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Boris Reinhard

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Beschreibung

Margarete flüchtet im Alter von 19 Jahren vor ihrem gewalttätigen Dienstherren, lässt sich vom historisch bekannten Werbeplakat mit der Aufschrift "Vom Dienstmädchen zur Kolonialherrin" verführen und wird 1913 vom Deutschen Frauenbund nach Deutsch-Südwestafrika verschifft, um dort einen ihr unbekannten Siedler zu heiraten. Es erwartet sie zwar nicht das erhoffte Paradies voller exotischer Tiere und Palmen, dennoch lässt sie sich mutig auf die fremde Welt ein und die Erfahrungen, die ihr neues Leben mit sich bringt. Es ist die Geschichte einfacher Menschen, die in der Ferne Unfassbares erleben. Eine Erzählung nach wahren Begebenheiten, die vor dem Hintergrund des Genozids an den Herero und Nama sowie beider Weltkriege ein verschwiegenes Stück deutscher Kolonialgeschichte zutage fördert.

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Seitenzahl: 289

Veröffentlichungsjahr: 2024

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IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe:978-3-7116-0055-4

ISBN e-book: 978-3-7116-0056-1

Lektorat:Birgit Himmüller

Umschlagabbildungen: shutterstock, Ariel Dardo Gellida

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

KAPITEL I

Es war im Sommer 1913, als Margarete im Alter von 19 Jahren in Bremen ankam. Sie war die Tochter eines Gauklers. Die Zeiten waren schwer und ihr Vater hatte entschieden, das Mädchen in den Dienst eines in der Stadt ansässigen Arztes zu stellen. Doktor Graf war ein übergewichtiger, kleiner Mann mit schütterem Haar und einem sorgfältig gezwirbelten Schnauzbart. Er stand am Fuß der Treppe seines feudalen Stadthauses und wartete bereits auf die Ankunft der Gauklerfamilie. Als Margaretes Vater das Haus des Arztes endlich gefunden hatte, machten die Männer ihren Handel. Margarete verabschiedete sich nicht von ihrem Vater. Ängstlich und mit leerem Blick ging sie die Treppe hinauf und verschwand im Gebäude.

Doktor Graf folgte ihr und schloss die überdimensional große Haustür hinter sich. Er geleitete Margarete durch eine große Eingangshalle, bis hin zu einem langen Gang, der in einem Hinterhof endete, auf dem sich das Gesindehaus befand. Der Doktor blieb stehen und rief mit fester Stimme:

„Elisabeth!“

Eine füllige Frau fortgeschrittenen Alters öffnete die Tür des Gesindehauses. Sie hatte langes graues Haar, das zu einem Knoten gebunden war, und sah Margarete mit müden Augen an, als sie gelangweilt fragte:

„Ist sie das?“

Der Doktor nickte und entgegnete:

„Kleide sie ein und zeige ihr, wo sie schlafen kann.“

Dann drehte er sich um und verschwand wieder im Haupthaus.

Elisabeth winkte das eingeschüchterte Mädchen herbei und sprach sie an:

„Du bist also das neue Dienstmädchen. Du bist sehr hübsch. Schöne blonde Locken hast du. Ich bin Elisabeth, die Köchin. Komm mit, ich zeige dir alles.“

Margarete bedankte sich höflich und folgte der Köchin in das Gesindehaus. Obwohl der kleine Anbau von außen ordentlich weiß angestrichen und zum Teil mit Efeu bewachsen war, bot sich im Innern ein eher karges Bild. Die Wände waren grau und man konnte sehen, an welchen Stellen bei Regen das Wasser die Wand hinunterlief. Der Boden war aus Stein und der Raum hatte nur ein kleines Fenster, das gerade einmal genug Licht für eine schummerige Beleuchtung hereinließ. Neben dem Fenster stand ein alter Holzschrank.

An der gegenüberliegenden Wand hingen ein paar Regale mit einigen wenigen Habseligkeiten darauf und darunter standen drei Pritschen. Es roch nach einer Mischung aus Mensch und Moder und in den Ecken huschten kleine Schatten über den Boden. Im hinteren Bereich befanden sich der Waschraum und eine Vorratskammer. Die Köchin brachte Margarete in den Waschraum, reichte ihr ein Dienstmädchengewand und gab die ersten Anweisungen:

„Zieh das an. Auch die Haube. Binde deine Haare zusammen, steck sie unter die Haube und vergiss die Schürze nicht. Nimm dir ein Paar Schuhe aus dem kleinen Holzschrank in der Vorratskammer und komm dann ins Haupthaus. Ich werde in der Eingangshalle auf dich warten.“

Margarete tat, was man ihr gesagt hatte. Wenig später erschien sie in der Eingangshalle. Die Köchin zeigte ihr die verschiedenen Räume und Gemächer, erklärte den Gebrauch der Reinigungsutensilien und ging zurück in die Küche. Margarete begann mit der Reinigung des Hauses. Die Arbeit war anstrengend und in manchen Räumen auch ziemlich ekelhaft. Sie war gerade dabei, die Bilderrahmen an den Wänden des Arbeitszimmers abzustauben, als hinter ihr die Tür ins Schloss fiel. Sie drehte sich um. Es war der Doktor. Er hatte offensichtlich getrunken und stand nur einen Schritt weit vor ihr. Er streckte seine Hand aus, strich ihr langsam mit der Rückseite seines Zeigefingers über das pralle Dekolleté und forderte:

„Lass mich doch mal sehen, was ich heute Mittag für mein Geld gekauft habe.“

Margarete wich zurück und sah ihn erschrocken an. Er stolperte ihr hinterher, packte sie am Hals, drückte sie gegen die Wand und hauchte ihr mit fauligem Atem ins Gesicht:

„Stell dich ruhig an. Dann macht es mehr Spaß.“

Er drückte seinen fetten Bauch gegen ihren zarten Körper und fing vor Erregung an zu schwitzen.

