Aus dem Leben eines Unsichtbaren - Lutz Altmann - E-Book

Aus dem Leben eines Unsichtbaren E-Book

Lutz Altmann

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Beschreibung

Andy ist ein lebenslustiger junger Mann, der gerne anderen Streiche spielt. Eines Tages erlebt er in der Badewanne einen Stromschlag, und wird unsichtbar. Zuerst hat er damit große Probleme. Er lernt eine Frau kennen, die ebenfalls unsichtbar ist. Er folgt ihr nach Lissabon, wo er in einem Institut gefangengenommen wird, um für sie kriminelle Handlungen zu tätigen. Eines Tages kann er fliehen. Mit seinem Freund Bernd fährt er per Auto zurück nach Deutschland. Unterwegs erleben sie einige Abenteuer, wie auch in Frankfurt - am Ziel ihrer Reise.

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Aus dem Leben eines Unsichtbaren

MISSGESCHICKE

LUTZ ALTMANN

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Nachwort

© 2022 Lutz Altmann

Facebook:https://www.facebook.com/Lutz-Altmann-Autor-101702638887917

E-Mail: [email protected]

Verantwortlich für den Inhalt nach § 55 Abs. 2 RStV: Michael Aulfinger

Anschrift:

Michael Aulfinger

Carl-Diem-Straße 18

78120 Furtwangen

Cover: Coverdesign4you, Christine Bouzrou

Lektorat: Lectocon, Friderike Maquet-Weißenseel

Buchlayout: buchseitendesign by Ira Wundram

Illustration Innenteil: iStock

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Der Inhalt des Buches ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1

Es war Samstag Vormittag und so wie jede Woche kaufte ich ein. Wie gewohnt schob ich den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts, von dem es zwei geteilte Ketten in Deutschland gab – Nord und Süd. Zwischen Stapeln von Babywindeln, Küchenrollen, Sauerkraut und Dosenbohnen manövrierte ich meinen Wagen von Regal zu Regal. Ich bemerkte, wie ich grinsen musste, weil ich an einen Streich dachte, den ich einmal den anderen Mietern des Hauses meines Mietshauses gespielt hatte.

Und heute wäre es wieder einmal so weit – es war der erste April. Innerlich rieb ich mir schon die Hände.

Das wird ein Spaß! Vorfreude ist immer noch die schönste Freude.

Wenn ich an meinen Aprilscherz vom letzten Jahr dachte, kann ich mich heute noch kaum vor Lachen halten. Verstohlen schaute ich mich um. Hat etwa irgendjemand bemerkt, wie ich vor mich hin kicherte?

Damals hatte ich die Telefonnummer eines Nachbarn herausgefunden und listig bei ihm angerufen. Mit verstellter Stimme plapperte ich gleich darauf los: „Herr Geier. Gut, dass ich Sie zu Hause erreiche. Ich komme gleich bei Ihnen vorbei. Die Fische sind frisch. Ganz frisch. Halten Sie das Geld bitte bereit. Fünfundzwanzig Euro, wie besprochen.“

„Wer sind Sie?“ Die Stimme am anderen Ende war alles andere als erfreut und zudem verwirrt. Das machte mir besonders Spaß.

„Wovon reden Sie? Was für Fische?“

„Bleib ruhig“, sagte ich mir, „er beißt an.“

„Ach Herr Geier. Sie wissen doch genau, wovon ich rede. Sie sind doch Alfred Geier aus der Zinnstraße 19. Ist das korrekt?“

„Ja, das bin ich“, antwortete mir der total verdatterte Geier.

„Dann bin ich richtig. Sie haben vor zwei Wochen drei Forellen und einen Hecht bei mir für heute bestellt. Für eine Feier wollten Sie ihn besonders frisch haben. Deshalb rufe ich jetzt an. Damit Sie auch da sind, wenn ich liefere.“

„Ich habe keine Fische bestellt, herrjemine!“

Ich konnte an seiner Stimme hören, wie er sich nur mühsam beherrschte. Das reizte mich noch mehr.

„Doch. Hier habe ich eine Bestellung von Ihnen vorliegen. Von Geier. Oder war es Ihre Frau?“

Dann hörte ich, wie Herr Geier seine Frau anschnauzte.

„Erna. Hast du Fische bestellt? Drei Forellen. Und einen Hecht.“

Ich presste mein Ohr ganz nah an den Hörer. Keinesfalls wollte ich die Antwort seiner Frau verpassen.

„Ich? Nein. Wieso sollte ich? Wie kommst du nur darauf?“

Eine Weile diskutierten die beiden hin und her. Jeder warf dem anderen vor, die Fische bestellt zu haben.

Als ich merkte, dass es in einen Streit ausartete, legte ich auf. Meinen Spaß hatte ich gehabt und ich hoffte, dass die beiden sich wieder beruhigten, sobald ich aus der Leitung war.

Und der Spaß ging weiter. Einige Tage später sprachen die anderen Hausbewohner mit dem von mir veräppelten Ehepaar im Fahrstuhl über die Fischbestellung, die sie „keinesfalls aufgegeben“ hatten, wie sie immer wieder entrüstet versicherten. Auch ich hatte vollkommen entsetzt und empört getan, innerlich jedoch erfüllte mich schelmische Freude. Sogar heute noch hörte ich gelegentlich von meinem gelungenen Streich.

Für den ersten April dieses Jahres hatte ich mir was Neues einfallen lassen. Etwas, wobei es nicht um Geld ging. Ein plumper Zettel sollte für Ärger sorgen.

Nach meinem Einkauf brachte ich mein Auto in die Garage und als ich das Treppenhaus betrat, spürte ich sofort, dass das Glück auf meiner Seite war. Drei Nachbarn warteten bereits vor dem Aufzug. Wir begrüßten uns kurz.

Der Fahrstuhl hielt an und noch bevor sich die Fahrstuhltüren öffneten, hörte man zwei Frauenstimmen keifen, als gäbe es darin einen Wettbewerb zu gewinnen.

„… kann mir meinen Kaffee verbieten. Niemand! Schon gar nicht in der Früh! Das macht keiner mit mir“, schimpfte die eine.

