2,99 €
Der klimatische und ökologische Kollaps der Erde steht bevor. Eine Geheimorganisation IOWP, die absoluten Eliten der Superreichen, Supermächtigen und die Intelligentia verfolgen im Hintergrund des politischen und wirtschaftlichen Geschehens einen perfiden Rettungsplan für unseren Planeten. Sie streben die Errichtung einer neuen gewaltfreien, wohlhabenden, die Natur schützenden und friedlichen Weltordnung an. So weit, so gut. Doch dieses Ziel ist nur mit der Reduzierung der Weltbevölkerung auf ein Minimum zu erreichen. Drei Wissenschaftler, jeder eine Koryphäe seines Faches, sind angeworben, ein todbringendes Virus zu kreieren, vor dem sich die Eliten in riesigen, unterirdischen Bunkerstädten geimpft in Sicherheit bringen wollen an Tag X. Fast die gesamte Menschheit ist in Gefahr! Ein Gefüge von Macht, Intrige, Gier und Rücksichtslosigkeit begegnet an sehr verschiedenen Orten der Welt magischem Realismus und einem Geflecht der spirituellen Einflussnahme und verknüpft die Schicksale sehr unterschiedlicher Menschen gegen die Machenschaften der Eliten. Sina Jumi beschreibt eine Fiktion, die sowohl in ihrem Scheitern, als auch im Gelingen immer problematisch und interessant bleibt. Evtl. Ähnlichkeiten mit Namen, Orten oder Produkten sind rein zufällig und nicht real.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2020
Sina Jumi
AUS und Anfang
© 2019 Sina Jumi
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7497-9431-7
Hardcover:
978-3-7497-9432-4
e-Book:
978-3-7497-9433-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen ist zufällig und unbeabsichtigt. Dieses Buch ist Fiktion.
Umschlag:
Werkstatt Formart, Kahl/M.
Titelbild:
Helwig F. Sitter
Der Tag an dem die Last auf deinen Schultern unerträglich wird und du strauchelst, möge die Erde tanzen dir das Gleichgewicht wiederzugeben. (keltisches Gedicht)
1.
Frankfurt am Main
Verflixt, er war spät dran heute und hechtete die letzten Stufen hinauf zu seiner Garderobe im Schauspielhaus Frankfurt. Nur knapp dreißig Minuten vor Spielbeginn und er musste sich noch umziehen und in die Maske, das würde kaum zu schaffen sein.
"Na endlich, Art, wir haben uns schon gewundert, wo du bleibst", begrüßte ihn Nelly, die gerade den letzten Schliff an ihr Make-up legte, um die Rolle der Nastassja Filippowna in ihrem derzeitigen Stück, der Theaterinszenierung von Dostojewskijs Roman „Der Idiot“, zu mimen. Art spielte Fürst Myschkin, die kindlich-naive Figur, die sich zu Nastassja Filippowna, einer schrillen Lebefrau mit tragischer Vorgeschichte, hingezogen fühlt. Im Verlauf des Stückes kompliziert sich deren Beziehung immer weiter bis hin zu einem tragischen Mord, der teilweise Fürst Myschkin anzulasten ist. Art Meise liebte das Theater, doch es verzieh ihm seinen Hang zur Unpünktlichkeit weniger als seine übliche Arbeit am Set irgendeines Drehortes, an dem man eher gewillt war, auf ihn zu warten. Seit seinen filmischen Erfolgen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hatte er einige Marotten ausleben können und aufgrund seines Bekanntheits- und Beliebtheitsgrades einige Annehmlichkeiten genießen können. Hier am Theater war das anders. Obwohl ihm seine Schauspielkollegen zu Beginn ein wenig ehrfürchtig begegnet waren, ging es doch eher gleichberechtigt und kollegial auf der Bühne zu. Er murmelte ein rasches "Ja, ich weiß" und wand sich aus Jacke und Schuhen. Manchmal fragte er sich, warum er immer wieder ein Gastspiel am Theater einlegte. Ursprünglich wollte er seine Präsenz und den direkten, intensiven Austausch mit dem Publikum schärfen, das live Spiel hatte immer noch einen gewissen emotional erregenden Kick für ihn.Im Moment aber war er eher fahrig und unkonzentriert, der Nervenkitzel schien ihm schal und abgeschmackt, er war einfach nicht bei der Sache.
Als Nelly nach draußen verschwunden war, fischte Arthur geistesabwesend ein kleines Plastiktütchen aus seiner grauen Lederhüfttasche. Er hatte sich schon seit ein paar Wochen auf diese Lösung seiner emotionalen Abgestumpftheit verlegt und er würde es heute gewiss wieder tun: Arrows oder schlicht und einfach nur Rows hieß seine Wunderwaffe gegen die Gleichgültigkeit, eine relativ neue und wie er bemerken musste sehr teure Designerdroge.
Er betrachtete kurz das Emblem auf der großen, blauen Pille: zwei untereinander stehende und in entgegengesetzte Richtungen weisende Pfeile. Seine Bezugsquelle des Präparates hatte ihm erklärt, dass die kurzfristige Wirkung zwar geistige Konzentriertheit und Zielgerichtetheit, eine gewisse Wachheit beinhalte, dass das eigentlich Faszinierende der Droge allerdings die erst später einsetzenden, intensiven, archetypischen Träume seien; daher auch das Symbol der Pfeile, die die Wechselwirkung der Reise ins Unterbewusste, sowie die gegenläufige luzide Antwort aus dem Unterbewussten symbolisieren sollten. In seinem augenblicklichen Zustand schätzte er die Träume besonders. Sonst würde er komplett in Trauer versinken seit Sta, wie er liebevoll seine jüngere Schwester Augusta genannt hatte, vor fünf Wochen verstorben war. Er legte Arrows auf seine Zungenspitze und spülte sie hastig mit einem Schluck Wasser hinunter. Bis zu seiner Eröffnungsszene als Fürst Myschkin würde er sich geordnet und der ausgesprochenen Naivität und emotionalen Abgesondertheit des Charakters gewachsen fühlen.
Schon die Tatsache dass seine Eltern ihre Kinder Arthur und Augusta tauften, zeigt die verstaubte, starre Haltung des Beamtenhaushalts, eine Kindheit ohne gezeigte Gefühlsregungen, aber alles bestens organisiert und nach außen wunderbar, geradezu beneidenswert, nach innen hart, kalt, geregelt. Vater ist das Gesetz. Mutter darf nicht aufbegehren, bis sie schließlich, als Arthur siebzehn und Augusta zehn Jahre alt waren, von einem auf den anderen Tag verschwand, durchgebrannt mit einem Amerikaner. Erst kamen noch einige Postkarten mit sentimentalen Worten wie „ihr fehlt mir“ und „auf bald“, dann verlief sich die Spur, keine der angegebenen Adressen stimmte, an die die Kinder ihre sehnsuchtsvollen Briefe sandten.