Seine Finger schnürten ihr die Luft ab, als die Angst der Wut wich und sie röchelte:

„Tu das nicht!“

Der Doktor lachte.

Sie röchelte erneut:

„Das war keine Bitte!“

Diese Dreistigkeit wischte das Lachen von seinem Gesicht. Er holte zu einer schallenden Ohrfeige aus. Doch bevor er zuschlagen konnte, steckte das Mädchen ihren rechten Zeigefinger in sein linkes Auge. Sie konnte spüren, wie der Augapfel zur Seite rutschte und ihr Finger tief in die Augenhöhle eindrang. Sein Schrei ging durch Mark und Bein. Margarete drückte sich an dem Doktor vorbei und drängte in die Richtung der Tür. Mit der einen Hand hielt er sich das blutende Auge. Mit der anderen Hand versuchte der schreiende Arzt, nach dem Mädchen zu greifen. Wutentbrannt erwischte er den hinteren Kragen ihres Gewandes. Sie konnte sich losreißen, stürmte die Treppe hinunter, öffnete die riesige Eingangstür, erreichte die Straße und rannte. Sie rannte und rannte. An Menschen, Kutschen und Fachwerkhäusern vorbei, bis die Straße hinter dem Fischmarkt am Hafenbecken endete.

Nun stand sie da. Allein, mit zerrissenem Gewand und Tränen im Gesicht. Die Geräusche des Hafens vermischten sich mit den Stimmen und Schritten der Menschen, die am Kai ihrer Tätigkeiten nachgingen oder an den unzähligen Ständen des Fischmarktes ihre Besorgungen machten. Kutschen, Droschken und Handkarren rumpelten über das Pflaster. Ihre Gedanken drehten sich unkontrolliert im Kreis:

„Mein Vater hat mich verkauft. Ich kann nicht zurück. Der angesehene Herr Doktor ist ein unzüchtiges Schwein. Was wird er mir antun, wenn er mich findet? Wo kann ich hin und was soll ich denn jetzt machen?“

Sie starrte verzweifelt auf ihr verzerrtes Spiegelbild, das sie auf der Wasseroberfläche des Hafenbeckens entdeckte.

Als aber die richtigen Fragen ihre Reise durch Margaretes Gehirn antraten, fasste sie neuen Mut:

„Wer bin ich und was kann ich?“

Margarete war die Tochter eines Gauklers und sie konnte nicht nur tanzen und jonglieren. Sie war auch ein exzellenter Taschendieb und wusste, wie man sich eine einigermaßen brauchbare Behausung unter den Brücken der Städte einrichten kann. Da sie sehr hungrig war, machte sie sich sofort an die Arbeit. Ältere Herren waren ihre bevorzugten Opfer, da diese eine volle Geldbörse besaßen und sich leicht von ihrem reizenden Aussehen ablenken ließen. Das Mädchen glitt elegant durch den Menschenstrom, der durch den Fischmarkt floss, und es dauerte nicht lange, bis sich der Blick eines Mannes lange genug in ihrem Dekolleté verlor, um seine Börse in ihrem Unterrock verschwinden zu lassen. Sie besorgte sich Lebensmittel und richtete sich ein Lager unter einer der Hafenbrücken ein. So verbrachte sie ihre Tage und Nächte. Sie hielt sich fern von anderen Gauklern und Landstreichern, sprach mit niemandem und fürchtete ständig, entdeckt zu werden.

Morgens ging sie immer wieder zurück zum Kai, schaute den Schiffen hinterher, sah auf das Meer hinaus und träumte von der unendlichen Freiheit, die der Horizont versprach. Ihr war klar, dass sie den Fischmarkt nicht mehr viel länger bearbeiten können würde, ohne irgendwann erwischt zu werden. Sie hatte schon tagelang darüber nachgedacht, Bremen zu verlassen, als sie ein großes buntes Plakat an der Fassade der Hafenkommandantur bemerkte. Das Plakat zeigte exotische Pflanzen und Tiere. Palmen, Elefanten, Giraffen und bunte Früchte. Das Plakat sah aus wie ein Fenster, auf dessen anderer Seite sich das Paradies erstreckt. Margarete träumte sich in diese bunte Welt hinein und blendete den Lärm des Hafens aus. Dröhnende Stille und eine wohlige Gänsehaut umschlangen sie, wie eine warme Decke. Dann las sie den Schriftzug:

„Vom Dienstmädchen zur Kolonialherrin.“ Margarete traute ihren Augen nicht. Sie trat näher an das Plakat heran, um den Rest des Textes besser lesen zu können. Der Gouverneur Theodor Leutwein hatte angeregt, die Ansiedlung deutscher Frauen in der Kolonie Deutsch-Südwest zu forcieren. Weiter stand dort geschrieben, dass die Frauen in den Kolonien von reichen Siedlern und feschen Soldaten geheiratet werden, sowie ein Vermerk über die Erhaltung des Deutschtums in den Kolonien und das Zitat einer Dame mit dem Namen Eckenbrecher:

„Wohl nirgends sonst in der Welt wird uns deutschen Frauen von den Herren der Schöpfung so viel Verehrung entgegengebracht wie gerade in unseren Kolonien.“

