Aus dem Tagebuch eines deutschen Toten - Wolfsmehl . - E-Book

Aus dem Tagebuch eines deutschen Toten E-Book

Wolfsmehl .

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Beschreibung

In schwejkscher Manier stolpert der ermordete Schriftsteller und Papieringenieur Wolfsmehl durch das Jenseits. Auf Grund seiner Menschlichkeit wird er am Jüngsten Gericht mit einem Scheintoten verwechselt. Er ist ein typisch bayerischer Charakter, der sich in der gar nicht so ungefährlichen Ewigkeit mit Witz und List durchmogelt. Mit Chuzpe entwischt Wolfsmehl den zahlreichen Kleingeistern der jenseitigen Bürokratie, die nach seiner Verlebendigung trachten. Durch die Spiegel eines Frisiersalons verliebt er sich in Marietta, der Liebe seiner Ewigkeit. Penibel überträgt er in Romanform die Todesumstände, Abenteuer und Amouren in ein Tagebuch, für das sich alsbald selbst der Teufel interessiert. Doch wie konnte dieser Wälzer trotz aller Hindernisse ins Diesseits gelangen? 'Dies muss auf der Erde niemand wissen', würde Wolfsmehl antworten. 'Aber interessant wäre es schon.'

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Seitenzahl: 372

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Wolfsmehl .

Aus dem Tagebuch eines deutschen Toten

Buch I: Frühling

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Aus dem Tagebuch eines deutschen Toten - Buch I: Frühling

I. Todestag: Leinen los

2. Todestag: Die Einreise

3. Todestag: Das Frühstück

4. Todestag: Vor dem Jüngsten Gericht

5. Todestag: Ein neues Gewand

6. Todestag: Die Bekehrung

7. Todestag: Thomas Alva Edison

8. Todestag: Der Heiligenschein

9. Todestag: Die erste Post

10. Todestag: Das Vorstellungsgespräch

11. Todestag: Im Tierpark

12. Todestag: Die Ausweisung

13. Todestag: April, April!

14. Todestag: Der Todeslauf

15. Todestag: Die Mystische Tatze

16. Todestag: Brief an den Todfeind

17. Todestag: Verwandte halten zusammen

18. Todestag: Im Dunkeln betrachtet

19. Todestag: Der KÜV

20. Todestag: Der auch noch

21. Todestag: Die Entscheidung

22. Todestag: Der Rentenantrag

23. Todestag: Auf dem Einwohnermeldeamt

24. Todestag: Das Klopfen

25. Todestag: Die erste Begegnung

26. Todestag: Als Himmelsstreicher

27 . Todestag: Uhrenwahl

28. Todestag: In der Ewigkeitsumlaufbahn

29. Todestag: Außerhalb der Ewigkeitsumlaufbahn

30. Todestag: Deine und meine Ewigkeit

31. Todestag: Einige wichtige Hinweise für die Rente

32. Todestag: Die Wahrheit

33. Todestag: Selbstüberwindung

34. Todestag: Die Mumie

35. Todestag: In den Straßen

36. Todestag: Das Jahr der Scheintoten

37. Todestag: Ludwig fällt um

38. Todestag: Auf dem Gesundheitsamt

39. Todestag: Barbarossa

40. Todestag: Spiritus

41. Todestag: Dr. Knox

42. Todestag: Die Busfahrt

43. Todestag: Eine rote Postkarte

44. Todestag: In den Sternen

45. Todestag: Der Lebenskünstler

46. Todestag: Eine verblüffende Erfahrung

47. Todestag: ,Toter, ärgere dich nicht'

48. Todestag: Das Burgfräulein

49. Todestag: Ein paar Gläser Raspail

50. Todestag: Auf dem Eis

51. Todestag: Ein Versicherungsvertreter

52. Todestag: Der Lebendigenfallbonus

53. Todestag: Ein Wiedersehen

54. Todestag: Der Neandertaler

55. Todestag: Beim Friseur

56. Todestag: Erde ist ein schönes Spiel

57. Todestag: Der Hausmeister

58. Todestag: Atlantis -Home, sweet home

59. Todestag: Im Frankensteinmuseum

60. Todestag: Der Feuerwehrkommandant

61. Todestag: Ein Provisorium

62. Todestag: Mein Kollege

63. Todestag: Zum Rentenbescheid

64. Todestag: Aus dem Vierteilungsverlies

65. Todestag: Beim Boßeln

66. Todestag: Vorsicht, Versicherungsbetrüger!

67. Todestag: Die Styx-Party

68. Todestag: Horatio & Blaise

69. Todestag: Alexander Cagliostro

70. Todestag: Das Ende vom Sensenlied

71. Todestag: Gaius Sergius Orata

72. Todestag: In der Fegefeuerwarte

73. Todestag: Das Abschreibeobjekt

74. Todestag: Die Evakuierung

75. Todestag: Im Heißluftballon

76. Todestag: Ramses II.

77. Todestag: Der große Styxlobster

78. Todestag: Die brennendsten Hoffnungen

79. Todestag: Otto Lilienthal

80. Todestag: Überm Styx

81. Todestag: Ruderschläge

82. Todestag: Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten

83. Todestag: Was für eine herrliche Aussicht!

84. Todestag: ,Zum treuen Himmel'

85. Todestag: Der Vorsitzende

86. Todestag: Ötzis Rückkehr

87. Todestag: Ein Einschreiben von der HVA

88. Todestag: Erdweh

89. Todestag: Im Turm

90. Todestag: In Teufels Küche

91. Todestag: Der Blitzableiter

92. Todestag: Erläuterungen zum Ausfüllen des Meldescheins

Impressum neobooks

Aus dem Tagebuch eines deutschen Toten - Buch I: Frühling

Wolfsmehl

Aus dem Tagebuch eines deutschen Toten

Buch I: Frühling

_________________________________

Bald erhältlich:

Buch II: Sommer

Buch III: Herbst

Buch IV: Winter

Alle Rechte vorbehalten.

Wolfsmehl

Kapellenstraße 23a

86368 Gersthofen

www.wolfsmehl.de

I. Todestag: Leinen los

Der Tod war mir nicht unsympathisch. Er schickte mich hinunter zum Steg, der vor Frischverstorbenen überbordete.

Über eine Hängebrücke trippelten Seelen aus aller Herren Länder an Deck. Obenauf lag ein Fußabstreifer.

'Dies ist der Anfang vom Rest der Ewigkeit' stand darauf.

Der Schnitter reinigte mittels Lappen und Spray die Klinge der Sense. Sorgfältig verstaute er das Gerät in der Backskiste. Dann hörte er den Telefonanrufbeantworter ab.

Mit den Worten: „Ihr könnt Heini zu mir sagen! Wisst Ihr, wir sind ohne Förmlichkeit, ohne Umstände und ohne Getue. Abgemacht?“, wies er uns den Platz an. Gutgelaunt setzte er hinzu: „Wenn jemand seekrank wird, dann soll er sich vorher melden! Ich habe Tabletten dabei! Tüten befinden sich in der Kombüse!“

Eine Frau brach in Tränen aus. Leise schluchzte sie: „Ich hab' meine Herztropfen vergessen!“

Heini, der mit seinem asketischen Aussehen und den herabhängenden Armen leicht übermüdet wirkte, nickte wohlwollend. Tröstend legte er ihr den Arm um die Schulter. „Das macht in der Ewigkeit nichts.“

In einem Anflug rührender Loyalität führte er ihr die Hand sanft zum Herzen und fragte: „Spürst du es klopfen?“

„Nein!“, versetzte sie lächelnd.

Er nickte.

