Autonom - Annalee Newitz - E-Book

Autonom E-Book

Annalee Newitz

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»›Autonom‹ ist für Biotechnologie und künstliche Intelligenz das, was ›Neuromancer‹ für das Internet war.« Neal Stephenson Zacuity ist eine neue Droge, der ganz heiße Scheiß. Wenn man sie nimmt, wird die Arbeit zu einer wahren Freude. Die Nebenwirkung: Man will nicht mehr aufhören zu arbeiten. Man arbeitet sich wortwörtlich zu Tode. Jack ist eine Patentpiratin, die Medikamente der Pharmaunternehmen kopiert und auf dem Schwarzmarkt verkauft, auch Zacuity. Als die ersten Opfer auftauchen, gibt man ihr die Schuld. Doch Jack ist sich sicher, dass nicht ihre Kopien, sondern schon das ursprüngliche Präparat zu Suchterscheinungen und massiven gesundheitlichen Schäden führt. Sie nimmt Kontakt zu einigen alten Bekannten auf, idealistischen Pharmaforschern, mit denen sie studiert hat, und gemeinsam machen sie sich an die weitere Erforschung des Medikaments. Doch die Zeit wird knapp: Denn inzwischen wird sie von dem Pharmakonzern Zaxy als Terroristin gejagt. Ein Agent der IPC (International Property Coalition) hat sich mit einem Kampfroboter an ihre Fersen geheftet. Stück für Stück rekonstruieren die beiden das Netzwerk, in dem sich Jack bewegt. Die Schlinge zieht sich langsam zu … »Autonom« von Annalee Newitz ist harte Science Fiction über die Welt in hundert Jahren. Für alle Leser von William Gibson, Cory Doctorow, Neal Stephenson und Andy Weir.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 433

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annalee Newitz

Autonom

SF-Roman

Aus dem Amerikanischen von Birgit Herden

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Ballade: The Last Saskatchewan Pirate]1 Piratenschiff1. Juli 21442 Systemstart2. Juli 21443 Privateigentum2. Juli 21444 Iqaluit4. Juli 21445. Juli 21446. Juli 21445 Gute Wissenschaft5. Juli 2144Sommer 21445. Juli 21446. Juli 21446 Nebenwirkungen6. Juli 21447 Kranke Pillen7. Juli 2144Herbst 2115 bis Herbst 21187. Juli 21448. Juli 21448 Gehirne9. Juli 21449 Gefängnis9. Juli 2144Herbst 211810. Juli 214410 Anthropomorphismus10. Juli 214411 Free Lab11. Juli 2144Frühling 211911. Juli 214412 Menschliche Netzwerke11. Juli 214413 Retcon13. Juli 2144Sommer 211913. Juli 214414 Das andere wahre Selbst12. Juni 214415 Dein Körper gehört dir13. Juli 2144Herbst 212016 No. 3 Road13. Juli 214414. Juli 214417 SlaveBoy16. Juli 214418 Vegas14. Juli 214419 Ein Arbeitsunfall17. Juli 214420 Marketing16. Juli 214418. Juli 2144, 04:0018. Juli 2144, 06:0021 Moose Jaw18. Juli 2144, 06:4818. Juli 2144, 07:0018. Juli 2144, 07:0518. Juli 2144, 08:0518. Juli 2144, 08:1022 Der PharmaBoss21. Juli 214423. Juli 21445. Dezember 214416. Januar 214523 Autonomie21. Juli 21444. August 214416. Januar 2145Danksagung

Für alle Roboter, die ihre Programmierung hinterfragen

The Last Saskatchewan Pirate

 

Eine Ballade aus dem späten 20. Jahrhundert von den Arrogant Worms

 

 

I used to be a farmer and I made a living fine

I had a little stretch of land along the C.P. line

But times were hard, and though I tried, the money wasn’t there

And bankers came and took my land, and told me »fair is fair«.

 

I looked for every kind of job, the answer always no

»Hire you now?« they’d always laugh. »We just let twenty go!«

The government they promised me a measly little sum

But I’ve got too much pride to end up just another bum.

 

Then I thought, who gives a damn if all the jobs are gone,

I’m gonna be a pirate on the river Saskatchewan.

 

’Cause it’s a heave-ho, high-ho, coming down the Plains

Stealing wheat and barley and all the other grains

And it’s a ho-hey, high-hey, farmers bar your doors

When you see the Jolly Roger on Regina’s mighty shores.

 

You’d think the local farmers would know that I’m at large

But just the other day I saw an unsuspecting barge

I snuck up right behind them and they were none the wiser

I rammed their ship and sank it, and I stole their fertilizer.