Der Vater reagiert mit noch strengeren Regeln auf das Verschwinden der Ehefrau, auch gegen sich selbst, versucht aber den Haushalt am Funktionieren zu halten. Die untreue Mutter wurde nicht mehr erwähnt, eine Zugehfrau versorgt das Haus, selten blieb sie auch bis spät in die Nacht und die Kinder vernahmen seltsame, irgendwie grunzende Geräusche aus dem Zimmer des Vaters, aber sie wagten es nie, danach zu fragen. Nach außen war wieder alles in Ordnung. Arthur und Augusta, die bereits als Mutter noch da war, eine enge Gemeinschaft, fast eine Insel innerhalb der Familie waren, rückten noch dichter zusammen. Sie hatten jetzt nur noch sich, verstanden sich ohne Worte und vertrauten sich blind. Das war eigentlich schon immer so.
Schon als Arthur zum ersten Mal das runzlige Baby auf dem Arm halten durfte und sie ihn mit einem langen intensiven Blick direkt in seine Augen ansah, fühlte er, dass sie zusammen gehören und er sie immer beschützen würde. Und so wurde sie seine Prinzessin und er ihr getreuer Ritter, und später als sie dann fünf war und er seine Karl May Indianergeschichten verschlang, war er Winnetou und Augusta, die sich mit zwei Jahren, wenn sie gefragt wurde, "wie heißt denn du?", immer nur "Sta" hervorbrachte, wurde in der Familie nun Sta gerufen. Für Winnetou war sie natürlich Ntscho-tschi.
Klar, dass sie auch mal stritten und sich aus dem Weg gingen, aber spätestens zur Schlafenszeit schlich sich Sta aus ihrem Bett, hinüber zu Arthur. Er stellt sich grundsätzlich schlafend und hält seine Bettdecke zu. Da krabbelt die Kleine an sein Fussende unter die Decke und kitzelt seine Füße. Manchmal furzt er dann, um sie zu erschrecken und sie quiekt entsetzt und antwortete mit einem noch lauteren Pups. So geht der Wettbewerb noch eine Weile hin und her, bis vor Lachen ihre Bäuche wehtun und sie merken, wie schrecklich müde sie sind. Jetzt muss Winnetou das Pferd sein und Ntscho-tschi darf auf seinem Rücken in ihr Zimmer reiten. Arthurs Ohren sind die Zügel. Er kippt sie in ihr Bett, deckt sie zu und bevor er an der Tür das Licht ausknipst, zeigt er ihr Zeichen, zwei Finger auf seinen Mund gelegt, die linke Hand geht zum Herzen. Ntscho-tschi erwidert mit einem Kreis aus Daumen und Zeigefinger, die linke Hand auf dem Herz. Sie blickten sich einen Augenblick an, zwei, die sich immer vertrauen konnten.
Später, als Sta ein fescher Teenie geworden war, hatte er im Hintergrund die Jungs gecheckt mit seiner Clique, Jungs die sich an Sta heranmachen wollten. Nur, als sie dann Tom kennenlernte und heiratete, war er nicht da. Es war seine Zeit auf der Schauspielschule und er war sehr mit sich, mit vielen Frauen und dem Beginn seiner Karriere beschäftigt.
Tom war leider ebenfalls mit vielen Frauen beschäftigt, nicht nur mit Sta, die im Krankenhaus oft Nachtdienst schieben musste, und so ging die Ehe von Sta und Tom in die Brüche und Sta arbeitete noch mehr. Sie machte eine Zusatzausbildung, um in der Onkologie als Krankenschwester zu arbeiten. Hier erfährt sie, wie gegebene Liebe und Fürsorge gleichermaßen quittiert wurde und auch den Empfang von Liebe und Dankbarkeit erzeugt, ein sich scheinbar bedingender Kreis. Ihre Patienten, die häufig sehr belastet waren, bedeuten ihr einfach alles; ihr Wohl geht vor, und sie kümmert sich rührend um sie. Wofür man Sta auch mit großer Dankbarkeit begegnet. Eine so fürsorgliche Pflege ist keine Selbstverständlichkeit. Augusta ist mit ihrer Aufgabe sehr zufrieden. So erfüllend hatte sie sich ihr Wirken vorgestellt. Sie findet ihren Frieden mit sich und der Welt.
Dann kommt der Tag, an dem sie plötzlich nichts mehr sehen kann, sie sieht Schleier, dann Nebel, dann wird es schwarz.
Die Blindheit hält genau einen Tag an, dann kommt der Nebel vor ihre Augen, dann die Schleier und dann kann sie wieder sehen wie zuvor.
Der Arzt konstatiert eine funktionale Störung aufgrund der Belastung am Arbeitsplatz und schreibt sie erst mal zwei Wochen krank. Kurz darauf kam die Diagnose: Leber- und Nierenkarzinom. Beides im Endstadium. Es gibt keine Hoffnung mehr für sie. Wochen später – Exitus.
Schweißgebadet wacht Art fast jede Nacht aus dem immer wiederkehrenden Alptraum auf und hört die verzweifelte Stimme seiner Schwester, die ihn anrief und schluchzte, dass sie nichts mehr sehen konnte ganz plötzlich und dass sie wahnsinnige Angst in dieser Schwärze spürte, die sie so unvermittelt umgab. „Bitte, bitte hilf mir, Arthur, was passiert denn mit mir? Ich weiß mir nicht mehr zu helfen, bitte, bitte komm!“
Leider fand er in diesem überraschenden Moment kurz vor seiner Generalprobe wohl nicht die richtigen Worte, so überrumpelt war er von der schrecklichen Nachricht. Er konnte nur tröstend sagen, dass Sta mit ihrer Nachbarin sofort in die Klinik fahren sollte zur Abklärung und versprach, sogleich nach der Aufführung nach Heidelberg zu ihr zu kommen.
„Bitte, bewahre Ruhe, Sta, die Ärzte werden dir sicher helfen können. Ich werde heute Nacht noch zu dir kommen. Deine Nachbarin soll mich nach der Vorstellung informieren.“
In der Nacht noch raste Art zur Uniklinik Heidelberg, in der Sta auch arbeitete, in der Hoffnung auf gute Nachricht und um sich jetzt voll und ganz seiner kleinen Schwester zu widmen. In der Notaufnahme wartete noch Stas Nachbarin auf ihn und berichtete, dass man keine klare Diagnose stellen konnte und Sta vorübergehend zur Beobachtung aufgenommen sei.