Sodann schickte er sich an, einige wichtige Vorbereitungen für die Überfahrt zu treffen. Zunächst einmal klärte er uns über den Gebrauch der Schwimmwesten auf: Wo sich diese befanden, wie man sie anlegte und aufblies. Die Äxte zum Kappen der Taue und Abschlagen des Mastes bei Sturm befanden sich in der Spitze des Bugs.

„Die Überfahrt ist nicht immer ein Harfenspiel!“, schärfte er uns ein. „Im Notfall ist es vor allem wichtig, sich ruhig zu verhalten!“

Dann fiel ihm ein, Lunchpakete und etwas zum Lesen zu verteilen. Hierbei hatte er Gelegenheit zu konstatieren, dass die meisten schon auf ihren Plätzen saßen. Er zählte sie durch und verglich die Zahl mit seiner Liste.

„Alles in Ordnung!“, schallte es zufrieden. „Im Lunchpaket befinden sich ein Sandwich, eine Gurke und eine Praline! Später gibt's noch einen Espresso!“ Aufklärend flocht er fort: „In der Gazette findet Ihr die Ankommensanzeigen! Der Wohnungsmarkt ist ebenfalls interessant!“

Als das erledigt war - man kann sagen: zur allgemeinen Erleichterung - holte er die Gummiringe ein, die an Stricken über der Bordwand baumelten.

Der Styx dehnte sich vor uns wie eine Ziehharmonika. Bleifarbener Priel füllte die Wasserstrafe bis zum Rand. Sandbänke, Marschen, Sträucher und Wälder durchzogen und besäumten sie.

„L-e-i-n-e-n - l-o-s!“, erschall es.

Augenzwinkernd versuchte Heini zu begeistern: „Alles in Ordnung! Die Eroberung der Ewigkeit steht bevor! Der Wetterbericht hat ein Hoch angekündigt!“

Mit einer Stange stieß er ab. Knatternd bäumte sich das Segel. Rasch entfernte sich die Barke von jenem Ufer, auf dem die eigene Stärke aus der Schwäche der anderen resultiert. Wir starrten hinüber, als sänne man einem Rätselding nach.

Leichter Dunst lag über dem glatten Wasser. Mehr und mehr durchbrach die Sonne die Trübe und wurde grell.

Dies veranlasste den Fährmann, einen Strohhut aufzusetzen.

Bevor er sich auf dem Heck in einem Schaukelstuhl niederließ, verhakte er das Ruder in einer Seilschlinge.

„Herrlich!“, sagte er. „Was für ein Arbeitstag! Ich liebe ruhige Überfahrten!“

Mit übergeschlagenen Beinen führte er fort: „In der Backskiste befinden sich jede Menge Spiele: ‚Toter, ärgere dich nicht’, ‚Diesseits, Jenseits, Hölle' ist auch nicht schlecht. Besonders Erde ist gut.“

Niemanden drängte es, von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Wir waren zu nichts anderem fähig als zu friedlichem Vor-Uns-Hinstaunen. Abgründig glitzerte das duftiggrüne Gewebe eines Urwalds.

Außerordentlich leidenschaftlich frönte der Tod in solch einem Moment seinem Hobby - dem Angeln. Er verwandte einige Mühen darauf, den Köder wirksam auszuwerfen. Gähnend klärte er auf: „Der Styx-Cat-Fish ist gegrillt eine Delikatesse!“

In diese Idylle platzte eine unangenehme Überraschung. „Kehr um“, ertönte es vom Mastkorb herab, „oder ich springe!“

Offensichtlich handelte es sich um einen Selbstverlebendiger.

Der melancholische Verstorbene schien zu allem bereit. Im Gesicht seiner Seele las man ab, dass er nicht daran glaubte, dass sich auf ihn die Wahrheit herabgesenkt hatte und er durch das Netz des Lebens gefallen war.

Heini richtete sich im Schaukelstuhl auf. Verkniffen blickte er empor und überlegte. Schließlich entzündete er sich eine Virginia und machte eine Flasche Bier auf. Wölkchen blauen Tabakqualms stiegen gen Himmel.

„Deine Hülle ist verbrannt! Komm runter! Trinken wir was!“

Röhrendes Lachen ertönte. „Die Hülle? Verbrannt?“

„Ja! - Eingeäschert! - Im Krematorium! - Nachmittags!“

Als der Kerl das hörte, verfiel er in eine Art von Agonie. Plötzlich aber schien er vollständig verstorben. Die große Schlachtbank der Erde war für ihn erledigt. Mit seiner ganzen Kraft wandte er sich der Ewigkeit zu. An einem Tau stürzte er vom Mastkorb herab. Fröhlich bedrängte er den Fährmann: „Hast du auch einen Schnaps da?“

„Freilich“, antwortete der, „ich trinke einen mit.“

Nachdem sie auf das Jenseits angestoßen hatten, erklärte der Frischverstorbene aufgewärmt: „Der Schnaps schmeckt vorzüglich. Richtig lebendig fühlt man sich danach.“

Heini schaute ihn an, schwieg eine Weile, dann klopfte er ihm wohlwollend auf die Schulter und sagte: „Trink die Flasche aus, dann denkst du dir, wenn du ankommst, du seiest auf der Erde!“

2. Todestag: Die Einreise

Wir dachten alle bei der Ankunft, wir wären auf der Erde. Es nieselte leicht, und der Hafen entließ einen Pesthauch zwischen Barke und Mole.

Heini deutete auf einen Holzverschlag neben dem Steg. „Das ist die Einreisekontrolle“, erklärte er. „Ihr müsst euch in einer Reihe aufstellen.“

Von jedem einzelnen verabschiedete er sich per Handschlag. Aufmunternd setzte er hinzu: „Zum Abendessen treffen wir uns im Cafe Hölle!“

Bevor er ging, überreichte er dem Kontrolleur die Liste mit unseren Namen und den Vermerken über die Umstände des Todes.

Der Zerberus warf einen mürrischen Blick darauf. Er erweckte den Eindruck, als müsse er nur pfeifen, damit wir sprängen, um in die Ewigkeit zu gelangen. Sein glänzender Kragen war von den scheuernden Haaren, die obenauf zu schäumen schienen, etwas gewichst. Sein Gesicht ähnelte dem eines Pavians.

Riesiger schwarz-buschiger Brauen bewölkten raupengleich die stechenden Augen. Wenn er sich mit einer Lupe über die Liste beugte, ergoss sich sein Haar wie Sumpfwasser auf die Fasern des Papiers. Der rechte Handrücken war tätowiert: 'Germane' stand darauf.

Mit stumpfsinnigem Blick rief er uns beim Namen. Einem Tausendfüssler gleich, der in einem fort in seine Segmente zerfällt, verkürzte sich die Reihe.

Zum Schluss stand ich alleine vor ihm. Alle anderen waren durch, was mich aber nicht bekümmerte. Schließlich musste hier mehr denn je der Grundsatz gelten: Die Letzten werden die Ersten sein!

Dumpfen Blickes musterte mich der grimmige Kerl. „Wie heißt du?“ erschall es.

„Wolfsmehl!“

„Und du kommst?“

„Aus dem Diesseits!“

Der Beamte ließ sich ein gelangweiltes Lächeln entschlüpfen.

„So, so, aus dem Diesseits!“ raunzte er spöttisch, „Zeig mir doch mal die Quittung - den Totenschein!“

Ich trat einen Schritt zurück, damit er von oben herab meines letzten Hemdes ansichtig wurde. Blitzend senkten sich die Augen.

Mit bedauernder Miene antwortete ich: „Man hat ihn mir nicht eingesteckt.“

Höhnisches Lachen ertönte. Die Haut verdunkelte sich rot.