 

A bridge outside of Moose Jaw spans a mighty river

Farmers cross in so much fear their stomachs are a-quiver

’Cause they know that Tractor Jack is hiding in the bay,

I’ll jump the bridge and knock them cold and sail off with their hay.

 

* * *

 

Ich war einmal ein Farmer und lebte davon fein,

Ein kleiner Fleck im weiten Land von Kanada war mein.

Doch harte Zeiten brachen an, mein Geld, das war nicht mehr,

Die Banker nahmen mir mein Land und sagten »fair ist fair«.

 

Ich suchte jede Art von Job, die Antwort immer nein,

»Stellt ihr wohl ein?«, sie lachten nur: »Grad mussten zwanzig gehn!«

Vom Amt da kriegst du kleines Geld, das hör ich noch im Ohr,

Doch Bettler sein, das war nicht meins, da war mein Stolz davor.

 

Zur Hölle auch, so dachte ich, wenn alles ist vertan,

Werd ich Pirat und fahre auf dem Fluss Saskatchewan.

 

Dann heißt es heave-ho, high-ho – fürchtet meinen Zorn!

Ich nehm euch euren Weizen weg und jedes andre Korn.

Dann heißt es ho-hey, high-hey, und jeder jäh erschrickt

Wenn er an Reginas Küsten den Totenkopf erblickt.

 

Von meiner Fahrt, so könnt man meinen, wissen alle hier,

Doch vor mir fährt ein alter Kahn, weiß nichts von meiner Gier.

Ich pirsch mit an, ich ramm das Boot, Schluss ist’s mit der Idylle,

Ich schick die Träumer auf den Grund, klau ihnen ihre Gülle.

 

Den mächt’gen Strom vor Moose Jaw, den überquert ’ne Brücke

die Farmer, die da rübergehn, die hau ich gleich in Stücke.

Mit Traktor Jack wird niemand mehr seines Lebens froh,

Schon spring ich los, mach mich davon, mit eurem ganzen Stroh.

1 Piratenschiff

1. Juli 2144

Die Schülerin hörte einfach nicht mehr auf mit den Hausaufgaben, obwohl es sie umbrachte. Selbst nachdem die Ärzte sie mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt hatten, versuchte sie immer wieder krampfhaft, ihren Körper in eine sitzende Position zu bringen, um auf eine nicht vorhandene Tastatur einzuhämmern. Antiobsessiva waren genauso wirkungslos wie die Manipulation des Serotoninspiegels, und es schien sich auch nicht um einen dissoziativen Zustand oder um Halluzinationen zu handeln. Die Schülerin war im Grunde bei Verstand, konnte aber einfach nicht aufhören, für ihren Programmierkurs neue Funktionen in ein Betriebssystem einzugeben. Das Einzige, was sie noch am Leben hielt, war eine Magensonde, die ihr die Ärzte zwangsweise durch die Nase eingeführt hatten.

Die Eltern des Mädchens waren außer sich. Sie lebten in einer guten Wohngegend in Calgary, und ihre Tochter hatte immer die besten Pillen bekommen, die es für Geld zu kaufen gab. Wie konnte da mit ihrem Hirn etwas derart schieflaufen?

Gegenüber der Presse erklärten die Ärzte, dass es bei diesem Fall alle Anzeichen eines Drogenmissbrauchs gebe. Im Gehirn des Mädchens hatte man die klassischen Muster einer Abhängigkeit gefunden: Das Belohnungssystem feuerte aus vollen Rohren, in einer Endlosschleife strömten Neurotransmitter zwischen Mittelhirn und Großhirnrinde hin und her. Die biochemische Konfiguration war allerdings eigenartig, denn ihr Gehirn sah so aus, als wäre sie schon seit Jahren süchtig nach Hausaufgaben. Alles war genau für diese eine spezielle Belohnung verdrahtet, und die Dopaminrezeptoren zeigten Muster, die normalerweise erst nach einer sehr langen Phase der Abhängigkeit auftraten. Familie und Freunde der Schülerin beharrten allerdings darauf, dass sie dieses Problem bis vor ein paar Wochen nie gehabt hätte.

Für den All Wonder-Feed erwies sich das medizinische Rätsel als viraler Goldklumpen. Inzwischen lief die Story aber auch in allen großen Nachrichtenmodulen.