Die Türen öffneten sich und mit hochrotem Gesicht verließ eine Frau mittleren Alters den Aufzug, ohne uns zu grüßen. Die andere folgte ihr. Sie spuckte die Worte fast aus. Ihre Zähne wirkten dabei wie das gefletschte Gebiss eines Hundes – „Cujo“ von Stephen King kam mir dabei in den Sinn.

„Einen Teufel werde ich tun. Pah, auf meinen Morgenkaffee verzichten – die haben sie doch nicht mehr alle. Ohne Kaffee … da werde ich gar nich’ wach.“ Sie kniff ihre Lippen zusammen, dass nur noch einen schmalen Strich zu sehen war. Dann presste sie hervor: „Ich beschwere mich beim Hausmeister. … Die können ihren Strom sonst wo einsparen, aber nich’ bei meinem Kaffee. Sollen sie doch an der Beleuchtung sparen. Mir doch egal, wie sie’s machen. Aber nich’ mit mir. Mit mir nich’!“

Verständnislos sahen die wartenden Nachbarn vor dem Fahrstuhl sich an, zuckten vor Unwissenheit die Achseln, betraten die Aufzugskabine und blickten den aufgeregt zeternden Frauen auf ihrem Weg nach draußen nach.

Zu viert betraten wir den Fahrstuhl. Wie erwartet starrten meine drei Mitbewohner auf ein Schreiben, das ich im Aufzug mit Tesafilm angeheftet hatte. Ich tat so, als ob ich von nichts wüsste.

Augenblicklich ging es auch schon los: „Das ist ja wohl eine Frechheit“, posaunte der junge Mann aus dem fünften Stock. „Jetzt wird uns auch noch verboten, morgens die Kaffeemaschine laufenzulassen.“

Ungläubig linste seine Nachbarin von gegenüber an ihm vorbei auf den Zettel. Sie konnte den Text nicht bis zum Ende gelesen haben, da platzte es schon aus ihr heraus: „Auf keinen Fall verzichte ich auf meinen Kaffee.“ Sie drehte sich um und tippte sich an die Stirn. „Nur weil morgens der Stromverbrauch so hoch …“ Sie blies die Backen auf. „Die Sicherung soll herausfallen, wenn alle gleichzeitig Kaffee kochen?“ Sie lachte gekünstelt auf. „Die spinnen doch. Nee, das machen die nicht – nicht mit mir …“

„Das meinen die aber nicht im Ernst!“, sagte wieder der junge Mann aus dem fünften Stock. „Ist ja nun nicht mein Problem – das mit dem Strom. Da beschwere ich mich aber, da können sie Gift drauf nehmen. … Kurt, was sagst’n du dazu?“, wandte er sich an unseren dritten Mitfahrer.

„Ist mir doch egal. Ich trinke keinen Kaffee.“

„Aber doch Tee?“, warf sein Kumpel ein.

„Nein, nur stilles Wasser.“

Ich grinste in mich hinein.

Der Fahrstuhl hielt im vierten Stockwerk an und ich stieg zufrieden aus, die schimpfenden Nachbarn ließ ich allein.

Der Streich war gelungen. Es hatte mir gefallen. Zu schade, dass solcherlei Scherzchen nur im April getrieben wurden. Dem wollte ich Abhilfe schaffen und nahm mir vor, mir einige meiner Streiche auch während des Jahres zu erlauben – als Training, damit ich nicht einrosten würde. Meine unzähligen Ideen für Streiche hatte ich mir alle sorgfältig notiert, weshalb ich inzwischen über einen reichen Fundus verfügte. Ich würde hundert Jahre alt werden müssen, um sie alle ausführen zu können. Welch eine Verschwendung der guten Laune wäre es, wenn sie nur in der Schublade vergammeln müssten.

Ich seufzte auf.

Kapitel 2

Seit meinem Aprilscherz mit den Nachbarn war einige Zeit vergangen und als Schalk durch und durch, der ich nun einmal bin, hatte sich meine Ideenschublade weiter gefüllt. Auch Anja konnte mir den Schabernack nicht austreiben.

Erst seit wenigen Monaten waren wir ein Paar. Jeder besaß den Wohnungsschlüssel des jeweils anderen, dennoch genoss ich es, mich in meine eigene Wohnung zurückziehen zu können, wann immer ich es mir beliebte, um dort tun und lassen zu können, was ich wollte. Anja schien es ebenso zu gehen, denn auch sie plante gelegentlich einen Abend oder ein Wochenende ganz für sich alleine.

Meine letzte Beziehung war noch nicht lange her, deshalb frage ich mich, ob ich überhaupt schon reif für die nächste war. Anja hingegen schien keine Zweifel zu haben, den sie umgarnte und liebte mich, so wie ich war.

Bis wir uns treffen wollten, waren es noch einige Stunden. Der Samstagnachmittag gehörte mir ganz allein, den ließ ich mir durch nichts und niemanden verleiden – auch nicht durch Anja. In aller Ruhe würde ich das Fußballspiel im Radio verfolgen. Seit meiner Jugend hatte ich dieses Ritual: Einmal in der Woche hörte ich im Radio die Erste Bundesliga, während ich in der Badewanne lag.

Hoch oben, auf einem eigens von mir angeschraubten Regal stand mein altes Grundig-Röhrenradio. Es war noch aus den siebziger Jahren und ein Erbstück meines Großvaters. Es war ein schier unverwüstliches Teil. An das deutlich zu kurze Netzteilkabel steckte ich jedes Mal eine Verlängerungsschnur, die bis an die Steckdose am Waschbecken reichte und weit über dem Wasser noch leicht nach schaukelte.

Ich stieg ins warme Badewasser, entspannte mich, schloss die Augen und ließ den linken Arm über den Wannenrand hängen. Es war herrlich, den Reportern zuzuhören, das Gejohle der Zuschauer im Hintergrund.

