Ausgelöscht - Daniel Spieker - E-Book

Ausgelöscht E-Book

Daniel Spieker

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Beschreibung

»Wer seid ihr?«, fragte ich zögerlich, doch die Gestalten antworteten nicht. »Wer oder was seid ihr?«, fragte ich noch einmal, doch wieder gab es keine Antwort. Ich zitterte, nahm allen Mut zusammen und trat näher. Ausgelöscht ist ein surrealer Horrorroman, der klassische Elemente mit neuen Ideen verbindet. In einem schnellen, beschreibungsarmen Stil stürzt ein Familiendrama in ein vernichtendes Chaos. Nachdem der Familienvater Martin seinen Job verloren hat, zieht er mit seiner Frau und seiner Tochter aus Geldnot in ein Haus weit draußen. Das Gefühl, die ganze Zeit zu versagen, durchzieht schnell den gesamten Alltag. Als seine Tochter beginnt, mit sich selbst zu sprechen, wird alles nur noch schlimmer.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ausgelöscht

AusgelöschtVoranmerkungen0123DanksagungCovergestaltungAutorAnmerkungen zur zweiten (Print-)AuflageImpressum

Ausgelöscht

Daniel Spieker

Voranmerkungen

Covergestaltung: Kjartan A.

Autor: Daniel Spieker

An dieser Stelle möchte ich vorwarnen, dass Passagen in diesem Buch für einige Personen verstörend sein könnten.

0

»Warum hast du versucht dich umzubringen?«

Keine Regung in ihrem Gesicht. Ich starre sie nur an.

1

Marie schürzte die Lippen. Nur für einen Augenblick, aber ich bemerkte es.

Es gefiel ihr nicht. Sie war nicht zufrieden.

»Wir werden uns sicher daran gewöhnen«, sagte ich.

»Es ist schön«, sagte sie tonlos.

Lisa hingegen schien regen Gefallen an dem Haus zu haben. Sie flitzte über die knapp 80 Quadratmeter. Genauso sorglos wie in der alten Wohnung.

Ein Bad, ein Wohn- und Esszimmer, in dem auch die Küche stand, ein Zimmer für Lisa und das Schlafzimmer von Marie und mir. Dann noch ein winziger Dachboden, auf dem wir Umzugsverpackungen lagerten. Damit war das Häuschen komplett.

Für viele Kleinfamilien wäre es sicher mehr als ausreichend, aber wir hatten bis vor Kurzem in einer fast doppelt so großen Wohnung gelebt.

»Es ist schön«, sagte sie noch einmal, während sie über den Elektroherd strich.

Die Wohnung war nicht perfekt, nicht einmal annähernd, aber immer noch das Beste, was wir uns leisten konnten.

Vor drei Monaten hatte ich meine Arbeit als Skriptschreiber am Sender verloren.

Ich hatte gerade meinem Freund Bastian von einer neuen Idee erzählt, als er mich zur Seite nahm und mir im Vertrauen sagte, dass ich meine Arbeit bald verlieren würde. Natürlich glaubte ich ihm nicht, dachte er hätte einen miesen Scherz gemacht, aber keine Woche später wurde ich ins Büro des Chefs bestellt. Er erzählte viel von schweren Zeiten, lobte mich für meine gute Arbeit, aber es half alles nichts. Ich bekam eine Empfehlung, aber die hatte keinen Wert. Der Job war hart; es gab hunderte Leute, die ihn genauso gut machen konnten und ich kam nirgendwo unter.

Ich hatte schließlich einfach das nächste Stellenangebot angenommen, das ich bekam. Über Kontakte hatte ich eine anständig bezahlte Stelle als Nachtportier auf einem Firmengelände organisiert. Das Gehalt kam natürlich nicht an mein früheres heran, aber es war immer noch besser als arbeitslos zu sein.

Trotzdem fühlte ich mich nutzlos. Ich wusste, dass Marie nicht glücklich war. Sie hatte die alte Wohnung geliebt. Wir hatten sie beide zusammen ausgesucht, als ich gerade den Job beim Fernsehen angenommen hatte und viele Erinnerungen hingen daran.

