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Ein smarter Engländer, ein skandinavischer Kapitän, ein durchgeknallter Psychotiker, ein begnadeter Musiker und ein schweizer Banker erleben im Pazifik die Hölle auf See. In ihrer Segelyacht befinden sich zwei Tonnen erstklassiges Haschisch. Im australischen Fernsehen werden die fünf wie Superstars gefeiert. Inzwischen ist auf der thailändischen Insel Phuket ein Killerkommando angerollt. Die Zeit läuft ab.Die Story beruht auf wahren Begebenheiten
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Seitenzahl: 273
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Die Handlung beruht auf wahren Begebenheiten
AO SANE - Krimi
Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, war es auch nicht das Ende. (Indien)
für alle Ao Saneler
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Im Anflug auf den Amsterdamer Flughafen muss Brad an die Unglücksmaschine denken, die 1992 kurz nach dem Start abgestürzt ist und in einem riesigen Feuerball das jüngste Gericht über 200 Menschen abgehalten hat.
Das Flugzeug bekam die Nase nicht hoch und pflügte eine Schneise durch das Wohnviertel Bijlmermeer, bis es in einem großen Wohnhaus stecken blieb.
Die Menschen sind einfach verschwunden. Bei tausend Grad Hitze, die entstehen, wenn solche Mengen Kerosin verbrennen, verdampft menschliches Gewebe restlos. Brad wohnte damals in Bijlmermeer. Er hätte genau so gut dabei sein können bei denen, die es fort gewalzt hat. Ein paar Blocks von der Unglücksstelle entfernt wohnten seine Eltern. Um so mehr trafen ihn die Bilder in Deutschland, wo er sich zu der Zeit gerade aufhielt. Der plötzliche Tod so vieler Menschen. Er war erschüttert. Später erfuhr Brad, dass er einige der Opfer kannte, deren Bilder nun während der Landung schemenhaft vor seinem geistigen Auge auftauchen.
Der Herrgott hat mich damals verschont, aber er hat sein Lasso schon nach mir geworfen. Die Schlinge liegt bereits um meinen Hals,
Das ist Brad spätestens seit seinem letzten Arztbesuch klar geworden. Mit seiner HIV-Diagnose und dem Fortschreiten der Krankheit bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Zeit, die er gerne hätte, jetzt, wo alles so gut läuft. Wo es richtig brummt, und er über eine Million Euro im vergangenen Jahr verdient hat.
Härter als er sich das gedacht hatte, war es schon bis es dann endlich anfing richtig zu laufen. Das Risiko geschnappt zu werden erhöhte sich mit zunehmender Risikobereitschaft, doch manche Situationen kamen so unerwartet, dass er der Polizei nicht nur einmal mit knapper Not entkommen konnte.
Endlich hat er es geschafft! Seine erste Million ist verdient, es ist schnell verdientes Geld, „easy money“ - Drogengeld!
Keiner weiß besser als Brad, wie schnell solches Geld wieder verpulvert ist. „Easy come, easy go“, lautet die Formel. Wenn er nicht aufpasst, ist das schöne Geld bald wieder futsch. In diesem Geschäft gewöhnt man sich gerne an Luxus und teuren Lebensstil.
Doch Brad will aussteigen, raus aus diesem Business, kein Koks und kein Dope mehr schieben. Er will ein für alle Mal damit aufhören. Seit er weiß, wie krank er ist, will Brad ein neues Leben beginnen. Ohne Stress in Frieden leben, irgendwo auf einer Insel.
Sharira hat mit dem Fliegen wie immer Probleme. Keine direkte Flugangst, aber Nervosität und leichte Magenschmerzen. Es hilft ihr, wenn sie die Mittellehne hochklappt und sich fest an Brad anschmiegt. Beide beobachten durch das Fenster, wie die Maschine auf dem Rollfeld aufsetzt. Draußen ist es bereits dunkel geworden, es regnet. Für Mitte Dezember sind vierzehn Grad Außentemperatur, wie die Purserette gerade durch den Lautsprecher verkündet, jedoch zu warm, und Brad schießen Gedanken durch den Kopf von der Klimaveränderung bis zum Ansteigen der Meeresspiegel. Für einen Moment sieht er Holland bereits bedeckt von einer riesigen Wasserfläche, die sich allerdings nach Fokussierung seiner Augen und Rückkehr zur Realität als sein Spiegelbild auf der regennassen dunklen Fensterscheibe darstellt. Brad fällt seine sorgendurchfurchte Stirn auf, die Falten, die er immer hat, wenn er scharf nachdenkt oder sich fürchtet. Er mag diese Falten eigentlich gar nicht, obwohl sie sein Lausbubengesicht ideal ergänzen und ihm schon oft als interessanter Teil seines Erscheinungsbildes bestätigt wurden.
Neben seinem Spiegelbild in der Scheibe erscheint Shariras ebenmäßiges Gesicht schön und geheimnisvoll. Die dunkle Hautfarbe lässt nur die Konturen erkennen, und ihre großen, tiefgründigen Augen suchen Brads Blick, während die Maschine zum Stillstand kommt.