Art bedankte sich für die freundliche Unterstützung und wollte sie schon zum Ausgang geleiten, als ein Arzt erschien und Art informierte, dass auch ihm heute keine Besuchserlaubnis mehr erteilt werden könne, der Patientin müsse absolute Ruhe gegönnt werden. Über die Diagnose ließe sich immer noch nichts genaues sagen. So begleitete Art die Nachbarin nach Hause und fuhr dann zurück nach Frankfurt, morgen früh würde er wieder hier sein, hartnäckiger.
Kaum fiel der erste Sonnenstrahl auf Arts riesiges Prachtbett aus nachtblauem Samt, schrillte auch schon das Telefon und beendete den kurzen Tiefschlaf. Das Handy lag auf dem Barschrank, er musste sich wohl oder übel aus der Decke schälen. Nach der Rückkehr in der Nacht genehmigte er sich noch einen oder zwei Gin, um seine Gedanken ein wenig zu beruhigen. Wirklich geholfen hat es nicht.
„Arthur“, klang Stas Stimme schon viel fester als gestern, „meine Sehkraft kommt wieder, ich sehe zwar noch ein bisschen verschwommen, aber ich sehe wieder. Ich bin ja so froh, du kannst dir meine Angst nicht vorstellen, ich darf jetzt nach Hause und bin für zwei Wochen krankgeschrieben. Der Arzt meinte, es sei eine durch Überarbeitung ausgelöste funktionelle Störung gewesen. Du brauchst heute nicht herkommen, ich werde mich erholen. Du hast momentan genug um die Ohren. Ich bin wieder okay.“
„Mir fällt ein Riesenstein vom Herzen, so ein Schreck braucht kein Mensch“. „Ich habe mitgelitten, du kleine Krabbe“.
Art hat in der Tat mitgelitten, denn er hat sich gestern Abend an sein Blindentraining erinnert, das er für die überzeugende Darstellung eines geblendeten Kriegerkönigs in einem historischen Film absolviert hatte. Jeden Tag hat er drei Stunden seine Augen verbunden und versucht, sich zu orientieren und möglichst authentisch und unfallfrei zu bewegen. Es war furchtbar schwierig, die Aussicht, dass dies Stas Schicksal sein sollte, hatte ihn ganz niedergedrückt. Jetzt atmete er hörbar aus, alles wird gut.
Dies lag alles erst Wochen zurück und die Umstände, wie schnell Sta so schwer erkrankte und sie plötzlich in Quarantäne lag und er sie nicht besuchen durfte und außer anfangs auch kein Telefonkontakt möglich war, hatten Art aus der Bahn geworfen. Der Vater litt mittlerweile an einer mittelschweren Demenz, Art wusste nicht genau festzustellen, ob die Nachricht der Krankheit und schließlich auch der Tod der Tochter wirklich zum gleichgültig reagierenden Vater durchdrang. Er lebte nurmehr in seiner eigenen eng begrenzten, kleinkarierten Welt ohne Bezug zur restlichen Familie. Art hatte versucht, seine Mutter in Amerika ausfindig zu machen. Vergeblich bis jetzt.
Er, Art, war der einzige Mensch, der Sta wirklich schmerzlich vermisste, seine Ntscho-tschi, seine kleine Krabbe, seine verschmitzte und lebenslustige und kluge und mitfühlende Augusta. Jetzt, wo sie nicht mehr da war, war seine Kindheit und Jugend zu Ende. Sta fehlte ihm. Er war gänzlich verlassen und allein. Womöglich konnte es nur durch diesen hilflosen Zustand geschehen sein, dass er zunächst aus Verantwortungsgefühl für sein Schauspiel vier Abende in der Woche die Unterstützung der neuartigen Droge gesucht hatte. Ein in diesem Metier erfahrener Kollege hatte den Kontakt in einer Bar im Bahnhofsviertel hergestellt und für die Sicherheit der Droge garantiert. Das erste Mal schmiss er sie ein an einem spielfreien Tag, um die Wirkung auf seinen Körper, bzw. Kopf zu beobachten.
Schon innerhalb von fünfzehn Minuten schien er energiegeladen, mit einer unglaublichen Konzentriertheit und Wachheit ausgerüstet zu sein, die ihn in die Lage versetzten, die soeben gelernten Texte mühelos zu behalten und Gefühl für Gestik und Mimik in sehr feinsinniger Abstimmung verliehen.
Nach circa drei Stunden ebbte der Zustand des klaren Kopfes ab, vernebelte sich und schwang über in eine Traumphase, die er nicht kontrollieren konnte, die ihm aber aus seinem Unterbewusstsein eher angenehme Zustände bescherte.
Arrows, diese Droge war großartig in Arts Situation, weder seine Arbeit noch die privaten Sorgen tangierten ihn mehr. Er war gefühlsmäßig betäubt. Er fühlte sich irgendwie tot, irgendwie funktionierte er aber auch noch wie ein Roboter.
Zuerst kam er noch mit einer Arrow vor dem Auftritt aus, mittlerweile waren es zwei oder drei am Tag. Er war am Limit, irgendwie fühlte er das selbst.
Sta kehrte erst in seine Gedanken zurück als er im verhallenden Applaus von der Bühne wankte. Vielleicht war es nur die Anstrengung einer dreieinhalb Stunden Vorstellung, in der er die Hauptrolle gespielt hatte, vielleicht die traurige Erschöpfung, die ihn schon seit einer Weile begleitete. Von einer Sekunde zur anderen schränkte sich Arthurs Sichtfeld zu einem dunklen Tunnel ein, sein Herz raste, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er fühlte sich absolut elend, schwach und der Ohnmacht nahe. Mit den Händen tastend erreichte er die Wand, im Kopf schmolz sein Gehirn zu einem Wattebausch, kleine Lichtblitze erschienen vor seinen Augen. Vielleicht hatte er auch Arrows einfach schon zu lange eingenommen. Er schaffe es gerade noch bis zur Türe seiner Garderobe, bevor er mit einem gepresst-seufzenden "hfff" kollabierte. Er verlor das Bewusstsein und schlug hart mit dem Kopf zu Boden.