Leider war es unmöglich, sie zu halten. Sie war groß und keine zehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt; unbezahlbar mit einem mittelmäßigen Job.

Wir waren jetzt in eine knapp zwei Stunden entfernte Gegend gezogen. Hier reihte sich Dorf an Dorf und es gab genügend Angebote. Und das hier war aus all den Angeboten das beste gewesen. Eine Einbauküche, genug Zimmer. Für die Preisvorstellung war es quasi unmöglich, irgendetwas in der Art zu finden.

»Ich schau mir die Gegend an«, murmelte Marie und griff mit ihren lackierten Fingernägeln nach der Handtasche auf dem Küchentresen.

Ich wusste, dass sie rauchen ging. Sie hatte, kurz nachdem ich meine Arbeit verloren hatte, wieder angefangen. Sie versuchte, es zu verstecken, aber nach so vielen Jahren bleibt einem nichts verborgen. Ich ließ mir nichts anmerken. Ich wollte mich nicht mit ihr streiten.

Ich ging zu Lisa, welche im Raum am Ende des Flurs stand und dort aus dem Fenster starrte.

»Siehst du dir die Klippe an?«, fragte ich.

Von hier aus hatte man Ausblick auf einen steilen Abhang. An der Spitze ein Vorsprung. Soweit ich wusste, gab es eine Straße, die auf die Spitze der Klippe führte. Ich hatte das Gefühl, in der Ferne Geländer zu sehen, sicher war ich mir allerdings nicht.

»Warum ist der Berg vorne nicht mehr da? Hat ihn jemand weggenommen?«

»Mit der Zeit bricht jeder Stein, Lisa. Regen und Sturm machen einen Berg Stück für Stück kaputt und irgendwann wuuuusch«, ich hob Lisa in die Luft, während ich das sagte, »kann schon mal ein Stück vom Berg wegbrechen.«

Sie lachte.

Ich setzte sie wieder auf dem Boden ab und lächelte sie an.

»Kann ich das Zimmer hier haben?«, fragte Lisa. »Bitte?«

Es war sowieso als ihr Zimmer geplant.

»Klar.«

»Darf ich auch den Schrank behalten?«

Ich runzelte die Stirn und sah mich um. Tatsächlich stand hinter mir ein Schrank. Ich hatte ihn bei der Besichtigung gar nicht bemerkt. Bevor ich antworten konnte, klingelte mein Smartphone. Der Vermieter.

»Herr Silenz, haben Sie sich eingelebt?«

»Ja, Herr Kridets, wirklich schön hier.«

»Gefällt es Ihrer Frau und Ihrem Sohn?«

»Tochter«, berichtigte ich.

»Tochter, ja. Gefällt es Ihnen?«

»Ja, alles in bester Ordnung. Wir fühlen uns hier sehr wohl.«

»Papa?« Lisa sah mich mit großen Augen an. Ich hielt das Smartphone schnell an meine Brust.

»Schatz – Papa muss kurz telefonieren«, sagte ich knapp, ging ein paar Schritte von ihr weg und widmete mich wieder dem Vermieter.

»Wir sind sehr zufrieden.«

»Das freut mich. Wirklich. Nun, ich will Sie auch nicht weiter stören.«

»Äh … warten Sie, ich wollte noch etwas fragen.«

»Ja?«

»Der Schrank – können wir den behalten?«

»Natürlich, natürlich. Ich brauche ihn nicht und er ist noch gut in Schuss; wäre schade um das gute Stück.«

»Vielen Dank. Dann schönen Abend noch.«

»Ihnen auch.«

Ich legte auf und steckte das Handy weg.

»Du kannst den Schrank gerne haben«, sagte ich lächelnd. »Ich will nur eben reinsehen.«

Ich war immer noch etwas verwirrt, weil ich den Schrank bei der Besichtigung nicht bemerkt hatte. Die Tür zum Zimmer ging nach rechts auf und der Schrank stand direkt dort; im toten Winkel.

Anscheinend einfach übersehen.

Knapp zwei Wochen hatte ich nach Wohnungen in meiner ehemaligen Stadt gesucht, aber die meisten waren entweder komplett überlaufen, zu teuer oder in einem ruinösen Zustand.