„So, so, man hat ihn dir nicht eingesteckt.“ Flink flocht er fort: „Und das soll ich glauben?“

„Ich bürge dafür!“

„Womit?“

„,Mit dem Verlebten!“

Mit geschürzten Lippen blickte er mich an. „Wunderbar! - Das ist doch immer dieselbe Geschichte! Und unsereiner hat den Papierkrieg!“ Gallig fügte er bei: „Aber damit soll sich das Jüngste Gericht rumschlagen! Ja, ja, die Justiz, die freut sich auf einen wie dich!“

Aufgewühlt versuchte ich mich zu rechtfertigen: „Aber…“

„Kein A-b-e-r!“, schnitt er mir das Wort ab. „Und jetzt schwöre , dass du nicht flüchtest oder untertauchst!“„

Verlegen kratzte ich mir den Kopf. „Flüchten? Untertauchen? - Wohin?“

„Ins Diesseits!“, bellte er. „Oder denkst du etwa an die Hölle?“

Zaudernd hob ich die rechte Hand; nach sorgfältigem Überkreuzen der Finger der Linken rief ich entschlossen: „Ich schwöre es!“

Der Ausdruck des Beamten wurde scharf. Man meinte, die Ränder der Pupillen berührten sich. Er stempelte ein Schriftstück ab.

Schlau versetzte er: „Recht so! Nimm diese Quittung für deine Rente! Und jetzt geh, Wolfsmehl, geh! - Ich hab' meine Ewigkeit nicht gestohlen!“

„Gerne“, entfuhr es mir erleichtert. „Aber wohin?“

Ein schräger Blick wanderte in Richtung Stadt.

„Ins Cafe Hölle!“, donnerte es. „Hat das der Fährmann nicht schon verkündet?“

Auf der Rückseite des Verschlags quietschte ein Schlüssel im Schloss. Klapprige Schritte hasteten über das Kopfsteinpflaster. Raues, schallendes Lachen drückte Genugtuung aus.

Im Weggehen zerknüllte ich die Quittung. Verächtlich warf ich sie in den Styx. Melancholisch betrachtete ich ihr harmonisches Schaukeln auf dem schmutzigen Wasser.

Jetzt bist du also im Jenseits, ging es mir durch den Kopf. Das hätte ich nicht gedacht, dass das so reibungslos geht.

3. Todestag: Das Frühstück

Zum Abendbrot gab es herrliche Weißwürste. Und im Café Hölle war mächtig was los. Das gefiel mir. Die Gläser auf den Tischen enthielten Weine in prachtvollen Farbtönen, und in den Karaffen glänzten die dicken Eiswürfel, die das gute klare Wasser kühlten.

Darum zog es mich frühmorgens auch gleich wieder in den Krug. Die Sammelunterkunft, in der die Frischverstorbenen nächtigten, erwies sich bei näherer Inspektion als unwürdig.

Überhaupt dachte ich ständig zurück. Wie ein Küken fixierte ich das Publikum im Café Hölle. Die noch von der Nacht benommenen Zecher krähten halblaut den Refrain eines Trinkliedes und gemahnten sich gegenseitig, nach Hause zu gehen. Zweifellos hatte die Stimmung etwas Tristes.

Unbefangen setzte ich mich an den fettglänzenden Holztisch neben dem Tresen, der von verschütteten Getränken überspült und vom Kellner mit der Serviette flüchtig abgewischt worden war. Eine Wolke beizenden Rauches, worin noch vom Nachtessen her der Geruch von Gebratenem hing, erfüllte den Raum.

Da kam Heini zur Türe herein. Breitbeinig steuerte er den Tresen an, schnallte die Klinge vom Rücken und platzierte das Gerät in ein Gefäß mit der Aufschrift 'Sensenständer'.

Offensichtlich befand sich der Schnitter auf dem Weg zur Arbeit.

Eine Thermosflasche und eine Plastikschachtel, welche er zum Auffüllen gut sichtbar auf die Theke platzierte, bestätigte diese Vermutung.

„Guten Morgen!“ rief er durch die Küchentür. „Ich bin's!“

Fröhlich setze er hinzu: „Bitte, ein warmes Mammutnüsschen im Glas und einen Espresso!“

Leidenschaftlich bis zum roten Haaransatz versenkte er den Kopf in die Gazette. Gravitätisch unbeweglich lehnte er am Tresen. Erst die herrlich duftende Wegzehrung riss ihn los.

Mit einem Seufzer und dem Ausruf: „Urlaub! Das wäre jetzt was! Es gibt so tolle Angebote!“, ließ er sich nieder.

Ich fragte: „Bleibt das Wetter so gut?“

Heini lachte: „Mein Junge, im Zeitlosen ist jeden Tag zu jeder Jahreszeit jedes Wetter möglich! Wie oft haben wir im Winter schon Sommer gehabt und im Sommer Winter!“

Freundlich nickte er mir zu. Sodann schnalzte er mit der Zunge, deutete auf das Glas und erklärte: „Das ist was Feines! Und es hält bis zum Abendessen vor!“

Glücklich über diesen Umstand zerteilte er die Köstlichkeit und schickte sich an, sie zu verspeisen. Nachdem dies geschehen war, fragte er: „Wolfsmehl, frühstückst du denn gar nicht?“

Ich wurde rot und wusste nicht, was ich sagen sollte.

Flugs fuhr er fort: „Verflixt, du hast ja noch kein Geld! - Komm! Ich lade dich ein!“

Brüderlich bestellte er ein zweites warmes Mammutnüsschen im Glas und einen zweiten Espresso.

„Ich hoffe, es ist dir recht!“, versetzte er. „Das wird dich stärken!“

„O ja!“, erwiderte ich. „Vielen Dank!“

Als der Espresso kam, hielt er mir einen Löffel vor die Nase. Ein Zuckerstückchen lag darauf. Zuvorkommend fragte er: „Zucker?“

Ich zögerte.

„Nimmst du Zucker?“

Jäh fasste ich mir an den Hals. So etwas wie Blut schien ins Gesicht zu schießen. Die Seele wollte zum Leben erwecken und nach Luft ringen. Die Ewigkeit war mir mit einem Male Qual; eine Art von seelischer Quarantäne. Zweifellos handelte es sich bei dem Süßmittel um ein bedeutsames Einsprengsel der Erinnerung.

„Ich bin erstickt!“, entfuhr es mir. „Erstickt!“

Heini blickte mir geradewegs ins Gesicht: „Freilich bist du erstickt! Weil du tot bist! Auf perfekte Art und Weise ermordet!“

Ungläubig starrte ich ihn an. „Ermordet?“

„Ja! Du littest an einem Lachkrampf! Bei dieser Gelegenheit hat man dir ein Zuckerstückchen in die Luftröhre geschnippt! Aus Habgier! Das beliebteste Motiv für Mord auf der Erde!“

„Oh… wer… wer… tut so was?“

„Deine Tante Friedliebe! Der Oheim hat sie angestiftet!“

Ein Abglanz der Ereignisse flackerte in mir auf. Ich blickte durch Heini hindurch.

In einer Art seltsamer Erleuchtung sah ich den knausgestaltigen Oheim vor seiner geheiligten Konstellation aus Pfennigdose, Tischglocke und Lesebrille brüten; gewahrte wie er mit Goldmünzen in der Tasche der Knickerbocker klimpernd zu mir ins Zimmer stieg; vernahm die obligatorische Sparwarnung, die er beim Löschen des Lichtes auszustoßen pflegte; wunderte mich über den freundlichen, noch nie aus seinem Mund vernommenen Ton, mit dem er eröffnete, dass es etwas zu feiern gebe; brach tags drauf im Klee liegend - mit einer Flasche Rotwein in der Hand - vor Freude in einen Lachkrampf aus, als der über dem Goldknaufstock gramgebeugte Schurke - neben ihm Friedliebe - erklärte, dass ich ab sofort selbst über das ererbte Vermögen verfügen könne, da die letzte Forderung des Testaments erfüllt sei, weil ich ein Studium abschlossen hätte; musste erkennen, wie das Pärchen Heini einen Hebammendienst erwies, indem es Tatsachen schaffte und mir Friedliebe auf Rubinos Geheiß hin ein Stückchen Würfelzucker in den Rachen schnippte, das sich dem Splitter eines Ziegelsteines gleich in die Luftröhre senkte… .