Der Schmerz erreichte Art jedoch nicht mehr. Sta winkte ihm zur Begrüßung zu. Sie trug ein langes, weißes Kleid, das ihn an den Empirestil des neunzehnten Jahrhunderts erinnerte und zugleich auch an Stas weiße Arbeitskluft der Schwesternschaft; Sta war Krankenschwester auf der onkologischen Abteilung gewesen und war ironischer Weise selbst einem aggressiv verlaufenden Krebsleiden zum Opfer gefallen. Sie führte ihn zu einem jungen schwarzen Afrikaner in die Savanne, der in einem Ritual sein Schild mit weißer Lehmfarbe bemalte. Arthur beobachtete das Design, das sich zu einem getüpfelten Bild eines Krokodils formte, umrandet mit einem geometrischen Muster von dreieckigen Spitzen und Kanten, wahrscheinlich sein Totemtier. Arthur erkannte den jungen Mann als einen Krieger und als Vermittler oder Seelenführer. Der afrikanische Krieger fischte ein winziges Krokodil aus einem Fluss und legte es ehrfürchtig Arthur in die hohle Hand und begann ihn spielerisch mit Wasser aus dem Fluss zu bespritzen …. bis der Schmerz im Kopf einsetzte und Arthur jäh in die andere Welt zurück katapultiert wurde. Er blinzelte langsam in das schummrige Licht des Flures vor seiner Garderobe, wo Nelly ihm besorgt die Stirn mit einem feuchten Tuch betupfte.
"Wo bin ich … was ist passiert?" brachte Arthur undeutlich hervor.
"Du bist ohnmächtig geworden nach der Vorstellung" sagte Nelly ihm. Eine kleine Traube von Menschen umringte sie beide.
"Welche Vorstellung? Wer sind Sie?"
Arthur fühlte sich völlig in der Fremde und konnte sich an nichts mehr erinnern außer dem kürzlichen Traumbild und gleichzeitig einer ganz sachten, vagen Erinnerung an die Schlussszene des Theaterstückes als Dostojewskijs „Idiot“ in der Schweizer Nervenanstalt unter der Führung von Dr. Schneider. Nelly sah ihn irritiert an.
"Art, was ist los mit dir? Wir sind noch am Theater, haben gerade unser Bühnenstück bravourös zu Ende gespielt, bevor du dich hier unsachte hingelegt hast."
"Am besten, wir kontaktieren Dr. Schneider" intonierte Arthur allen Ernstes.
"Witzbold. Ich denke, du hast recht, wir sollten dich tatsächlich zum Arzt bringen mit der Platzwunde am Kopf" pflichtete Nelly ihm bei.
Wenige Minuten später hatte Nelly ihren Kollegen Art, wie er sich seit den frühen Tagen seiner Künstlerkarriere nannte, in die Notaufnahme der Rotkreuzklinik gefahren. Seine Platzwunde würde versorgt werden. Wesentlich beunruhigender kam Nelly die völlige Desorientierung Arts vor, der die Zusammenhänge bezüglich seiner eigenen Person nicht mehr annähernd zusammenbrachte.
„Das kann schon mal vorkommen bei einer schweren Commotio. Er scheint sich ja gehörig den Kopf angeschlagen zu haben“, meinte der diensthabende Arzt des Krankenhauses. „Eine retrograde Amnesie und deutliche Wahnvorstellungen. Wir werden Herrn Meise (er hatte seinen Geburtsnamen Fink in den Künstlernamen Meise geändert und seinen altmodischen Vornamen Arthur in Art verkürzt, was ihm interessanter und einprägsamer erschien) über Nacht hierbehalten und empfehlen anschließend noch einen Aufenthalt in der psychiatrischen.“
Arthur brummte seine halbherzige Zustimmung. Es schien Art stimmig, schließlich war er auf der Bühne auch gerade noch bei Dr. Schneider im Sanatorium gelandet.
Krankenhäuser waren Art generell sehr suspekt, insbesondere der antiseptische Geruch verursachte fast schon Übelkeit. Er hatte die Berufswahl seiner Schwester nie ganz nachvollziehen können. Und das war nun schon die zweite solche Institution in Folge. Art war tags darauf auf seinem Weg in die renommierte private Nervenklinik Dr. Rogats in Kronberg im Taunus. Der Fahrer seines Taxis hatte die Angewohnheit das eh schon laute Radio zu den Nachrichten noch lauter zu stellen: „… meldet die örtliche Polizeibehörde den Fund einer bisher nicht identifizierten männlichen Leiche im Stadtteil Mörfelden-Walldorf, in der Kleingartenanlage „Am Schlichterfeld“ des Stadtteils Walldorf. Der ca. fünfunddreißig-jährige Tote war am Freitag vor einer Woche von einem Rentnerehepaar aufgefunden worden; er erlag vermutlich mehreren Stichverletzungen im Brustraum. Das einzige Hinweiszeichen auf seine Identität ist ein Abschnitt eines Boardingpasses aus Phoenix, Arizona. Die Polizeidienststelle Frankfurt Süd erbittet jegliche Hinweise bezüglich verdächtiger Personen und Handlungen im Umfeld Mörfelden…“
„Schon wieder einer abgestochen, diese Gewalttätigkeit heutzutage, es ist einfach nicht zu fassen“ meinte der Taxifahrer resigniert. „Bloß diesmal scheint es ja nicht ein lokales Bandengemetzel gewesen zu sein mit den üblichen Verdächtigen, Arizona, das ist ja Amerika, also internationale Gangster, davon haben wir in Frankfurt grad schon genug.“
Art hatte nur mit halben Ohr zugehört und war mit der Nachricht eines brutalen Mordes wieder sofort in sein Rollenspiel versetzt. Er war in Gedanken bei den letzten vertraulichen Szenen mit Rogoshin, seinem verbrüderten Ich in Dostojewskijs „Idioten“. Letzterer hatte ihm gerade den heimtückischen Mord an Nastassia Filippowna gestanden. Im Original waren eigentlich die Ordnungshüter im Anmarsch, der Intendant hatte jedoch die Szene so abgewandelt, dass nicht eindeutig war, ob nicht eventuell er, Art, in den Mord mit verwickelt war, was seine Einweisung oder eher Wiedereinweisung im Schweizer Sanatorium zur Folge hatte. Art fühlte sich unbestimmbar schuldig und ein „ich war es nicht“ lag ihm eindeutig auf den Lippen. Dennoch, ein Schatten einer Diskrepanz regte sich, und Arthur ahnte, dass dies lediglich seine letzte Rolle war, die er im Schauspiel darstellte. In seiner Unsicherheit, seiner vagen Identität, beschloss er, sich auf seine schauspielerischen Fähigkeiten zu verlassen. Er würde sich nicht als Art Meise, sondern inkognito als Arthur Fink, d.h. unter seinem Geburtsnamen, einweisen, sicher ist sicher.