 

Jack Chen nahm die Brille ab und stopfte das deaktivierte Gerät in die Brusttasche ihres Overalls. Sie hatte so lange in der gleißenden Sonne gearbeitet, dass sich blasse Ringe um ihre dunkelbraunen Augen abzeichneten. Es war die Sonnenbräune eines Farmers, ganz wie im Gesicht ihres Vaters, nachdem er einen langen Tag in den Feldern mit genoptimiertem Raps verbracht und durch seine Datenbrille auf die winzigen gelben Blüten geblickt hatte. Wahrscheinlich, so überlegte Jack, war seit Generationen jeder Chen von der Sonne verbrannt worden, bis zurück zu den Tagen, als ihre Ururgroßeltern von Shenzhen über den Pazifik gekommen waren und nahe Saskatoon eine Agrarlizenz erstanden hatten. Manche Dinge änderten sich eben nie, egal wie fern der Heimat man war.

Andere hingegen schon. Jack saß im Schneidersitz mitten im Nordpolarmeer, balancierte auf dem sanft geschwungenen und verblüffend unsichtbaren Rumpf ihres Unterseeboots. Der negative Brechungsindex des U-Boots beugte die Lichtstrahlen so weit, dass sie für die Überwachungssatelliten, die ein paar hundert Kilometer über ihr dahinzogen, wundersamerweise auf den Wellen zu schweben schien. Neben ihr trieb ein ausgebreitetes nichtreflektierendes Solarpaneel auf den Wellen. Jack machte eine knautschende Geste, woraufhin sich der Sonnenkollektor in seine Dockingstation zurückzog und unter einer Rumpfplatte verschwand.

Die Batterien des U-Boots waren wieder aufgeladen, die Netzverbindungen von einer Wolke legitimer Daten überdeckt, und der Laderaum war angefüllt mit Medikamenten. Zeit zum Abtauchen.

Jack öffnete die Luke und polterte die Leiter zum Kontrollraum hinunter. An den Wänden erwachten Bakterienkolonien zum Leben und erhellten den Weg mit ihrem trüben, grünlichen Schein. Unter einem Gewirr von Rohrleitungen an der Decke blieb sie stehen. Ein Eingabefenster materialisierte sich auf Augenhöhe, dank Tausender in der Luft zirkulierender Projektoren organisierten sich seine Photonen zur Form eines Bildschirms. Mit einem Wischen rief sie das Navigationssystem auf und änderte den Kurs, um die dichtbefahrenen Schiffsrouten zu umgehen. Ihr Ziel war ein relativ ruhiger Streifen der arktischen Küste jenseits der Beaufortsee, wo Süßwasser auf den Ozean traf und ein gewaltiges Puzzle aus Flüssen und Inseln entstanden war.

Allerdings fiel es Jack schwer, sich auf ihre alltäglichen Aufgaben zu konzentrieren. Irgendetwas an der Geschichte mit der Hausaufgabensucht nagte an ihr. Sie setzte die Brille wieder auf und tauchte noch einmal in die Feeds ein, um nach weiteren Informationen zu suchen. »Verdacht auf Schwarzmarktpillen im Fall der Hausaufgaben-Fanatikerin«, lautete eine der Schlagzeilen. Jack blieb die Luft weg. Steckte hinter der Boulevardmeldung am Ende die Zacuity-Lieferung, die sie vor einem Monat nach Calgary gebracht hatte?

 

Im Frachtraum des U-Boots stapelten sich im Moment zwanzig Kisten mit frisch raubkopierten Medikamenten. Neben vielen Mitteln gegen Genmutationen und bakterielle Infektionen befanden sich dort auch Schachteln mit kopiertem Zacuity, der neuen, heißbegehrten Blockbuster-Pille zur Leistungssteigerung. Genau genommen war sie noch gar nicht auf dem Markt, was den Bedarf erst recht anheizte. Noch dazu stammte das Zeug aus der Schmiede von Zaxy, dem Unternehmen hinter Smartifex, Brillicent und anderen beliebten Arbeitsdrogen. Ein Ingenieur von Quick Build Wares, Vancouvers größtem Biotechentwickler, hatte Jack eine Betaprobe zugespielt. Wie zahlreiche andere Firmen gab Quick Build neue Aufmerksamkeitsverstärker kostenlos in der Kantine an seine Angestellten aus. Mit Zacuity arbeiteten die Leute einfach schneller und lieferten bessere Ergebnisse.