Fünfzehn Uhr dreißig. Die Übertragung ging endlich los. Heute spielte mein Lieblingsverein gegen den unbeliebtesten Verein Deutschlands – oder den beliebtesten, das kam ganz auf die Perspektive an. Jedenfalls den aus dem Süden. Gespannt lauschte ich den ersten Sätzen nach dem Anpfiff.

Zeitgleich wurde auch in anderen Stadien gekickt und die Moderatoren schalteten regelmäßig hinüber, um einen Überblick über diese Partien zu geben.

Ich gähnte. Musste das denn sein? Die anderen Spiele ließen einen nicht gerade vor Spannung an den Nägeln kauen.

„Wir schalten um in das nächste Stadion“, sagte der Moderator. Von dort aus klickten sie sich zurück in die bereits laufende Übertragung meines Vereins ein.

„… setzt sich Meier auf der linken Seite durch und flankt auf Berweg. Der steigt hoch und Tooooooooor – Toooooor!“

Ich sprang aus dem Wasser auf und jubelte. Mit hoch erhobenen Armen grölte ich zusammen mit den Fans im Stadion: „Ohhh, oh, oh, oh, ohhhohhhhhh! Ich tänzelte vor Glück.

Dabei berührte ich mit dem Arm das Stromkabel. Noch ehe ich recht realisierte, was geschah, platschte das Röhrenradio in die Badewanne und mich durchzuckte ein Stromschlag.

Wie in Zeitlupe erlebte ich meinen Fall, denn ich rutschte wie ein nasser Sack ins Wasser. Ich war unfähig zu reagieren.

In Filmen zischt es und blaue Funken sprühen, sobald Strom mit Wasser in Berührung kommt. Diese wirkungsvollen Effekte fehlen jedoch in der Wirklichkeit. Keine Funken und keine Blitze. Der Strom floss, ohne sichtbar zu sein. Ich zuckte und zitterte – nichts konnte ich dagegen tun, erlebte diese Szene jedoch noch bei vollem Bewusstsein.

Mich durchzogen fünfzig Milliampere. Zum Sterben zu wenig, dennoch hatte dieses Malheur in meinem Körper einen Schaden angerichtet, dessen Ausmaß mich sprachlos machen würde.

Kapitel 3

Mühsam versuchte ich, meine Augen zu öffnen. Es schmerzte. Ich bekam die Lider gar nicht recht auseinander, nur mit größter Anstrengung konnte ich die Augendeckel heben.

Da erst spürte ich das kalte Badewasser.

Ich fror.

Wie lange hatte ich hier schon gelegen? Der Kälte des Wassers nach zu urteilen, muss es schon eine ganze Weile gewesen sein.

„Hatschi!“ Mit dem Handrücken wischte ich mir den Rotz von der Nase.

Moment mal, was war das?

Ein Schrecken durchfuhr mich.

Spielten mir meine Augen einen Streich?

Das konnte doch nicht wahr sein!

Ich schielte zu meiner Hand. Doch obwohl ich sie meinem Gefühl nach direkt vor meinen Augen haben musste, sah ich sie nicht.

Ich griff mir an die Nase. Zwar spürte ich, wie meine Finger meine Nasenspitze berührten, und ich nahm auch wahr, wie ich mir mit dem Handrücken den Rotz wegwischte – sehen konnte ich meine Hand jedoch nicht.

Meine Augenlider zuckten immer noch, als ständen sie unter Strom.

Was war hier los?

Plötzlich war ich hellwach und mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren.

Konzentriert schaute ich an mir hinunter.

Ich sah nichts.

Nicht einmal meine Beine, oder das, was dazwischen sein sollte. Rein gar nichts sah ich an Fleisch.

Das Einzige, was ich erblickte, war verdrängtes Wasser an jenen Stellen, an denen mein Unterkörper zu sehen sein sollte. Wo ich meine Beine wähnte, erkannte ich nur transparente Röhren. Das war ein seltsamer Anblick, skurril und zugleich faszinierend. Mein Körper sah aus wie ein durchsichtiger Tunnel. Alles an mir war unsichtbar.

Es war nicht nur gespenstisch, eine diffuse Angst kroch im mir empor.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf, kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf.

Nichts. Keine einzige meiner Gliedmaßen war in fleischlicher Form zu erkennen.

Lag es an meinen Augen? Spielten sie mir einen Streich?

Oder was zur Hölle war hier passiert?

Das Röhrenradio lag noch im Wasser und war vollständig erkennbar.

Nur ich war nicht zu sehen.

Langsam erhob ich mich. Dabei beobachtete ich eins: Das Wasser strömte zuerst in Bächen und dann tröpfelte es nur noch herab. Als ich stand, hingen immer noch einzelne Tropfen in der Luft – oder wahrscheinlich an mir. Nur mich konnte man nicht sehen. Ich konnte mich nicht sehen.

Es war surreal – ich war da und zugleich war ich nicht da.

Ich stieg aus der Wanne und fischte das Radio samt Kabel aus dem Wasser. Ganz leicht war es zu greifen. Ich konnte es normal und so wie immer berühren.

Dann wandte ich mich zum Spiegel.

Nichts.

Ich sah nichts.

Aus einem Impuls heraus griff ich nach der Seife und hielt sie vor den Spiegel. Es war gespenstisch: Ich sah, wie ein Stück Seife allein hin und her schwebte. Danach legte ich ein kleines Handtuch auf meinen Kopf. Es schwebte ebenso im Spiegel. Dabei spürte ich es doch auf meinem Haupt.

Wurde ich verrückt?

Mir war übel.

War ich unsichtbar? Alles deutete darauf hin. Nicht einmal im Spiegel sah ich mich selbst.

Fassungslos starrte ich auf meinen durchsichtigen Körper.

Dann hatte ich einen Geistesblitz. Ich holte eine Decke, wickelte mich darin ein und blickte in den Spiegel.

Nichts.

Ich zog eine Jacke und eine Mütze an.

Beides konnte ich im Spiegel erkennen, von mir jedoch gab es keine Spur.

Ein letzter Versuch: Ich setzte meine Skimaske mit Brille auf.

Doch auch diesmal schwebte die Maske mitsamt der Brille wie auf einem unsichtbaren Kopf, wohl drapiert, von rechts nach links, wenn ich mich seitwärts bewegte.