Vor ihm tauchte ein herrschaftlich anmutendes Gebäude aus dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert auf, das von einem weitläufigen Park umgeben war. In östlicher Richtung grenzte ein Waldstück an. Wäre er nicht auf dem Weg in die Klapse, er hätte sich an der Architektur und Landschaft erfreuen können. Beides war im licht und modern eingerichteten Innern der Klinik reflektiert. Jedoch lockte der nicht zu ignorierende antiseptische Geruch Arts Misstrauen und Abneigung. Es war seltsam, wie dieses Hotel sich anmutete. Er war doch endlich im Schweizer Hotel angekommen? Verdammt, diese ewigen Filmrisse. Die Dame an der seltsam anmutenden Rezeption – es lagen eindeutig medizinische Utensilien umher - sie schien ihn zumindest nicht zu erkennen, was er als ermutigendes Zeichen wertete.
Trotz seiner Gehirnerschütterung und noch immer starken Kopfschmerzen gab Arthur seine übliche elegante Erscheinung ab: Als charakteristischer Charmeur der Filmwelt setzte er auf sein gutes Aussehen, er war groß, schlank, sportlich und hatte die Angewohnheit sich regelmäßig gedankenverloren durch seine blonde Lockenmähne zu fahren, die er ebenso regelmäßig zu einem eleganten Kurzhaarschnitt stutzen ließ, gerade so kurz, dass man noch den interessanten Lockenansatz erkennen konnte. Grundsätzlich trug Arthur Designerklamotten der Marke Prana, graue Lederjeans, schwarzer Seidenpullover mit dem dreieckig zulaufenden Emblem Prana am inneren Oberarm. Dazu schwarz-gelbe Cowboystiefel aus Pythonleder, einer angeblich selbst erlegte Python, sein absolutes Marken- und Erkennungszeichen! Sein Sommeroutfit bestand aus Seidenpullovern, Langarm mit V-Ausschnitt. Das Winter outfit kongruenter Weise ebenfalls aus Seidenpullovern, Langarm, mit Rollkragen aber zu sechzig Prozent aus Kaschmir, darüber seinen charakteristischen schwarzen Ledertrench.
Bevor er sein Zimmer beziehen kann, wird er zum Erstgespräch mit Prof. Dr. Rogat gebeten. Art betritt ein chic eingerichtetes Arztbüro, in dem eine Reihe edler Designermöbel arrangiert sind und eine Gruppe von alten, rotbraunen Chesterfieldsofas, gesäumt von zwei großformatigen impressionistischen Gemälden, die Art hauchzarte Landschaften von Renoir und Monet assoziieren lassen. Der Professor schien augenscheinlich einen teuren Geschmack zu pflegen. Wahrscheinlich nur Kopien. Aber Art hatte gar keine Zeit, sich großartig im Raum umzusehen, denn schon ertönte die unangenehm raue, blecherne Stimme seines Gegenübers.
„Guten Morgen, Sie müssen unser Neuzugang, Herr Fink, sein“ tönte der ergraute Mittsechziger von seiner sicheren Warte hinter dem imposanten Schreibtisch. Er machte sich nicht die Mühe, zur Begrüßung aufzustehen, sondern reichte Arthur seine große, braungebrannte Hand über den Schreibtisch herüber, was Arthur noch misstrauischer machte. „Nicht sehr höflich“, dachte er. Warum wurden hier die gängigen Umgangsformen nicht gewahrt? Dr. Rogats Erscheinungsbild trug auch nicht unbedingt zu Vertraulichkeiten ein, in seinem obligatorischen weißen Kittel strahlte er eine gewisse Gefühlskälte und die sachliche Nüchternheit eines langjährigen und desillusionierten Mediziners aus. Verkniffen blickte er mit seinen kleinen Habichtsäuglein durch eine dicke Brille, die so gar nicht zum geschmackvoll eingerichteten Büro passen wollte, Arthur fand, Rogat sah aus wie ein in Hab-Acht-Stellung verweilender Vogel, der nach einem fetten Wurm picken wollte. Nach ihm.
Arthur reichte zögerlich seine Hand und brachte nur ein müdes „Ja, ich habe soeben eingecheckt, aber noch nicht mein Zimmer bezogen“ hervor. Sein Kopf pochte und die frische Naht an seinem Hinterkopf spannte.
„So, so, eingecheckt“ betonte Rogat höhnisch, der sich in seiner Vormachtstellung als Klinikinhaber verletzt fühlte. Die von Arthur unbeabsichtigte Inflation seines Egos ließ ihn mit einem Mal sachlich werden, jeglicher Anflug von jovialer Freundlichkeit war verflogen. „Ihre Begleitakte diagnostiziert eine schwere Commotio mit implizierter retrograder Amnesie. Wie haben Sie sich denn verletzt und was ist das letzte, an das Sie sich erinnern können?“
Arthur zog die Braue hoch seinen Blick zur Decke gerichtet wanderten seine Augen wieder und wieder von rechts nach links, er kramte verzweifelt in seinen Gehirnwindungen umher. Er erinnerte sich an seinen Sturz vor seiner Garderobe. Rogat schien ihn nicht zu erkennen, vor allem in seinen Filmen sprach er eher ein jüngeres Publikum an. Also war es an ihm, einen harmlosen Arthur Fink abzugeben. Sollte er einen kompletten Lebenslauf aus dem Stand erfinden? Oder besser abwarten, bis sich seine Erinnerung wieder regte?
Arthur verlegte sich instinktiv darauf, auf Zeit zu spielen und gab nach einer ausgiebigen körperlichen Untersuchung von Reflexen, Gleichgewicht und Koordination eine Eigenart, die ihn schon länger beschäftigte, aber nicht wirklich beeinträchtigte, zum Besten: seine Angewohnheit, sich permanent die Hände zu waschen. Er erinnert sich an eine etwa zwölfjährige Historie dieser Zwangshandlung, die er auch schon en passant von seinem Hausarzt hatte medikamentieren lassen. Art hatte das Medikament unregelmäßig eingenommen, da es ihm wenig Erleichterung verschaffte. Er setzte nach wie vor auf eine intensive, fetthaltige, medizinische Handcreme, die ihn vor den Folgen des vermehrten Händewaschens bewahrte und natürlich neuerdings auf seine immer häufigere Einnahme der Arrows.
Und es funktionierte tatsächlich: Nach einem raschen Mini-Mental-Status-Test zur zeitlichen und örtlichen Orientierung (den Art erbärmlich verhaut) schweift der Arzt von Art Meises Realitätsverlust ab und fokussiert sich zunächst auf dessen Waschzwang. Den Spiegel des vormaligen Präparates erhofft Rogat mit einer Blutprobe festzustellen. Widerwillig krempelt Arthur seinen linken Ärmel hinauf und macht sich für die unangenehme Prozedur bereit. Da Art die absolute Naivität und fast schon Kindlichkeit seiner Rolle als Idiot weiter mimt, beschließt Rogat, die Hinweise auf extrem hohe IQ Werte des Patienten zu ignorieren. Intelligenz hin oder her, dieser hier war mit seinen Erinnerungslücken einfach zu unbedarft, er konnte es riskieren: Er würde Arthur Fink als weiteren Probanden werben. Die Bedingungen waren einfach perfekt.