Jetzt war sich Margarete sicher, das Paradies entdeckt zu haben, und sie würde alles dafür tun, es zu erreichen. Ein neues Kleid, schicke Schuhe und ein paar Haarspangen sollten den Weg ebnen. Das Mädchen war nicht dumm und verteilte den Diebstahl der nötigen Anzahl an Geldbörsen auf mehrere Tage. Dann war es endlich so weit. Sie kaufte das Kleid, machte sich zurecht und betrat mit sicherem Schritt die Hafenkommandantur. Ihre Schritte hallten unter der prächtig bemalten Kuppel wider, als sie durch die Eingangshalle ging. Am anderen Ende der Halle hing ein riesiger Anker an der Wand. Darunter saßen uniformierte Männer an einer langen Rezeption, vor der ein gutes Dutzend junger Frauen darauf wartete, sich in die Siedlerliste eintragen zu dürfen. Margarete reihte sich geduldig ein. Nach einer guten Stunde wurde sie aufgerufen und in ein Nebenzimmer geführt. Dort saßen zwei Männer und eine Frau vom Deutschen Frauenbund an einem großen Schreibtisch. Dahinter befand sich ein Panoramafenster, durch das man die Weser sehen konnte. Die Herrschaften notierten ihren Namen, das Geburtsdatum und noch ein paar andere persönliche Informationen. Dann erklärte man ihr den Ablauf der Reise, gab ihr eine Bordkarte und ein Identifikationsdokument. Einer der Herren ließ Margarete wissen, dass ihr zukünftiger Ehemann sowie der Frauenbund für die Kosten ihrer Reise aufkommen würden, und verabschiedete sie mit freundlichen Glückwünschen.

Aus Angst, aufgrund ihres jungen Alters abgewiesen oder sogar entdeckt und für die Körperverletzung an dem Doktor angeklagt zu werden, hatte Margarete bei der Befragung gelogen und ihre Personalangaben verändert. Sie hieß nun Mathilde Behrens und war gemäß ihres neuen Identifikationsdokumentes 21 Jahre alt.

Am nächsten Morgen ging sie schon vor Sonnenaufgang in den Hafen. Sie war sehr aufgeregt, weil die Freude auf Freiheit und Abenteuer die Schlacht gegen die Angst vor dem Ungewissen noch nicht ganz gewonnen hatte.

Sie lief zügig, aber sie rannte nicht.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Morgennebel brachen, erreichte Margarete den Kai. Sie trug das Dienstmädchengewand, das sie mittlerweile geflickt hatte. In der Hand hielt sie eine kleine braune Tasche, in der sich ihr neues Kleid und ein paar Habseligkeiten befanden. Der Kai war an diesem besonderen Tag voller Menschen. Ein buntes Potpourri aller sozialen Schichten wartete auf die Abfahrt des Woermanndampfers. Manche trugen ihre Koffer und Taschen selbst. Andere ließen ihr Gepäck von jungen Burschen tragen, die sich mit dieser Tätigkeit den Lebensunterhalt verdienten, und wieder andere hatten dermaßen viele Koffer und Kisten, dass sie Handkarren brauchten, die ihr Gesinde voll bepackt über den Kai zog.

Die Stimmen der ersten Marktschreier schallten durch den Hafen und der Duft von frisch gebackenem Brot zog durch die Gassen.

Margarete blieb stehen und schloss die Augen. Dann versuchte sie, ganz bewusst zu riechen und zu lauschen. Ein letztes Mal noch wollte sie die Heimat spüren.

Danach reihte sie sich mit selbstbewussten Schritten in den Strom der Passagiere ein.

Die letzten Wolken hatten sich gerade verzogen, als sie den Anleger erreichte.

Der Woermanndampfer wurde bereits beladen. Menschentrauben belagerten die Gangway und warteten auf die Erlaubnis, an Bord gehen zu dürfen. Angehörige verabschiedeten ihre Lieben und Schaulustige bewunderten das Schiff. Der Woermanndampfer war über 100 Meter lang und hatte Platz für 200 Passagiere. Ein schwimmendes Dorf aus Stahl. Der Rumpf war schwarz und auf dem weißen Aufbau thronten zwei riesige Schornsteine, die mit roten Streifen verziert waren.

Das Getöse der Stimmen und Ladegeräusche wurde plötzlich von einer Ansage übertönt, die aus den Lautsprechern der Hafenanlage drang. Die Passagiere wurden dazu aufgefordert, an Bord zu gehen und die auf ihren Bordkarten ausgewiesenen Bereiche innerhalb des Schiffes aufzusuchen. Als Margarete nach langem Entenmarsch über die Gangway den Dampfer endlich betrat, bot sich ihr ein unfassbares Bild. Teppichboden, Polstermöbel, Wendeltreppen mit goldenen Handläufen, Kronleuchter an den Decken und Kunstwerke an den Wänden. Alles war luxuriös dekoriert und prunkvoll beleuchtet. Es gab sogar einen Ballsaal und ein Casino an Bord.

Nach einem kurzen Rundgang mussten sich alle Passagiere im Speisesaal versammeln, wo ihnen die Sicherheitsrichtlinien für den Fall eines Untergangs erklärt wurden.

Margarete hatte bis zu diesem Moment noch gar nicht daran gedacht, dass ihre Reise auch auf dem Grund des Meeres enden könnte. Mit dieser neuen Perspektive vor Augen, hatte sie ein leicht mulmiges Gefühl im Bauch, als die Passagiere in Gruppen aufgeteilt und zu ihren Gemächern geleitet wurden. Die Mädchen des Frauenbundes reisten in der dritten Klasse. Dort gab es keine Gemächer mit Fenstern und Balkonen. Dort gab es Kajüten, die unterhalb der Wasserlinie lagen.