Ich selbst blieb unter der Bekleidung nach wie vor unsichtbar.

Ob ich auch für andere Menschen unsichtbar war? Oder würden sie mich sehen können? Das musste ich herausfinden.

Mein Experiment würde ich nackt durchführen müssen, denn Kleidungsstücke waren zu sehen, wie ich festgestellt hatte. Ich überlegte, wo ein geeigneter Ort für den Test wäre. Ich sollte mich schnell verstecken können, falls andere mich doch sehen würden.

Mein Balkon schien mir geeignet. Von den unteren drei Stockwerken aus würde man meinen Unterleib nicht sehen, falls ich für andere nicht unsichtbar sein sollte.

Mein Herz raste, als ich durch die Tür nach draußen trat. Ich sah mich um.

Die Balkone ringsherum waren leer, nur auf einem stand eine Frau und goss ihre Blumen. Ich nahm all meinen Mut zusammen. „Hallo, schöne Frau“, rief ich laut zu ihr herüber.

Gespannt beobachtete ich sie. Würde sie mich sehen?

Ich war darauf vorbereitet, schnell abzutauchen.

Die Frau sah von ihren Blumen auf. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick schweifen. Anscheinend konnte sie niemanden entdecken. Sie zuckte leicht mit den Schultern, dann wandte sie sich wieder ihren Pflanzen zu.

„Hallo hübsche Frau.“

Wieder blickte sie auf. Sie spähte von Balkon zu Balkon, beugte sich über die Brüstung und betrachtete prüfend auch die Balkone auf ihrer Seite. Verdutzt schüttelte sie den Kopf. Entdecken konnte sie offenbar niemanden, auch mich nicht, als ich aufrecht stand und ihr heftig zuwinkte.

Ich grinste in mich hinein, als mir der Gedanke kam, das Spielchen noch weiterzutreiben. Aufmerksam sah ich mich nach geeigneten Hilfsmitteln um. Ein kleiner Stein, der in meinen Blumentopf lag, schien mir geeignet für mein Vorhaben. Ich nahm ihn auf, holte aus, zielte und warf.

Treffer.

Der Stein landete nur wenige Zentimeter über der Frau an der Wand. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie ließ die Gießkanne fallen und sah sich abermals um. Wieder drehte sie sich neugierig in alle Richtungen und wieder schien sie niemanden zu sehen.

Dann begann sie zu schimpfen.

Ich hingegen amüsierte mich königlich, und ich war nun sicher, dass auch andere mich nicht sehen konnten.

Ich war also unsichtbar.

Gerade noch enorm belustigt, fühlte ich mich nun betroffen. Schweren Schrittes begab mich in meine Wohnung zurück.

Was bedeutete das für mich?

Ich zwang mich, nachzudenken. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Was war hier geschehen? War der Stromschlag der Grund dafür, dass ich nicht mehr zu sehen war?

War dieser Zustand rückgängig zu machen?

Wie lange hielt die Unsichtbarkeit an?

Für immer?

Unsichtbar zu sein war etwas, dass ich aus dem Film kannte. Dass es so etwas wirklich gab, hatte ich bisher nicht einmal in Erwägung gezogen.

Bisher hatte ich auch angenommen, dass es unmöglich wäre, einen Pudding an die Wand zu nageln. Vielleicht sollte ich es doch einmal versuchen.

Doch zum Lachen war mir nun wirklich nicht zumute.

Fragen über Fragen sprudelten in mir auf.

Ich musste Antworten finden.

Nackt wie ich war, stürzte ich an meinen PC.

Er funktionierte nicht. Nochmals drückte ich auf den Schalter.

Plötzlich fiel es mir wieder ein – die Sicherung hatte ich nach meinem „Unfall“ nicht wieder eingeschaltet. Ich rannte in den Flur und drückte auf das kleine Knöpfchen an der Sicherung, dann spurtete ich zurück an den Schreibtisch.

Viel zu langsam für mich fuhr der Computer hoch. Angespannt starrte ich auf den Bildschirm.

Schwarz.

Dann erschien das blaue Fenster-Symbol.

Die Sanduhr.

Der Hintergrund mit einer Landschaft.

Wieder die Sanduhr.

Endlich – endlich war das Gerät startklar. Ich gab auf Google das Suchwort „unsichtbar“ ein.

Es war bereits dunkel, als ich meine Recherche im Internet müde abbrach, dennoch war ich genauso schlau wie vorher.

Ich hatte lauter hochwissenschaftliche Erklärungen gelesen, von denen ich nur einen Teil verstanden habe. Auch von einem jahrtausendealten Traum der Menschheit war die Rede gewesen. Nicht nur vom Zwerg Alberich aus der Nibelungensage wurde erzählt, es gab zahllose Geschichten und Legenden. Unsichtbar zu sein galt seit jeher als erstrebenswert für die Menschen. Sogar Alchimisten hatten danach geforscht. Einer von ihnen soll einen Zaubertrank erschaffen haben, der einen für längere Zeit unsichtbar macht.

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Es schien, als wäre ich nicht der Erste und Einzige, dem dieses Schicksal zuteilwurde, wenn auch bei mir die Ursache eine andere war.

Auch wenn ich mir schon oft gewünscht hatte, unsichtbar zu sein, so war meine Vorstellung eine völlig andere gewesen. Ich hatte mir ausgemalt, was ich alles anstellen könnte, ohne dabei gesehen zu werden – immer tollkühnere Scherze waren mir in den Sinn gekommen. Nun aber, so völlig unvorbereitet und unwillentlich, war ich immer noch perplex.

Erneut starrte ich auf den Bildschirm, scrollte weiter nach unten und fand seriösere Artikel über Versuche, die bewiesen, dass man heutzutage schon eine Art Unsichtbarkeit schaffen konnte. Dafür benötigte man viele Spiegel, um eine Lichtablenkung der Metamaterialien herbeizuführen. Denn nur Dinge, auf die Lichtstrahlen treffen, könne man sehen, stand dort geschrieben.