Schließlich fand ich diese Wohnung in einem Inserat: ›Einbauküche, 76 Quadratmeter, Kinder willkommen.‹

Noch am selben Tag vereinbarte ich einen Termin und am Tag darauf fuhr ich zu der Wohnung. Bei dieser Wohnung war ich der einzige Bewerber gewesen, aber diese dörfliche Gegend war auch nicht unbedingt ein Traum. Der Vermieter hatte mir erzählt, dass ein anderer Interessent einen Tag vorher noch abgesagt hatte. Wir wurden uns so schnell einig, dass ich noch am selben Abend unterschrieb. Besonders als er das Angebot machte, eine Monatsmiete zu erlassen, wenn ich die Kaution bar zahlen würde.

»Das meiste hätte ich sonst sowieso für einen Makler ausgegeben, wenn sich über die Anzeige niemand gefunden hätte«, hatte er gesagt.

Ich hatte zugegebenermaßen die Wohnung nicht wirklich gründlich besichtigt. Die Einbauküche funktionierte und oberflächlich sah alles gut aus. Auch konnte ich mich in der Zeit, in der wir noch in der alten Wohnung lebten, um den Internetanbieter kümmern.

Zwar musste ich knapp vierzig Minuten von der Wohnung zu der Arbeit fahren, aber das war es mir wert.

Ich strich über das dunkle Holz des Schranks. Schließlich zog ich die Türen auf und Staub und ein muffiger Geruch drangen aus dem Möbelstück. Lisa hustete; ich ging zum Fenster und öffnete es. Die Sonnenstrahlen enthüllten den chaotischen Tanz der Staubpartikel. Langsam legte sich die Welle und ich starrte ins Innere.

Der Schrank war in zwei Teile aufgeteilt. Rechts war eine Stange eingelassen, an der man Mäntel, Hemden und Ähnliches aufhängen konnte und der linke Bereich bestand aus drei gleichgroßen Abschnitten mit Ablagen. Der Schrank war wirklich gut. Etwas altmodisch, aber schön.

»Gefällt er dir?« Lisa nickte. Insgeheim freute ich mich sehr. Ich musste jetzt einen Schrank weniger bezahlen; der Alte hatte zum Mobiliar unserer ehemaligen Wohnung gehört.

Ich sah mir das Innenleben des Schranks noch einmal genau an. Die Türen öffneten und schlossen sich einwandfrei und der Schrank schien stabil zu sein. Kein Quietschen, nichts locker. An der Rückwand waren Schrauben befestigt worden, die den Schrank mit der Zimmerwand verbanden.

Es hätte sicher viel Arbeit gekostet, den Schrank zu entfernen. Natürlich hätte ich den Vermieter deswegen anrufen können, aber so früh wollte ich ihn nicht mit Problemen belästigen.

»Komm, wir holen mal deine Sachen aus dem Wagen«, meinte ich zu Lisa.

Zusammen trugen wir zwei Kisten mit Spielsachen in das Zimmer. Also, ich trug die zwei Kisten und Lisa ihren riesigen Teddybär. Wenig später fing sie an, aus einer der Kisten Teile ihrer Rennstrecke zu holen und aufzubauen. Bald fuhren drei winzige Autos durch das ganze Zimmer.

Ich entschied, dass sie sich eine Zeit lang allein damit beschäftigen konnte, und holte ein paar weitere Sachen aus dem Wagen. Das auseinandergebaute Bett von Lisa, danach ihre Bettwäsche und für Marie und mich eine große Luftmatratze. Die restlichen Sachen würde ich morgen zusammen mit Bastian abholen. Er hatte einen Transporter.

Vor allem Oliver, mein Bartagam, wartete noch in der alten Wohnung. Es war kein Problem ihn mal einen Tag allein zu lassen; in seinem Terrarium war er mehr als genügsam. Ich machte mir etwas Sorgen, dass ihm die Fahrt nicht gut bekommen würde, aber eine andere Wahl hatte ich nicht.

Nachdem ich alle Sachen entladen hatte, ging ich in die Küche und schmiss unsere Kaffeemaschine an. Es würde eine lange Nacht werden. Heute hatte ich meinen ersten richtigen Arbeitstag. Oder besser: die erste richtige Arbeitsnacht.