Jack hatte sich nicht die Mühe gemacht, Zacuity selbst auszuprobieren – sie brauchte keine Drogen, um ihren Job spannend zu finden –, doch der Ingenieur, von dem die Probe stammte, hatte ihr die Wirkung mit geradezu religiöser Verzückung angepriesen. Man schob sich die Pille unter die Zunge, und schon fühlte sich die Arbeit einfach gut an. Das Mittel steigerte nicht nur die Aufmerksamkeit, alles war plötzlich das reinste Vergnügen. Man konnte es gar nicht erwarten, an den Computer, die Steckplatinen, den Gestentisch, ins Labor oder zum 3-D-Drucker zurückzukommen. Unter Zacuity verschaffte einem das Arbeiten eine so tiefe emotionale Befriedigung wie sonst nichts auf der Welt. Perfekt für ein Unternehmen wie Quick Build, das in kurzen Abständen neue Produkte auf den Markt warf und dessen Mitarbeiter zuweilen innerhalb einer Woche neue Hardware von Grund auf hacken mussten. Mit Zacuity gab es keine Skrupel mehr – und keinerlei Zweifel daran, dass die Welt durch einen weiteren Klumpen vernetzter Atome zu einem besseren Ort wurde. Mit Vollendung eines Projekts wurde das Gefühl der Befriedigung so intensiv, dass man sich vor lauter Wonne minutenlang heftig atmend in den Polstern des Schreibtischstuhls wand und dabei die Tischplatte umklammerte. Es war kein Orgasmus, nicht wirklich. Aber es war um Längen besser als alles, was einem die Nervenenden sonst so aus der physischen Welt zurückspielten. Und das Beste: Nach einer von Zacuity angetriebenen Arbeit wollte man nichts anderes, als ein neues Projekt in Angriff zu nehmen. Kein Wunder, dass sich das Zeug wie warme Semmeln verkaufte.

Die Sache hatte allerdings einen Haken, dem Jack bislang keine Beachtung geschenkt hatte. Zaxy hatte die Daten zu den klinischen Versuchsreihen bislang nicht veröffentlicht, es gab also keinerlei Informationen über mögliche Nebenwirkungen. Normalerweise brachten Nachrichten über den ein oder anderen Drogenabhängigen Jack nicht um den Schlaf, doch dieser Fall war etwas Besonderes. Ihr fiel keine andere Substanz ein, die süchtig nach Hausaufgaben hätte machen können. Natürlich hätte jedes Feld-Wald-Wiesen-Stimulans das zwanghafte Verhalten der Schülerin auslösen können, doch dann wäre der Fall kaum als medizinisches Rätsel gehandelt worden – die Ärzte hätten den Wirkstoff sofort nachgewiesen. Jack brummte allmählich der Schädel, sie fühlte sich, als hätte sie ein besonders fieses Nervengift abbekommen. Wenn es sich bei dieser Droge um ihr kopiertes Zacuity handelte, was war schiefgelaufen? Eine Überdosis? Hatte die Schülerin das Mittel vielleicht mit etwas anderem kombiniert? Oder hatte Jack bei der Rekonstruktion Mist gebaut und ein Monster in die Welt gesetzt?

Sie spürte ein seltsames Zucken in Rücken und Beinen und hielt das zunächst für eine psychosomatische Stressreaktion auf die Feeds. Doch dann merkte sie, dass der Boden leicht vibrierte, obwohl sie den Motor noch gar nicht gestartet hatte. Sie riss sich die Brille vom Kopf, und als sie die Orientierung wiedererlangt hatte, begriff sie, dass jemand im Frachtraum herumstapfte. Was zum Henker? Zwar gab es achtern eine Notluke, aber wie …? Hatte sie vergessen abzuschließen? Es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Mit einer raubtierhaften Kopfbewegung startete Jack ihr Perimetersystem, dessen straff gespannte Nanodrähte mit den Nervenenden ihrer Haut vernetzt waren. Dann ließ sie die Hülle ihres Messers aufschnappen. Den Geräuschen nach zu urteilen, handelte es sich um nur eine Person, die zweifellos im Begriff stand, alles mitzunehmen, was sie tragen konnte. Nur ein Drogensüchtiger oder ein wahrhaft verzweifelter Mensch wäre zu einer solchen Dummheit imstande.

Lautlos öffnete Jack die Tür und glitt mit gezücktem Messer in den Frachtraum. Was sie sah, ließ sie einen Augenblick irritiert innehalten. Es war nicht nur ein Dieb, sondern zwei: ein Kerl mit der schuppigen Haut und dem schütteren Haar eines Pharmajunkies und sein Roboter, der einen Sack voller Medikamente in Händen hielt. Der Bot war ein armseliges Ding, das der Dieb wohl irgendwo abstaubt hatte – stellenweise war seine Haut regelrecht verschmort. Dennoch stellte er eine Gefahr dar. Es blieb keine Zeit, über nichttödliche Optionen nachzudenken – mit geübtem Überhandwurf schleuderte Jack das Messer und traf den Mann in der Kehle. Geleitet durch einen Algorithmus zur Erkennung von Körperteilen fuhr die Klinge durch seine Luftröhre und bohrte sich in die Arterie. Er brach röchelnd zusammen – Blut, Luft und Kacke strömten aus seinem Körper.