Von weit her drangen Worte in theatergerechter Betonung an mein Ohr: „W-o-I-f-s-m-e-h-1, m-a-c-h d-i-r - n-i-c-h-t-s d-a-r-a-u-s! I-m J-e-n-s-e-i-t-s g-i-b-t e-s E-r-m-o-r-d-e-t-e w-i-e S-a-n-d a-m M-e-e-r!“

Verstört murmelte ich: „Aber ich! - Ich doch nicht!“

Heini lächelte versonnen. Er seufzte: „In der Ewigkeit gibt es nichts, was es nicht gibt! Genieße das warme Mammutnüsschen im Glas, bevor es kalt wird!“

„Wo… wo… hat der Mörder mich beerdigen lassen?“, stammelte ich.

Heini zuckte mit den Achseln: „In einem Armengrab.“

„In einem Armengrab?“

„Ja! - Verscharrt! - Ohne Grabstein! - Wie einen Hund! - Mörder sind nun eben einmal Scheusale!“

Nur widerwillig begann ich die Delikatesse zu kosten. Aber schon beim ersten Bissen durchzuckte es mich. Sie schmeckte vorzüglich und mit jedem Happen besser. So etwas wie ein patriotisches Gefühl für die Ewigkeit begann sich, ob dieser Ambrosia in mir zu entfachen.

Verzückt schnalzte ich mit der Zunge. Begeistert rief ich aus:

„Dafür lass ich mich glattweg noch einmal ermorden!“

Das freute den Tod. Festigend pflichtete er bei: „Ja, warmes Mammutnüsschen im Glas ist etwas Feines!“

In dem Moment stellte der Kellner die Thermosflasche und die Plastikschachtel auf den Tisch.

„Ah, die Verpflegung!“ rief Heini. „Ich muss los.“

Abermals hielt er den Löffel mit dem Zuckerstückchen hoch. Mit verschmitztem Ausdruck fügte er bei: „Wolfsmehl, ob du deinen Espresso mit oder ohne Zucker in der Ewigkeit trinkst, das kannst du dir ja noch in Ruhe überlegen.“

4. Todestag: Vor dem Jüngsten Gericht

Schon früh am Morgens machte ich mich auf den Weg zum Jüngsten Gericht. Die Verhandlung war auf 8.30 Uhr angesetzt. Durch das riesige Gebäude, das mich an meine alte Schule erinnerte, wehte ein Hauch von Diesseits, was mir das Maß an Begeisterung über das Jenseits erheblich dämpfte.

Blankpolierte Korridore reihten sich aneinander. Die Bank vor der Tür des Gerichtsaals war vollbesetzt mit Frischverstorbenen. Niesen, Räuspern und Schlurfen ertönten. Ein Angeklagter wurde in Handschellen vorgeführt, weil er der ersten Ladung ferngeblieben war und den Richter gegenüber dem Polizeipräfekten Rechtsverdreher tituliert hatte.

In dem Sekretariat zeigte ich die Vorladung vor und erhielt die Nummer Vierzehn dick gedruckt auf einem Zettel mit dem Hinweis, dass es um 8.3O Uhr auf keinen Fall klappen würde, aber ein Telefon für alle Eventualitäten an der Pforte bereitstehe.

„Telefonieren - mit wem?“, ging es mir durch den Kopf. „Etwa mit meinem Anwalt auf der Erde?“

Kopfschüttelnd spazierte ich auf dem Gang auf und ab, bis auf der Bank ein Platz frei wurde.

„Hallo“, sagte mein Nebenmann mit einem Lächeln; dabei hob er eine Braue. Das Auge darunter glänzte wie ein Menschenauge. „Willst du mit mir tauschen? Ich habe die Nummer Dreizehn. Die Dreizehn hat mir auf der Erde nur Unglück gebracht!“

„Warum nicht?“ dachte ich. „Warum sollte ich im Himmel nicht tauschen?“

„Wenn es dir weiterhilft“, antwortete ich. „Mir macht es nichts aus.“

Die Einwilligung bewirkte ein fröhliches Nicken.

„Gott segne dich!“ sagte die neue Nummer Vierzehn. „Du bist eine gute See1e! Du wirst es leicht haben im Himmel!“

Dann sagte sie nichts mehr, und das Jüngste Gericht urteilte im Schnellverfahren. Fünf-Minuten-Takt war angesagt.

Immer näher rückte ich zur Tür.

„Nummer Dreizehn!“ ertönte es verzerrt aus einem Lautsprecher.

Es war soweit: Das Leben sollte in Rechnung gestellt werden.

Mit einem Ruck fuhr ich hoch, um vorsichtig in den Gerichtssaal zu spähen.

„Komm rein!“ rief mir der Richter entgegen. „Hölle steht nicht auf dem Programm!“

Mit zitternden Lidern trat ich vor das pult. Der Saal war in grelles Licht getaucht. Zuschauer waren keine anwesend. Eine Schöffin und ein Protokollführer flankierten links und rechts das erhöhte Pult des Richters, das mich zwang, schräg nach oben zu blicken.

Eine gutmütige Stimme belehrte mich: „Lügen zahlt sich nicht aus!“

Offensichtlich war der Sachverhalt für den Vertreter des Gesetzes klar. Seine weichen Augen hefteten sich auf mich: „Wer so tut, als sei er verstorben und in den Himmel einzudringen versucht, obwohl er nur scheintot ist, wird umgehend auf die Erde abgeschoben“

Gelangweilt blinzelte er über den Brillenrand und fragte: „Sag mir mal, was verleitet dich eigentlich dazu, solche Dummheiten zu machen - und dich tot zu stellen?“

Ich hustete und antwortete verlegen: „Ich weiß, bitte, von keinen Dummheiten, Herr Richter.“

Ob ich denn die Anklage verstanden hätte, hakte er nach.

„Nein!“ antwortete ich. „Weil ich tot bin!“

Mit den Worten: „Du bist also tot?“ nahm er mich prüfend aufs Korn. Dann senkte er die Augen auf die blutrote Akte. Und während er über selbiger brütete, platzte es aus ihm heraus: „In deiner Erdakte steht, dass du dir die Beförderung mit der Barke durch perfide Täuschung erschlichen hast. Du spielst dich im Himmel als Frischverstorbener auf! Was sagst du dazu? Rede!“

Huldvoll versetzte ich: „Herr Richter, dazu kann ich gar nichts sagen, weil ich qualvoll krepiert bin! Es war heimtückischer Mord! Der Anschlag erfolgte mit einem Zuckerstückchen!“

„Mit einem Zuckerstückchen? Wie soll das denn gehen? Mit der Zwille aufs Aug'? Ist dir eigentlich klar, dass du es hier mit dem meist belogenen Mann im Jenseits zu tun hast?“

„Herr Richter, ich schwör's…“

„Schwör nicht!“, schnitt er mir das Wort ab. „Du hältst nur den ganzen Betrieb auf! Zeig mal deine Quittung von der Einreisekontrolle!“

„Hohes Gericht, ich hab' die Quittung in den Styx geworfen.“

Spätestens jetzt schien sich der Richter in ein juristisches Raubtier zu verwandeln, das sich seinem Opfer kompromisslos an die Fersen heftete, um es zur Strecke zu bringen.