„Endlich, die Erde hat uns wieder!“ flüstert sie halblaut vor sich hin, als beide sich zurück in die Sitze fallen lassen und einen Moment verharren, bis sie aufstehen um sich zum Ausgang zu begeben.
Im Flughafengebäude sehen sie Morten. Er steht hinter der Passkontrolle in der Nähe des Ausgangs und bewegt sich in Zeitlupe auf der Stelle. Tai Chi ist sein neuester Kick, er trainiert, wann immer und wo immer er glaubt, dass es geht. Brad ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, wie viel Glück er hat an der Passkontrolle durchgewunken zu werden. Er hat keine Ahnung! Dafür schauen sich die Beamten Shariras Pass um so gründlicher an. Ihre Papiere sind aber völlig in Ordnung. Der Pass ist neu, und das Visum für Holland, das sie in Ghana, ihrem Heimatland, auf dem Konsulat erhalten hatte, war teuer genug, als dass es jetzt nichts wert sein sollte. Nein, da gab es nichts zu beanstanden.
Die Zollbeamten grüßen zurück und winken die beiden durch. Brad hat sich im Laufe seiner Karriere doch schon sehr elegante und professionelle Umgangsformen angewöhnt.
Morten seht da, steif wie ein Salzhering mit todernstem Gesicht. Irgendwann Anfang der Achtziger hat er sich eine Überdosis LSD eingefahren und leidet seither an einer Psychose, die ihm ein amtsärztliches Attest vom holländischen Gesundheitsamt eingebracht hat, welches seine Erwerbsunfähigkeit bescheinigt.
Neuerdings erhält er vom Staat eine monatliche Rente.
Im Moment als er Brad und Sharira sieht, rollt er mit den Augen wie die indische Kali und deutet mit einer großen Geste an, man solle sich am Ausgang treffen.
Die drei Freunde begrüßen sich herzlich, und Morten raunt dabei nasal, wie unsicher die Situation in Amsterdam während ihrer Abwesenheit für sie geworden ist und dass sie besser nicht in ihre Wohnung gehen sollten. Die Polizei wäre heute morgen schon da gewesen. Sie hätten die Nachbarn befragt.
„Die suchen dich, Brad! Die suchen dich! José haben sie gestern morgen an der Grenze nach Deutschland geschnappt. Sie müssen ihn schon eine ganze Zeit lang observiert haben. Das Verrückte ist nur, er hatte Bankquittungen von Schweizer Banken im Wagen, auf denen dein Name stand, und jetzt wollen sie dich, Brad!“
Dann bleibt er stehen und wiederholt: „Die suchen dich, die suchen dich!“ Jedes Mal wenn er den Satz wiederholt, dreht er den Kopf abwechselnd mal zu Brad, dann zu Sharira. Zu allem Überfluss exerziert er dabei Tai Chi-Übungen mit ausladenden Bewegungen im Zeitlupentempo. Er ist einfach durchgeknallt!
„Hör mal zu, Morten“, zischt Brad ihn an, „wenn du willst, dass sie uns gleich hier im Flughafen erwischen, mach nur so weiter, Du führst Dich ja auf wie ein Pausenclown, kannst du nicht wenigstens mit deinen blödsinnigen Bewegungen aufhören! Da müssen die Leute ja auf uns aufmerksam werden.“
„Blödsinnige Bewegungen? Hast Du blödsinnige Bewegungen gesagt? Das ist Tai Chi Mann, und damit stehe ich mit beiden Beinen fest auf der Erde!“, protestiert Morten und dreht beleidigt den Kopf zur Seite.
„Durch Tai Chi habe ich nicht nur einen festen Stand, sondern an meinen Füßen wachsen Eisenstäbe. Da wirft mich nichts um, mein Freund!“
„Klar Morten, ist doch klar, aber bitte nicht hier und jetzt. Wir müssen zunächst erst mal irgendwo untertauchen und überlegen, was wir machen werden, verstehst du, Morten?“
Da schaut Morten Brad mit seinem für ihn so typischen Blick an. Seine Augen blicken dann durch sein Gegenüber, als läse er im Hintergrund von einem imaginären Teleprompter ab. Ein Gesichtsausdruck, den man in diesem Moment als entrückt bezeichnen könnte. Wenn Morten so guckt, weiß Brad, dass es in ihm arbeitet. Das Acid in seinem Kopf bewegt etwas, und er kommt entweder auf den Teppich zurück, oder aber er rastet total aus. Brad hält die Luft an.
Doch Morten bleibt ruhig. Seit er die Pillen gegen seine Wahnvorstellungen nimmt, kommt er mit Stresssituationen viel besser klar. Ganz ruhig sagt er:
„Hier kannst du nicht bleiben. Du musst Holland so schnell wie möglich wieder verlassen! Wir fahren erst einmal zu Jost nach Lemmer! Ich habe ihn schon angerufen.“
Jost hat ein kleines Tonstudio in der Altstadt von Lemmer. Dessen Auftragslage ist eher bescheiden. Sein Geld verdient er mit der Beschallung des kulturellen Sommerprogramms der Gemeinde Lemmer und ähnlichen Veranstaltungen in der Umgebung. Besonders in der Saison, wenn es am Ijsselmeer von Seglern und Touristen wimmelt, finden häufig Karaokewettbewerbe und Technopartys statt. Ab und zu spielt auch mal eine bekanntere Rockband. Das ist für Jost immer ein besonderes Ereignis, weil er dann ganz in seinem Element als gelernter Toningenieur zeigen kann, was er drauf hat, indem er den Bands einen perfekten Sound mixt.