Der Kaffee schmeckte hier ganz anders als Zuhause. Als in unserer alten Wohnung. Das hier war jetzt unser Zuhause. Wahrscheinlich lag es am Leitungswasser; das Kaffeepulver war ja dasselbe wie eh und je. Vielleicht auch einfach an der Umgebung.

Ich lehnte mich mit meiner Kaffeetasse aus dem Küchenfenster, um es sehen zu können, wenn Marie zurückkam.

Auch wenn es Marie nie ausgesprochen hatte, wusste ich, dass es sie belastete, hier leben zu müssen. Dieser Ton, der immer in ihrer Stimme mitschwang, machte mich verrückt, ließ mich kaum schlafen.

Ich machte mir Vorwürfe, obwohl ich wusste, dass ich nichts dafür konnte. Ich war am falschen Ende der Vierziger und es war nicht leicht in einer Branche wieder Fuß zu fassen, in der es von jungen, talentierten Leuten nur so wimmelte.

Vor über zwanzig Jahren hatte ich vor Ideen gesprudelt, eigene Projekte aufgezogen und war dann zufällig beim Fernsehen gelandet. Aber der Hunger von damals fehlte irgendwie. Übersprühende Motivation und Ideenflut ließen auf sich warten.

In all den schlaflosen Nächten hoffte ich, dass mein jüngeres Ich zurückkommen und mir eine Idee schenken würde, womit ich die alte Wohnung doch halten konnte. Aber mein jüngeres Ich kam nicht zurück. Davon war nichts mehr übrig. Morgens starrte der gleiche alte Mann im Spiegel zurück. Das schüttere Haar, der langsam grau werdende Bart und die tiefen Augenringe.

Ich war letzten Endes froh, dass ich überhaupt eine Arbeit bekommen hatte. Bis auf eine miese mittlere Reife, ein paar uralte Projekte und den Job beim Fernsehen hatte ich nichts vorzuweisen.

Ich sah Marie am Ende der Straße. Ihre Handtasche baumelte lose an der Seite und sie sah etwas entspannter aus. Als sie zur Haustür hereintrat, roch ich schon, dass sie geraucht hatte.

»Wie ist die Gegend?«

»Farblos«, murmelte sie.

»Nichts Interessantes?«, fragte ich, während ich ihr eine Tasse Kaffee machte.

»Ein paar Restaurants, die zugemacht haben. Trostlos. Man kann in die Fenster reinsehen und überall liegt nur Schrott, als würde die städtische Müllabfuhr alles dort abladen. Ein Restaurant, welches noch offen hat, sah auch nach nichts Besonderem aus. Alte Männer draußen, sonst nichts. Noch eine Bäckerei. Nichts Sehenswertes, absolut nichts.«

»Vielleicht holen wir morgen frische Brötchen und frühstücken dann zusammen, bevor Bastian kommt.«

»Ja, vielleicht gehe ich morgen hin.«

Ich reichte ihr die Kaffeetasse. Sie mochte ihn schwarz, ohne Milch, ohne Zucker.

»Musst du nicht los?«, fragte sie und ich schaute auf die Uhr.

»Meine Schicht fängt erst um 22 Uhr an. Ich hab’ noch zwanzig Minuten, bis ich los muss.«

»Solltest du nicht heute eine halbe Stunde früher kommen?«

»Sch… Schande«, sagte ich. Lisa kam gerade ins Zimmer.

»Ich hab’ das mit dem Bett nicht mehr geschafft, wollte mich gleich noch dransetzen, kannst du …« Sie nickte. »Danke.«

Ich gab Marie und Lisa noch einen Kuss, trank meinen Kaffee in einem Zug aus, ging zum Auto und fuhr los. Ein wenig musste ich mich beeilen, aber ich sollte noch pünktlich ankommen. Besonders am ersten Tag wollte ich auf keinen Fall einen schlechten Eindruck machen.

Wenn ich auch noch diese Arbeit verlieren würde, dann würden wir in eine noch kleinere Wohnung ziehen müssen. Spätestens dann würde ich mich vollends wie ein unnötiger Haufen Müll fühlen.