Margaretes Kajüte war ein schmaler, mit einer Ölfunzel beleuchteter Raum. Seitlich stand ein Etagenbett und an der gegenüberliegenden Wand hing eine Kleiderstange mit ein paar Bügeln. Dort, wo sich in der ersten und zweiten Klasse die Fenster und Balkontüren befanden, hing ein kleiner Spiegel von der Größe eines Bullauges an der Wand. Darunter standen ein Beistelltisch und zwei Hocker. Es war stickig, aber es stank nicht. Die Tür stand noch offen, als Margarete sich auf die untere der beiden Pritschen setzte und Johanna den Raum betrat:

„Guten Morgen, ich bin Johanna. Ich glaube, wir sind Zimmergenossen.“

Margarete nickte:

„Ich heiße Ma…thilde.“

Es fühlte sich seltsam an, den neuen Namen laut auszusprechen, und doch steckte ein Quäntchen Befreiung darin. Margarete wurde in diesem Moment bewusst, dass ein neuer Name und ein neues Leben in einem fernen Land die Uhr auf null stellen würden. Eine Art Tabula Rasa der eigenen Existenz. Jetzt war alles möglich.

Johanna hatte mittlerweile ihr Gepäck in die Ecke gestellt und saß auf einem der Hocker. Auch sie trug das Gewand eines Dienstmädchens, war 26 Jahre alt, hatte kastanienbraunes, schulterlanges Haar, große dunkle Augen und war leicht übergewichtig. Sie zog ihre Schuhe aus und stöhnte erleichtert:

„Aaah, das tut gut. Endlich, ich hätte keine zehn Schritte mehr geschafft.“

Sie zeigte auf das Etagenbett:

„Möchtest du oben schlafen oder lieber unten?“

Margarete legte beide Hände auf die untere Pritsche, auf der sie gerade Platz genommen hatte:

„Ich glaube, ich bleibe hier.“

Johanna nickte:

„So soll es sein.“

Margarete lächelte zufrieden und fragte:

„Hat man dir gesagt, wo die Waschräume sind?“

Johanna zeigte in die Richtung des Bugs:

„Sie haben gesagt, dass es auf diesem Stockwerk zwei Waschräume gibt. Beide sind im vorderen Teil des Schiffes. Wir könnten sie gemeinsam suchen und danach an Deck gehen. Das Schiff läuft bald aus.“

Margarete war einverstanden und die Frauen machten sich auf den Weg. An Deck standen ein Großteil der Besatzung und fast alle Passagiere in Reihe und Glied an der Reling. Es wurde gewinkt, geweint und gesungen.

„Leinen los“, schallte es aus der Lautsprecheranlage des Kapitäns. Die Schiffssirene ertönte, das Geräusch der Maschinen wurde lauter und langsam, ganz langsam setzte sich der Woermanndampfer in Bewegung.

Margarete stand regungslos an der Reling und hielt sich mit beiden Händen an ihr fest. Schon bald wurden die Menschen, die am Anleger zurückgeblieben waren, zu kleinen Punkten. Die Stadt sah nun aus wie ein Spielzeug. Sie spürte den Wind und roch die See. Der Horizont kam immer näher und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei.

KAPITEL II

Margarete lag auf ihrer Pritsche und starrte auf die Unterseite der über ihr montierten Matratze. Sie fragte sich, ob Johanna noch wach war. Die Eindrücke des Tages vertrieben den Schlaf und sie hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden:

„Johanna?“

Johannas Gesicht erschien am Rand der oberen Pritsche und sie fragte mit erleichtertem Gesichtsausdruck:

„Kannst du auch nicht schlafen?“

Margarete zog für einen kurzen Moment die Schultern und die Augenbrauen hoch:

„Ich war noch nie auf einem Schiff.“

Sie legte eine Hand auf ihre Stirn:

„Die letzten Wochen waren furchtbar und ich bin froh, das alles hinter mir zu lassen. Ich bin aber auch traurig und weiß gar nicht so genau, warum.“

Johanna sah sie gütig an und versuchte, sie zu trösten:

„Was auch immer dir passiert ist, es hat dazu geführt, dass du jetzt hier bist. Du bist unwiderruflich ein Resultat deiner Vergangenheit, aber du kannst in der Zukunft all das werden, was du in der Gegenwart säst. Allerdings kannst du manchmal säen, was du willst. Wenn der Acker verdorrt ist, dann wirst du nichts ernten. Deshalb liege ich jetzt hier auf einer Pritsche, im Bauch eines riesigen Schiffes, und fahre ans andere Ende der Welt, um dort einen fruchtbaren Acker zu finden. Wer vor etwas davonläuft, der läuft meistens auch auf etwas anderes zu. Wenn man es schafft, das Karussell der Gedanken lange genug anzuhalten, um das erkennen zu können, dann wird die Neugier auf das Neuland die Trauer über das Verlorene verdrängen.“

Margarete war erstaunt darüber, dass Johanna in der Lage war, ihr einen derart treffenden Ratschlag zu geben, ohne vorher nach ihrer Geschichte gefragt zu haben. Sie fühlte sich bestätigt und das gab ihr Kraft. Die Sorgenfalten wichen einem zaghaften Lächeln:

„Danke Johanna, das hat mir sehr geholfen. Du hast es wohl auch nicht leicht gehabt.“