Gönnerhaft lehnte sich Dr. Rogat herüber: „Ich möchte bei Ihnen gerne ein neues, sehr effektives Mittel ansetzen, Cordilacin, und Sie zunächst zur weiteren Beobachtung hier behalten. Sie werden sicher von regelmäßigen, moderaten Dosen von Cordilacin profitieren, Ihr Waschzwang wird sich allmählich legen. Und was das Übrige betrifft,“ sagte Rogat eher leichtfertig, „wird eine Sozialisierung in unserer Klinikgemeinschaft Sie sicherlich auch wieder an Ihren Realitätssinn anknüpfen lassen. Hier können wir nur geduldig abwarten. Vertrauen Sie jedem kleinsten Erinnerungsfetzen, der bei Ihnen auftauchen wird und informieren Sie mich, wenn Ihnen neue Details zu Ihrer Person einfallen.“
Art war ganz und gar nicht gewillt, seiner Erinnerung zu trauen, er fühlte unbewusst, dass er Schauspiel und Wirklichkeit nicht zuverlässig auseinander halten konnte. Außerdem war Art nicht darauf vorbereitet, ein Psychopharmakon einzunehmen. Zudem hoffte er inständig, dass seine Arrowseinnahme nicht unbedingt in der Blutprobe auffliegen würde. Er müsste die Befunde einem fingierten Mittel seines Hausarztes zuordnen. Die vielen Details, die Art entweder verbergen oder nicht aus seiner Erinnerung herauskramen konnte, forderten seine Improvisationskünste. Immer wieder musste er vage Antworten und ein juveniles „weiß nicht“ zum Besten geben. Sollte er ein neuartiges Präparat testen? Einem energischen und unerwarteten Impuls folgend, willigt Art mit einem ergebenen „gut, in Ordnung“ ein, Cordilacin auszuprobieren. Er sieht keine Möglichkeit, sich aus einer psychiatrischen Medikamentierung herauszunehmen, nachdem er seine Beschwerden so eindrücklich geschildert hatte. Er beschloss, die Wirkung des neuartigen Mittels Cordilacin genauestens an sich zu beobachten. Schließlich könnte er es immer noch absetzen, wenn ihm die Wirkweise missfiel. Zumindest nahm er das im Moment an. Er hatte keine Erfahrung mit psychiatrisch-klinischem Personal und deren Penetranz im Punkte Compliance. Die Hegemonie eines Arztes und Klinikleiters ließ sich nicht um sonst an dessen Verschreibungs- und Oktroyierungswut seinen Pfleglingen gegenüber aus.
„Gut, dann sehen wir uns morgen wieder zur Visite. Leben Sie sich gut ein bei uns. Alles weitere erläutert Ihnen unser Pflegepersonal. Selbstverständlich stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung für weitere Fragen. Dann bis morgen“ schloss Dr. Rogat.
„Erbärmlicher Schleimer“ schoss es Art durch den lädierten Kopf. Er war froh, endlich dem Gespräch zu entkommen, brachte gerade noch ein „Danke, bis morgen“ hervor und wollte sich erst einmal sammeln und zog sich auf sein Zimmer zurück, dessen Freundlichkeit ihn positiv überraschte. Warum standen Einrichtung und Personalien in so starkem Kontrast hier? Art sank erschöpft auf sein Bett und verfiel in einen unruhigen, langen Schlaf.
Erst die Krankenschwester, die ihm sein Zimmer angewiesen hatte, weckte Art zum Abendessen, das er im gemeinschaftlichen Speisesaal einnehmen würde.
Die Krankenschwester führte ihn in einen großen Speisesaal, dessen Front großflächig verglast war und auf eine weitläufige Terrasse führte, die zur linken von einer weißen Fliederhecke umsäumt war. An seinem Tisch erwarteten ihn bereits drei weitere Personen. Die junge, schmächtige Frau ihm gegenüber war ängstlich versteinert, als sie Arts eindrückliche Pythonstiefel betrachtete. Sie fixierte sie mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund. Als ihr Blick zu seinem Gesicht hinauf wanderte, gab Art ihr ein fast unsichtbares Zeichen, indem er kurz die Augen schloss und den Kopf unmerklich schüttelte. Sie hatte verstanden. Art wollte unerkannt bleiben. Sie hatte all seine Filme verschlungen.
Rasch brach sie den Blickkontakt ab und stocherte weiter lustlos in ihrem spärlichen Salat herum. Ihre auffällig schlanke Erscheinung und das offensichtlich gespaltene Verhältnis zu ihrem Essen deuteten auf magersüchtige Tendenzen hin. Sie stellte sich schüchtern und einsilbig als Vanessa Mallet vor.
„Halbfranzösin“ murmelte sie nur matt auf Arthurs Nachfrage bezüglich ihres Nachnamens hin und spielte sich weiter mit einem traurig aufgespießten Salatblatt, von dem sie geduldig das Dressing tropfen ließ. Arthur wollte noch nicht locker lassen und löcherte sie weiter. Schließlich wollte er die gerade erst geschlossene Komplizenschaft nicht versanden lassen.
„Meine Mutter ist Französin, aber ich bin hauptsächlich hier in der Gegend aufgewachsen.“ Beim Erwähnen ihrer Mutter spähte sie verstohlen auf ihr Handy, das sie eigentlich schon längst wieder beim Pflegepersonal hätte abgeben sollen.
„Handyverbot“ erläuterte der neben der zierlichen Gestalt riesig wirkende Herr. „Sie telefoniert fast unablässig mit ihrer Mutter, bzw. ihre Mutter mit ihr. Dr. Rogat hat es Vanessa aus therapeutischen Zwecken untersagt. Ablösung vom Elternhaus und Individuation. Drastische Maßnahme, wenn Sie mich fragen“ ergänzte Johannes Leberblum.
Diese Auskunft kam etwas linkisch herüber. Johannes hielt seinen Blick dezent auf seinen Teller geheftet, während er die weiße Serviette in seinen riesigen Händen erdrosselte. Soziale Kontakte, besonders neue, waren einfach nicht seine Stärke. Er fühlte sich vollkommen unzulänglich. Zusätzlich begann eine unvorteilhafte Bewertung ständig in seinen Gedanken zu kreisen nach dem Motto „das hättest Du nun wirklich nicht mitteilen müssen, interessiert eh kein Schwein“. Aber die Tatsache, dass ihnen allen Rogat unsympathisch war, schweißte das Quartett sofort emotional zusammen.