Marie arbeitete mittlerweile nebenbei selbst von Zuhause aus. Sie hatte ab und an kleinere Aufträge als Graphikdesignerin – nichts Großes, nichts, was Geld brachte. Noch an dem Abend, als ich meine Arbeit verloren hatte, hatte sie wieder angefangen. Zum einen freute ich mich, dass sie, ohne dass ich sie darum bitten musste, einfach wieder anfing zu arbeiten, zum anderen schämte ich mich, weil ich wusste, dass sie das nicht gerne tat.

Sie hatte die Ausbildung nur fertig gemacht, weil sie schon fast fertig war, aber wirklich Spaß hatte sie schon nach den ersten Monaten nicht mehr gehabt.

Als wir uns kennenlernten, schlug sie sich mit dieser Nebentätigkeit und ein paar kleinen Jobs hier und da durch, aber sobald es möglich war, hörte sie damit auf. Sie hatte mich damals oft gefragt, ob sie arbeiten sollte, aber jedes Mal hatte ich gesagt, dass wir nicht darauf angewiesen waren. Schließlich hatte ich mehr als gut beim Sender verdient. Doch nun waren wir darauf angewiesen.

Die Landstraße war nur schwach befahren und die Bäume links und rechts wirkten durch das spärliche Licht feindlich, grotesk. Immer wieder hatte ich das Gefühl im Augenwinkel etwas auszumachen und ab und zu sah ich ein Reh am Straßenrand. Mir machte der Gedanke Angst, dass ich aus Versehen ein Reh überfahren könnte, wenn ich mit Lisa unterwegs wäre.

Als sich der Wald etwas lichtete, überholte ich hier und da ein Auto und fuhr noch etwas schneller. Gegen zwanzig nach neun bog ich auf das Betriebsgelände. Es waren zwei Betonklötze. Ein großes Rechteck und ein Gebäude, das einen rechtwinkligen Knick machte. Im Schatten des Knicks lag auch der Parkplatz.

Ich stieg aus und verriegelte den Wagen per Knopfdruck. Er war das Einzige, was ich aus den guten Tagen behalten hatte. Außer Marie und Lisa natürlich. Das Auto hatte ich direkt nach einem Vertragsabschluss gekauft. Ein Neuwagen. Damals kam mir das sinnvoll vor, aber damals hatte ich auch mehr Geld. Geld hatte einen anderen Wert. Wenn du plötzlich bei jedem Euro zweimal überlegen musst, ob du ihn ausgeben kannst, dann kommt dir Luxus wie ein Neuwagen nur noch wie ein Hirngespinst vor. Eine dumme Fehlentscheidung, die du einfach nicht mehr nachvollziehen kannst.

Ich wusste nicht, zu welchem der beiden Klötze ich gehen sollte. In beiden brannte Licht. Als ich zu dem Rechteck ging, verriet mir das ›Lagerhalle‹, welches mit großen Buchstaben auf der Seite des grauen Gebäudes gemalt wurde, dass ich zu dem anderen Gebäude musste.

Ich ging hinüber und trat durch zwei schwere Metalltüren. Eine milde Wärme strömte mir entgegen und ein lächelnder Mann saß hinter einer Glasscheibe in einer kleinen Box. Links neben der Box war ein verglaster Eingang, rechts ein Kaffeeautomat.

»Bist du Martin? Also … sind Sie Herr Silenz?«

»Ja«, sagte ich und nickte.

Der Mann stand auf, öffnete die Tür, die aus seiner Box führte und kam auf mich zu.

»Entschuldigen Sie, ich weiß ja gar nicht, ob ich Sie duzen darf.«

Der Mann war höchstens Anfang dreißig.

»Du kannst mich ruhig duzen. Martin«, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. »Aber das weißt du ja.«

»Alexander, aber nenn’ mich bitte Alex.«

»In Ordnung, Alex«, sagte ich lächelnd.

»Die Direktion hat mir gesagt, dass du heute kommen würdest – bin froh, dass endlich jemand da ist. Ständig mussten ich oder Jürgen Doppelschichten schieben.«

»Jürgen?«

»Morgenschicht. Kannst dir sicher vorstellen, dass der mehr als angepisst war, plötzlich sechs Stunden früher aufzustehen.« Ich nickte.

