4,99 €
Der erste Fall für Ermittlerin Joan Sophistique vom SAI in Paris ist der des Unternehmers Roland Schmid, dem bandenmäßiger Handel mit Drogen in nicht geringer Menge vorgeworfen wird. Der Schmuggler Henrik Veenstra gelangt in den Besitz eines Diamanten, den er für fünf Millionen Dollar verkaufen will. Schmid will den Stein haben, seinen Erzfeind allerdings nicht dafür bezahlen … Diese Geschichte enthält drei Erzählperspektiven. Welche davon soll Ihre sein? Die von der Ermittlerin Joan Sophistique im Rahmen der Handlung gesungenen Lieder "Gnadenloser Karneval" und "Wankende Welt" wurden von der Musikgruppe "Hannahs kleines Tanzorchester" in der Besetzung mit Anna Haentjens am Gesang und Matthias Wichmann an der Gitarre musikalisch vertont und sind ab dem 01.09.2023 im Handel erhältlich.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ausnahmemensch
© Leonore Geisen
Frank Ramson, 1977 in Elmshorn geboren, ist ein Sänger, Liedtexter, Komponist und Veranstalter von Kulturevents. Er veröffentlichte die Lieder Elmshorn, Elmshorn über seine Heimatstadt und Zwischen Turm und Strom über die Partnerstadt Wittenberge. Er ist der Sprecher der Spurensuche-App Reise durch das jüdische Elmshorn. Weitere Informationen unter: www.frankramson.de.
Frank Ramson
Ausnahmemensch
Kriminalroman
Content Notes:
Dieser Roman enthält Darstellungen von Gewalt unter Einsatz von Waffen und Sprengmitteln, von körperlicher und sexualisierter Gewalt sowie von Mord, Suizid, Rassismus und Drogenkonsum.
Ausführliche Informationen über diesen Roman finden Sie unter: www.ausnahmemensch.de.
Lektorat: Simona Turini, www.lektorat-turini.de.
Korrektorat: Nadine Helms, www.nadinehelms.de.
© 2023 Frank Ramson
ISBN Softcover:
978-3-347-97937-6
ISBN Hardcover:
978-3-347-97938-3
ISBN E-Book:
978-3-347-97939-0
ISBN Großschrift:
978-3-347-97940-6
Druck und Distribution im Auftrag von Frank Ramson durch die tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor Frank Ramson verantwortlich. Jede Verwertung ohne Genehmigung des Autoren ist unzulässig.
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Frank Ramson, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Für Hannah.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid/Michel Chevalier
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid/Michel Chevalier
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid/Michel Chevalier
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid/Michel Chevalier
Joan Sophistique
Henrik Veenstra
Roland Schmid/Michel Chevalier
Joan Sophistique
Gnadenloser Karneval
Wankende Welt
Bezüge zu realen Personen, Ereignissen und Objekten
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Joan Sophistique
Bezüge zu realen Personen, Ereignissen und Objekten
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
295
296
297
298
299
300
Joan Sophistique
Paris, 16. September 2000
»Guten Morgen, Joan.«
Mein Kollege Jean-Pierre Couchant begrüßt mich um vier Uhr in unserem Büro. Er stellt mir einen sauberen Kaffeebecher an die Kopfseite seines Schreibtischs und deutet auf die silberne Thermoskanne mit schwarzem Verschluss.
»Ist frisch. Bedien dich, Partnerin.«
An ihm sieht auch alles frisch aus, wie er da sitzt. Die schwarzen Haare gewaschen und gestylt, Hemd und Hose gebügelt. Sein herbes Rasierwasser hängt schwer in der Luft.
Meine Diensthose und die Stiefel dagegen sind schmutzig, meine Bluse ist durchgeschwitzt, die blonden Haare zerzaust. Ich fühle mich wie durchgekaut und wieder ausgespuckt.
»Jetzt nicht«, sage ich schroff und bleibe vor Jean-Pierres Schreibtisch aus glänzend lackierter Fichte stehen, der penibel aufgeräumt aussieht und auf dem noch kein Trinkbecher seinen kreisförmigen Abdruck hinterlassen durfte. Meiner sieht aus, als wäre ich Kreismeisterin des nervösen Kaffeetrinkens und zu beschäftigt oder zu faul, um den Tisch ab und an mal abzuwischen oder aufzuräumen.
»Was ist denn mit dir los …?«, fragt er erstaunt, greift zur Kanne und schenkt mir den Becher bis zum Rand voll. »Morgens ist das wie eine warme Dusche von innen, sagst du sonst immer. Ich weiß doch, was du magst.«
Für sechs Uhr heute Morgen wurde ein Zugriff unserer Einheit der Nationalpolizei mit Unterstützung durch den Zoll angesetzt. Vorab haben wir über Wochen hinweg Volkan Djurkov observiert, Unternehmer im Im- und Export und Hauptverdächtiger der Gruppe, die den Ermittlungen zufolge mit Drogen und Waffen handelt sowie im illegalen Glücksspiel aktiv ist.
»Wie siehst du überhaupt aus, Joan?«
Jean-Pierre ist nicht nur mein Partner, sondern auch mein bester Freund. Jetzt guckt er mich mit seinen großen braunen Augen erwartungsvoll und zugleich verwundert an. Wie auf eine väterlich besorgte Art und Weise. Mir wird ganz anders.
»Lacoste will uns sprechen. Komm …«, sage ich. Den Becher, den er mir hingestellt hat, rühre ich nicht an.
Jean-Pierre runzelt irritiert die Stirn und meint: »Du glaubst doch nicht, dass der Chef so früh schon hier ist. Du kannst ja mal nachsehen. Ich rufe gleich drüben beim Zoll an. Wir müssen bald los.«
Ich trommle mit den Fingern auf dem Tisch und beuge mich zu ihm vor. Mir ist gerade sehr danach, ihn zu ohrfeigen. Doch dafür ist jetzt nicht der richtige Moment. »Falsch. Lacoste sitzt nebenan.«
Ich überquere den Gang zum Büro des Leiters unserer Einheit und trete ein.
Gilbert Lacoste ist ein gelassen auftretender Frühsechziger mit einem schmalen Kinn, lichtem Haupthaar und spitz zulaufenden, ergrauten Koteletten. Über die Jahre wurde es in unserer Abteilung zur Gewohnheit, dass man ihn nicht mit Namen, sondern nur mit Chef anspricht. Ich mache das nicht, denn für mich ist ein Mensch mehr als sein Rang.
Lacoste blickt auf und wir nicken uns zu, bevor er damit fortfährt, eine Notiz in eine Akte einzutragen. Er sieht noch älter und faltiger aus als sonst. Blass. Wie um den Schlaf gebracht.