„Puuuh“, dachte ich, „was für ein kompliziertes Zeug“. Und aufwendig war es obendrein.

Bei mir jedoch lag der Fall anders. Ich war unsichtbar, ohne all diesen Klimbim. Der einzige Spiegel, den ich hatte, befindet sich im Badezimmer, und der hatte mit meinem Unsichtbar-Werden nichts zu tun. Doch wie konnte ein Stromschlag dazu führen, dass ich unsichtbar geworden war?

Es drängte mich, der Sache auf dem Grund zu gehen.

Martin! Der nervige Martin, der uns in der Mensa früher mit seinen ausschweifenden physikalischen Erklärungen, na ja, genervt hatte. Er würde mir meine rätselhafte Situation vielleicht erklären können. Hastig blätterte ich in meinem Telefonbuch nach seiner Nummer und tippte sie ins Telefon ein. Sogleich war er an der Strippe.

Nach kurzem Hallo und einem kurzen, holprigen Small Talk fragte ich und tat dabei so, als würde mich dieses Thema rein theoretisch interessieren: „Ist es heutzutage möglich, unsichtbar zu werden?“

„Du kannst Fragen stellen … Daran experimentieren schon die größten Wissenschaftler der Welt, das kannst du mir glauben. Wirkliche Erfolge gab’s bisher allerdings nicht gerade.“ Er atmete geräuschvoll aus.

„Und was genau passiert da?“ Ich versuchte, so normal wie möglich zu klingen, doch mein Herz spürte ich sogar noch im Hals schlagen.

„In den Versuchen geht es darum, das Licht, um das Objekt herum zu lenken. Da gibt es schon einige gute Ergebnisse. Vor allem mit Spiegeln. Nur wer will die schweren Spiegel ständig mit sich rumschleppen, nur um einmal unsichtbar zu sein?“ Er lachte auf und sein Lachen klang, wie das einer Hyäne. Früher hatten wir ihn deswegen immer aufgezogen. „Aber es gibt auch Versuche mit Strom.“

„Echt?“, platzte es aus mir heraus. Fast konnte ich meine Stimme nicht beherrschen.

„Dabei geht es um Moleküle. Das verstehst du oder ist dir das schon zu hoch? … Na ja, das größte Physikgenie warst du ja nie. Also bisher gibt es hierzu jedenfalls keine Erfolge, aber die Wissenschaftler glauben dran und forschen weiter dazu. Dabei müssen sie …“

Bla, bla, bla, jetzt driftete er wieder in wissenschaftliche Sphären ab, so wie früher. Er war und blieb ein Physiker durch und durch.

So sehr mich das Thema auch interessierte, dieses gelehrte Geschwafel hielt ich nicht lange aus, es interessierte mich nicht die Bohne. Ich wollte nur eine einfache Erklärung und Lösung. Warum war mir das alles passiert? Und wie komme ich aus dem Dilemma wieder heraus? Doch diese Fragen konnte selbst Martin mir nicht beantworten.

„Vielen Dank, Martin. Du hast mir geholfen“, unterbrach ich seine Ausführungen fast rüde. „Bis dann mal wieder. Ciao, ciao, Ceausescu.“

„Na dann – ciao, ciao, Ceausescu“, verabschiedete sich Martin mit dem gleichen Spruch, so wie wir es seit unserer Jugendzeit taten, und ich war froh, dass er nicht sauer auf mich zu sein schien, obwohl ich ihn am Telefon so abgewürgt hatte.

Ich musste nachdenken.

Würde dieser Zustand bis ans Ende meiner Tage so bleiben?

Hätte die Unsichtbarkeit vielleicht auch Auswirkungen auf mein weiteres Leben?

Vielleicht war ich nun unsterblich? Ich würde durch die Lande ziehen wie in dem Highlander-Film „Es kann nur einen geben“, den ich neulich angesehen hatte. Würde es mir gefallen, unsterblich zu sein?

Noch einmal ging ich in Gedanken das Gespräch mit Marin durch. War bei dem, was Martin mir erzählt hatte, irgendetwas Nützliches dabei? Brachte es mich weiter? – Nein! Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber vielleicht sollte ich über das mir geschehene Missgeschick anders denken. Den Blickwinkel ändern.

Ich versuchte, meine Lage positiv und als ein Geschenk zu betrachten. Nimm es an, sagte ich mir. Ich bin unsichtbar, solange ich keine Kleidung trage. Das lässt sich sicher nutzen. Einen ersten Vorgeschmack hatte ich vorhin bei meiner Nachbarin schon bekommen.

Vor meinem inneren Auge sah ich die verrücktesten Szenen, jede tausendstel Sekunde ploppte eine neue Idee in meinem Kopf auf.

Ich könnte reich werden, wenn ich vollkommen unbemerkt Banken ausrauben würde. Mit einem Haufen Geld unterm Arm könnte ich herausspazieren und niemand hätte mich erkannt. Und auch die Kameras würden mir nichts anhaben können, mein Gesicht wäre auf keinem der Videos zu sehen sein.

Im Tresor würde ich eine Notiz hinterlassen: Killroy was here.

Niemand würde mich festnehmen.

Es wäre das Schlaraffenland.

Ich fühlte mich beschwingt und befreit. Befreit von allen Zwängen, allen Regeln – ich konnte tun und lassen, was ich wollte.

Am Geldautomaten würde ich neben einem Kunden stehen und mir unbemerkt seine PIN merken. Später würde ich seine Karten klauen und sein Bankkonto erleichtern. So einfach konnte das Leben sein. Man musste nur seine Chance ergreifen.

Ach, würde ich es mir gutgehen lassen, ich sah einer sonnigen Zukunft entgegen.

„Halt!“, hörte ich eine entschiedene Stimme sagen.

Ich hielt inne.

War das mein schlechtes Gewissen?

Da saß es auf meiner Schulter, das Engelchen, und flötete es mir ins Ohr.