Mit einer fließenden Bewegung riss Jack das Messer wieder heraus und wandte sich dem Bot zu. Das Ding starrte sie mit offenem Mund an, als würde es unter einem ernsthaften Systemfehler leiden. Was wahrscheinlich auch der Fall war. Umso besser für Jack – vielleicht kümmerte es den Bot nicht, wer die Befehle gab, solange sie nur bestimmt genug gegeben wurden.

»Gib mir den Sack«, sagte sie versuchsweise und streckte die Hand aus. Der Sack war voll mit kleinen Medikamentenschachteln. Sofort händigte der Bot ihn aus, der Mund stand ihm immer noch offen. Er war einem Jungen im Teenageralter nachempfunden, konnte allerdings weit älter sein. Oder weit jünger.

Und er schien zu gehorchen, das war schon mal gut. Zumindest würde sie heute nicht zwei Wesen töten müssen, und womöglich sprang dabei sogar ein brauchbarer Bot für sie heraus. Mit Hilfe eines befreundeten Admins in Vancouver würde sie ihn vielleicht wieder flottkriegen. Auf den zweiten Blick sah seine Haut gar nicht so übel aus. Zwar war er an manchen Stellen ganz schön zerschrammt und blutig, doch es schienen keine Komponenten herauszuragen.

»Setz dich«, befahl sie ihm, und augenblicklich ließ er sich auf den Boden des Frachtraums nieder – seine Beine knickten ein, als wäre bei elektromagnetisch verbundenen Tragebalken plötzlich der Saft abgedreht worden. Mit ausdruckslosen Augen blickte der Bot sie an. Jack würde sich später um ihn kümmern. Im Augenblick musste sie die Leiche seines Herrn entsorgen, aus der immer noch Blut auf den Boden sickerte. Sie packte den Mann bei den Achseln und schleifte ihn durch die Tür in den Kontrollraum; den Bot ließ sie im verschlossenen Frachtraum zurück. Viel anstellen konnte er da drinnen nicht, schließlich würde er sich wohl kaum über die Drogen hermachen.

Unterhalb des Kontrollraums befand sich am Fuß einer engen Wendeltreppe ihr Labor, das zugleich als Küche diente. In einer Ecke stand ein wuchtiger, hochauflösender Drucker, mit drei geschlossenen Magazinen für die verschiedenen Materialien: Metalle, Gewebe, Hartschaum. Jack rief in der Luft eine weitere Anzeige auf und stellte die Druckerköpfe für Hartschaum so ein, dass sie zwei Zementblöcke ausspucken würden – fein säuberlich mit Löchern versehen, an denen sie die Füße des toten Junkies befestigen konnte. Während das Adrenalin in ihrem Blut allmählich verebbte, sah sie zu, wie die Köpfe durchs Druckerbett rasten und die mattgrauen Brocken aufschichteten. Sie spülte das Messer im Waschbecken ab und steckte es zurück in die Hülle. Dann wurde ihr klar, dass sie von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert war. Sie ließ Wasser ins Waschbecken einlaufen und durchwühlte die Schränke auf der Suche nach einem Lumpen.

Mit einem Zucken ihrer Schulter löste sie die molekularen Verbindungen ihres Overalls und spürte gleich darauf, wie sich entlang unsichtbarer Nähte das Gewebe auflöste und der Anzug in einen Haufen zu ihren Füßen zusammenfiel. Ihr Körper unter der grauen Thermounterwäsche hatte noch ungefähr die gleiche Form wie vor zwei Jahrzehnten, und ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar wurde nur von wenigen weißen Strähnen durchzogen. Einer von Jacks Verkaufsschlagern war die molekülgenaue Reproduktion des Langlebigkeitsmedikaments Vive, und sie hatte immer großen Wert darauf gelegt, für die Qualität ihrer Produkte mit der eigenen Gesundheit einzustehen. Nur Zacuity hatte sie nicht genommen. Während Jack sich das Gesicht wusch, versuchte sie im Geiste, gleich mit zwei Schrecken fertig zu werden: Oben in ihrem Schiff lag ein toter Mann, und in Calgary schwebte eine Schülerin in Lebensgefahr, wegen etwas, das verdächtig nach Schwarzmarkt-Zacuity klang. Auf den Arbeitstisch tropfend stand sie da und sah dabei zu, wie die Zementblöcke um ihre zentralen Löcher herum in die Höhe wuchsen.