Jost, Morten und Brad kannten sich schon als Kinder. Sie kommen alle aus Bijlmermeer. Nach der Schule haben sich ihre Wege getrennt, aber sie haben sich nie ganz aus den Augen verloren. Im Gegenteil, heute sind sie die besten Freunde.
Jost ist charakterlich integer, zuverlässig, immer positiv denkend und für viele seiner Freunde eine Anlaufstelle, wenn es um Seelenmassage oder alle möglichen Probleme geht. Es heißt, Jost weiß immer einen Rat.
„Wo habt ihr Sharira gelassen?“, fragt Jost die beiden bei der Begrüßung.
„Es gibt Probleme!“, antwortet Brad. „Sie ist in Amsterdam geblieben.“
„Was für Probleme? Komm lass uns ins Studio gehen, da sind wir ungestört und können über alles reden.“
„Gute Idee“, meint Morten, der schon wieder sein Tai Chi-Training aufgenommen hat.
Das Studio liegt im Souterrain, und Jost legte beim Bau Wert darauf, ein Fenster in der Regie bauen zu lassen, durch das Tageslicht scheint. Dadurch entsteht nicht diese Untertagestimmung wie in vielen abgeschotteten Studios.
Jost legt das Vierundzwanzig-Spur-Tonband seiner letzten Produktion mit Max, einem holländischen Songwriter, auf die Lyrec. Die Musik erschallt, während Brad einen Joint bastelt.
Stolz weist Jost die Freunde darauf hin, er verfüge neben digitalen Aufnahmemöglichkeiten auch über eine analoge Bandmaschine. Damit bekäme er einen warmen Sound wie die alten Rockbands, was die heutigen Bands sehr zu schätzen wissen.
„Pass auf Jost, die Sache ist die! Dass sie José geschnappt haben, hat Morten dir ja schon mitgeteilt. Leider sind sie über irgendwelche Kontoauszüge auch auf mich gekommen. Ich muss raus aus Holland. Ich werde gesucht, verstehst du? Eventuell ist es nur eine Frage von Stunden, dann wird es ganz schwer hier raus zu kommen, einen sicheren Ort zu finden“, legt Brad los.
„Es muss also schnell gehen, und ich weiß auch schon, wohin ich will, nach Thailand. Seit ich HIV-positiv bin, will ich dahin. Keine Geschäfte mehr, keine Angst, nur noch die Zeit, die mir bleibt, in Ruhe und Frieden verbringen, das möchte ich gern!“
„Du hast AIDS, das wusste ich bisher noch gar nicht!“, unterbricht Jost und sieht Brad sorgenvoll an.
„Dann behalte das auch bitte für dich!“, ermahnt ihn Brad.
„Ja, behalte das bitte für dich“, wiederholt Morten, der sich im Takt der Musik seinem Tai Chi hingegeben hat.
„Weißt du Jost, es ist nicht nur, dass ich positiv bin, ich habe einen Pilz im Blut“, fährt Brad fort. „Das bedeutet, die Krankheit ist ausgebrochen. Kein Arzt kann mir da helfen. Die kriegen das einfach nicht mehr aus meinem Körper. Ich war schon bei so vielen Ärzten. Nix! Manchmal habe ich starke Schmerzen, weil der Pilz sich in den Blutgefäßen absetzt, wo er sich vermehrt. Dann klopfe ich mit den Fäusten auf die schmerzenden Stellen, boxe mich quasi selbst. Ich weiß nicht, ob das medizinisch richtig ist, aber es verschafft mir Linderung.“
„Hast Du denn immer Schmerzen?“, fragt Jost.
„Nein, es kommt in Schüben. Gott sei Dank gibt es auch Zeiten, in denen ich schmerzfrei bin. Aber Jost, ich fühle, dass mir nicht mehr allzu viel Zeit bleibt. Ich muss so oft an den Tod denken. Mehrmals am Tag taucht er in meinen Gedanken auf. Das macht mir Angst! In der warmen Sonne in Thailand wird es mir sicher besser gehen. Da soll es einen kleinen Beach geben, wo die Leute wie im Paradies leben. Jan hat mir davon erzählt. Der fliegt schon seit Jahren dort hin.“
„Wie im Paradies“, äfft Morten. „Da kannst du dir schon mal einen kleinen Vorgeschmack holen, he he.“
„Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich glatt behaupten, du bist ’n Riesenarschloch“, gibt ihm Brad zurück.
„Offensichtlich hast du deinen Humor nicht verloren, seit sie dir deine Unzurechnungsfähigkeit bescheinigt haben“, fügt Jost hinzu. Die drei schauen sich mit leicht geröteten Augen an und platzen los mit nahezu hysterischem Gelächter.