Ich schlurfe über den Teppich, tipple mit meinen Fingern auf dem halbhohen Beistellschrank, auf dem eine vertrocknete Palme neben einem gerahmten Bild unseres Polizeipräsidenten steht, und setze mich dann doch auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch von Lacoste. Einen Moment darauf folgt Jean-Pierre mit der Thermoskanne in der einen Hand und seinem Kaffeebecher in der anderen.
»Guten Morgen, Chef«, säuselt er und raunt mir »Deinen konnte ich leider nicht mitbringen. Eine Hand zu wenig …« zu. Er stellt die Kanne neben einen Becher voller Stifte auf dem Schreibtisch ab und setzt sich neben mich.
Lacoste klappt die Akte zu, legt sie in das Ablagefach neben dem Bildschirm seines Computers und greift nach der Kanne. Er gießt sich Kaffee ein und sagt: »Guten Morgen, Jean-Pierre. Wie war das Spiel?«
Jean-Pierre ist Fan des Pariser CS Belleville, der am Vorabend ein Heimspiel in der Amateurliga ausgetragen hat.
»Großartig. Tolle Stimmung, ein spannendes Spiel bis zum Ende – was will man mehr?«
»Soso. Bis zum Ende.«
Lacoste stellt die Kanne wieder ab und sieht mich an. »Und, Joan …?«
Mir gehen viel zu viele Gedanken auf einmal im Kopf herum. Und Wut. Ich muss sachlich bleiben. Darf nicht durchdrehen. Hitze steigt in mir auf. Unwohlsein. Abscheu. Atmen.
»Mir geht’s beschissen«, platzt es aus mir heraus.
Jean-Pierre klappt die Kinnlade herunter, auch Lacoste wirkt verblüfft.
»Ich fühle mich benutzt, betrogen und würdelos behandelt. Gestern Nacht habe ich an meinem Verstand gezweifelt.«
Lacoste sieht mich mitfühlend an, sagt aber nichts dazu.
»Was ist denn passiert? Kann man irgendwie helfen?«, erkundigt sich Jean-Pierre mit einer Alles-wird-gut-Attitüde, die ich ihm am liebsten um die Ohren hauen möchte. »Hast du dich etwa endlich dazu durchgerungen, mal eine Frau abzuschleppen? Freut mich für dich. Es muss nicht immer gleich die große Liebe sein. Kein Grund, sich schmutzig zu fühlen.«
Er sieht erst Lacoste und dann wieder mich an. Dass er in die sexistische Richtung abdriftet, ist neu. Ich könnte kotzen. Ihm den Schädel einschlagen. Beides.
»Ist natürlich nur meine Meinung. Aber warum packst du das hier vor dem Chef aus? Was willst du uns damit sagen?«, ergänzt er.
»Zur Sache«, sagt Lacoste in für ihn ungewohntem, durchdringendem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Heute sollte ein vom Zoll unterstützter Zugriff unserer Einheit in der Halle des Verdächtigen Djurkov stattfinden. Das hat sich erledigt. Die Halle ist leer.«
Jean-Pierre steht mit angespannter Muskulatur vom Stuhl auf und schnauft mehr, als dass er atmet. In Sekunden rötet sich seine Stirn und er sieht aus, als ob er nicht wüsste, wohin er all das entladen sollte, was gerade in ihm hochkocht.
»Unfassbar. Wie kann das sein? Wer hat die Halle leer geräumt?« Er wischt sich mit der Hand über Hals und Nacken und streift die Innenfläche an seinem Hemd ab, ehe er sich von Lacoste die Kanne reichen lässt, um heißen Kaffee in seinen Becher nachzugießen.
So, wie er aussieht, braucht er den gerade nicht. Jean-Pierre ist so aufgebracht, dass er danebenzielt und eine Kaffeepfütze auf dem Tisch hinterlässt. »Mist.«
Lacoste reicht ihm eine Serviette, mit der er den Fleck hektisch aufwischt.
»Danke, Chef. Also. Ich will wissen, was seit gestern Abend rund um die Halle und das Außengelände beobachtet wurde. Und ich will wissen, ob telefoniert wurde und mit wem. Ich werde herausfinden, wie es dazu kommen konnte.« Er sieht erst Lacoste und dann mich ernst an, bevor er die Kanne abstellt und die Serviette in den Büromülleimer feuert. Anschließend streicht er seine Krawatte glatt und setzt sich wieder hin.
Ich richte meinen Blick auf ihn. »Du wirst herausfinden, wie es dazu kommen konnte? Das glaubst du doch selbst nicht!«
Jean-Pierre stockt für einen kurzen Moment der Atem. Lacoste zuckt nicht mit der Wimper.
»Wie war das …? Ich bin der Teamleiter unserer Einheit und du hältst dich jetzt mal zurück. Was fällt dir ein, Joan?«
Obwohl ich ihm seine Aufgebrachtheit beinahe abkaufen würde, klingt Jean-Pierres Stimme merklich brüchig und unsicher. Er zittert und versucht zugleich, es zu überspielen und es Lacoste und mich nicht merken zu lassen. Das gelingt ihm jedoch nicht besonders gut.
»Ich habe den Eindruck, dass ich nicht gründlich genug mit dir gewesen bin und dass du schlampig arbeitest, Joan. Vielleicht ist durch dich etwas an Djurkov durchgesickert. Was hast du angestellt? Sag, was du gestern gemacht hast.« Er sieht Lacoste an und dann wieder mich. »Das kommt dabei heraus, wenn du dich wie ein dummes Kind aufführst. Störrisch. Unreif. Der Chef weiß schon genau, warum er dem Erwachsenen von uns das Steuer in die Hand gibt. Also?«
Jean-Pierre schnauft und sieht mich ungeduldig an, aber ich warte mit meiner Antwort. Unser Chef nimmt seinen Kaffee und wartet ab, bis sich die Augenpaare von Jean-Pierre und mir auf ihn gerichtet haben.
»Eins nach dem anderen. Ich habe sie Ihnen zur Seite gestellt, weil ich Joans Potenzial erkannt habe, Jean-Pierre. Ich dachte, dass Sie mit Ihren Stärken als Mentor der Richtige wären, um mit ihr ein erfolgreiches Team für die Zukunft zu bilden. Daraus wird aber nichts mehr.«
Mir wäre jetzt doch nach einem Becher Kaffee, auch wenn der Mistkerl ihn gekocht hat. Ist allerdings ein schlechter Zeitpunkt, ihn zu holen.