Sie war nachlässig geworden, das musste Jack sich eingestehen. Als sie Zacuity rekonstruiert hatte, war dessen Molekularstruktur nahezu identisch mit dem gewesen, was sie von Dutzenden anderen Arbeitsdrogen und Wachmachern kannte, und daher hatte sie weitere Nachforschungen nicht für nötig gehalten. Natürlich konnte Zacuity ein paar unerwünschte Nebenwirkungen haben, doch die Arbeitsdrogen ermöglichten ihr, antivirale Wirkstoffe und Gentherapien quasi umsonst abzugeben. Sie brauchte das schnelle Geld durch den Verkauf von Zacuity, um Menschen mit Medikamenten zu versorgen, die darauf dringend angewiesen waren. Es war Sommer, und von der Asiatischen Union schwappte gerade eine neue Seuche über den Pazifik. Ihr war die Zeit davongelaufen. Menschen ohne Credits würden bald sterben, und die Pharmaunternehmen kümmerte das einen Scheiß. Also hatte Jack in Windeseile Tausende unerprobter Zacuity-Pillen in der ganzen Freihandelszone verteilt. Wenn der Zusammenbruch der Schülerin wirklich ihre Schuld war, dann hatte Jack nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch in ethischer Hinsicht auf ganzer Linie versagt.

Mit einem Piepen öffnete sich der Drucker, und zwei durchlöcherte Betonklötze kamen zum Vorschein. Jack schleppte sie die Treppe hinauf, und bei jedem Schritt fragte sie sich, warum sie plötzlich mit bloßen Händen so schwere Gewichte trug.

2 Systemstart

2. Juli 2144

Unter Paladins Rückenpanzer war Sand geraten, und seine Aktoren schmerzten. Es war sein erstes Training – oder vielleicht auch sein vierzigstes. Während der Formatierungsphase fiel es schwer, ein lineares Zeitbewusstsein zu entwickeln; manchmal verdoppelten oder verdreifachten sich Erinnerungen, bevor sie jene gerade Linie bildeten, die sich hoffentlich eines Tages hinter ihm erstrecken würde – gerade so wie die Spur aus vierzehigen Fußabdrücken, die er bei seinem Gang durch die Dünen hinterließ.

Mittels Millionen Codezeilen hielt sich Paladin bei seinem Gleitgang in der Balance und erklomm eine Schräge aus winzigen Körnchen, die der Wind zu sanften Wellen aufgehäuft hatte. Mit jedem Schritt bohrte er ein Loch in die Düne und musste in der Taille einknicken, um sich zu stabilisieren. Sand rieselte über seinen Körper und hinterließ winzige Narben in der Carbonlegierung seines Panzers. Lee, sein Botadmin, hatte ihn um 15:00 Uhr aus dem Jet geworfen, irgendwo im Norden der Afrikanischen Föderation. Das Runterkommen war kein Problem gewesen. Er erinnerte sich, dass er das schon einmal getan hatte – den Körper in einem bestimmten Winkel ausrichten, um sich vor Überhitzung zu schützen, die Rückenschilde so weit ausbreiten, dass sie den Wind einfingen, dann der Aufprall, der Schock in den Stoßdämpfern.

Aber dies hier war keine weitere Wiederholung des altvertrauten Hindernisparcours. Paladin befand sich auf einer Testmission.

Irgendwo verborgen in den Dünen, so hatte ihm Lee gesagt, lag das Versteck der Schmuggler. Paladins Aufgabe war es, sich von Süden zu nähern, das Gebiet zu erkunden, das Versteck zu finden und dann mit so vielen Informationen wie möglich zurückzukehren. Der Botadmin hatte gegrinst, als er ihm die Instruktionen gegeben hatte, und Paladin an der Schulter gepackt. »Ich hab extra für den Test ein paar von deinen Treibern optimiert. Du wirst diese Dünen raufschweben wie ein gottverdammter Schmetterling.«

Inzwischen war es eine Stunde vor Sonnenuntergang. Paladins Rückenpanzer beugte die Lichtstrahlen, bis sie unter das sichtbare Spektrum rutschten – für menschliche Augen würde sein dunkler Körper hier auf der Düne nicht mehr sein als ein Flimmern, besonders aus der Entfernung. So hoffte er jedenfalls – er musste sich von dem Gebiet einen Eindruck verschaffen, bevor irgendjemand bemerkte, dass er hier war.