»Wer arbeitet hier am Wochenende?«, fragte ich.

»Sonntags niemand, aber am Samstag übernehmen das die Aushilfen. Wie auch immer – ich zeig dir mal deinen Arbeitsbereich. Komm.«

Zuerst führte mich Alex in die Box und ich sah mich um. Auf einem Tisch standen zwei Monitore auf denen Bilder übertragen wurden. Rechts wechselte das Bild alle zehn Sekunden zwischen dem Außengelände und dem Innenleben der Lagerhalle. Zumindest vermutete ich das. Auf dem anderen Monitor wechselte das Bild schneller.

»Das ist der Maschinenbereich«, sagte Alex und zeigte auf den linken Monitor, auf dem einige Maschinen zu sehen waren und zwei Männer, die daran arbeiteten.

Schnell wechselte das Bild. ›Eingangsbereich.‹ Dann wieder. ›Verwaltungsflur.‹ Noch einmal. ›Generator.‹ Ein weiteres Mal. ›Parkplatz.‹ Dann sprang das Bild wieder zurück auf den Maschinenbereich.

»Verstanden?«

»Ja.«

Er zeigte auf den rechten Monitor und erklärte mir auch diesen.

»Hab besonders ein Auge auf die Lagerhalle – wenn irgendetwas passiert, dann dort. Alle paar Jahre wird dort eingebrochen.«

»Wie lange arbeitest du schon hier?«

»Wegen ›alle paar Jahre‹?«

Ich nickte. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Anscheinend war es nicht unbedingt ein Thema, über das er reden wollte. Ich fragte mich, was seine Geschichte war. Ein junger Mann, der Großes vorgehabt und nur kurzfristig die Arbeit angenommen hatte, mit dem festen Ziel, innerhalb der nächsten Wochen wieder zu verschwinden. Doch aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre. Ich wischte den Gedanken beiseite.

»Was muss ich jetzt genau machen?«

»Pass einfach auf. Schau, ob irgendetwas passiert. Ins Lagerhaus darf in der Nachtschicht niemand – wirklich niemand – rein, außer er meldet es vorher bei dir. Die geben dir dann so einen Wisch, dass sie dort rein dürfen. Falls da jemand um die Uhrzeit reingeht und sich nicht bei dir gemeldet hat, rufst du die Polizei. Das ist eigentlich alles.«

Er schob ein Funktelefon etwas hin und her, schien es gerade rücken zu wollen.

»Einmal machst du dann deine Runde – in der Regel am Ende deiner Schicht und siehst dir noch einmal alles an. Ich zeig’s dir.«

Wir verließen die Box, er schloss sie sorgsam ab, und liefen dann durch das Gebäude. Routiniert, oberflächlich. Die Zimmer interessierten ihn anscheinend nicht. Es ging wohl eher darum, jeden Flur und die größeren Hallen einmal abgelaufen zu haben. Im Maschinenraum grüßten wir ein paar Arbeiter und Alex stellte mich knapp vor.

»Die reparieren die Stanze. Ist vorgestern ausgefallen, kostet die Firma jeden Tag tausende Euro.«

Danach schlenderten wir zurück, warfen kurz einen Blick auf die Monitore und liefen einmal draußen um die Blöcke herum. Als wir die erste Biegung machten, zündete sich Alex eine Zigarette an.

»Ab und an sind hier Jugendliche und schmieren ihren Bullshit an die Wände. Einmal laut rufen reicht in der Regel. Wenn sie sich nicht verpissen, musst du die Polizei rufen, sonst reicht ein Vermerk.«

Ich starrte an die Wand des Betonklotzes, wo in großen, gedehnten Buchstaben ein ›Fuck Future‹ an die Wand geschmiert worden war, bei dem das ›e‹ anscheinend abrupt abgebrochen werden musste.

»Du musst halt einmal hier lang gehen, weil hier keine Kamera ist. Egal in welchem Winkel, man würde die Straße mitfilmen und dann gibt’s Probleme mit der Stadt oder so.«

Alex zuckte mit den Schultern.