„Das ist eine super Idee!“, trompetete das Teufelchen mir ins andere Ohr. „Lass dich nicht ablenken. Es ist deine einmalige Chance. Da musst du zugreifen. Wer weiß schon, wie lange du noch unsichtbar bist? Vielleicht ist es morgen vorbei. Also greife heute noch zu.“

Fast konnte ich sehen, wie er seine Hände aneinander rieb und ihm ein hämisches Grinsen im Gesicht stand.

„Bloß nicht!“ Das Engelchen war unnachgiebig. „Du stürzt dich ins Unglück. Widerstehe der bösen Verlockung. Sie bringt dir nur Unglück. Bleibe lieber ehrlich. Am Ende wird es sich für dich auszahlen, glaube mir.“

Wie ein Pingpongball flogen ihre Begründungen hin und her, aber keiner der beiden Kontrahenten konnte einen maßgeblichen Vorteil für sich erzielen.

Endlich brachte das Engelchen das entscheidende Argument vor: „Und wenn du das Geld hättest, was dann? Du wärst kriminell, das ist das eine. Aber was würdest du mit dem Geld machen? Besonders viel wirst du ja nicht damit anfangen können. Ausgeben kannst du es als Unsichtbarer schließlich nicht.“ Es stemmte die Arme in die Hüften. „Und wo würdest du es hinstecken, wenn du doch keine Hose anziehen kannst.“

Ich holte Luft, um etwas zu erwidern, doch die Worte erstarben mir auf den Lippen. Blöd muss ich ausgesehen haben, als ich mit offenem Mund dastand.

Das Engelchen auf der rechten Schulter fuhr fort: „Menschen auf der Straße würden erst an einen Zaubertrick glauben, um dann zu versuchen, das Geld an sich zu bringen. Sie können sehr gierig sein. Es wäre für alle sichtbar. Und da du es nicht ausgeben kannst, so ist es für dich eh nur wertloses Papier.“

Ich nickte. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wahrscheinlich bräuchte ich gar kein Geld mehr.

Außerdem wollte ich ehrlich durchs Leben gehen.

Nun gut, ehrlich wollte ich bleiben, aber ein Spaßvogel bin ich eben auch. Und für meine Streiche kam mir die Unsichtbarkeit wie gerufen. Also auf zu neuen Streichen.

Kapitel 4

Mein Handy klingelte.

Hektisch sprang ich auf und ging dem Klingeln nach. Zwischen meinen Klamotten auf dem Sofa fand ich mein Smartphone und sah, dass es Anja war. Sicher wollte sie wissen, wo ich blieb, trotzdem nahm ich nicht ab.

Ich sah auf die Uhr. Bereits vor einer halben Stunde wollten wir uns in einem Café in der Stadt treffen. Weil ich noch nie unpünktlich gewesen war, machte sie sich bestimmt Sorgen.

Ermahnend surrte das Handy weiter, doch ich ließ es klingeln. Ich wollte mit niemanden reden, auch nicht mit Anja. Von dem Vorfall wollte ich ihr erst recht nicht erzählen. Sie würde mir nicht glauben, ich konnte es ja selbst kaum glauben.

Vorhin hatte ich kurz überlegt, ihr eine SMS zu schreiben, um unser Treffen abzusagen. Aber das hätte sie nur neugierig gemacht und sie wäre vorbeigekommen. Ich hatte also nicht geschrieben und ihren Anruf ignorierte ich auch.

Meiner ersten Euphorie über die zahlreichen Möglichkeiten, die ich haben würde, solange ich unsichtbar war, wich einer seltsamen Lethargie. Ich fühlte mich unwohl und müde. Wieder zitterte ich am gesamten Leib. Würde ich doch noch sterben?

Ich wickelte mich in eine Decke und fläzte mich aufs Sofa – nur einen Moment ausruhen.

Eine Stimme riss mich aus dem Schlaf.

„Andy, bist du da?“

Anja stand mit dem Schlüssel in der Hand im Zimmer und sah sich suchend um.

Ich rappelte mich möglichst geräuschlos von der Couch hoch, auf der ich offenbar eingeschlafen war. Anja sollte die Kuhle, die ich darauf hinterließ, nicht sehen. Ich eilte in die Ecke des Zimmers. Hier, so hoffte ich, würde ich Anja nicht im Weg sein, wenn sie mich in der Wohnung suchte.

„Andy?“

Ich sah sie das Schlafzimmer betreten. Sie blickte sich aufmerksam um. Kurz darauf kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Deutlich war ihr anzusehen, dass sie sich um mich sorgte.

Wieder ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Tischchen neben dem Sofa blieb er hängen und ich sah, dass sie mein Handy entdeckt hatte. Sie hob es kurz an, um es sofort wieder hinzulegen. Dann schüttelte sie den Kopf und ging ratlos im Zimmer umher. Vor der Kommode, auf der ich immer, wenn ich nach Hause kam, meine Brieftasche ablegte, blieb sie stehen. Eine Weile betrachtete sie das braune Portemonnaie.

Anschließend suchte sie in der Küche und im Badezimmer nach mir. Ich hörte das Geräusch, das entsteht, wenn man Badewasser ablässt. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

Vorsichtig schlich ich in die andere Ecke des Zimmers, um Anja beobachten zu können.

Wieder schüttelte sie den Kopf. Dann sah sie kurz auf die Uhr. Mit sorgenvollem Gesicht verließ sie meine Wohnung.

Es lag nicht in meiner Absicht, ihr Sorgen zu bereiten, es würde sie jedoch noch mehr beunruhigen, wenn sie wüsste, wie es um mich steht. Ich steckte in einem echten Dilemma.

Ich fühlte mich ausgelaugt, hilflos und alleingelassen mit einem Problem, das ich so schnell nicht werde lösen können. Kaum lag ich auf meinem Bett, schlief ich auf der Stelle wieder ein.

Erst am Montagvormittag fühlte ich mich besser. Das Geklapper der Stühle des gegenüberliegenden Eiscafés hatte mich geweckt.

Wie jeden Morgen rückte der italienische Besitzer die metallenen Sitzgelegenheiten zurecht und wischte über die Tische, um demnächst seine ersten Gäste empfangen zu können.