„Wenn das so ist, müssen wir sehen, wie wir dich schnellstens nach Thailand kriegen. Von Holland aus kannst du nicht fliegen“, beendet Jost die Lachsalve.
„Aber warte mal! Am sichersten wäre es wahrscheinlich von Zürich aus. Na klar! Tim ist zur Zeit noch in Amsterdam. Er wollte aber heute nacht in die Schweiz fahren. Zwanzig Kilo Marokko sollen nach Zürich.“
„Das wäre ja super“, meint Brad erfreut, „ruf ihn an und frage ihn, ob er mich mitnehmen kann“.
Brad ruft sofort bei seiner Schweizer Bank an um zu melden kurzfristig einen größeren Betrag abheben zu wollen
In drei Minuten hat Jost Tim telefonisch darüber informiert, was zu tun ist, und am Abend sitzen Tim und Brad gemeinsam im präparierten Benz mit 20 Kilo erstklassigem marokkanischen Haschisch im Tank auf dem Weg nach Zürich.
Morten will wieder zurück nach Amsterdam, will sehen, was mit Sharira ist. Sie wäre so gerne mit Brad nach Thailand gegangen, doch der Umstände wegen meinte Brad sie solle später nachkommen.
Tim nutzt den Weg über Belgien und Frankreich in die Schweiz. An den Grenzen läuft alles reibungslos. Sie werden nicht einmal angehalten.
In Zürich angekommen, lässt sich Brad vor seiner Schweizer Bank absetzen. Er hebt einen Betrag von achthunderttausend Dollar ab. Das Geld wird ihm anstandslos ausgehändigt. Er weiß, dass ihm eigentlich nur noch die Hälfte davon gehört. Die anderen vierhunderttausend müsste er an seine marokkanische Connection bezahlt haben. Es handelt sich um die Restschuld seiner letzten Lieferung für Deutschland. Doch er hat es noch nicht bezahlt! Die Typen von der Connection sind auf ihre Art ziemlich smart, aber sie sind auch nicht zimperlich, wenn es ums Eintreiben von Außenständen geht. Eigentlich will er sich das Geld ja auch nur ein bisschen ausleihen, irgendwann wird er es irgendwie schon wieder zurückbezahlen, denkt er, obwohl er eigentlich Realist ist.
Tim fährt den Wagen in eine Garage. Der Benz bleibt zum Entladen dort, und Tim steigt in seinen privaten BMW um. Er fährt zur Bank und trifft Brad mit dem Geld. Sie gehen gemeinsam in ein großes Reisebüro, kaufen ein Erster Klasse Oneway-Ticket für die nächste Maschine nach Thailand, und Brad kann mit der Swiss Air um neunzehn Uhr zehn nach Bangkok fliegen.
Es bleibt ihm gerade noch genug Zeit, einen ihm bekannten ansässigen „amerikanischen Makler“ gegen ein stattliches Honorar zu beauftragen einen Großteil des vielen Geldes an eine Bank in Thailand zu überweisen.
Als er endlich alleine im Flieger sitzt, weiß Brad, dass nun der letzte Abschnitt seines Lebens begonnen hat und er keinen Rückflug mehr benötigen wird.
J an trinkt seinen Tee aus und versucht zu schlafen. Es ist kurz nach zwei. Draußen ist stockfinstere Nacht. Neumond!
Vierzehn Tage ist seine thailändische Freundin Sai Chai nun schon fort um finanzielle Angelegenheiten mit ihrem Exmann zu regeln. Er wälzt sich von einer Seite auf die andere, steht auf, geht pinkeln und legt sich wieder hin. Kaum hat er die Augen zu, fängt er wild an zu träumen. Vor ihm taucht ein Lemur auf, dem ein Auge ausgerissen wurde, es fliegt eine Eule mit dem Auge davon. Der einäugige Lemur hangelt sich durch Dampfschwaden an Hausfassaden entlang, große Häuser, könnte Bangkok sein. Vom TukTuk aus, in dem Jan sitzt und die Silom Road herunter rast, sieht er, wie der Lemur sich an die verdrehten Elektromasten klammert, ihm zuwinkt. Jan bittet den Fahrer nicht so zu rasen, doch der denkt nicht dran, sondern dreht sich während der Fahrt zu ihm herum und sagt grinsend:
„Wir müssen ihn doch kriegen!“
Jan ist erschüttert vom Anblick der Gestalt des Fahrers. Böse, dem Grinsen nach könnte er der Teufel persönlich sein. Seine Augen liegen in zwei blutrot leuchtenden Höhlen, wie zwei glühende Kohlen mit verhältnismäßig großen fleischigen Lidern und buschigen Wimpern, in denen sich blutsaugende Insekten tummeln. Um die gruseligen Augäpfel rotieren zwei bläuliche Feuerringe. Winzige halbnackte Frauen drängeln sich auf den Lidern wie an einem Abgrund. Es gibt nicht genügend Platz für alle, zumal ständig neue dazukommen. Wenn sie sich nicht mehr halten können, fallen sie herunter. Dann sieht es aus, als weine er kleine Frauen. Sie stürzen herab und zerplatzen wie Tränen auf dem Boden des TukTuks. Ihre leisen Schreie, die sie dabei ausstoßen, hört keiner. Man sieht nur ihre kleinen Münder zum Schrei weit aufgerissen und ihre Hälse anschwellen. Im diffusen Licht am Boden ist eine große Pfütze aus Tränen.