»Gibt’s irgendeine feste Uhrzeit, wann ich los muss?«

»Irgendwann am Ende eben – keine fixe Uhrzeit, weil man nicht will, dass ein Muster erkennbar ist. Seit dem letzten Einbruch wurden wir angewiesen, das immer ein bisschen zu variieren.«

Als Alex mit seiner Zigarette fertig war, gingen wir wieder zurück ins Warme.

»Notier auch wer rein und rausgeht – normalerweise sagen dir die Leute kurz Bescheid. Du notierst das dann eben schnell. Schau dir die Listen noch einmal an, in zwei, drei Nächten kannst du die wie im Schlaf, aber bis dahin musst du immer mal spicken.«

Er tippte auf einen dicken Ordner auf dem ›Mitarbeiter‹ stand.

Alex sah auf die Uhr.

»Ich muss los. Um halb elf kommt die Wiederholung von ›Weg zum Erfolg‹. Dir auf jeden Fall viel Glück.«

»Danke für die Einführung.«

»Kein Problem. Bis morgen dann.«

Er zog eine Schublade am Schreibtisch auf und holte eine Packung Ebony & Brooks heraus, steckte sie in die Hemdtasche, nahm ein Buch von Thomas Bernhard vom Tisch, klemmte es unter seinen Arm und nachdem er mir den Schlüssel übergeben hatte, verließ er den Kasten und das Gebäude.

Ich hörte, wie draußen ein altes Auto ansprang und sah auf dem Monitor wie er wegfuhr. Es war ziemlich ruhig in dem Klotz; ab und zu gab das Material Geräusche von sich, aber die meiste Zeit war es vollkommen still. Der Maschinenraum war zu weit weg und in den anderen Räumen war wahrscheinlich kein Betrieb mehr.

Ich dachte über den folgenden Tag nach. Um 9 Uhr ein Termin beim Kindergarten im nächsten Dorf und kurz darauf würde Bastian vorbeikommen.

Eine Stunde nachdem ich angefangen hatte, kamen die Arbeiter an meiner Glasscheibe vorbei. Einzeln sagten sie mir die Namen und einer war etwas genervt, als ich mehrmals nachfragen musste, wie sein Name genau geschrieben wurde. Am Ende war ich mir immer noch nicht ganz sicher. Der Mann hatte einen starken Dialekt und schien diesen um nichts in der Welt auch nur für einen Moment ablegen zu wollen.

Der Rest der Schicht verlief ruhig. Ich musste mir unbedingt etwas zu lesen für die nächste Nacht mitnehmen, aber so blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten und gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Um 3 Uhr kamen drei Arbeiter innerhalb von wenigen Minuten nacheinander herein und ich notierte die Namen. Nachdem ich alles aufgeschrieben hatte, verließ ich mein Häuschen, schloss es sorgsam ab und ging die Runde.

Die ganze Zeit über dachte ich an Zuhause. Ich fühlte mich schuldig, weil Marie das Bett von Lisa komplett allein aufbauen musste, aber ich konnte jetzt auch nichts mehr daran ändern.

Als ich draußen die kühle Morgenluft einsaugte, dachte ich daran, dass ich mich später mit Bastian treffen und die restlichen Sachen von Zuhause … aus der alten Wohnung holen würde.

Sollte ich ihn fragen, ob sie in der Produktionsfirma vielleicht einen Job hatten? Vielleicht als Korrektor oder Ähnliches. Miese Arbeit, aber es wäre zumindest nicht so langweilig.

Genervt schob ich den Gedanken beiseite. Ich war kein Bettler, ich sollte ihn nicht um irgendetwas bitten. Sie würden schon von selbst merken, dass ich ein Loch hinterlassen würde. Ein Loch, das man in zehn Sekunden gestopft hätte, schob ich bitter in Gedanken nach.

Draußen war nichts, was ich melden müsste, und so ging ich wieder zurück. Um zehn vor vier kam ein bärtiger Mann herein, ungefähr im selben Alter wie ich.

»Bist du Martin?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich knapp.

»Jürgen. Morgenschicht. Wie war die erste Nacht?«

»Nichts Spannendes passiert.« Er grinste und sah sich um.