Die Landschaft bestand in allen Richtungen aus sanften, blass-rötlichen Wellen. Der Sand war völlig unberührt – wenn vor ihm irgendjemand hier entlanggegangen war, dann hatte der Wind seither alle Spuren verweht. Es musste sich um ein unterirdisches Versteck handeln, wenn es überhaupt existierte. Paladin stand regungslos da, seine Objektive zoomten und schwenkten hin und her, suchten nach dem Glitzern von Antennen oder anderen Anzeichen für eine Behausung. Die Daten speicherte er für eine spätere Analyse ab.

Dann sah er es: ein sichelförmiges Stück Chrom, das der Wind freigeweht hatte. Er kraxelte die Düne hinunter, Hunderte von Feinjustierungen verhinderten, dass er auf dem unsicheren Grund ausrutschte. Schließlich hatte er die genaue Ortung einer Bodenklappe, wahrscheinlich der Eingang zu einem unterirdischen Bauwerk. Sobald er es durchsucht hatte, würde er ins Labor zurückkehren können. Lee würde seine Muskeln vom Sand befreien, und das knirschende Unbehagen hätte endlich ein Ende.

Gerade als Paladin die Hand ausstreckte, um an dem Schließmechanismus zu ziehen oder zu drehen, riss ihm der Bolzen eines verborgenen Scharfschützen den Arm von der Schulter. Es war der erste heftige Schmerz in seinem Leben. Er konnte die klaffende Wunde im gesamten Torso spüren, gefolgt vom Kribbeln und Sengen der zerfetzten Molekularverbindungen an den verkohlten Rändern des Stumpfes. Inmitten der Agonie schoss ihm plötzlich die Erinnerung an seinen ersten Systemstart durch den Kopf, als sich ein Programm nach dem anderen geöffnet hatte, das jeweils folgende wie aus dem Nichts aufrufend. In dieses Nichts wäre er am liebsten zurückgekehrt. Alles war besser als der feurige Schmerz, der jetzt in seinem ganzen Körper loderte – und darüber hinaus. Zu Paladins Sensorium gehörte noch immer der abgetrennte Arm, der über ein Kurzstreckensignal seinen Status an den Bot sandte. Er hätte sein Perimeternetzwerk abschalten müssen, um den Arm zum Schweigen zu bringen. Doch ohne Perimeter war er praktisch wehrlos, und so steckte er fest in dieser Marter, die sich zwischen Körperinnerem und Außenwelt aufspannte. Paladin warf sich in den Sand, um mit den Flügelschilden seine verbleibenden Schaltkreise zu schützen – und seinen einzigen biologischen Körperteil, der sich tief verborgen an dem Platz befand, wo Menschen manchmal einen Fötus trugen.

Mit der ihm verbliebenen Hand scharrte er nach dem Eingang, bis dieser sich mit einem Schnaufen öffnete; der Druckunterschied schien den Bot einzusaugen. Ein weiterer Bolzen krachte neben ihm in den Boden, um den Einschlag herum bildeten sich Pfützen aus geschmolzenem Sand. Paladin warf sich zur Seite und erhaschte einen letzten Blick auf seinen Arm. Die Finger krümmten sich noch immer und griffen nach etwas – noch im Tod folgten sie den Kommandos ihrer Software. Als sich die Tür schloss, unterbrach sie den sinnlosen Datenstrom, der Schmerz ließ nach.

Paladin fand sich in einem Aufzug wieder, dessen trübe Ultraviolett-Beleuchtung darauf schließen ließ, dass er sich in einer Boteinrichtung befand – oder zumindest im Boteingang einer unterirdischen Einrichtung. Für Menschen wäre alles stockfinster gewesen. Den zerfetzten Stumpf an sich gepresst, sackte Paladin in einem Nebel disparater Gefühle zu Boden. Mit einiger Anstrengung schaffte er es, sich abzulenken, indem er sich auf das winzige Display des Aufzugs konzentrierte. Vierzig Meter, sechzig Meter, achtzig Meter. Bei hundert kamen sie zum Halten, doch aus den fernen Geräuschen der Maschinerie schloss Paladin, dass sie noch weit tiefer hätten fahren können.

Die Tür glitt zur Seite, und da stand Lee, flankiert von zwei Bots – der eine schwebte in einem Wirbel schnell schlagender Flügel, der andere ähnelte mit seinen vier Beinen und den gefalteten Armen einer Gottesanbeterin. Auf Lees Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, die beiden Bots blieben stumm. Paladin sah die drei an, um eine möglichst würdevolle Pose bemüht, und versuchte, seine körperlichen Qualen zu ignorieren.