Ich rieb mir die Augen. Der Schlaf hatte mir gutgetan und so entschloss ich mich dazu, Anja anzurufen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass sie schon in der Arbeit sein musste. Genau der richtige Moment, um nicht mit ihr sprechen zu müssen und ihr dennoch eine Nachricht zukommen zu lassen. Ich sprach ihr auf den Anrufbeantworter, dass ich dringend verreisen müsse. Sie solle sich keine Sorgen machen.

Geschafft!

Nun noch der Anruf in meinem Büro. Mein Herz klopfte. Das würde nicht ganz so problemlos laufen, hier würde ich mit der Sekretärin sprechen müssen. Ich tippte die Nummer ein. Während es tutete, atmete ich tief aus, setzte eine Leidensmiene auf und fühlte mich sofort sehr krank. Und das war ich ja auch – auf eine etwas andere Art.

„Gute Besserung“, wünschte mir Frau Kerner und ich war froh, das Telefonat ohne viele Worte überstanden zu haben.

Kurz vor Mittag wagte ich mich aus dem Haus – immer noch unsichtbar. Es war angenehm warm, und obwohl ich nicht fror, war es ein seltsames Gefühl, unbekleidet die Wohnung zu verlassen.

Zögerlich öffnete ich die Tür und augenblicklich schoss mir Schamesröte ins Gesicht. Ich sah nach rechts und links. Es befand sich niemand im Treppenhaus.

Ich lauschte.

Auch im oberen und in den unteren Geschossen war es still.

Ich trat in den Flur – erst einen Schritt, dann einen zweiten. Den Wohnungstürschlüssel legte ich unter den Topf mit dem Ficus Benjamina neben der Tür, dann zog ich die Tür zu.

Hier stand ich nun – nackt, so wie Gott mich geschaffen hat. Ich straffte die Schultern. Eigentlich sah ich doch ganz passabel aus. Innerlich nickte ich mir selbst zu. Es wäre sicherlich ein befreiendes Gefühl, so ganz ohne Klamotten, vollkommen unbeschwert durch den Tag zu gehen. Und sehen würde mich schließlich niemand – also konnte ich beruhigt nackt herumlaufen, es würde sich ja niemand daran stoßen.

Ich bestieg den Fahrstuhl. Hatte ich mir schon manchmal gewünscht, dass hier Spiegel wären, war ich in diesem Augenblick froh, dass daran gespart worden war. Irgendwie war es doch komisch, so entblößt in der Öffentlichkeit zu stehen.

Vor der Haustür blieb ich noch einmal stehen. Sollte ich wirklich? So ein Quatsch! Es sieht mich doch keiner. Mit einem Ruck riss ich die schwere Glastür auf. Man hätte mich eh schon durch die Scheiben sehen können. Was machte ich denn so albern rum.

ES SIEHT MICH KEINER.

Die warme Frühlingsluft strömte mir entgegen und ich sog sie tief in meine Lungen ein.

Die Sonne warf ihr Licht durch die Blätter der Bäume, Passanten bevölkerten die Straße, ein Radfahrer mit Kapuze klingelte energisch, um zu verhindern, dass ein Fußgänger die Fahrbahn betritt und ihm die Vorfahrt nahm. In der Toreinfahrt des Nebenhauses spielten zwei kleine Jungen Fußball. Sie schenkten sich nichts, wie man an der blutenden Schramme am Knie des einen sehen konnte.

Alles ging seinen Gang, alles war wie immer. Es war ein herrlicher, angenehm warmer Frühsommertag. Wie geschaffen für ein Abenteuer, das vor mir lag.

Noch einmal inhalierte ich tief die laue Sommerluft. Das tat mir gut.

Erst als ich am Straßenverkauf der Bäckerei vorbeikam, bemerkte ich mein Loch im Bauch. Normalerweise kaufte ich hier auf dem Weg zur Arbeit mein belegtes Brötchen für die Mittagspause. Doch nichts war mehr normal. Die letzten zwei Tage hatte ich so gut wie nichts gegessen.

Linkerseits des Tresens hielt ich an. Neben mir stand ein kleiner Junge von fünf oder sechs Jahren, der sehnsüchtig auf die Leckereien in der Auslage linste. Begleitet wurde er von seiner Mutter, die geduldig wartete, bis sie bedient wurde.

Ich aber war nicht geduldig. Deshalb griff ich beherzt mit meinem langen Arm hinter die Glasfront und stibitzte mir ein halbes Brötchen mit Mett, das mit Zwiebeln garniert war. Ein sogenanntes Brötchen mit Männermarmelade. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Gerade wollte ich zubeißen, als mein Blick auf den kleinen Jungen fiel. Mit offenem Mund starrte er auf das Brötchen, das in der Luft schwebte. Er schien seinen Augen nicht zu trauen. Noch größer wurden seine Augen, als ich genussvoll ein Stück vom Mettbrötchen abbiss und es in meinem Mund verschwand. Was er wohl sah? War der Bissen plötzlich weg? Oder konnte er sehen, wie das Zerkaute langsam die Speiseröhre hinabwanderte?

Fassungslos und ohne den Blick von mir zu wenden, zupfte der Junge an der Jacke seiner Mutter.

„Mutti, schau. Da fliegt ein Brötchen!“

„Ja, ja. Natürlich.“ Die Frau tätschelte ihren Sohn über den Kopf.

„Doch Mutti, wirklich … schau. Da fliegt ein Brötchen in … Jetzt wird es immer kleiner.“

„Ja, ja, Lukas. Was du dir immer ausdenkst. … Ich bin gleich dran.“

„Mutti. Jetzt schau doch endlich!“ Der Junge zog erneut an der Jacke der Mutter. „Und dann ist es … es ist dann plötzlich weg.“

Endlich ließ sich die Mutter erweichen und ihr Blick folgte dem Finger des Jungen.

Doch sie sah – nichts, denn inzwischen hatte ich den letzten Bissen hinuntergeschlungen. Hinab in den unsichtbaren Schlund und in den Tiefen des Magens war das Brötchen verschwunden.

Das Beweismittel war fort.

„Meine Güte Lukas, immer diese Spinnereien. Jetzt hör endlich auf.“ Genervt schaute die Mutter ihren Sprössling an.