Ich sehe Lacoste an. »Kann ich mir einen Becher von Ihnen borgen?«
Er greift in ein Fach seines Schreibtischs, holt einen Becher hervor und schenkt mir Kaffee ein.
»Kommen wir nun zum Punkt oder reden wir weiter um den heißen Brei herum?«, fragt mein Noch-Partner und sieht mich entgeistert an. Sein immer wieder auflodernder Ausdruck von Bestürzung ist für mich kaum noch auszuhalten.
»Mann, Joan …«, sagt Jean-Pierre mit rauer Stimme, »nur Misserfolg formt am Ende echte Champions. Sieh es positiv. Du wirst dich sicherlich noch weiterentwickeln.«
Ich nehme mir mit einem Nicken an Lacoste meinen Becher und probiere einen Schluck von dem Kaffee. Der schmeckt lecker. Kaffee kochen kann der Mistkerl Jean-Pierre wirklich gut.
Ich werde ihn vermissen. Den Kaffee. Nicht den Mistkerl.
»Nun, Joan«, sagt Lacoste. »Was haben Sie gestern Abend gemacht?«
Ich sehe erst Lacoste an, der mir mit gequälter Miene zunickt, und dann mit einem bohrenden Blick Jean-Pierre.
»Mir ein Fußballspiel des CS Belleville angesehen.«
Beim Nennen des Vereinsnamens sehe ich in seinen Augen, dass im Denkzentrum von Jean-Pierre gerade eine Panikbombe hochgegangen ist. Mit Raketen und Scheißkonfetti.
»Bis kurz vor Spielende. Dann bist du plötzlich aufgebrochen und ich bin dir zu Fuß gefolgt, Jean-Pierre. Du hast nicht deine Limousine, sondern die Metro genommen.«
Jean-Pierre schnappt nach Luft und ringt um Worte. »Du hast mich observiert? Was fällt dir ein? Chef, ich muss darum bitten, dass Sie …«
Lacoste bedeutet Jean-Pierre mit erhobenem Zeigefinger, dass er den Mund halten soll. Ist angekommen.
»Ich musste rennen, damit du mich nicht siehst, und hatte Glück, dass mir die Bahn nicht vor der Nase wegfuhr. Ein paar Haltestellen weiter bist du ausgestiegen und von der Station aus schnurstracks in einen Kiosk gegangen.«
Jean-Pierre atmet mit offenem Mund ein und aus. Schweiß bedeckt seine Stirn. Sein Zittern wird stärker. Er weiß nicht mehr, wohin mit seinen Händen und faltet sie zusammen.
»Das ist falsch. Schreiten Sie ein, Chef«, sagt er mit einem Blick auf Lacoste. Der rührt sich nicht und sieht mich an.
»Dort hast du eine Zeitung gekauft, am Lottostand ein kleines Notizblatt mit einem Stift bekritzelt und den Zettel in die gefaltete Zeitung geschoben. Deinen Einkauf hast du beim Hinausgehen in den offenen Mülleimer gelegt.«
Jean-Pierre winkt ab und schüttelt den Kopf.
»Sofort darauf nahm jemand die Zeitung an sich. Durch die Bilder in den Akten der laufenden Ermittlungen erkannte ich das Gesicht. Es war Artjom Beljajew, einer der Angestellten aus dem engsten Kreis von Volkan Djurkov.«
Jean-Pierre versucht sich an einer gleichgültigen Miene. Nun trommelt er mit den Fingern auf dem Tisch, bis es ihm selbst auffällt.
»Beljajew warf die Zeitung zurück, doch er nahm den Zettel mit und las auf dem Weg zu seinem Auto, was draufstand. Dann knüllte er das Blatt Papier zusammen und warf es neben dem Wagen in einen Papierkorb. Nachdem Beljajew weggefahren war, habe ich mir den Zettel geholt.«
Jean-Pierre kratzt sich die verschwitzte Stirn. »Das ist Unsinn. Ich war bis zum Ende beim Spiel. Warum erzählst du solche Lügen über mich, Joan?«
»Im Radio hieß es, in der Nachspielzeit fiel noch ein Gegentreffer …«, sagt Lacoste und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee.
Mir wird es zu dumm. Ich fahre von meinem Stuhl hoch. »Reiß dich verdammt noch mal zusammen und steh gerade für das, was du angerichtet hast, du Scheißkerl!«, brülle ich und merke, dass ich innerlich vor Hitze glühe und meine Augen tränen.
Dass er sich immer noch windet und herausreden will, ist schändlich.
Atmen. Ein. Aus.
»Du willst behaupten, ich hätte dich verwechselt? Hör auf, uns für dumm verkaufen zu wollen, Jean-Pierre. Du bist mein bester Freund. Warst. Wer zur Hölle bist du wirklich?«
Lacoste stellt seinen Becher ab und räuspert sich. »Ich bin enttäuscht, Jean-Pierre. Sehr enttäuscht. Ihr Vergehen ist eine Schande für unsere Einheit, für den Polizeidienst an sich. Falls Sie es weiter abstreiten wollen, muss ich Ihnen sagen, dass sich gegenüber von dem Kiosk ein Finanzinstitut befindet, das mit mehreren Kameras zur anderen Straßenseite hin ausgestattet ist. Ich habe die Aufnahmen angefordert. Mir wurde bereits mitgeteilt, dass man Sie darauf zweifelsfrei identifiziert hat.«
Jean-Pierre vergräbt sein Gesicht in den Händen.
Vor ein paar Monaten kam der Verdacht auf, dass er Bargeld von einem Tatort hatte mitgehen lassen. Es ließ sich nicht anders erklären, doch auch nicht direkt beweisen. Ich sprang Jean-Pierre damals zur Seite. Der Verdacht wurde zerstreut und er beharrte darauf, dass alles ein Irrtum war. Das dachte ich zuerst auch, doch von da an wurde ich ein wenig misstrauisch.