»In meiner ersten Nacht hatte ich auch kein Buch dabei. Ich dacht’, ich komm um vor Langeweile.«

Er ging zu dem Automaten und holte zwei dampfende Plastikbecher. Zusammen tranken wir den Kaffee und plauderten noch kurz.

Einige Minuten nach vier fuhr ich mit meinem Wagen wieder auf die Landstraße. Die Müdigkeit gepaart mit der kühlen Luft ergab eine seltsame Mischung, die mich in Tagträume versinken ließ.

Ich beschloss der Bäckerei des Dorfes einen Besuch abzustatten, um meiner Frau zumindest etwas Arbeit abzunehmen. Marie hatte recht behalten. Die Gegend sah wirklich trostlos aus. Sie hatte nicht übertrieben, als sie von den ranzigen Restaurants erzählt hatte.

Ich hielt vor der Bäckerei und ging hinein. Das Innere der Bäckerei leuchtete und schien wohlig warm, während viele der anderen Häuser noch verschlafen wirkten – oder tot.

Ich trat ein und eine Türklingel läutete über mir. Die Frau hinter dem Tresen wirkte seltsam fröhlich, unpassend in Szene gesetzt.

»Neu hier? Oder im Urlaub?« Das mit dem Urlaub sagte sie mit einem Tonfall, als hätte sie gerade einen Scherz gemacht.

»Gerade hergezogen.«

»Was darf’s sein? Die Kaiserbrötchen hab’ ich eben vor zehn Minuten aus dem Ofen geholt.«

Ich holte ein paar Croissants und kaufte auch Marmelade und Plastikgeschirr sowie eine Flasche Orangensaft. Es war zwar vollkommen überteuert, aber wir hatten noch kein Geschirr bei uns und ab und an musste man sich auch etwas gönnen. Der erste Arbeitstag war schließlich überstanden und das musste gefeiert werden. Damals ein Neuwagen, jetzt Konfitüre und Plastikmesser, dachte ich, als ich die Bäckerei verließ. Wie sich die Zeiten geändert hatten. Zuhause legte ich das Plastikgeschirr aus. Marie oder Lisa hatten im Esszimmer unsere Picknickdecke ausgelegt. Wahrscheinlich hatten sie dort zu Abend gegessen. Als ich gerade die Sachen noch einmal herrichtete, hörte ich ein leises Flüstern. Lisa sprach in ihrem Zimmer. Spielte sie mit ihren Plüschtieren? Vorsichtig ging ich zu ihrem Zimmer und öffnete leise die Tür. Sie verstummte.

»Lisa, kannst du nicht schlafen?«, fragte ich.

»Das Haus spricht mit mir«, sagte sie leise.

»Jedes Haus macht Geräusche, Lisa. Sie knarren, sie quietschen. Manchmal klingt das etwas seltsam.« Ich ging zu ihr, setzte mich auf das Bett. »Schlaf noch ein bisschen.«

Ich überlegte, ob ich sagen sollte, dass sie heute ihren großen Tag haben würde, aber wahrscheinlich wäre sie dann zu aufgeregt gewesen und hätte gar nicht mehr schlafen können. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und deckte sie zu.

»Bis später, Lisa. Ich beschütz’ dich vor allem Bösen.« Dann verließ ich das Zimmer.

Vor sieben wollte ich Marie und Lisa noch nicht wecken und so ging ich noch einmal nach draußen. Die Häuser wirkten merklich zusammengewürfelt. Ich hoffte, dass Lisa nicht die ganze Nacht auf gewesen war, aber Marie hatte sicher ein Auge darauf gehabt. Hoffentlich würden diese Schlafprobleme nicht zum Dauerzustand werden.

Ständig machte ich mir Gedanken und langsam fing ich an mir Worst-Case-Szenarien auszumalen. Der Stress bekam mir überhaupt nicht. Ich musste damit aufhören. Unbedingt. Nachdem ich ein paar Straßen abgelaufen hatte und einen alten Mann grüßte, der mich ignorierte, kehrte ich wieder zu unserem Häuschen zurück. Es wirkte fast kümmerlich neben den anderen Gebäuden, die allesamt zweistöckig waren und auch mehr in die Breite gingen. Als warteten die anderen Häuser nur auf den richtigen Moment, um dann auf unser Haus zuzustürzen.