Der TukTuk-Fahrer schreit ihn an, er solle nach oben gucken und den Lemuren nicht aus den Augen lassen, sonst laufe er Gefahr Opfer zu werden.
Was für ein Opfer? Seines vielleicht? Als Jan seinen Blick hebt, sieht er den Lemuren, mittlerweile wesentlich an Umfang zugenommen, mit gewaltigen Sprüngen davon eilen. Mit Vollgas nimmt der Fahrer die Verfolgung auf - wie ein Besessener. Er jagt ihn gnadenlos durch ein Gewirr von Kabeln und Telefonmasten.
Eine lange Blutspur weist ihm den Weg. Sie erreichen das verletzte Tier. In diesem Moment erhebt sich der Lemur. Der Fahrer gibt Gas, doch das Tuk Tuk beschleunigt nicht mehr, es bremst sogar ab und kommt direkt vor dem Lemuren, der nun nicht mehr blutet, zum Stehen. Der Lemur dreht seinen Kopf Jan zu, wobei er mit der Hand durch die Höhle seines verlorenen Auges fährt, direkt in den Kopf, während er dabei ins TukTuk klettert und sich Jan gegenüber setzt. Bewegungslos starrt der Fahrer nach vorne, versteinert, bis er sich eine grüne Flasche aus der vorderen Ablage greift und den Kronkorken mit den Eckzähnen vom Flaschenhals hebelt. Das dabei entstehende Geräusch lässt Jan erschaudern.
Er kennt dieses Geräusch, doch in diesem Zusammenhang klingt es falsch, wie ein Betrug - erschreckend fremd. Schockiert sieht Jan die Hand des Lemuren, die etwas hält, etwas, das aussieht wie ein kleiner Mensch, und den er ihm nun in den Schoß legt. Jan wird es hundeelend. Er erkennt sich selbst. Jan ist dieser kleine Mensch!
„Komm näher, sieh in mein Herz!“, fordert der Lemur ihn auf, Dabei spricht er mit Sai Chais Stimme. Jan folgt ihm und beugt sich weit nach vorne um tief hinein sehen zu können. Und er sieht wieder einen kleinen Menschen, allerdings kann er ihn nicht erkennen. Als er nach ihm greifen will, löst er sich auf, schmilzt wie Eis, mit ihm der Lemur. Die abtropfende Flüssigkeit vermischt sich mit der Tränenpfütze auf dem Boden. Jan hört Rufe, die schwach aus dem Munde des schmelzenden Lemuren an sein Ohr dringen.
„Jan! Jaaaan!“
Jan sieht gerade noch die zerfließenden Formen, bevor sich alles verwandelt, und die ganze Szene anfängt sich zu drehen. Ein Karussell der Bilder. Ein Rummelplatz der Gefühle. Eine Arena, in der sich Herz und Kopf gegenüberstehen. Eine schauerliche Elegie wimmert aus dem aufgerissenen Maul des Fahrers. Aus seinen Augenhöhlen purzeln die winzigen Frauen dutzendweise und zerplatzen in der immer größer werdenden Tränenpfütze. Jan glaubt zu ertrinken, doch dann fühlt er, wie helfende Hände ihn halten. Er spürt deutlich, wie er gestreichelt wird, jemand seinen Namen ruft.
Er schlägt die Augen auf. Da sitzt tatsächlich Sai Chai an seinem Bett. Sie hat die eine Hand hinter seinen Nacken gelegt, mit der anderen wischt sie ihm mit einem Tuch den Schweiß vom Oberkörper.
„Du hast geträumt, Liebling. Ich versuch schon eine ganze Weile dich wach zu bekommen.“
„Sai Chai! Ich bin so froh, dass Du da bist!“ Jan sieht sie an, und sein Herz bewegt sich wie ein Erdrutsch. Es hämmert in seinem noch schlafenden Körper, als rausche ein Gebirgsbach hindurch. Lebensfreude fließt - mit jeder Sekunde, die er sie anschaut, mehr. Die Traurigkeit, die Blutleere weichen lebendiger Wärme, und seine Müdigkeit verfliegt wie verbrauchte Luft, wenn man das Fenster öffnet.
„Wann bist du gekommen?“, fragt Jan noch leicht benommen von seinem wirren Traum.