»Du bist mir gegenüber eigentlich nie ausweichend oder vom Thema der Arbeit ablenkend aufgetreten. Aber plötzlich wirktest du dünnhäutig, wenn wir über den Fall Djurkov sprachen. Dann erfuhr ich von dem Gerücht, dass du bei Djurkov Schulden hättest. Als der Zeitpunkt für den Zugriff feststand, war deine Nervosität kaum noch auszuhalten. Deine Motorik und deine Stimme haben mir gezeigt, dass du nicht gut lügen kannst. Es fiel mir schwer, das zu sehen.«
Beim besten Freund und dienstlichen Partner kein Wunder. »Ich überwand mich und begann, dich zu observieren. Nachdem ich gelesen hatte, was auf dem Zettel stand, rief ich unsere Einheit und die Kollegen vom Zoll an. Alle, nur dich nicht. Wir haben in einer Blitzaktion noch in der Nacht den Zugriff durchgeführt und waren dabei sehr erfolgreich. Ich habe Djurkov, Beljajew und eine Gruppe Angestellter festgesetzt. Wir konnten mehrere Fahrzeuge, halb automatische Waffen und einige Paletten sicherstellen, die Behälter mit in Einzelportionen abgepackten Drogen enthielten.«
Ich hole den Notizzettel aus der Hosentasche und schiebe ihn über den Tisch. Später werde ich ihn zu den Beweismitteln packen, doch für diesen Moment brauche ich ihn hier. »Erkennst du deine Handschrift?«
Auf dem Zettel steht 6 Uhr Zugriff, Halle 4, sofort räumen und auf der Rückseite Zettel vernichten. Dumm gelaufen, dass daraus nichts wurde. Hätte er mal vorne hinschreiben sollen.
Jean-Pierre ist nervlich am Ende und gibt zu, dass er wegen seiner Spielsucht verschuldet ist und Geld von Tatorten gestohlen hat. Er hat außerdem die Hand aufgehalten und die Ermittlungen in mehreren Fällen sabotiert.
»Djurkov erhielt eine Warnung, weil mein Name in seinem Schuldnerbuch steht. Ich hab Frau und Kinder. Was sollte ich machen? Bitte vergeben Sie mir, Chef. Du auch, Joan. Wir kennen uns doch. Zusammen finden wir eine gute Lösung. Wenn ich jetzt angeklagt werde, dann ist mein …«
Nun ist es der Chef, der den Kopf schüttelt.
»Sie sind hiermit verhaftet, Jean-Pierre«, sagt Lacoste.
Seine Karriere ist beendet. Aber auch ich stehe vor einem Scherbenhaufen. Lacoste hat es nicht direkt gesagt, doch ich spüre, dass er von mir erwartet hätte, dass mir ein Fehler dieser Tragweite an meinem Partner früher aufgefallen wäre. Mentor hin oder her.
Auch privat trifft mich die Geschichte sehr. Jean-Pierre war mein häufigster sozialer Kontakt außerhalb der Dienstzeit. Beste Freundinnen hat es in meinem Leben nie gegeben – da waren Jungs für die Freundschaft und Mädchen für die Liebe. Ist so geblieben. Im Schichtbetrieb überhaupt soziale Bindungen aufzubauen, ist schwierig genug.
Aber wie bekloppt blind war ich, dass ich nicht gemerkt habe, dass er uns alle hinterging? Vor allem mich als enge Freundin. Ich fühle mich auf die denkbar unangenehmste Art angefasst, wenn ich mir überlege, was ich ihm in unseren freundschaftlichen Gesprächen alles erzählt habe. Über meine Kindheit. Meine seelischen Krisen. Mein erstes Mal.
Er hat mir auch von sich erzählt. Doch kann ich diesem treulosen Arsch je wieder vertrauen? Suchtkrank oder nicht.
Wohl kaum.
»Es ist ärgerlich und schockierend, wie sehr er uns belogen hat. Vor allem auch für Sie persönlich, Joan. Ihre Freundschaft mit Jean-Pierre fiel genau genommen den Verbrechen zum Opfer, die er begangen hat. Das tut mir sehr leid für Sie. Das Leben macht es uns nicht einfach.«
»Danke, Monsieur Lacoste. Das weiß ich zu schätzen. Er ist nicht der Erste, den ich durch ein Verbrechen verliere. Ein enger Freund von mir wurde jung ermordet.«
»Wie kommen Sie mit alldem zurecht, Joan?«
»Mal mehr, mal weniger gut.«
»Sie sind noch jung. Es ist für Sie an der Zeit für neue Erfahrungen. Hier könnte sonst etwas haften bleiben, das Sie immer wieder innerlich fertigmacht. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich bereits Ihre Gedanken darüber gemacht haben.«
Ich nicke ihm zu. Er sieht mich zuversichtlich an. »Der Zoll, die Nationalpolizei. Was soll es für Sie als Nächstes sein? Wo zieht es Sie hin?«
Die Gutmütigkeit in seinem Gesichtsausdruck und der Tonfall in seiner Stimme zeigen mir, dass er mir eine echte Perspektive wünscht. Nur eben woanders.
»Es gibt hier in Paris eine Spezialeinheit, deren Arbeit mich interessiert. Ein Pilotprojekt zwischen dem Innenministerium und dem Auswärtigem Amt zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität. Es heißt SAI.«
»Klingt interessant. Eins muss ich Ihnen mal sagen, Joan. Sie sind eine Frau mit einem ungewöhnlichen Auftreten, die sehr viel durchdachter handelt, als es scheinen mag.«
»Ist das so, Monsieur Lacoste?« Ich stutze.
»Ja, meiner Meinung nach schon. Wer Sie auf den ersten Blick beurteilen will, kann einen falschen, oberflächlichen Eindruck von Ihnen erhalten. Erst mit etwas Zeit wird er darauf aufmerksam werden, dass Sie außergewöhnlich gute Arbeit leisten. Dass Sie trotz Ihrer persönlichen Beziehung zu Ihrem Partner den kühlen Kopf bewahrt haben, ihn zu überführen, Djurkovs Bande festzusetzen und die Ermittlungen erfolgreich abzuschließen, werde ich in Ihrer Beurteilung entsprechend vermerken.«
War das jetzt ein Kompliment? Klang seltsam für ein Lob.
Meine Bewerbung um eine Stelle als Ermittlerin wird nach einer persönlichen Vorstellung und einer Reihe von Tests angenommen. Mir wird mitgeteilt, dass ich meine neue Position beim SAI am 19. Februar 2001 antreten darf.
Henrik Veenstra
Saint-Brieuc/Genf, 19. Februar 2001
Ein sanfter Mittagswind zieht durch den Hafen von Le Légué in der Bucht von Saint-Brieuc in der Bretagne. Unzählige Möwen kreisen durch die Lüfte, stoßen schrille Rufe aus und halten Ausschau nach frischer Beute. Ab und an ist ein Schiffshorn zu hören.
Auf dem in die Bucht schmal zulaufenden Anleger herrscht hingegen kaum Bewegung. Eine Studentin mit einem anrasierten Kurzhaarschnitt, bauchfreiem Oberteil und tief hängenden Hosen verteilt Reklamezettel für irgendein lokales Event.