„Du willst mich also tatsächlich glauben machen, du seiest tot! Ermordet! Mit einem Zuckerstückchen! – Du bist es aber nicht! Ein scheintoter bist du, raffiniert bist du, ein Hochstapler, ein ganz ein Schlauer, ein Fallot, gib's zu...“

„Nein!“

„Name??!“

„Wolfsmehl.“

„Da haben wir's. Der kann's nicht lassen! Wie ist der Name??“

„Wolfsmehl.“

„Wolfsmehl??“

„In der Erdakte steht Relpatshcoh. Noch nie gehört Bürschchen, wie??“

„Nein, wirklich nicht, Herr Richter. Ich heiße Wolfsmehl.“

„Na gut. Dann eben Wolfsmehl. Wir sind schließlich im Himmel keine Bürokraten. Hier darf sich jeder nennen wie er will! Dann schreiben wir eben Wolfsmehl. Nummer 13 bleibt! Darauf kommt es an.“

Siegesbewusst legte der Richter dar: „Hauch mich an! Ich möchte deinen Atem spüren!“

Ich versuchte, ihn anzuhauchen, was aber misslang, weil mein Luftvorrat im Himmel verständlicherweise nicht mehr vorhanden war. Dieser Umstand gab dem Juristen zu denken.

Bedrückendes Schweigen senkte sich von der Decke, bis die schrille Stimme der Schöffin selbiges sprengte: „Schaltet doch dieses grässliche Licht aus!“

Diesem zwingenden Befehl gehorchte der Protokollführer behände wie ein Iltis. Jetzt gab es nur noch Sonnenlicht.

Ein mächtiger Schatten floss über den Boden, als der Richter sich emporstemmte und katzenhaft über das Pult beugte.

„Ich möchte gern wissen, du Lausbub, was du jetzt wohl denkst!“

„Ich denk', dass ich mir das Totsein und das Jüngste Gericht ganz anders vorgestellt habe, Herr Richter.“

„Himmeldonnerwetter, du lügst! Aber ich kann mir keine Abschiebung leisten, wenn Zweifel bestehen!“

Mit einem Stoßseufzer hielt ich dagegen: „Wenn ich lügen tät, Herr Richter, dann würde ich's zugeben, weil ich im Himmel nicht lüg'.“

Zähneknirschen ertönte.

„Du kennst den Himmel noch nicht, aber ich werde dafür sorgen, dass er kein Jux für dich wird! Du wirst durchs Jenseits marschieren, dass es hinter dir nur so menschelt und sich die Verstorbenen wegdrehen!“

Ein Hustenreiz veranlasste den Richter, sich etwas Scharfes vom Protokollführer in ein Glas eingießen zu lassen, das er in einem Zug hinunterkippte. Mit hochrotem Kopf verkündete er den Richterspruch: „Im Namen der Verstorbenen ergeht folgendes Urteil:

Der Angeklagte erhält für ein Jahr eine beschränkte Aufenthaltsgenehmigung im Jenseits. Diese muss vom Einwohnermeldeamt alle zwanzig Tage verlängert werden. Ansprüche auf die durch das Leben erworbene Rente werden überprüft. Die Rente muss beantragt und von der Versicherungsanstalt genehmigt werden. Eine Sozialwohnung wird zugewiesen. Sollte sich binnen eines Jahres im Sinne der Anklage nichts verändert haben, dann wird der Angeklagte umgehend als Scheintoter ins Diesseits ausgewiesen. Sollte die Rente bis dahin zur Auszahlung gelangt sein, so ist diese umgehend rückzuerstatten.“

Donnernd sauste der Hammer auf den Richtertisch.

Benommen vom Fehlurteil taumelte ich aus dem Gerichtssaal. Die Nummer Dreizehn drängte mit dem Gesicht zur Wand an mir vorbei.

„Was??“ hörte ich den Richter rufen: „Wolfsmehl steht hier. So hieß ja schon der andere. Angeblich. Dein Name? Sag schon!“

„'Wie's da steht, Herr Richter! Und übrigens: der vorher! Der wollt' doch tatsächlich die Nummer mit mir tauschen.“

Und die Tür schlug zu.

Verwirrt starrte ich auf das Schild, das an der Klinke hing: Geschlossene Verhandlung!

5. Todestag: Ein neues Gewand

Im Totenhemd schritt ich die Schlagader der Fußgängerzone entlang.

Ein leicht bläulicher Dunst gleich einem durchsichtig schwebenden Schleier hing über dem Boulevard, während sich die Gäste im blendend harten Schein der leuchtend gläsernen Restaurantfassaden zeigten.

Bald zweigte ich ab und schwamm im Strom der von den Gerüchen benommenen Menge dem Stadtmarkt entgegen. Laute, Laute und noch mal Laute, die durch Gassen und Torbögen hallten, bildeten das spezifische Mischgetöse der Metropole.

Vor einem Geschäft verlangsamte ich den Schritt und hielt das Gewühl der Spazierenden auf, das sich an mir staute. Die breite Eingangstür war mit allerlei feinem rotem Schnitzwerk verziert. Auf einem Schild prangten die Buchstaben:

BARTHÈLEMY THIMONNIER

BEKLEIDUNGSGESCHÄFT

FÜR FRISCH- UND ALTVERSTORBENE

PARIS * LONDON * JENSEITS

Neugierig trat ich ein. Exponierte Ware erfüllte das große, helle Innere. Pflanzen räkelten sich wie in einem Urwald. Die Wände waren mit einem blassroten Lucceser Damast bespannt, der zwischen Schilfrispen ein Muster von Baureihen aller erdenklicher Nähmaschinen inklusive Fadenrollen und Nadeln zeigte. Im Rund der Regale stapelten sich Stoffe von außergewöhnlicher Leucht-

kraft, wie ich sie zu Lebzeiten nur bei den Seidenhändlern im indischen Madras zu Gesicht bekommen hatte.

Ein gewaltiger, an die Decke geschraubter Spiegel konzentrierte das Licht auf einen aus Zeder gezimmerten Schneidertisch.

Gemütliches Rattern erfüllte den Raum. Und es musste sich um den wackeren Thimonnier selbst handeln, der dort mit Füßen und Armen an einer Nähmaschine werkelte; wie sonst liefe sich die enorme Geschwindigkeit erklären, mit der die Nadel mit Hilfe eines Pedals nach unten und mit einer Feder erneut nach oben schnellte.

Offensichtlich arbeitete der Meister für eine Dame, denn er nähte Gagaperlen auf die Umsäumung einer Robe.

Ohne dass er es bemerkte, betrachtete ich den Franzosen. Der bequeme Rock, der die kleine Gestalt umschloss, war ebenso kommod wie elegant und akkurat gebügelt. Eine hohe gelbe Halsbinde, ein dunkler Knebelbart, ein ausgebleichter Lockenbausch und eine schalkhafte Miene verliehen dem Kopf das Aussehen eines Irrwisches. Als er die braunen Augen hob, verstummte das Rattern.

Man hörte Fliegen schwirren. Und die lange Nadel der Nähmaschine, die ein Häkchen an der Spitze aufwies, blitzte im Licht.

Das Maßband am Rock flatterte, als er behände wie ein Eichhörnchen vom Podest sauste. Aufgeräumt reichte er mir die Hand: „Wie heißt du?“, fragte er, indem er einen kritischen Blick auf mein armseliges Totenhemd warf.

„Wolfsmehl!“, erwiderte ich.