„Gerade eben, vor fünf Minuten vielleicht.“ Sie krabbelt zu Jan ins Bett und fängt an ihn zu küssen und sich die Kleider vom Leib zu ziehen. Sie reißt sie sich förmlich herunter und feuert sie durch die Hütte. Jan hilft ihr dabei. Beide sind so hungrig aufeinander, sie mussten so lange aufeinander verzichten, dass ihnen keine Zeit bleibt für viele Worte außer denen, die ihrer momentanen Lust dienen. Mit den Lippen fest aneinander gesaugt rollen sie katzengleich von einer Seite des Bettes zur anderen. Der Puls der Leidenschaft gibt ihnen einen scharfen Rhythmus vor, und Jan durchflutet eine Woge des unmittelbaren Glücks, als er eindringt. Die Intervalle der kleinen spitzen Lustschreie Sai Chais zwischen den Stößen werden zum Metrum ihrer hemmungslosen Hingabe. Sie beißt Jan in die Brust, zuerst sanft, dann immer fester. Jan klatscht ihr mit der flachen Hand auf die Pobacken, als forderten sie sich gegenseitig auf einander weh zu tun. Ungewohnt, aber elektrisierend spürt er ihren beherzten Biss an seinem Hals. Die Stelle rötet sich sofort. Geschmeidig windet Sai Chai sich aus seiner Umarmung und leckt sich die Lippen, bevor sie wieder an ihn heranrollt und die rote Stelle an seinem Hals küsst. Fasziniert von ihrer sinnlichen Agressivität legt Jan seine Hände um Sai Chais schlanken Hals und streichelt mit dem Daumen ganz leicht ihre Kehle. Sai Chai fixiert ihn mit weit aufgerissenen Augen, während ihre Hand nach seinem pulsierenden Glied sucht und dort ebenfalls leichten Druck ausübt. Bebend zieht er ihren Kopf dicht vor sein Gesicht. Er spitzt seinen Mund küsst sie auf die Nasenspitze, und sie haucht mit geschlossenen Augen:
“Töte mich!“
Dabei fährt sie mit der Zungenspitze über die Unterkante ihrer oberen Schneidezähne, den Mund halb geöffnet. Jan sieht, wie die Lust ihr Gesicht immer schöner und wilder zeichnet und der sich anbahnende Orgasmus ihr Inneres nach außen kehrt. Es vergehen Minuten bevor sie die Augen öffnet und lächelt. Ihre Körper sind nun verschlungen und verharren lange Zeit in ruhiger Position. Sie sprechen nicht mehr, sie zittern, doch ihrer beider Verlangen lässt sie schon bald erneut hineintauchen in das geliebte Fleisch, in die Zone der immer heftiger werdenden Auflösung, in die Zone, in der zwischen Leben und Tod nur eine diffuse Grenze bleibt. Dort sind sie der Welt entrückt, bis sie nach Stunden glücklich und erschöpft einschlafen.
Sie schlafen bis zum Mittag, bis die Sonne fast im Zenit steht, dann treibt sie mächtiger Appetit aus dem Bett. Wie immer frühstücken sie auf der Terrasse ihres Bungalows.
Es soll ihr letztes gemeinsames Frühstück werden, aber das wissen sie noch nicht.
Erst beim Frühstücken sprechen sie über Sai Chais Reise und was dabei heraus gekommen ist.
„Er war mit mir bei der Bank, mein geschiedener Mann. Ich habe alles abgehoben und hab’s auf mein Konto eingezahlt. Es hat mich viel Kraft und Überredungskunst gekostet ihn zu überzeugen mir das Konto freizugeben.“
„Aber es ist ja schließlich dein Geld, das er da versucht hat zu blockieren, dein lieber Exmann!“, entrüstet sich Jan.
„Du hast recht, aber du kennst ihn nicht. Er ist ein Mensch, der gerne alles und jeden kontrolliert. Ein totaler Macho. Ich frage mich, wie ich so ein Arschloch jemals heiraten konnte.“
„Es ist vorbei“, beruhigt sie Jan. „Du bist diesen Kerl los und hast dein Geld bekommen. Jetzt wird doch alles gut!“
„Ja, vielleicht wird alles gut.“ Sai Chai steht auf, sie geht ein paar Schritte, setzt sich wieder und stellt eine Frage, die sie Jan schon oft gestellt hat, und vor der Jan sich fürchtet:
„Willst du mich heiraten?“
Jan zuckt unmerklich mit den Schultern, er ist immer ausgewichen und ihr die Antwort schuldig geblieben. Auch heute antwortet er nicht. Am liebsten würde er jetzt einfach ja sagen und alles wäre gut. Vielleicht? Doch er bringt es nicht über die Lippen. Er flüchtet diesmal auch nicht in ein Später, weil er fühlt, dass sie darauf nicht mehr eingeht. Seine Zweifel lassen ihn schweigen – ratlos schaut er in ihre Augen. Sai Chai lächelt fast mitleidsvoll, bis er die Augen senkt, weil er der Überlegenheit ihres Lächelns nicht standhalten kann. Sein Blick wandert über den Esstisch, sucht hektisch nach Halt, einer Antwort, als ob sie irgendwo auf dem Tisch versteckt wäre. Aber außer einem angebissenen Toast, Obstschalen und ein paar abgegessenen Tellern befindet sich dort nichts.
Sai Chai rutscht der Boden unter den Füßen, die Knie werden weich, aber sie lässt sich nichts anmerken. Jan schweigt. Sai Chai ist nach anderem zumute als jetzt zu lächeln, doch sie tut es, denn das machen Thais eben, in besonders traurigen Situationen lächeln sie. Es ist ein anderes Lächeln, in dem sich Verzweiflung widerspiegelt.