Als sie an die Abigail I, eine weiße Jacht von knapp 41 Fuß herankommt und einen Flyer hervorholt, winke ich ab. »Nein, danke. Das kannst du behalten.«
Sie versteht und zieht Leine, während ich mich wieder dem Schiff zuwende. Eine Frau Mitte fünfzig auf Stöckelschuhen, mit rotem Haar, gedrungener Figur und strengem Blick läuft Momente darauf mit kurzen, flinken Schritten die Marina entlang. Ich kenne sie von einem Foto und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Mädchen, hast du je was von Stilberatung gehört? Die paar Kröten wären in deinem Fall gut investiert. In diesem blauroten Blümchenkleid mit Gürtel, das wohl beim Waschen eingelaufen ist, siehst du aus, als ob du gleich explodiertest. Geschmack kann man dir jedenfalls nicht vorwerfen.
»Haben wir beide den Termin?«, fragt sie und runzelt die Stirn, ehe sie wenige Schritte vor mir stehen bleibt.
Ich trete ein Stück vor und greife nach ihrer Hand. »Ich bin Henrik Veenstra. Ja, wir haben telefoniert.«
Sie führt mich auf dem Schiff herum und ich wundere mich, dass sie bei einem Verkaufsgespräch wie diesem Stöckelschuhe trägt. Als Maklerin müsste sie es besser wissen, aber die Dellen, die sie im Teakdeck hinterlässt, sind ihr anscheinend ziemlich egal. Was für eine dumme Kuh.
»Hier, Herr Veenstra, haben Sie allen nur erdenklichen Komfort mit einer Dusche und einer modern ausgestatteten Küchenzeile an Bord. Alles Baujahr 2000, noch nicht mal ein Jahr alt. Sie haben noch Garantie.«
Pedantisch genau stellt sie die Inventarteile vor. Gott, was könnte mich mehr langweilen. Ich stelle mir vor, den ganzen Kram herauszureißen und Boxen mit viel Stauraum einzubauen. Auf diesem Schiff könnte man Dope, geklaute Kunst und Waffen transportieren. Aber eigentlich habe ich etwas anderes damit vor. Wie und wo könnte ich besser wohnen, lieben und feiern als auf einer Jacht?
Für den Antrieb sorgen zwei Turbodieselmotoren. Die Jacht bietet zwei Kabinen mit komfortablen Kojen, ein Bad mit Toilette und einen weiteren Raum mit einem Tisch, einer Sitzbank und einem Sofa, das man zu einem Gästebett umbauen kann. Unter einem Sonnensegel am Heck liegt ein Außensitzbereich mit einem Tisch und vier Stühlen. Zwischen dem Bug und dem überdachten Achtercockpit befindet sich ein mit hellen Polstern ausgestattetes Sonnendeck. Das Mobiliar, die Solarzellen und einige Akkus für die Stromversorgung sind im Preis enthalten.
Die Maklerin berührt mich vorsichtig am Arm, um mir deutlich zu machen, dass die Besichtigung nun vorbei ist. Wir gehen von Bord und bleiben am Anleger stehen.
»Und, wie gefällt Ihnen die Abigail I, Herr Veenstra? Es gibt noch weitere Interessenten, müssen Sie wissen. Möchten Sie vielleicht jetzt gleich zugreifen? Noch ist sie zu haben.«
Ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie nicht vom Preis abrücken wird. Doch da täuscht sie sich gewaltig.
»80.000. Wir unterzeichnen. Hier. Jetzt. Das Geld erhalten Sie noch diese Woche in bar.« Wenn sie sich darauf einlässt, habe ich ein ganz gutes Geschäft gemacht. Ich lächle. Sie lächelt nicht.
»Das ist nicht die Summe, über die wir am Telefon gesprochen haben«, sagt sie verkniffen. »Mein Klient strebt mindestens 90.000 an.«
Sie guckt mich mit einer seltsamen Mischung aus Empörung und Enttäuschung an. Diese Frau trägt die Wahrheit wirklich im Gesicht. Oder gefällt ihr vielleicht mein Anzug nicht? Mein Akzent oder mein leicht ergrauter Bart? Dass ich gut trainiert bin und sie nicht und dass ich fünf Jahre jünger bin als sie, aber locker zehn Jahre jünger aussehe? Diese hohle Nuss ist wohl einfach nur stumpf im Kopf und das hier ist vom Anspruch her schon zu viel für sie.
»Ja, mag sein, aber mehr als 80.000 ist das Schiff nicht wert und das wissen Sie und Ihr Klient auch.« Ich ziehe lächelnd die Augenbrauen hoch. »Nun kommen Sie. Sie kriegen doch sicher eine hübsche Provision. Wir unterschreiben den Vertrag. Hier und heute.«
Sie tritt einen Schritt zurück, schaut kurz übers Wasser und sieht mich dann wieder direkt an.
»Tut mir leid, ohne Rücksprache mit meinem Klienten ist da nichts zu machen«, sagt sie kühl. »Sie hören von uns.«
Mit schnellen Schritten macht sie sich davon. Ich schaue noch mal auf das Schiff. Schade, dass die blöde Kuh nicht mitgespielt hat. Die Jacht sagt mir zu, doch im Moment habe ich nicht mehr als 80.000 auf der Naht.
Wenn aus dem Kauf der Abigail I nichts werden sollte, brauche ich für den nächsten Job eine andere Exitstrategie. Doch wer weiß schon, ob es tatsächlich weitere Interessenten gibt.
Über die A11 und die A6 gelange ich mit meinem weißen Sportcoupé südlich an Paris vorbei nach Genf und treffe am frühen Abend dort ein. Im Bankenviertel nahe dem Place du Molard betreibt Hans Wagner, ein Goldschmied, Edelsteinspalter, Gutachter und Händler einen alteingesessenen Familienbetrieb in dritter Generation.
»Und mit dem Namen geht eine Verantwortung einher. Dafür steht unsere Familie seit mehr als einem Jahrhundert«, pflegt Hans zu sagen, wenn er sich neuen Kunden vorstellt.
Er ist ein leicht rundlicher Mann Anfang sechzig mit vollem, dunklem Haar und schmalem Schnauzer. Wenn er ein Stück in Augenschein nimmt, tritt er immer in seinem weißen Kittel hinter den Tresen. Wir machen bereits seit Jahren Geschäfte und die meisten davon sind gut gelaufen, denn Hans ist ein loyaler Geschäftspartner.
Bevor ich seinen Laden betrete, sammle ich das Kleingeld aus meinen Taschen zusammen und gehe zu einem Münzfernsprecher an der Kreuzung gegenüber. Die Dinger werden wegen dieser Mobiltelefone immer seltener.
Es braucht einen Moment der Überwindung, bis ich tief durchgeatmet habe, den Hörer abnehme und die erste Münze in den Schlitz stecke.