„Wolfsmehl, ich bin der Barthélemy!“

Aufmunternd fügte er bei: „Bist frisch verstorben, was?“

„Seit fünf Tagen. Gestern war ich am Jüngsten Gericht.“

„Und?“

„Man hielt mich für scheintot. Ich besitze nur eine beschränkte Aufenthaltsgenehmigung.“

Erfreut zog er die Brauen hoch. In freundlichem Tone, in dem Hochachtung für seine Kunden mitschwang, verkündete er: „Als Scheintoter bist du bei mir genau richtig. Ich nähe noch einfädrig im Kettenstich, der hält nicht so lange. Dafür bin ich billiger und originell. Wenn du allerdings den zweifädrigen teuren Steppstich bevorzugst, dann musst du zu Walter Hunt, der hat ihn 1834 in Amerika erfunden. Weißt du, wir teilen uns die Kunden auf in der Stadt. Da gibt es keine Probleme.“

Besitzergreifend nahm er meinen Arm. Mit bedeutender Miene, welche die Wirkung seiner Worte vielsagend vermehrte, forderte er auf: „Was ist, nehmen wir Maß?“

Unsicher antwortete ich: „Gerne, aber ich habe kein Geld in den Taschen.“

Scherzhaft schüttelte er mein Totenhemd: „Ei, das glaub' ich gerne. Weißt du, ich kenne das Gefühl. Als ich 1829 die erste brauchbare Nähmaschine konstruierte und später achtzig davon in einer Kleiderfabrik aufstellte, da musste ich flüchten, weil die Pariser Schneider, die um ihr Einkommen fürchteten, mich sonst gelyncht hätten. Völlig verarmt bin ich in England gestorben.“

Schmunzelnd flocht er fort: „Bezahlt wird später, wenn du Rente beziehst, weil dich das Jüngste Gericht für tot erklärt oder du auf der Erde tatsächlich verstirbst.“

Dem wollte ich nicht widersprechen. Willig lief ich ihn gewähren, mich zu vermessen. Kreuz und quer legte er sein Maßband an.

Überzeugt rief er aus: „Sakrament! Du hast eine Figur! Da hab' ich was!“

Augenblicklich schaffte er einen Frack samt Hose, Hemd und Socken herbei. Geübt setzte er die Teile auf dem Schneidertisch zusammen. Stolz verkündete er: „Probier die Tailormade! Sie wird dir gefallen!“

Ich zögerte.

„Aber zieh sie doch an! Sie ist robust wie ein Juwel!“

Noch nie hatte ich etwas Derartiges getragen; höchstens in einem Abenteuerfilm mit Piraten, Grafen und Edelmännern bewundert. Etwas verlegen und schüchtern warf ich einen Blick darauf.

Das Webstück schillerte geheimnisvoll von weinroten und schwarzen Farbtönen überschüttet. Kunstvoll eingearbeitete gelbe Bordüren zierten den Stoff.

Mit den Worten: „Welch großartige Komposition sich doch mit nur zwei Grundtönen erzielen lässt!“ munterte mich der Meister abermals auf hineinzuschlüpfen.

Euphorisch rollte er mit den Augen.

„Donnerwetter! Was für eine Wirkung! Das sieht nach was aus!“

Mit einem begeisterten Klacks bewegte er die Zunge.

„Dort ist ein Spiegel! Das Totenhemd entsorge ich!“

Ich wusste nicht so recht. Eigentlich fand ich alles mangelhaft. Das zu dünne Plastron des Hemdes schien zu brechen. Die etwas zu breiten Hosen zeichneten die Beine schlecht ab, erschienen ohne Schuhe zu lang und an den Bordüren im Farbton durchbrochen.

Nur die Frackjacke passte wie angegossen. Unsicher näherte ich mich dem Glas. plötzlich erblickte ich jemanden. Wir waren einander so nah, dass ich starr vor Staunen zurückwich. Das sollte mein Spiegelbild sein? Freude durchzuckte mich, dass ich um soviel besser aussah, als ich noch auf der Barke befürchtet hatte.

Beinahe hätte ich mich in der Ewigkeit für einen anderen gehalten. Wie ein Schauspieler beim Studium einer Rolle übte ich, mich zu bewegen, indessen der Irrwisch zupfend und zausend um mich herumkobolzte.

Als er die Socken gewahrte, stellte er schöne, unlackierte Schuhe hin: „Die gehören dazu!“

Obgleich wählerisch in Fußkleidung, schlüpfte ich hinein. Sie passte. Wie barfuss über Gras lief ich darin.

„Also“, sagte ich etwas gedehnt, immer noch in den Spiegel starrend, „ich denke, ich nehme den Anzug.“

„Und die Schuhe?“

„Auch!“

Barthélemy jauchzte: „Du hast Geschmack, Wolfsmehl!“

Fröhlich eilte er zur Ladentür. Mit einer chevaleresken Verbeugung geleitete er mich hinaus. Belehrend hob er den Finger: „So wie du aussiehst, lässt sich die Ewigkeit formen! Mach was draus!“

Im Tageslicht wirkte der Stoff etwas stumpf.

Ich fragte: „Hat den Anzug schon jemand getragen?“

Pralles Lachen erscholl. „Drei Scheintote!“

Beruhigend klopfte mir der Erfinder der Nähmaschine auf die Schulter. Flink setzte er hinzu: „Aber das tut nichts. Alle sind verlebendigt.“

6. Todestag: Die Bekehrung

Auf einer Parkbank gesellte er sich unvermittelt zu mir:

Der Schutzpatron der Missionare, Franz Xavier, der 1505 auf einem Schloss bei Saragossa die Bühne der Erde betreten und den Rom aus Dankbarkeit LG22 heilig gesprochen hatte, weil er den Stimmen in Goa, Sri Lanka, Malakka, auf den Inseln des Malaiischen Archipels und sogar in Japan durch das sogenannte Schnellbleichverfahren, das heißt Überrumpelung der Heiden durch Sakramentsmagie und Anpassung an ihren Ahnenkult, Dringen auf Kindertaufe und Hersagen auswendig gelernter Stücke in der ihnen unbekannten Sprache den heiligen römisch-katholischen Glauben nahegebracht hatte.

1552 war er übergewechselt. Seitdem hatte er im Jenseits an das Diesseits angeknüpft und seiner Manie gefrönt, Nichtgetaufte zu bekehren.

Sogleich hub er an, von seinen Erfolgen im Jenseits zu sprechen: von Indianern im Zelt, mit denen er auf lateinisch den Rosenkranz leierte; von Eskimos, denen er im Iglu die Beichte abnahm; Aborigines, die er dazu überredete, das Kirchenblatt 'Die heilige römisch-katholische Kirche in der Ewigkeit' zu abonnieren; Hindus, die mit ihm ums ewige Meer auf Pilgerreise gingen; Saudis, denen er in der Wasserpfeife Weihrauch unterjubelte; Surinamer, die sich stundenlang befaseln ließen, weil er sie mittels Mangoschnaps, den er mit Weihwasser durchsetzt hatte, ruhigstellte und Afghanen, die unter bestimmten Umständen die Möglichkeit einer exorzistischen Anwendung in Anbetracht zogen.