Dennoch fragt Sai Chai Jan heute zum letzten Mal. Sie erhält wieder keine Antwort. Sie hat so sehr darauf gehofft. Sie hat es sich so sehr gewünscht.
Als Sai Chai den Kopf dreht, sich im Aufstehen von Jan abwendet, will sie ihn nicht die Tränen sehen lassen. Mit drei großen Schritten ist sie im Bungalow und schließt die Tür. Jan hört sie weinen, doch er kann sie nicht trösten. Er ist der Grund, warum sie weint. Ein schreckliches Gefühl überkommt ihn. Er fühlt sich schuldig. - Aber schuldig wofür? Er hat ihr nie die Ehe versprochen, sie nie angelogen, ihr nie etwas vorgemacht. Nicht nur Entsetzen über den Verlauf der letzten zwanzig Minuten quält ihn, er hört deutlich die Glocken, die im Sturm das Ende ihrer Beziehung einläuten, und er kommt sich auch noch vor wie ein Idiot. Ein egoistischer, verantwortungsloser Idiot. Vielleicht ist er das ja auch wirklich. Nun sind sie genau da angelangt, wovor sich beide gefürchtet haben. Bis zum letzten Moment haben sie gehofft, es käme nicht soweit, aber es passiert gerade. Trotzdem irgend wie unbegreiflich. Sai Chai hat viel mehr an die Liebe geglaubt als Jan, der aufgrund seiner Zweifel das Ende in dieser Form mit heraufbeschworen hat. Im Prinzip wusste Jan von Anfang an, er heiratet Sai Chai nicht. So bald auf jeden Fall nicht. Doch diesen Gedanken hat Jan so weit unten getragen, ihn so versteckt, dass er ihn selbst kaum noch wahrnehmen konnte. Inso fern trifft ihn schon eine gewisse Schuld. Man kann auch lügen, indem man nichts sagt.
In diesem Moment geht die Tür auf, und Sai Chai tritt mit ihrer gepackten Reisetasche auf die Veranda. Sie hat aufgehört zu weinen, aber ihr sonst so hübsches Gesicht trägt die Spuren von Enttäuschung. Ihre Augen zeigen Trauer wie beim Verlust eines geliebten Menschen, der einfach gestorben ist.
Als Jan sie so dastehen sieht, schießen ihm Tränen in die Augen. Tränen, die er sich gar nicht erst bemüht zu verbergen, weil Tränen im Moment das Ehrlichste sind, was er von sich geben kann.
Mit knappen Worten erklärt Sai Chai, dass sie nun gehen wird, und dass Jan nicht auf sie warten soll. Auf Jans Frage, wohin sie denn will, antwortet sie:
„Die Tasche kannst du mir gerne tragen und mich mit deinem Motorrad bis zum Nai Harn fahren. Dort nehme ich das Pick-Up und bin in einer Stunde am Busbahnhof.“
Sai Chai macht einen sauberen Schnitt. Was gibt es da auch noch zu erklären. Beide sind sehr unglücklich über das Ende ihrer gemeinsamen Geschichte, viel Worte brauchen sie nicht. Sie haben sich von Herzen geliebt, sie tun es noch, und sie werden noch lange unter ihrer Trennung leiden. Darin sind sie sich unausgesprochen einig.
Jan läuft schweigend einen halben Meter hinter Sai Chai her, bis sie sein Motorrad erreichen.
Bevor sie aufsteigen, drückt Sai Chai sich ganz fest an Jan und sagt ihm: „Ich weiß, dass du mich liebst.“
Dann steigt sie aufs Motorrad. Jan ist sprachlos, sieht sie an, wie sie abfahrbereit auf dem Sozius wartet. Er steigt dazu und fährt schweigend los. Sie reden kein Wort, während sie langsam zum Nai Harn Beach fahren.
Das Pick Up war gerade losgefahren, als sie an der Haltestelle ankommen. Jan fährt ihm ein Stück hinterher, und Sai Chai winkt dem Fahrer, der auch sofort anhält um sie noch mitzunehmen. Sie springt mit einem Satz auf die Plattform und findet auf dem Bänkchen noch einen Sitzplatz zwischen einem alten Mütterchen mit vielen Körben und Taschen und ein paar Jugendlichen in Schuluniformen, die sich über Jan amüsieren, wie er mit verheulten Augen Sai Chai die Tasche hinterher trägt. Sobald Sai Chai sitzt, fährt der Fahrer schon wieder los. Langsam, denn obwohl der Wagen voll ist, könnte ja doch noch ein Mitfahrer auftauchen, vielleicht auf dem Trittbrett. Jan läuft ein Stück nebenher und hält Sai Chais Hand.
„Leb wohl Jan“, sagt sie leise zu ihm.