»Rotzoooi.« Ein paar Münzen gleiten mir durch die Finger. Ich sammle sie vom Boden auf, wähle die Nummer und höre einen Moment darauf das Freizeichen.
Vor einem halben Jahr wurde ich von meiner Frau Henriëtte geschieden. Man bemerke: zum zweiten Mal geschieden. Gegen meinen Willen, denn eigentlich ist Henriëtte genau die richtige Frau für mich. Sie ist gerissen, tough und sie hat eine tolle Figur. Schießen kann sie auch. Man kann mit ihr einen Job durchziehen, ausgelassen feiern gehen und am Ende eine leidenschaftliche Nacht verbringen.
Hätte mir Hans nicht vor ein paar Jahren in Bordeaux Monique vorgestellt, wären Henriëtte und ich wohl heute noch verheiratet.
»Bordeaux ist wie Genf, nur moderner, im Bikini und leicht angeschwipst«, sagte Hans, als wir im Hafen an Bord unseres gemieteten Bootes gingen.
Der Motor fiel dauernd aus. Es war sehr lustig. Wir schipperten angetrunken herum und hatten Spaß mit Monique. Ich ganz besonders.
Nachdem sie »Du machst mich ganz verrückt nach dir …« zu mir gesagt und mich dabei süffisant angesehen hatte, konnte ich nicht anders. Sie ist einfach unwiderstehlich attraktiv.
Ich war fasziniert von ihrem dunkleren Teint, ihrem Duft, von ihren bernsteinfarbenen Augen, ihren schwarzen Locken. Es hat mir viel Verderben gebracht, wenn ich jetzt an Henriëtte denke. Oder mich dazu verleitet. Wohl eher das.
Ich habe kein Glück, Henriëtte ist nicht da oder sie geht nicht ran. Wahrscheinlich geht sie nicht ran. Sie hat gute Gründe, enttäuscht von mir zu sein, doch irgendwann wird ihr Schmollen auch anstrengend. Wir haben das ja schon zwei Mal durch.
Ich gehe über die Straße, öffne die Tür des mehrstöckigen Altbaus und betrete die Geschäftsräume des Edelsteinhandels von Hans Wagner. Eine kleine Glocke bimmelt schrill, wenn man die Tür öffnet. Hans’ Angestellte am Tresen schaut auf.
»Grüezi, der Herr.«
»Hallo. Ich möchte den Herrn Wagner sprechen.« Ich betrachte die Auslagen, während ich auf ihn warte.
In unzähligen Vitrinen und Präsentationstischen aus massivem Tropen- und Eichenholz liegen hier Werte, bei denen mir mit Blick auf meinen Job die Knie weich werden.
Ein Einbruch bei Hans wäre einige Millionen schwer. Aber wir sind Freunde, da sollte man an so was nicht mal denken.
Die Klapptüren zu den hinteren Räumen gehen auf und Hans kommt auf mich zu. Er trägt wie immer seinen weißen Kittel, der flattert wie ein Cape, wenn er so schnell geht wie in diesem Moment. Ihn umweht eine geschäftsmännische und zugleich angestaubte Aura von Seriosität auf Kosten jedweder Coolness.
Aber was ist Coolness eigentlich? Attraktiv vorgetragene Rücksichtslosigkeit? Ich hab keine Ahnung. Das Wort gesetzt beschreibt seinen Auftritt für mich sehr treffend.
»Guten Abend, Henrik«, sagt er und reicht mir zur Begrüßung beide Hände. Mir fällt auf, dass er schwitzt.
»Hallo, Hans. Geht es dir gut? Wie war die Messe?«
Als regelmäßiger Gast auf Messen und Händlerbörsen ist Hans gut vernetzt und zieht hoch dotierte Aufträge an Land.
»Gut, danke. Leider waren die Angebote diesmal für mich nicht so interessant. Ich hoffte auf eine Herausforderung, weißt du. Eine Auftragsarbeit als Edelsteinspalter oder ein Exemplar für den Schliff. Hat leider nicht geklappt.«
Hans tritt gerne bescheiden auf, obwohl er sehr viel Geld besitzt. Dabei wirkt seine Bescheidenheit manchmal irgendwie gestelzt. Das hier ist genau so ein Moment. Das mag ich nicht an ihm.
»Mach dir nichts draus«, sage ich. »Die besten Kunden kommen doch sowieso vorbei, wenn man sie am wenigsten erwartet.«
Wir stehen nun an einem Tresen und er zeigt mir einige Stücke. Seine Angestellte bringt eine mit kleinen Perlenringen verzierte Brosche und legt sie in die Auslage, neben der wir stehen.
»Sie bleiben hier, der Herr und ich gehen jetzt nach hinten«, sagt Hans zu ihr.
An seiner Biederkeit wird sich wohl auch nichts mehr ändern. Er führt mich durch die Klapptüren, von denen aus er mich empfangen hat.
»Wie war New York?«, fragt er und zeigt dabei auf einen Sessel.
Ich sehe mich um und stelle fest, dass es neben seinen Werktischen und Vitrinen kaum noch andere Möbel in diesem Raum gibt. Zwei helle Sessel und einen kleinen Glastisch, zwei Stühle mit Beinen aus Naturholz, einen Sekretär und einen Materialschrank. Alles in hellem Holz gehalten, damit dieser Raum mit seiner tiefen Decke nicht erdrückend wirkt. Die Luft riecht etwas abgestanden.
»Hast du umgestellt …?«, frage ich und sehe an seinem Blick, dass er den Witz nicht versteht. Egal. »New York … ja, New York war für eine Überraschung gut. Und für ein kleines Geheimnis, das ich mit dir teilen will. Guck mal.«
Während ich das sage, hole ich eine Schatulle aus der linken Innentasche meiner Jacke. Der Inhalt ist in ein dunkelrotes Seidentuch eingewickelt. Ich packe es aus. Zum Vorschein kommt ein Stein. Es ist das abgespaltene, kleinere Stück von einem Rohdiamanten von vormals 240 Karat.
Ich nehme die Hände weg. Hans macht große Augen und fängt an, den Stein zu untersuchen. Er zieht verschiedene Lupen hervor und schaut ihn sich im Licht an. Ich merke, dass er jetzt im Tunnel ist, wie man sagt. Trotzdem erzähle ich weiter, auch wenn ich nicht sicher sein kann, dass er mir zuhört.
»Diese winzig kleine Maschine hat gewackelt wie verrückt, als mich so ein schweigsamer vernarbter Pilot nach New York brachte. Ich hatte Bedenken, dass der Typ nichts draufhat oder dass der Vogel bei Wind und Regen einfach abschmiert, weißt du.«
Hans murmelt etwas, das ich nicht verstehe. War wohl nicht für mich gedacht.