Johanna seufzte und erzählte von ihrem Vater, der sie von seinem Bauernhof gejagt hatte, als sie im Alter von 16 Jahren die Unzucht mit dem Knecht gestehen musste, weil sie schwanger war. Sie lebte einige Wochen im Wald und verlor das Kind, weil sie nicht genügend Nahrung fand. Als ihr Bauch wieder flach und ihre Schande nicht mehr sichtbar war, ging sie in die Stadt und fand dort eine Arbeit als Zofe, bei einer älteren Dame. Die Dame brachte ihr das Lesen bei und unterrichtete sie in den Umgangsformen des Freiherrn von Knigge. Nachdem die alte Frau verstorben war, übernahm ihr Sohn das Anwesen. Dieser hatte eine sehr eifersüchtige Ehefrau, die alle Dienstmädchen entließ, die jünger waren als sie selbst. Johanna machte sich zunächst keine großen Sorgen, da sie nun sehr gut ausgebildet war und bestimmt schnell eine neue Anstellung finden würde. Zu ihrer großen Enttäuschung stellte sie bald fest, dass man ihr fast ausschließlich Reinigungsarbeiten anbot, da sie nicht kochen konnte und für den Dienst im Speisesaal nicht hübsch genug war. Vor wenigen Wochen hat sie dann endlich entschieden, alle Enttäuschungen hinter sich zu lassen.

Margarete hörte gespannt zu, aber sie schlief erschöpft ein, bevor die Geschichte endete.

Die zwei Frauen verbrachten nun jeden Tag miteinander. Sie blieben unter sich, machten viele Spaziergänge an Deck und staunten über die Wunder des Ozeans, wenn Wale oder Delphine in Sicht kamen. Sogar einen Mondfisch sahen sie, als das Schiff die Kanarischen Inseln passierte. Das Wetter war vorteilhaft und der Dampfer kam gut voran. Johanna und Margarete standen an der Reling, als sich das Schiff am frühen Morgen des 26sten Tages einer Nebelwand näherte. Ein Matrose blieb neben ihnen stehen, zeigte auf den Nebel und sagte:

„Das ist der Atem der Namib. Wir sind da!“

Die Freundinnen sahen sich in die Augen. Margarete versuchte, nicht zu weinen, aber die Tränen liefen ihr unkontrollierbar aus den Augen, weil sie wusste, dass man sie nach der Ankunft von Johanna trennen würde. Johanna strich ihr mit hoffnungsvollem Blick über die Wange und wischte zärtlich mit dem Daumen eine Träne weg:

„Mach dir nicht so viele Sorgen, Kleines. Alles, was jemals geschehen ist, hat dazu geführt, dass wir uns getroffen haben, und alles, was von jetzt an geschieht, wird dazu führen, dass wir uns wiedersehen … versprochen.“

Sie umarmten sich und der Nebel verschlang den riesigen Dampfer.

Als die Lüderitzbucht in Sicht kam, ertönte die Schiffssirene und alle Passagiere kamen an Deck, um einen ersten Blick auf ihre neue Heimat zu erhaschen. Die steinige Bucht sieht aus wie ein großes Hufeisen, das an den Seiten ein wenig verbogen ist. Zuerst konnte man die Hafenanlage sehen. Links davon, im Scheitel der Bucht, waren dann allmählich die Gebäude der Stadt zu erkennen. Fachwerk- und Jugendstilhäuser in verschiedenen Farben, ein Marktplatz, eine Promenade und unzählige Fischerboote.

Robben begleiteten den Woermanndampfer auf seinem Weg in den Hafen, Pelikane landeten an Deck und Möwen kreisten um die Schornsteine.

Als sich das Schiff dem Anleger näherte, begann ein reges Treiben auf dem Kai. Schwarze Arbeiter bereiteten die Laderampen vor und warteten darauf, dass man ihnen die Leinen zuwarf. Winkende Menschen, Fahnenschwenker und sogar eine Kapelle waren Teil des bunten Treibens. Abermals ertönte die Schiffssirene, Taue flogen ans Ufer und der Dampfer wurde festgemacht. Die Kapelle spielte auf. Freude schöner Götterfunken. Die Gangway wurde angelegt und die ersten Passagiere gingen an Land. Margarete und Johanna holten ihre Sachen und reihten sich in den Strom der aussteigenden Menschen ein. Sie hielten sich an den Händen, als sie die Gangway hinuntergingen. Am Fuß der Gangway standen Männer, die im Getümmel ihre Schilder hochhielten. Darauf waren die Namen von Personen oder Firmen zu lesen. Angehörige und Freunde fielen sich in die Arme und die Entladung war in vollem Gange. Aus den Lautsprechern der Hafenanlage waren Willkommensgrüße und verschiedene Anweisungen zu hören. Die Passagiere wurden zur Dokumentenkontrolle gebeten. Die Siedler bekamen eine Einweisung und die Frauen hatten sich an einem Informationsstand des Deutschen Frauenbundes einzufinden. Insgesamt waren es 46 Frauen. Sie mussten ihre Identifikationsdokumente vorzeigen, wurden in eine Liste eingetragen und bekamen eine Nummer.