Zu jedem Satz fügte er feierlich hinzu: „Ich denke, du verstehst, was es bedeutet, die Heiden im Himmel zu bekehren.“

„Natürlich verstehe ich dich gut“, antwortete ich. „Du redest so ähnlich wie mein Oheim auf der Erde, der, wenn ich ihn gefragt hab', ob ich Taschengeld bekomme, geantwortet hat: Nein, aber dafür darfst du abends in der Mette ministrieren. Oder ich hab' ihn gefragt: Darf ich am Wochenende mit ins Zeltlager und der sagte: Nein, du musst dem Pfarrer am Samstag zur Hand gehen und die Kirche putzen, weil am Sonntag der Bischof kommt.“

„Was redest du da!“, stieß Franz Xavier hervor. „Der Bischof ist mir keine große Hilfe! Er mag einfach nicht begreifen, was es bedeutet, die Heiden im Himmel in den Schoß der heiligen Kirche zu führen!“

Mit enttäuschtem Blick malte er dessen Unterstützung aus: „Das Dumme an der Sache ist“, so fuhr er fort, „dass der Bischof nicht sehen will, wie viele im Himmel herumspringen, ohne jemals eine Kirche von innen gesehen zu haben. Neulich zum Beispiel hab' ich an der Volkshochschule einen Einführungskurs über den tieferen Sinn der Letzten Ölung angeboten. Den Bischof hab' ich gebeten, ein Grußwort zu halten. Das hat er abgelehnt. Ohne Begründung. Peng! Einfach so! Und weißt du, was dann passiert ist? Der Einführungskurs ist ausgefallen! Wegen zu geringen Interesses! Ich denk', du weißt, was so ein Rückschlag für die heilige römisch-katholische Kirche im Himmel bedeutet!“

„Ich kann's mir vorstellen, Franz Xavier. Der Pfarrer bei uns daheim auf der Erde, der hat dasselbe behauptet wie du. Nämlich, dass die Letzte Ölung entscheidend ist. ,Nichts in einem christlichen Leben ist so entscheidend wie die letzte Ölung!', hat er immer gesagt. ‚Spenden und die Letzte Ölung! - Wer in den Himmel kommen will, der muss spenden und geölt werden!', hat er gesagt. Das hat sich mit der Zeit eingeprägt. Da ist es egal, ob du einen erstickt hast oder erschlagen oder sonst was Schlimmes ausgefressen hast. Wenn du geölt bist, hast du die besten Karten. Und wenn du geölt bist und gespendet hast, dann bist du drin im Himmel!“

Franz Xavier seufzte tief: „Ach, wie recht der Mann nur hat!“

Dann begann er damit, einen Mischmasch der tollsten Theorien darüber aufzustellen, warum die Ungetauften die Ewigkeit zugrunde richteten. Das Ganze gipfelte zum Schluss in einem Hohlweg, aus dem er die Irregeleiteten irgendwie unter dem Schutzschirm des Kreuzes der heiligen römisch-katholischen Kirche zu sammeln gedachte.

Bevor ich diesen Hohlweg mit beschritt, verabschiedete ich mich. Doch Franz Xavier lief nicht locker - im Gegenteil: „Es ist kein Problem, die Liebe der Ungetauften zur heiligen römisch-katholischen Kirche im Himmel zu wecken“, ertönte es hinter mir. „Auf der Erde ist das sowieso schon üblich. Dort hat sich das in den Jahrhunderten allerorten bewährt, weil der Erzwinger nicht die kleinste Lockerung jener Liebe gestattet, die den Getauften an die heilige Mutter Kirche fesselt.“

Er kam mit ins Cafe Hölle. Wie hätte ich mich ihm entziehen können?

Die Tür flog auf. Ein Schwung Frischverstorbener schwärmte durch die Pforte des Cafes Hölle ins Jenseits ein. Es handelte sich um Ureinwohner aus Neuguinea, Blätter kauende Kannibalen.

Franz Xavier stürzte sich mit einem Kreuz in der Hand auf sie:

„Seid Ihr getauft? Kennt Ihr die Kirche? Das heilige Evangelium?“

Die Eingeborenen schüttelten den Kopf und wandten sich dem Paar Weißwürste und dem Weißbier zu, welche jedem im Himmel bei Ankunft zustehen.

Franz Xavier entging nicht, dass die wilden beim Anblick der Speise ihre Gesichter verzogen. Weißwürste sind in Neuguinea nun einmal verpönt; süßen Senf hält man für Vogeldreck und Weißbier für Sumpfwasser. Umgehend bot der Schutzpatron der Missionare seine Hilfe an: „Wollt Ihr lieber Wildschwein vom Grill? Eine süße Köstlichkeit mit Preiselbeeren? Wenn Ihr euch taufen lasst, seid Ihr herzlich dazu eingeladen! Alle!“

Die Kannibalen nickten zustimmend. Einer nach dem anderen lief sich von Franz Xavier taufen. Anschließend traten sie geschlossen in die heilige römisch-katholische Kirche ein. Das war ein Erfolg! Und das Wildschwein schmausten sie mit schwelgerischer Wonne, als handelte es sich um den zarten Steiß des letzten weißen Missionars, der in ihrem Dorf vorbeigeschaut hatte.

„Ihr gehört jetzt zur Kirche!“ jauchzte Franz Xavier und malte ihnen mit der Hand ein Kreuz auf die Stirn. „Zur heiligen römisch-katholischen Kirche ! Hört Ihr?!“

Dann versetzte er einem von ihnen einen sanften Stoß und sagte:

„Ich denke, du verstehst, was das bedeutet.“

Dieser rülpste.

„Freilich verstehe ich das. Eure Kirche ist eine hübsche Delikatessenausgabe. Das nächste Mal, wenn es dort Wildschwein vom Grill gibt, lassen wir uns gerne wieder taufen. Bitte, sag Bescheid!“

Sprach's und zog sich mit den anderen in den hintersten Winkel des Jenseits zu den Ahnen zurück, um im Einklang mit der Ewigkeit im Dorf zu toten.

Seitdem hängt eine Tafel im Café Hölle. Folgende Worte stehen darauf:

An diesem Tisch ist es dem heiligen Franz Xavier

gelungen mittels Wildschweinbraten

Kannibalen zum Eintritt in die heilige römisch-

katholische Kirche zu bewegen,

ohne dabei aufgefressen zu werden.

7. Todestag: Thomas Alva Edison

Abends sperrte der Hausmeister die Mansarde auf.

Das neue Heim war ein kleiner dunkler Raum mit vergittertem Fenster Richtung Diesseits. „Eine G1ühbirne“, sagte er, .kannst du dir in der Stadt besorgen.“

Dann zog er sich in seine Maisonette mit Dachgarten, Pflanzenstrahlern, Hallenschwimmbad und Sauna zurück.

Ich rieb mir die Augen und betrachtete alles, so gut es ging. In der Ecke befand sich ein großes Bettgestell mit einer viel zu kurzen Wolldecke unter dem Bett. Den größten Teil des Raums nahm ein Tisch in der Zimmermitte ein.

Der Untergrund wies eine tückische Wölbung auf. Die faustdick auseinanderklaffenden Bretter des Holzbodens liefen sich als Falle unter dem Stragula nur erahnen.

Die Tür zur Toilette erwies sich als brüchiges Ding, durch das nach dem Schliefen fingerbreit der Wind zu pfeifen pflegte. Ein Kriegshelm, den wohl einmal ein Entlassener aus dem Fegefeuer getragen hatte, lag unter dem Wasserhahn auf einem morschen Bambusregal - offensichtlich gedacht als Waschbecken.

Auf der nackten Vorhangstange entdeckte ich ein Knäuel aus Heu, Zweigen und Federn, das sich bei näherer Betrachtung als Uhunest entpuppte. Also gab es Mitbewohner.

In der Wand klaffte ein Loch, dessen Rundung einem Ofenrohr als Abzug gedient hatte und später dem Nachtvogel als Schlupfloch. Ich steckte einen schäbigen Plastikeimer hinein, der die Rundung wie angegossen verschloss.

Das Licht eines beweglichen Strahlers, das ab und zu durch das vergitterte Fenster grell herein flutete, schenkte mir inmitten des Wohnzimmers den Willkommensgruß eines herrlichen Staubgebirges, das sich unter meinen Schritten wallend emportürmte.

Ohne zu zögern machte ich mich fort, um eine Glühbirne zu besorgen und das schwere Gedankengewicht, das ob dieser Bruchbude auf mir lastete, abzuschütteln.

Die von Strafenlaternen erleuchteten Gassen waren von Seelen überflutet, in deren Strom ich mich treiben lief. Vor einem Geschäft blieb ich hängen, wo es da hieß:

Thomas Alva Edison - Elektroartikel

Ich trat in den Laden des Erfinders ein, der als Belohnung, weil er dem Kind eines Bahnbeamten das Leben gerettet hatte, telegrafieren hatte lernen dürfen und damit den Grundstein für sein bemerkenswertes Schaffen gelegt hatte.