»Ich kann dir sagen, das war wirklich unheimlich. Es ist aber gut gegangen und wir sind irgendwo bei Manhattan gelandet. Der Pilot hat gewartet und ein anderer Typ hat mich mit dem Wagen in eine Lagerhalle gebracht. Aber plötzlich steht da so ein Heini und spielt sich als Mittelsmann auf. Ich kenne den Typen gar nicht, weißt du?«
Das Nicken von Hans zeigt, dass er wohl halbwegs zugehört hat. »Der Kerl erzählt mir, dass von dem Team, das da vor vier Monaten saß, keiner mehr in der Stadt ist. Ich frage ihn nach Pete oder wie der Typ tatsächlich heißt. Der, den ich vom Sehen kenne. Über den das Ganze gelaufen ist. Er sagt, er kennt keinen Pete, soll mir aber etwas vom Team geben. Dann drückt er mir die Schachtel in die Hand, so groß wie ein Zauberwürfel. Ich frage ihn, wie da die zwei Millionen Dollar reinpassen, die mir das Team für den Gig als Anteil schuldet. Diese Null gibt mir kein Geld, sondern diesen Rohstein. Ich will hoffen, dass er wertvoll ist.«
Ich mache eine Pause und warte ab, bis Hans sich den Stein mit all seinen Lupen, die hier auf dem Tisch liegen, angeguckt hat. Zumindest habe ich den Eindruck, er hat alle benutzt.
»Gut, dass du mit dem Stein zu mir kommst, Henrik. Das ist wirklich ein außergewöhnlich interessantes Stück. Konntest du erfahren, wo die ihn herhaben?«
Hans macht ein paar Schritte um den Tisch herum und betrachtet den Stein noch mal genauer, bleibt mir aber zugewandt und scheint ganz Ohr zu sein.
»Es gibt da diese Geschichte über Harland West.« Ich erzähle Hans die Story, die man mir aufgetischt hat. »West hat den unbearbeiteten Rohstein von 240 Karat Ende der Siebziger in New York spalten lassen und auf einer Auktion das größere, geschliffene Stück an eine Firma verkauft. Ein Schauspielerehepaar wollte den Stein unbedingt haben, bekam ihn bei der Auktion aber nicht. Das wollte der Ehemann, Roger Barton, nicht auf sich sitzen lassen. Er hat von einem Münztelefon aus mit den neuen Besitzern verhandelt und den Stein letzten Endes für gut eine Million Dollar gekauft. Für die damalige Zeit ein Vermögen. Alles nur, damit seine Frau Leslie Turner ihren Willen, sprich den Diamanten, bekam und aufhörte, ihm und ihrer Entourage weiter Stress zu machen.«
So schillernd die Turner als Person sein mag, so verhaltensgestört dekadent klingt das alles für mich. Aber egal, solche Menschen braucht die Welt auch.
»Der Turner-Barton-Diamant fand seine Besitzerin, der übrig gebliebene Rohstein verblieb jedoch in Wests persönlichem Nachlass. Jetzt liegt er vor dir, wenn es stimmt. Was glaubst du, was du daraus machen kannst, wenn du ihn schleifst?«
Hans hat seine Prüfung inzwischen abgeschlossen und legt den Stein in ein blaues Samtbett. Er sieht aus, als hätte er gerade einen Preis gewonnen. Freut mich für ihn, auch wenn der Diamant nicht ihm gehört, sondern mir.
»Was ich in Zürich vergeblich gesucht habe, hast du mir gerade auf den Tisch gelegt, Henrik. Das ist eine Herausforderung für mich. Es kann stimmen, was man dir gesagt hat. Es sieht sogar ganz gut aus. Lass mir den Stein hier, ich untersuche ihn weiter und dann sprechen wir noch mal. Ich nehme an, du hast ein gutes Geschäft in Aussicht.«
Ich bin erleichtert, diese Einschätzung von Hans zu hören. Doch was ich erwarten kann, weiß ich immer noch nicht. »Wirf mal eine Zahl in den Raum, Hans. Du hast den Stein angesehen, gewogen und du kennst die Preise auf dem Schwarzmarkt. Wie hoch ist deine erste Schätzung?«
Hans verzieht das Gesicht, rollt mit den Augen und betrachtet dann seine Schuhe.
»Was ist los, Hans? Hab ich was Falsches gesagt?«
Jetzt lächelt er, doch er sieht dabei irgendwie verlegen aus. »Es ist ein bisschen früh für so eine Einschätzung. Dein Geld wirst du wieder einfahren. Was darüber hinausgeht, werden wir sehen, Henrik.«
Ja! Ich balle die Faust. Doch kein Verlustgeschäft, wie ich befürchtet hatte, als ich leicht skeptisch New York verließ und auf diesem wackeligen Flug zurück nach Europa kam.
Ich überlege, Hans zu fragen, ob wir etwas essen gehen wollen. Doch wie ich ihn kenne, will er lieber den Rest des Abends mit dem Diamanten verbringen und ihn bis in die Nacht hinein genau studieren.
»Also dann, Hans. Ich komme übermorgen wieder vorbei.«
Hans schüttelt mir mit leuchtenden Augen die Hand und ich verlasse das Geschäft und lenke mein Coupé zu einem Hotel. Da es zu tröpfeln anfängt, bin ich ganz dankbar, dass der Laden eine unterirdische Garage hat.
»Wie lange gedenkt der Herr zu bleiben?«
Eine ältliche Frau mit verhärmten Zügen bucht mich in ein Zimmer ein. Ihre leiernde Aussprache geht mir schrecklich auf die Nerven. Die lang gezogenen Vokale sind Gift für meine Ohren.
»Erst mal für eine Nacht.«
Mit einem uralten Lift fahre ich in den vierten Stock. Die Flure dieses Hotels sind verwinkelt, der Boden ist mit alten Teppichen ausgelegt und Blumenmuster prangen an den Wänden. Nach einem Blick in mein Zimmer, das mit einem Einzelbett, einer Kommode mit einem Röhrenfernseher darauf, einem Tisch und zwei Stühlen bestückt ist, gehe ich wieder hinaus und laufe vom Hotel bis zur nächsten Querstraße.
Mir knurrt der Magen vor Hunger und ich denke, dass ich vielleicht mal etwas essen sollte. Andererseits kann ich das auch später noch machen. Irgendwie ist da so ein flaues Gefühl, das meinen Appetit in Grenzen hält. Ich greife mir in einer überdachten Zelle den Hörer eines öffentlichen Telefons, werfe die Münzen ein und wähle Henriëttes Nummer.