Nach einer kurzen Wartezeit wurden sie in eine Halle der Hafenanlagen gebracht. Johanna und Margarete hielten sich immer noch an den Händen, als sie die Halle betraten. Das Gebäude war leer und jedes noch so leise Geräusch hallte wider. An der hinteren Wand standen zwei Tische, an denen jeweils zwei Männer saßen. Rechts daneben standen vier bewaffnete Schutztruppensoldaten. Die Frauen standen nun ungeordnet in der Halle. Manche waren eingeschüchtert und andere sahen sich neugierig um. Ein paar Frauen unterhielten sich flüsternd und die Herrschaften des Frauenbundes murmelten gewichtig. Wenige Minuten später betraten 46 Männer die Halle und stellten sich in zwei Reihen vor den beiden Tischen auf. Die Frauen verstummten, drehten ihre Hälse und betrachteten die Männer. Das waren sie also. Die Herren der Schöpfung, die den deutschen Frauen in Südwest so viel Verehrung entgegenbringen, wie nirgends sonst auf der Welt. So stand es zumindest auf dem Plakat im Bremer Hafen. Die Männer waren hagere Farmer mit Latzhosen, Arbeitsstiefeln und Vollbärten, Schutztruppensoldaten in feschen Uniformen sowie Geschäftsleute mit teuren Anzügen und modischen Schnauzbärten. Die Farmer und Soldaten wurden an den linken Tisch gebeten, während die Geschäftsleute sich in der rechten Warteschlange einreihten. Die Namen der Frauen wurden nach und nach aufgerufen und sie verließen eine nach der anderen die Halle mit ihren zukünftigen Ehemännern. Jetzt wurde Margarete wieder bewusst, dass sie in nur wenigen Tagen einen Mann heiraten würde, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Nicht alle Männer, die soeben die Halle betreten hatten, waren jung, und ein paar von den Geschäftsleuten waren ziemlich dick. Sie dachte daran, dass sie mit einem dieser Männer eine Hochzeitsnacht verbringen und ihm Kinder schenken müsse. Sie bekam ein kaltes Gefühl in der Magengegend und ihr Hals zog sich zu.

Johanna schien ähnliche Gedanken gehabt zu haben, da ihr Griff um Margaretes Hand immer fester wurde.

Dann rief der Administrator Johannas Namen auf. Sie ließ Margaretes Hand los, sah ihr in die Augen, strich ihr wortlos über die Wange, drehte sich um und ging. Margarete sah ihr schweigend hinterher, als sie die Halle mit einem groß gewachsenen Farmer verließ.

Margaretes Unterlippe zitterte, aber sie weinte nicht.

Knapp zehn Minuten später war es ihr Name, der durch die Halle schallte … Mathilde Behrens.

Als sie aus der Traube der Frauen heraustrat, drehte sich einer der Geschäftsmänner um und sah sie erwartungsvoll an. Er war ein bisschen kleiner als Margarete, hatte volles dunkles Haar und einen Spitzbart. Er war gepflegt, schlank, 36 Jahre alt und trug einen schwarzen Anzug mit grauer Weste und einem bordeauxroten Einstecktuch. Der Mann ging auf Margarete zu und begrüßte sie mit fester Stimme:

„Willkommen in Deutsch-Südwest. Ich bin Paul von Stach.“

Er machte einen Diener und küsste ihre Hand.

Margarete machte einen Knicks, so wie Johanna es ihr beigebracht hatte:

„Sehr erfreut, ich bin Mathilde Behrens.“

Paul zeigte mit offener Handfläche und einer einladenden Armbewegung in die Richtung des Ausgangs:

„Darf ich bitten?“

Er geleitete seine zukünftige Braut durch den Hafen, an der Küste entlang, bis zu seinem Haus.

Paul war ein Diamantenhändler, der eine himmelblaue Jugendstilvilla an der Promenade besaß. Die Villa hatte zwei Stockwerke und ein Untergeschoss.

Paul führte Margarete durch das Parterre. Der Boden war aus Marmor. In der Eingangshalle hing ein feudaler Kronleuchter. Afrikanische Statuen und Masken dekorierten fast alle Räume und Ölgemälde nackter Figuren verzierten die Wände. Es gab eine Bibliothek, in der ein Löwenfell mit Kopf und offenem Maul vor einem Kamin lag, einen Speisesaal, von dessen Wänden Antilopenköpfe mit leeren Glasaugen auf Margarete herab starrten, und eine kleine Kegelbahn. In der Küche standen Kühlschränke und große Glühbirnen sorgten in jedem Raum für eine angenehm helle Beleuchtung. Paul erklärte alles ganz genau und mit viel Geduld. Er erzählte kurze Anekdoten über die Anschaffung der interessantesten Gegenstände, scherzte über die Händler, die sie ihm verkauft hatten, geizte nicht mit Jägerlatein und rühmte seinen Schneider.

Eine breite Treppe führte in den ersten Stock, in dem sich drei Gemächer, das Arbeitszimmer und zwei Waschräume befanden. Überall lag Parkett und die Decken waren mit Stuck dekoriert. Paul führte Margarete in eines der Gemächer und erklärte ihr, dass dies nun ihre Stube sei. Dann zeigte er mit ausgestrecktem Arm die Treppe hinauf, die in den zweiten Stock führte:

„Dort oben sind meine Gemächer.“

Er sah Margarete an, lächelte süffisant und fügte hinzu:

„Die zeige ich dir in unserer Hochzeitsnacht.“

Dieser Satz trieb ihr einen Schauer über den Rücken. Sie überspielte den Schock und rang sich ein verlegenes Lächeln ab:

„Wann ist denn unser Freudentag?“

Paul kratzte sich am Kopf und verzog das Gesicht:

„Das kann noch einige Tage dauern. Es sind 29 Frauen in Lüderitz geblieben, aber wir haben momentan nur einen Pfarrer. Am Sonntag wird im Gemeindehaus eine Liste ausgehängt, auf der alle Heiratstermine bekanntgemacht werden. Mach dir keine Sorgen. Ich habe alles unter Kontrolle. Geh jetzt auf deine Stube und richte dich ein. Wir essen bald zu Abend.“

Margarete ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Das Zimmer raubte ihr den Atem. Da stand ein großes, weißes Himmelbett mit frisch duftenden, weißen Laken und bestickten Kissen in verschiedenen Formen und Größen. Sie hatte noch nie in einem solchen Bett geschlafen.