„Aber Mutti … wirklich. Das war echt da. Ehrlich, glaub mir. Ich lüge nicht. Echt!“

Tränen stiegen ihm in die Augen und ich spürte förmlich, wie verzweifelt er war, weil seine Mutter ihm nicht glauben wollte.

„Halt jetzt endlich den Mund. Ich will nichts mehr hören. Ich bin gespannt, was dein Vater dazu sagt, wenn ich ihm das erzähle.“

Während der Junge niedergeschlagen auf den Boden sah, wandte sich die Mutter dem Verkäufer zu und säuselte: „Ich hätte gern ein Dinkelbrot und drei Laugenstangen.“

Nachdem ich mir noch ein Käsebrötchen mit Gouda stibitzt und es in wenigen Bissen hinuntergeschlungen hatte, wandte ich mich zum Gehen. Die Brötchen waren lecker. Doch ich hatte nicht nur ein kostenloses Frühstück erhalten, sondern auch eine gratis Lerneinheit: Sobald etwas in meinem Mund verschwand, war es für meine Mitmenschen nicht mehr zu sehen. Einfach weg war es.

Na das nenn ich eine Erkenntnis – Essen war also nach wie vor möglich, und in der Öffentlichkeit stellte es auch kein Problem dar. Ich war zufrieden mit der Welt. Beschwingt setzte ich meinen Weg fort.

Weiter schritt ich durch die Fußgängerzone. Plötzlich stürmte ein mittelgroßer Hund auf mich zu. Nach einer Schrecksekunde wich ich langsam zurück.

Das Frauchen zerrte an der Leine. „Plato, aus! Da ist doch gar nichts.“

Doch der Hund ließ sich nicht beirren.

„Mensch, Plato. Was ist denn mit dir los?“

Mit aller Kraft hielt sie ihren Hund an der kurzen Leine und zog ihn zeternd mit sich.

Hatte der Hund mich gesehen? Oder hatte er nur gerochen, dass dort etwas war? Aber hochspringen hat er auch an mir können? Einen Widerstand bot ich offenbar schon. Dann hatte ich es vorhin intuitiv richtig gemacht, als ich in die Zimmerecke ausgewichen war, als Anja in meiner Wohnung nach mir gesucht hatte.

Ich schlenderte weitere. Hier gab es Gelegenheiten über Gelegenheiten für Streiche und Narreteien. Ich trieb so manches Spielchen und heckte einen Jux nach dem anderen aus – und ich hatte den größten Spaß dabei.

Ich ging hinter Männern her und stupste von hinten ihre Hüte nach vorne. Völlig verwirrt sahen sie sich um.

Aber auch die Frauen blieben nicht verschont. Ihren Einkaufstaschen gab ich einen Schubs, so dass sie pendelten. Völlig entgeistert rissen sie daraufhin die Taschen an sich, weil sie dachten, jemand wolle sie klauen. Und ungläubig sahen sie sich um, als sie keine Menschenseele in ihrer Nähe entdecken konnten.

In den Supermärkten wanderten wie von Geisterhand geführte Produkte in die Einkaufswägen und an der Kasse wunderten sich die Kunden über Hundefutter oder Haarfärbemittel, das sie keinesfalls zu ihren Einkäufen gelegt hatten. Ich amüsierte mich über die vielen perplexen Gesichter, zu denen die Menschen fähig sind, wenn sie nicht begreifen, was vor sich geht.

Ein paar Straßen weiter traf ich etwas abseits auf einen Wagen mit laufendem Motor. Die Autotür stand offen, vom Besitzer jedoch gab es keine Spur. Das lud mich ein. Erst nachdem ich mich aufmerksam umgesehen hatte, erblickte ich den Besitzer, der an einem Kiosk eine Stange Zigaretten kaufte. Weit genug also, um diesem Umweltsünder einen Denkzettel zu verpassen.

Ich setzte mich ans Steuer und rollte langsam die Straße entlang.

Als der Mann vom Kiosk zurückkam und sein Auto nicht mehr dort stand, wo er es abgestellt hatte, sondern mehrere Meter entfernt, sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen.

Und immer noch hatte ich nicht genug. An Häusern drückte ich die Türklingel und blieb neben dem Eingang stehen. Flink huschte ich an dem Hausbesitzer vorbei, wenn er heraustrat, um nachzusehen, wer geklingelt hatte. Wie erwartet sah ich in überraschte Gesichter, als ich hinter ihnen die Haustür zuzog. Die Ausgesperrten schimpften wie die Rohrspatzen. Ich hingegen feixte vor mich hin und zog weiter zum nächsten Ulk.

Ich kannte viele Schimpfwörter, aber an diesem Tag erweiterte sich mein Repertoire gewaltig.

All die verdutzten Gesichter, die Schimpferei und das Durcheinander, die meine Späßchen hervorriefen, waren mir weiterer Ansporn, es war eine wahre Gaudi.

Ich fühlte mich unbeschwert, zu allem fähig.

Keiner konnte mir etwas anhaben, niemand konnte mich zur Rechenschaft ziehen und bestrafen. Ich war frei und unbezwingbar.

Unendliche Möglichkeiten lagen vor mir. In diesem Moment war ich glücklich. Meine kindliche Seele konnte sich endlich einmal richtig austoben, befreit vom Korsett des Anstandes, in das man als Erwachsener gezwängt ist. Und das nutzte ich schamlos aus.

Doch nach einigen Stunden begann mich der ganze Mumpitz zu langweilen.

Ich setzte mich auf eine freie Parkbank und beobachtete die vorbeigehenden Menschen. All das, was für sie selbstverständlich war, würde ich nie wieder tun können – das wurde mir mit einem Schlag bewusst. Als Unsichtbarer war es mir unmöglich, so ungezwungen den Alltag und die Freizeit zu erleben. Nie wieder würde ich mit Anja die Freuden der Liebe genießen können. Ich merkte, wie sehr sie mir fehlte. Das Herz wurde mir eng. Würde ich diesem Zustand jemals wieder entkommen?