Die Schulkinder feixen, und Jan kommt es vor, als rutsche ihm der Boden unter den Füßen weg, mit gepresster Stimme sagt er zu ihr: „Ich werde dich auf der ganzen Welt suchen!“
„Aber du wirst mich nicht finden!“, gibt sie ihm zurück und schenkt ihm noch ein letztes Mal ihr schönstes Lächeln, bevor der Fahrer beschleunigt und das unglückliche Liebespaar endgültig getrennt wird. Jan bleibt stehen und winkt. Sai Chai streckt ihren Kopf seitlich aus dem Gefährt. Ihr Lächeln hat sie noch im Gesicht, doch es schwindet mit der immer größer werdenden Entfernung. Das letzte Bild von ihr brennt sich in Jans Gedächtnis ein, und er weiß, wenn er später an Sai Chai denkt, wird sie immer dieses Lächeln tragen, das ihn einmal so verzaubert hat.
Der Nebel in Amsterdam hat sich aufgelöst. Man kann wieder etwas erkennen. Trotzdem bleibt es nasskalt und der ultrafeine Nieselregen kriecht durch alle Klamotten in den Körper hinein, erzeugt ein widerliches Gefühl. Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit und vor allem den brennenden Wunsch diesen so unwirtlichen Breiten schnellstens zu entfliehen.
Morten, der sein Fahrrad wegen des dichten Nebels schieben musste, steigt wieder auf und radelt mit eingezogenem Hals die große Gracht hinunter bis zum Rembrandt-Damm.
Es ist gegen vier Uhr nachmittags, und durch die hereinbrechende Dämmerung schimmert das Licht aus Shariras Fenster vom zweiten Stock auf die nasse Strasse, fast unwirklich, geisterhaft. So als wäre da noch etwas anderes Unheimliches zwischen Morten und dem Küchenfenster.
Auf jeden Fall scheint sie da zu sein.
Morten eilt die Treppe hoch, klingelt zweimal kurz, einmal lang. Nichts! Noch einmal zweimal kurz, einmal lang. Wieder nichts! Er hält sein Ohr an die Tür, weil er glaubt Geräusche aus der Wohnung zu hören. Tatsächlich, es klingt wie ein Schurren, als ob einer etwas über den Fußboden zerrt. Ja, jetzt hört er es ganz deutlich. Jemand schleift etwas über den Boden und stöhnt dabei, Morten hält den Atem an und versucht durch das Schlüsselloch etwas zu erkennen, doch da gibt es nicht viel zu sehen. Aber es kommt näher. Das Geräusch wird lauter. Eine böse Ahnung steigt in ihm auf. Er presst sein Auge förmlich in das Schlüsselloch hinein. Sein ganzer Körper bebt und seine zitternden Hände drücken so fest gegen die Tür, als wollte er einfach hindurchbrechen. Da schiebt sich eine Hand in den winzigen Ausschnitt des Flurbodens, den er durch das Schlüsselloch erspähen kann. Ein Kopf folgt, begleitet von erbärmlichem Stöhnen und Jammern. Shariras Kopf, und trotz der miserablen Sicht kann Morten deutlich die Blutspur erkennen, die er hinterlässt.
„Sharira, Du bist verletzt? Was ist passiert? Mach auf, Sharira! Ich bin es – Morten! Mach doch bitte die Tür auf!”
In seiner Erregung hämmert Morten mit den Fäusten gegen die Wohnungstür, doch es rührt sich nichts. Er hält wieder die Luft an und horcht angestrengt in die Wohnung hinein. Stille, nichts, kein Stöhnen, kein Laut, kein Ton. Sharira rührt sich nicht. Sie liegt vor der Wohnungstür und reagiert nicht mehr. Sie stirbt?
Morten ist außer sich. In seinen vor Aufregung wirren Gedanken tauchen plötzlich Bilder aus seiner Kindheit auf. Flashbacks, die Erlebtes wiedergeben wie aus einer Filmkonserve. Das rutschige Ufer im regennassen Schilf. Er langt nach der kleinen Hand, die wie eine nackte Spiere aus dem grünlichen Wasser herausragt, kann sie aber nicht erreichen. Er sieht den Kopf eines Kindes, das noch einmal auftaucht, sich zu ihm drehend im Wasser die Arme hochreißt und dann ruflos mit aufgerissenen, ihn völlig entgeistert anstarrenden Augen und offenem Mund versinkt. Wie vom Donner gerührt steht er am Ufer und starrt auf die Stelle, wo eben sein bester Freund untergegangen ist. Ein Schrei explodiert in seiner Kehle: „Brad!”, und er springt - springt in das grüne Ijsselmeer um seinen Freund zu retten - oder mit ihm unterzugehen.
„Sharira!”, er rennt los. Drei Schritte Anlauf und dann mit der vollen Wucht seines beschleunigten Körpers gegen die Tür, die mit einem lauten Schlag aus der Füllung kracht und sich in zwei Hälften über den Flur verteilt. Die eine Hälfte landet auf dem bewegungslosen Körper von Sharira und die andere noch mit einer Angel im Rahmen steckend, streckt sich schräg nach oben wie das mahnende Pendant zu Ground Zero.
Im Treppenhaus des obersten Stockwerks gehen die Lichter an. Eine der Stimme nach zu urteilen ältere Dame ruft ängstlich: „Hallo! Ist da jemand?”