Das Geschäft des Amerikaners, der unter anderem die elektrische Glühbirne, ein elektrisches Kraftwerk, ein Tonaufnahmegerät und einen Filmprojektor entwickelt und damit nachhaltig Einfluss auf die moderne Gesellschaft im Diesseits ausgeübt hatte, bevor er 1931 mit der Barke im Styxhafen gelandet war, erschien mir der geeignetste Ort, um eine G1ühbirne zu besorgen.

Die Regale waren bis unter die Decke mit den wundersamsten Artikeln und Apparaturen angehäuft: Da gab es menschliche Laute auf Stimmrekordern, Nebelscheinwerfer für die Barke, Blutdruckmessgeräte für Vampire, ein Telegrafiergerät zum Ende der Ewigkeit, Handys für Scheintote, aus Styxmuscheln gefertigte Grammophone, Stirnlampen zum Ausleuchten der Hölle, Batterien von ewigkeitslanghaltbarer Dauer, Schwingdynamos für Sensen zur Betreibung einer am Blatt befestigten Taschenlampe, Wiederbetotungsgeräte, Druckerpressen zur Herstellung von Totenscheinen aller Art; und, und, und… .

Thomas Alva Edison saß in der Ecke hinter einem Berg von Patenten an seinem Schreibtisch und bastelte an einer elektrischen Zahnbürste für Gespenster.

Er trug Turnschuhe, von denen der eine rot und der andere gelb war. Seine Seele steckte in einem bequemen schwarzen Anzug mit feinen gelben streifen, die sich bei näherer Betrachtung als bügelfreie Leuchtröhren entpuppten.

Der Körper war fest und stattlich, das interessante Antlitz kantig mit vollen Lippen und von glatten, dunklen Haaren umrahmt. Die hohe Stirn wies ihn als Denker aus, der mit dem Bewusstsein totete, dass in keiner Regel und keiner Erfindung irgendein Wert liegt, wenn sie nicht einmal durch eine andere abgelöst werden kann.

Der halb gütige, halb witzig-listige Gesichtsausdruck kennzeichnete ihn als einen Mann von geistreicher Gelassenheit, die ihn mir auf einen Schlag sympathisch machte. Hingegen die Augen ließen nichts erkennen als flüchtige Neugier und Unruhe - starke, innere Motoren - die ihn antrieben, fortwährend etwas Neues zu erschaffen.

„Womit kann ich dienen?“ wandte er sich mir zu.

„Mit einer Glühbirne“, entgegnete ich. „Aber ich hab' kein Geld. Könnte ich vielleicht anschreiben lassen, Meister Edison?“

Er lächelte mit Nachsicht.

„So, so. Eine Glühbirne, kein Problem. Bist frisch verstorben, was?“

„Seit sieben Tagen.“

„So, so. Seit sieben Tagen. Dummes Gefühl. Ich kenne das. Die Glühbirne schenke ich dir, wenn du mir versprichst, den Laden zu hüten, bis ich im Cafe Hölle eine Tasse Kaffee getrunken und die Gazette gelesen habe. Einverstanden?“

„Einverstanden!“

„Wie heißt du?“

„Wolfsmehl!“

„Wolfsmeh1 - ich bin der Thomas. Bitte, merk dir: Alle Preise sind ausgewiesen. Ich geb' drei Prozent Skonto und dreihundert Jahre Garantie auf jeden Artikel. Keine Angst, du schaffst das schon!“

Er erhob sich zur vollen Größe und streckte langsam seinen kräftigen Arm aus, um mir wohlwollend auf die Schulter zu klopfen. Bevor er den Laden verließ, rief er: „Wenn der Verrückte kommt, Richelieu heißt er, dann sei auf der Hut!“

8. Todestag: Der Heiligenschein

Nach Mitternacht tauchte der Verrückte auf. Zuerst als dunkler Schatten, der sich vor dem Schaufenster wiegte, dann als Person, die grußlos und versunken in unheimlichem Schweigen den Laden durchstreifte und in nervöser Zielstrebigkeit bald nach diesem, bald nach jenem Artikel griff, ohne ihn länger als einige Augenblicke festhalten zu können.

Offensichtlich suchte er nach etwas ganz Bestimmtem.

Vor einem Spiegel, der neben dem Schreibtisch an der Wand hing, faltete er den Saum seines purpurnen Rockes zu einer sauberen Krause und strich sich mit den Fingern der verkrusteten Hände die hochgespitzten Zacken der Augenbrauen zurecht.

Im Spiegel erblickte ich sein Gesicht mit dem beinahe kahlgeschorenen schwarzen Haar. An den Schläfen zuckte ein Muskel unaufhörlich wie eine Uhr. Die Nase zerteilte die Wangen einem Ruder gleich in Wellen von grüner, blauer und gelber Intensität. Die stahlblauen Augen rundeten das Spektrum ab; sie dümpelten nach der Art von Eisplatten auf salzigen Tränen über einem Mund, der sich schmal, grob, lippenlos, beinahe gotteslästerlich bewegte und von dem sich niemand vorzustellen vermochte, dass solch ein Ritz einmal für Gebete geschaffen worden sei.

Der ganze Habitus wurzelte in blasierter, hochgestochener Arroganz, die sich die Mächtigen überstreifen, um die Ohnmächtigen auf Abstand zu halten. Und man erahnte, dass dieser Mann niemals für jemanden einen kleinen Finger rührte, wenn ihm dieser nicht auf irgendeine Art und Weise nützlich erschien.

Zweifellos handelte es sich von Kopf bis Fuß um Armand-Jean du Plessis - Richelieu genannt - der sich auf der Erde mit dem Titel eines Herzogs gekleidet, das Amt eines französischen Kardinals und das eines Staatsmannes zu einem höchst effizienten Konglomerat vermengt, den Absolutismus zielstrebig bis zur Vollendung moduliert und neben dem König als geheimer Herrscher die Kriegs- und Geldgeschicke Frankreichs mit verschlagener Fortüne zu lenken verstanden hatte.

1642 hatte er dem interessanten Job Adieu' gesagt, um ins Fegefeuer überzuwechseln.

Der finstere Geselle deutete mir mit einem Pfiff an, zu ihm zu kommen. Ich blieb, wo ich war, denn ich sah keinen Grund, in der Ewigkeit wie ein Hund nach der Pfeife von Richelieu zu tanzen.

Er zog einen Karton aus dem Regal. Ohne zu fragen, riss er ihn auf. Und noch bevor ich einschreiten konnte, setzte er sich etwas auf den Kopf, das plötzlich aufstrahlte.

„Bediensteter, wieviel kostet der Heiligenschein?“, krächzte er.

Ich war baff. Damit hatte ich nicht gerechnet. Der Kopf war in ein erstaunliches Zentrum gerückt - ein Zentrum von hoher Gravitation.

„Was starrst du mich so an? Hast du noch nie einen Heiligen gesehen?“, raunzte er. „Was kostet der Artikel? Ich zahle mit Gold! Gutem altem französischem Gold!“

„Dein Gold interessiert im Himmel niemanden!“, ertönte die Stimme von Thomas. Der Erfinder war zum G1ück etwas früher zurückgekehrt. Knurrend setzte er hinzu: „Bei dem Heiligenschein handelt es sich um ein Einzelstück! Es ist unverkäuflich.“

Mit einem Lächeln, das Richelieu unter dem Heiligenschein vortrefflich zu Gesichte stand und ihn zugleich seltsam entrückte, als schwebte er in einem Fluidum über dem Boden, säuselte er: „Ei, mein Sohn, warum denn?“