Ein geräumiges Sofa mit Beistelltisch füllte die Mitte des weitläufigen Raumes und vor einer glitzernden Spiegelwand stand ein voll ausgestatteter Schminktisch. Puder, Öle und Rouge. Pinsel, Tupfer und Zupfer. Alles das, was eine Dame braucht, um ihren gesellschaftlichen Stand zu unterstreichen und kleine Makel zu verstecken. Eine große Glastür bot Zugang zu einem Balkon mit Meerblick.

Margaretes Emotionen begannen zu rotieren.

Sie hatte das Paradies gesucht und sie hatte es gefunden. Unter diesen Voraussetzungen würde es bestimmt auch möglich sein, Johanna wiederzufinden. Andererseits empfand sie es als beklemmend, ein Haus zu bewohnen, das zum Teil mit den Köpfen toter Tiere dekoriert war. Auch der Gedanke an die Hochzeitsnacht verunsicherte sie sehr. Margarete brauchte frische Luft. Sie ging auf den Balkon. Die Meeresbrise wehte ihr ins Gesicht. Die Sonne war kurz davor, den Scheitel des Ozeans zu berühren und dem Mond den Himmel zu überlassen, als sich die letzten Abendwolken in die Leinwand eines prächtigen Farbenspiels verwandelten. Die See spiegelte das Naturspektakel wider und die Schatten der Küstenlinie rahmten es ein. Die Stadt war umgeben von Felsen und dunklem Gestein. Dahinter müssten dann wohl die herrlich grünen Palmenlandschaften liegen, die Margarete damals auf dem Plakat des Deutschen Frauenbundes in Bremen gesehen hatte.

War sie nun wirklich eine Kolonialherrin?

Oder war sie immer noch die Tochter eines Gauklers, die man gerade zum zweiten Mal verkauft hatte?

KAPITEL III

Es klopfte an der Tür. Margarete drehte sich um:

„Ja bitte.“

Die Tür öffnete sich und eine schwarze Frau betrat den Raum. Sie trug das Gewand eines Dienstmädchens, mit Schürze aber ohne Haube. Sie hatte zahllose geflochtene Zöpfe zu einem riesigen Dutt zusammengebunden. Sie war vielleicht 30 Jahre alt, recht klein und sehr dünn. In ihren Händen hielt sie einen großen Korb, gefüllt mit säuberlich gefalteten Textilien und einem Paar schwarzer Schnürstiefel darauf. Mit demütigem Blick auf den Boden und in gebrochenem Deutsch sprach sie Margarete an:

„Gnädige Frau, Kleider für sie bitte.“

Sie stellte den Korb ab, verließ das Zimmer und schloss die Tür.

Margarete verließ den Balkon, stellte den Korb auf das Bett, setzte sich daneben und begann, den Inhalt zu inspizieren. Unterwäsche, Unterröcke, Kleider und Accessoires. Sie suchte den Waschraum auf, machte sich frisch und zog eines der weißen Kleider an. Dazu die schwarzen Schnürstiefel und eine blaue Haarschleife. Zurück auf ihrer Stube setzte sie sich an den Schminktisch und betrachtete die darauf befindlichen Utensilien und Produkte. Sie nahm einen der Pinsel und legte los.

Ein bisschen Puder auf die Nase, ein wenig Rouge auf die Wangen, etwas hiervon, etwas davon und fertig war das Clownsgesicht. Sie hatte sich noch nie geschminkt und das Ergebnis ihres ersten Versuchs entlockte ihr ein herzliches Lachen, als sie sich verzückt im Spiegel betrachtete.

Es klopfte:

„Gnädige Frau, komme essen bitte“, rief das Dienstmädchen durch die Tür, ohne den Raum zu betreten. Margarete ging wieder in den Waschraum, wusch ihr Gesicht und machte sich auf die Suche nach dem Speisesaal, den Paul ihr zuvor gezeigt hatte.

Der Tisch war reich gedeckt. Geflügel, Kartoffeln, Bohnen, Rote Beete, Brot und Käse. Er war an beiden Enden eingedeckt und Paul hatte schon Platz genommen. Seitlich hinter ihm stand das schwarze Dienstmädchen. Die ausgestopften Antilopenköpfe starrten Margarete wie schon zuvor mit leeren Glasaugen an. Sie betrat den Raum und Paul blickte auf:

„Guten Abend meine Liebe. Du siehst bezaubernd aus.“

Er zeigte mit offener Handfläche und ausgestrecktem Arm auf den Platz am anderen Ende des Tisches:

„Bitte, nimm Platz.“

Margarete setzte sich hin:

„Danke, ihr Haus ist sehr schön. Wirklich, danke für alles.“

Paul lächelte:

„Du musst mich nicht siezen. Ich bin der Paul. Paul von Stach und du wirst bald Mathilde von Stach sein.“

Er gab dem Dienstmädchen ein subtiles Handzeichen und sie begann, das Essen zu servieren.