Roland Schmid
Genf, 19. Februar 2001
Großfeuer in Genfer Kanton. Mietshaus komplett zerstört. Löschzüge der Wehr ohne Chance. Anwohnerschaft evakuiert.
Die Titelseite der Zeitung aus der Tagespost von heute verrät mir, dass mein Angestellter Raymond Ba gestern Nacht anscheinend ganze Arbeit geleistet hat. Ich habe Ray aufgetragen, einen Kredithai einzuschüchtern. Einen, bei dem ich mir das erlauben kann, ohne dass deswegen gleich die Mafia, die Rocker oder ein Clan auf der Matte stehen.
Allerdings nicht für mich. Das war ein Gefallen für Hans Wagner, der mich gerade auf einen Kaffee in meinem Büro besucht und mir an meinem Schreibtisch gegenübersitzt. Hans nimmt einen Schluck aus seiner Tasse und mustert den Nachdruck eines Gemäldes, das hinter mir an der Wand hängt. Ein Pferd ohne Reiter auf einer Wiese von irgendeinem Maler aus sonst wo. Hat meine Sekretärin besorgt.
Ich lege die Zeitung in ein Fach auf einem der Aktenschränke, die um meinen Schreibtisch herum den Platz in diesem Raum ausfüllen.
»Danke, dass du dich für mich darum gekümmert hast, Roland. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sich meine Sorge dadurch erübrigt hat. Wurde der Mann eingenordet oder liegt er im Spital? Ist er umgekommen oder was ist mit ihm?«
Ich atme hörbar ein und genervt wieder aus. Warum sollte das wichtig sein? Die Botschaft ist eindeutig angekommen.
»Mach dir keine Gedanken, Hans. Das hat sich erledigt.« Ray hat sich heute noch nicht blicken lassen. Ich weiß nicht mehr, als in der Zeitung steht. Das wird er mir erklären müssen. Eine Brandsatzattacke, mitten in einem Wohngebiet?
»Es ging gar nicht darum, den Laden dem Erdboden gleichzumachen, das hat sich wohl so ergeben«, fahre ich fort. »Mein Mann hat berichtet, dass der Kerl total durchgedreht ist. Es war die einzige Möglichkeit. Ich hatte mit dem Kredithai kein Problem, aber du. Wir halten zusammen, wie Freunde das halt tun. Was wären wir ohne Integrität, ohne Vertrauen in den anderen?«
Hans lächelt mich mit erhobenen Händen an und sieht dabei verlegen aus. Ihm ist anzumerken, dass ihm das Thema nicht behagt und er sich am liebsten in seinen Laden verziehen möchte, um die Sache hinter sich zu lassen.
»Entschuldige, Roland. Auf diesem Gebiet bist du der Fachmann. Ich wollte keineswegs an dir zweifeln.«
»Schon in Ordnung, Hans. Bleibt in der Familie.«
»Wie meinst du das?« Hans sieht mich verständnislos an.
Wir kennen uns seit einigen Jahren, doch ich spreche nur selten über meine Familie.
»Obwohl ich aus einem elitär geführten Elternhaus stamme, bin ich Gewalt seit meiner Kindheit gewohnt. Vielleicht gerade deshalb. Bei uns existierten keine Verbundenheit, Gemeinsamkeit oder Rücksichtnahme. Nur Knechtschaft. Mein Vater Emil verweigerte jedweden familiären Impuls. Er war ein kräftiger Mann mit schwarzem Haar und braunen Augen, wie ich. Kein schlecht aussehender Kerl, doch innerlich verrottet vor Neid und krankhafter Gier. Er war ein brutal auftretender, verbissen kalkulierender Mistkerl. Sein gefräßiges Mehrwollen trieb ihn an und rieb ihn gleichzeitig auf. Das Geld, das er schon hatte, war nicht halb so interessant für ihn wie das der anderen.«
»Klingt wie ein Unternehmer«, meint Hans und schmunzelt.
»Wohlstand um jeden Preis, war eines seiner Mottos. So ging er auch mit Menschen um. Einerseits versteckte er jüdische Familien während des Zweiten Weltkriegs, bot ihnen Schutz und nahm ihnen dafür alles ab, was sie besaßen.«
»Ist doch trotzdem durchaus edel, oder …?«, sagt Hans.
»Andererseits half er deutschen Kriegsverbrechern nach Ende des Krieges bei der Flucht nach Südamerika und hielt auch dafür kräftig die Hand auf.« Was beides klug war, denn es machte ihn zu der Zeit sehr reich.
Hans schluckt und sagt nichts dazu.
»Unser Familienbetrieb, ein Margarinekonsortium mit vier Fabriken, lief seit der Gründung sehr erfolgreich, doch für ihn bei Weitem nicht erfolgreich genug. Emil wollte mehr. Und er wollte mich.«
Hans reißt die Augen auf und wird schlagartig blass.
»Doch nicht so. Ich meinte, im Geschäft dabeihaben. Gott, das fehlte noch. Obwohl, bei dem, was danach kam …«
Hans fragt zögerlich: »Was kam denn danach?«
»Mir wurde die Selbstverwirklichung verboten. Emil drängte mich in ein Studium der Betriebswirtschaftslehre, das ich abbrach. Anschließend in eine kaufmännische Ausbildung im Familienbetrieb, das Studium zum Handelsfachwirt und den Aufstieg zum Juniorpartner.«
Hans sieht nicht mehr ganz so blass aus und meint: »Klingt doch gar nicht übel.«
»Emil gewann die Kontrolle über meinen Terminkalender, über meine Telefonabrechnung, meine Post, über alles in meinem Leben außer über das, was sich in mir selbst abspielte. Mit jedem seiner Schritte drehte ich mehr durch, fühlte mich eingeengt, verfolgt und wie fremdgesteuert. Für meinen Vater war ich nicht mehr jemand, ich war nur noch etwas. Etwas, das zu funktionieren hatte, wie er es wollte. Ich war in Personenkreisen gefangen, deren Gesellschaft mich mürbe und krank gemacht hat und innerlich zerstörte. Jeder neue Tag bedeutete, das Leben von jemand anderem zu leben. Meine Leidensfähigkeit hat eine hohe Toleranzschwelle. Als ich es dennoch nicht mehr aushielt, nahm ich Beruhigungsmittel und Antidepressiva. Als auch das nichts mehr half, inszenierte ich einen Selbstmordversuch.«
Hans hält sich überrascht die Hand vor den Mund und murmelt: »Mein Gott, du Armer …«