Johannes griff zur Ablenkung hastig nach seinem Wasserglas und goss es in einem Zuge herunter. Das verdrießliche Gesicht, das er beim Geschmack des schalen Wassers machte, ließ unschwer erkennen, dass er lieber ein Bier getrunken hätte. Johannes ist in der Tat alkoholsüchtig. Ein Mittvierziger, übergewichtig, mit beginnender Glatze, irgendwie immer leicht schmuddelig wirkend, trotz seiner neuerlichen Bemühungen um Hygiene, war doch eine tägliche Dusche auch irgendwie Wasserverschwendung. Seine immer wieder anklingende Sozialphobie sondert ihn von anderen ab. Oft sah man Johannes im Flur vor dem Speisesaal sitzen mit der aktuellen Ausgabe der Zeitung, des Sterns, Fokus, er ist eindeutig politisch versiert und interessiert. Eigentlich wollte er auch seine Kenntnis des Lokalteiles zum Besten geben, verkniff sich aber aufgrund seiner negativen Gedankenspirale jeglichen weiteren Kommentar. Seine Tischgenossen spürten schmerzlich dessen soziale Zurückhaltung und wollten ihn gerne mehr miteinbeziehen in ihr ungezwungenes Miteinander.
Wie durch Telepathie geleitet, kam ihm Tara Altmann zuvor: „Habt ihr (man war binnen Minuten zum Klapse-üblichen, vertraulichen Du übergegangen, das alle in ihrem Patientendasein zusammenschweißte) auch von dem kuriosen Mord hier ganz in der Nähe gehört?“
Johannes stimmte sofort mit ein: „Jetzt macht man schon die Schrebergärten unsicher, Was der wohl in der Kleingartensiedlung wollte? Ganz offensichtlich auf der Flucht vom Flughafen Frankfurt, wenn er denn tatsächlich direkt aus Arizona, kam.“
Was Johannes nicht erwähnte, war, dass er, bzw. seine erst kürzlich verstorbene Großmutter, eine direkte Verbindung mit der Kleingartenanlage am Schlichterfeld unterhielt. Seine ökofanatische und sehr rüstige Großmutter Alma Leberblum, hatte seit er denken konnte eine Parzelle in der Siedlung. Sie baute alle möglichen Gemüsesorten an und war besonders stolz auf ihre geglückte Züchtung einiger Ginsengwurzeln, die sie permanent konsumierte – was ihr denn anscheinend auch die ständige Diarrhoe und den bedenklichen Bluthochdruck bescherte. Sie war ganz plötzlich trotz scheinbar guter Gesundheit verstorben. Vielleicht waren es doch letztendlich die enormen Mengen von Ginseng gewesen, die sie umgebracht hatten. Aber sie hatte absolut auf das Zeug geschworen. Heute war ihre Beerdigung gewesen, der Johannes leider auf Anraten des Klinikleiters Dr. Rogat nicht hatte beiwohnen können. Zu starke emotionale Belastung, seine Großmutter war ihm innig verbunden gewesen, und zu große Suchtgefahr im anschließenden Leichenschmaus. Johannes war gespannt, was sein Bruder KK, der ihn noch heute auf dem Rückweg von der Beerdigung besuchen wollte, berichten würde.
Johannes war gerade dabei, sich von seinen Tischgenossen zu verabschieden, als die zunächst auf höchst angenehme Weise ausgebliebenen, fast schon obligatorischen Klinikfragen gestellt wurden: „Was machst du beruflich und was hat dich hier her geführt?“ Arthur war völlig unvorbereitet. Wie hatte er nur hoffen können, diesen Themen entgehen zu können? Er improvisierte rasch und beschloss, sich sein umfangreiches Areal der Literatur und der vielen Drehbuchskripte zu Nutze zu machen – er stellte sich kurzerhand als Schriftsteller vor. Vanessa unterdrückte ein kleines Kichern – der berühmte Art Meise beim Improvisieren in Aktion. Vanessa ließ ihn gewähren und drückte sich abrupt und eher sozial inkompetent, was eindeutig nicht üblicherweise ihr Metier war, mit einem „oh, mon dieu, le temps“ davor, von ihrem kürzlich gescheiterten Germanistikstudium zu berichten. Johannes brummte nur ungeduldig „Ingenieur im Maschinenbau, alkoholabhängig“ und verheimlichte vorerst, dass er sich schlicht fehlgeleitet in seinem Berufsleben fühlte.
Tara war die einzige, die noch an einem längeren Gespräch interessiert schien. Sie war Geschichtslehrerin am hiesigen Gymnasium, und erarbeitete gerade einen eher neueren Abriss der Geschichte der Kolonialgeschichte Afrikas abseits von ihrer eher faden Lehrtätigkeit. Es erschien Art verwunderlich, dass all seine Tischgenossen so zwiespältig zu ihrer eigentlichen beruflichen Laufbahn standen. Er fühlte sich glücklich in seinem Metier. Oder war es der Erfolg und der Ruhm, die ihn zufrieden mit seiner Berufswahl stimmten? Vielleicht war es, zumindest in Taras Fall, auch die psychische Erkrankung, sie hatte erwähnt, dass sie manisch-depressiv sei, augenblicklich in einer mittelschweren depressiven Phase, die Spannungen beruflicher Art erzeugten.
Gerade waren Art und Tara beim interessanten Thema der heutigen Situation von Afrika angekommen – wie sollte man die Vorgänge der gewaltigen Völkerwanderung regulieren? – als eine Pflegerin sie unterbrach und zur Medikamenteneinnahme drängte. Art war schockiert, als er im unteren Stockwerk am Pflegestützpunkt, wie sich die mit einem Glasgehäuse abgeschirmte Rezeption der Krankenschwestern nannte, ankam. Die gesamte Patientenschaft stand fügsam wie die Lämmchen in einer langen Schlange an, alle präpariert mit einer bruchfesten Porzellantasse voll Wasser zur Tabletteneinnahme. Arthur zögerte einen Moment, sich mit einzureihen. Doch ehe er sich versah, landete eine kleine, unscheinbare Pille in seiner geöffneten Hand. Er nahm sie ein, war jedoch erschüttert über die Geschäftsmäßigkeit und abgestumpfte Routine, mit der der Medikamentendrill von statten ging. Eine kurze Vision des Traumfetzens während seiner gestrigen Ohnmacht vor seiner Garderobe ereilte ihn, indem er das kleine Krokodil, das der afrikanische Krieger in seine hohle Hand gelegt hatte, statt des neuartigen Präparates Cordilacin in seiner Hand erblickte. Art wischte gedanklich den Erinnerungsfetzen vorbei. Er wünschte sich, dass er sich an konkretere Dinge seines Lebens erinnerte.