„Miriam kennst du ja bereits“, bemerkte Paul beiläufig und fügte noch hinzu:

„Ich habe sie nach meiner Mutter benannt.“

Margarete wunderte sich sehr über diese Aussage, aber sie war zu hungrig, um darüber nachzudenken. Sie probierte alles, was die Küche zu bieten hatte, und Paul erzählte die Geschichte seines Erfolges. Er besaß Schürfrechte und seine Familie hatte hervorragende Kontakte, die es ihm ermöglichten, seine Diamanten in ganz Europa zu verkaufen. Er stammte aus Berlin und war nach Deutsch-Südwest gekommen, weil er das Abenteuer suchte. Paul schwärmte von Adolf Lüderitz, dem Stadtvater, der es geschafft hatte, dem Nama-Anführer Josef Frederick mit einer List das Siebenfache der vertraglich vereinbarten Landfläche abzukaufen, ohne die zusätzliche Landfläche bezahlen zu müssen. Da fing Paul während seiner Erzählung an zu lachen:

„Sie haben die vertraglich vereinbarte Fläche in Meilen angegeben und die Wilden haben nicht gewusst, dass eine deutsche Meile viel länger ist als eine englische Meile. Das war Adolfs großer Meilenschwindel. So bekam er auch den Spitznamen ‚Lügenfritz‘.“

Er klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel und wiederholte:

„Ja, ja, der alte Lügenfritz.“

Er wischte sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel, nahm einen Schluck Wein und sprach gefasst weiter:

„Und dann haben wir überall Diamanten gefunden. Man muss nicht einmal graben. Die Hottentotten kriechen den ganzen Tag im Hinterland herum und sammeln alles für uns auf. Leider sind dabei ein paar von den deutschen Siedlern verkaffert. Aber darum kümmert sich ja jetzt der Frauenbund.“

Er beugte sich vor, stützte beide Ellenbogen auf den Tisch, faltete die Hände, legte seinen Kopf darauf und wechselte das Thema:

„Es scheint dir gut zu schmecken. Der Hunger war wohl oft ein ungebetener Gast in deinem Haus?“

Margarete hielt kurz inne, hob den Kopf, schluckte den letzten Bissen hinunter und entgegnete:

„Ich hatte nie ein Haus.“

Paul lächelte sie an:

„Jetzt hast du eins.“

In dieser Nacht schlief Margarete so gut wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die Laken rochen paradiesisch, die Kissen fühlten sich an wie flauschige Wolken und trotz seines eher unbeholfenen Humors hatte ihr Paul ein Gefühl von Sicherheit gegeben, das dem Sandmann Tür und Tor öffnete, sein Säckchen über ihr zu leeren.

Sie träumte von Johanna, den Palmen und exotischen Tieren, während das Rauschen des Ozeans sie durch die Nacht geleitete.

Kurz nach Sonnenaufgang wurde Margarete von einem vorsichtigen Klopfen geweckt und Miriams Stimme drang sanft durch die Tür:

„Gnädige Frau, komme bitte. Master Paul zeigt Stadt heute für sie.“

Margarete machte sich zurecht und als sie die Treppe zur Eingangshalle herunterkam, stand Paul bereits vor der Tür und wartete.

Margarete blieb zwei Schritte vor ihm stehen, er küsste ihre Hand, sah sie an und bemerkte:

„Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“

Dann öffnete er die Tür, reichte ihr die Hand und fügte hinzu:

„Komm, wir gehen frühstücken und dann zeige ich dir die Stadt.“

Margarete nahm seine Hand, ließ sich durch die Tür führen, hakte sich ein und ging mit Paul die Treppe zur Straße hinunter.

Noch nie hatte sie ein Mann an seinem Arm durch die Stadt geführt wie eine Dame. Stolz mischte sich mit Verunsicherung. Wussten die entgegenkommenden Passanten, dass sie eigentlich gar keine Dame war? Konnte man die Tochter des Gauklers hinter dem schönen Schein der neuen Kleider immer noch sehen? Trotzdem war sie stolz. Stolz darauf, dass sie den Mut gehabt hatte, die weite Reise zu wagen, und stolz darauf, am anderen Ende der Welt ein besseres Leben gefunden zu haben.

Paul führte sie über den Markt und kaufte hier und da ein paar Leckereien, die sie aßen, während sie nebeneinanderher schlenderten.

Paul zeigte auf verschiedene Gebäude und erklärte, was sich darin befand. Jugendstilhäuser neben wilhelminisch anmutenden Bauten in blauen, gelben und grünen Pastellfarben. Das cremefarbene Woermannhaus, das nagelneue Teehaus und der Kapps Konzert- und Ballsaal mit Kegelbahn. Margarete war erstaunt. Nichts davon war exotisch. Ganz im Gegenteil. Eigentlich sah alles genauso aus wie in der Heimat. Sie war um die halbe Welt gereist und befand sich immer noch in Deutschland.

Es gab Geschäfte für jedweden Bedarf, Bankhäuser, Handwerksbetriebe und Apotheken. Manche Herren trugen feine Anzüge und hatten Gehstöcke mit goldenen Griffen. Fast alle Damen trugen knöchelfreie weiße Kleider mit Schnürstiefeln in allen Formen und Farben. Nahezu keine hatte einen Hut. Die Winde, die fast täglich von mittags bis abends über die Küste der Lüderitzbucht fegten, hätten jede Kopfbedeckung leicht zum Spielball ihrer Böen gemacht.

Im Hafen flickten Fischer ihre Netze, be- und entluden ihre Boote oder Kutter, verkauften ihren Fang und packten ihn zum Teil in Kisten, die mit einem Zug ins Hinterland gebracht wurden. Die meisten Arbeiter waren schwarz. Nur einige wenige Händler, Vorarbeiter, Lotsen und die Kapitäne waren weiß. Margarete war fasziniert von den schwarzen Menschen.