sich während dieser Zeit zugetragen haben, wenn aber die Eltern ihnen von allen Ereignissen dieser Zeit berichten können, wird dies später, wenn sie selbst erwachsen geworden sind und nun ihrerseits die Familienschule besuchen, sehr hilfreich für sie sein.

Wir haben Samen des Leidens von unseren Eltern erhalten. Vielleicht sind wir entschlossen, es selbst ganz anders zu machen als sie. Wenn wir aber nicht wissen, wie man Samen verwandelt, werden wir es ganz genauso machen wie unsere Eltern. Ihre Freuden und Leiden beeinflussen uns auch weiter. Wenn unser Vater etwas sagt, das unsere Mutter glücklich macht, erhalten auch wir Samen des Glücks. Sagt er etwas, das unsere Mutter zum Weinen bringt, empfangen wir Samen des Leidens.