Sein Kopf war noch immer nicht völlig in Ordnung Arthur verspürte eindringliche Kopfschmerzen von seiner Gehirnerschütterung und beschloss nach einem gleichgültigen Blick in den Aufenthaltsraum, in dem ein Fernseher vor einem Publikum von gleichmütigen Mitpatienten ununterbrochen vor sich hin dudelte, auf sein Zimmer zu gehen. Etwas Ruhe würde ihm gut tun, zumal er auch die Wirkung von Cordilacin genauestens beobachten wollte. Arthur entkleidete sich in seinem Zimmer rasch und stellte in einem neuerlichen Verwirrungsanflug – er wähnte sich wieder im Hotel – seine Kleidung samt Pythonstiefeln zur Reinigung vor die Türe, bevor er, begleitet von einem Gefühl der tiefen Demütigung aufgrund der erzwungenen Medikamenteneinnahme, erneut in einen tiefen Schlaf verfiel.
2.
Abstecher nach Holland
KK betrachtete die imposanten und ihm um eine Nummer zu großen Reptilienstiefel an seinen Füßen. Die abgewetzten, weißen Tennissocken, die er darin trug wollten so gar nicht zu seinem neuen, edlen Outfit passen. Es war ein unübersehbarer Fund gewesen. Irgendein Depp hatte einen ordentlich gefalteten Berg Designerklamotten nebst diesen Unikaten von Schuhen vor der Zimmertüre in Johannes‘ Klapsmühle stehen lassen. Bei einer solchen Schicksalsfügung musste KK einfach ein- bzw. zugreifen. In der Pranalederjeans hatte KK zusätzlich zum ohnehin schon lukrativen Fund einen ordentlichen Geldbetrag geortet, genau € 480,25. Welcher Spinner lässt so viel Geld einfach herumliegen? Nach dem eher tristen Tag, er war auf der Beerdigung seiner geliebten Großmutter gewesen und hatte anschließend Johannes besucht und berichtet. Jetzt inspirierte die unerwartete Finanzspritze KKs Phantasie. Zurückkehren in die JVA, das konnte er im augenblicklich elaten Zustand einfach nicht. Spontan entschied er, nicht wie geplant zurück zur Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main IV, in der Oberen Kreuzäckerstraße 8, zu fahren. Ein Herzenswunsch gab ihm ein, spontan ans Meer zu fahren.
Folglich löste KK am Frankfurter Hauptbahnhof ein Zugticket nach Rotterdam. Den ICE um zehn nach acht würde er gerade noch erwischen. Im Anschlusszug ab Venlo döste er schläfrig und ließ den Tag Revue passieren: Die Trauerfeier für seine Großmutter war gut besucht gewesen, die Gemeinde Walldorf war zahlreich erschienen, um Alma Leberblum die letzte Ehre zu erweisen. KKs Oma war sehr beliebt gewesen in ihrem Städtchen. Jede Woche nahm sie rege an Badeausflügen in einen nahegelegenen Kurort mit einer Gruppe von Rentnern teil und hatte bestimmt ebenso oft Besuch von einer netten, wenn auch leicht schrulligen sehr heiteren Runde von Damen zum Kaffeekränzchen. Aber die wahre Leidenschaft der 82-jährigen, die noch immer fantastisch in Schuss war, war ihr Gärtchen in der Schlichterfeldanlage. Hier blühte sie wahrhaft auf und konnte auch stolz auf ihre strotzend prallen, saftigen Früchte sein. KK erinnerte sich lebhaft an die genüsslich verzehrten Tomaten und vor allem die prallen, süßen Himbeeren. Einmal hatte KK auch versucht, Oma Alma eine Marihuanapflanze unterzujubeln – das war bevor er mehr oder weniger professionell als Dealer in Aktion getreten war, wofür er im Moment auch übrigens einsaß. Diese hatte seine Großmutter, wie er vermutete, absichtlich eingehen lassen. Einfach nicht mitgegossen bzw. gedüngt. KK hatte seine Oma im Verdacht, doch ab und an mit den gängigen Düngern und Unkrautvernichtern nachzuhelfen. Ihr Obst und Gemüse waren einfach zu bildschön. Man durfte bezweifeln, ob es tatsächlich nur der Brennesselsud oder nicht gar doch chemische Düngemittel waren. Was würde jetzt aus dem schönen Garten werden? Sein Halbbruder Johannes hatte eher einen grünen Daumen. Die ersten Blüten, das erste Grün im Mai leuchteten schon. Doch Johannes befand sich im Moment in der Nervenklinik. Er hatte ihn nach dem Begräbnis aufgesucht.
Tja, Johannes. Das war der zweite Teil seines ereignisreichen Tages gewesen. KK war leicht genervt von Johannes‘ augenblicklicher Verfassung, empfindlich wie ein rohes Ei und immer auf Verdächtigungskurs. Wenn er nicht trank, war sein älterer Bruder einfach zu scheu und unbeholfen. Diesmal hatte er KK gebeten, ihm mit seinem neuen Medikament behilflich zu sein, Cordilacin, er hatte es ihm extra aufnotiert, wohlwissend, dass KK der eher vergessliche, schludrige Typ war. Johannes meinte, er habe einfach kein sicheres Gefühl bei dem Medikament. Zwar wirkte es sehr positiv auf seinen Geisteszustand – er fühlte sich energiegeladen, voller Tatendrang, und die meiste Zeit im Reinen mit sich selbst. Erstaunlich war, dass auch sein Suchtdruck abgenommen hatte und es ihm leichter fiel, abstinent zu bleiben. Aber, und hier vermutete KK einen eher psychotischen Gedankengang, sein Bruder hatte auf der Suche nach etwaigen Nebenwirkungen das neue Präparat nicht recherchieren können und verdächtigte die Klinikleitung unsauberer Geschäfte. Johannes verdächtigte immer alle für irgendwas. Eindeutig abgehoben, dachte sich KK. In einer freien Minute würde er sich dennoch ergebenst für seinen älteren Bruder einsetzen, schließlich hatte er nicht umsonst einige ominöse IT Semester absolviert. Er würde versuchen, die entsprechende Zulassungsstelle für neue Arzneimittel „anzuzapfen“, wie er seine Hackertätigkeit liebevoll nannte.