»Scheiße auch, was für ein Hammerschuss«, sagte Lee, noch bevor Paladin in den breiten Tunnel aus Hartschaumlegierung trat. »Hast du gemerkt, wie gut der neue Kletteralgorithmus funktioniert?« Er gab Paladin einen Klaps auf den unverwundeten Arm. »Sorry wegen deines Arms. Ich kümmere mich gleich drum.«

Die Bots sagten noch immer kein Wort. Paladin folgte der Gruppe den Tunnel hinunter, vorbei an mehreren Türen, deren aufgemalte Kennzeichnung ausschließlich UV-Licht reflektierte. Nur für Botaugen sichtbar. Vielleicht befand er sich in einer Trainingsstation für Bots? Würde man ihn hier einer Kampfeinheit zuteilen?

Sie bogen in einen anderen Tunnel ab, bei dem es sich offensichtlich um ein gemischtes Areal handelte: Hier reflektierten die Markierungen das sichtbare Spektrum, und manche der Zugänge waren zu schmal, als dass ein gepanzerter Bot wie er oder die Gottesanbeterin durchgepasst hätten. In einem Maschinenraum machten sie halt. Lee begann, einen neuen Arm auszudrucken, während Paladin sich die Gelenke mit Druckluft und Schmiermittel reinigte.

Die Gottesanbeterin sandte eine Nachricht an Paladin. Hallo. Lass uns eine abgesicherte Session per AF-Protokoll einrichten.

Hallo. Ich verfüge über die AF-Version 7.6, erwiderte Paladin.

Dann mal los. Ich heiße Fang. Die Session nennen wir 4788923. Hier ist meine Identifikation. Hier kommen meine Daten.

Fangs Anfrage kam zusammen mit einem öffentlichen Legitimierungsschlüssel und einer komprimierten Datei, aus der eine dreidimensionale Karte der Einrichtung erwuchs. Ein Konferenzraum vierzig Meter unter ihnen war rot markiert. Laut den Metadaten der Karte befanden sie sich in einer ausgedehnten Militäreinrichtung, die von der Regierung der Afrikanischen Föderation betrieben wurde. Anscheinend leisteten die Bots hier die Art von Arbeit, für die auch er ausgebildet worden war: Aufklärung, Analyse und Kampfeinsätze. Paladin war soeben zu seiner ersten Einsatzbesprechung eingeladen worden. Es war Zeit, dass er sich seinem neuen Kameraden ordentlich vorstellte.

Ich bin Paladin. Hier kommt meine Identifikation. Hier kommen meine Daten. Wir sehen uns dann dort.

Lee beendete seine Arbeit an dem neuen Arm und testete mit einem Voltmeter Paladins Stumpf. Der Bot stand auf einem Ladepad und saugte Energie in die Batterien, die seinen Körper wie ein Herz-Kreislauf-System durchzogen. Im Allgemeinen verließ er sich auf die Solarpaneele, die in seinen Panzer eingearbeitet waren, doch mit den Pads ging es schneller.

»Kein Problem, kein Problem«, murmelte der Botadmin. Das war seine Lieblingsphrase und tatsächlich die ersten gesprochenen Worte, die Paladin je gehört hatte, in den Sekunden nach dem ersten Systemstart vor drei Monaten. Der Arm verband sich nun mit dem Stumpf, und von der qualvollen Verletzung blieb nur ein Kribbeln. Mit Hilfe eines Molekularregulators verwob Lee die Atomstruktur des Arms mit dem integrierten Körpernetzwerk des Bots, und als die Verbindung hergestellt war, konnte Paladin seine neue Hand spüren. Er ballte sie zur Faust. Seine rechte Körperhälfte fühlte sich wie schwerelos an, als wäre mit dem Schmerz eine Last von ihm genommen worden. Ihm wurde schwindelig, und er kostete die Empfindung aus.

»Muss los, Paladin – hab noch jede Menge anderes Zeug am Hacken.« Lee fiel eine Strähne seines dunklen Haars übers Auge. »Sorry, dass ich auf dich schießen musste, aber das gehört zum Training. Hab nicht gedacht, dass gleich der ganze Arm draufgeht!«

Wie oft hatte Paladin bereits in dieses menschliche Gesicht geblickt? Er wusste es nicht. Selbst wenn er seine Videoaufzeichnungen durchgegangen wäre, hätte er wohl keine Antwort gefunden. Doch nach der heutigen Mission würden für ihn menschliche Gesichter nie wieder aussehen wie zuvor. Sie würden ihn daran erinnern, wie es sich anfühlte, zu leiden und vom Leiden erlöst zu werden.

Als Paladin im Besprechungsraum eintraf, saßen dort zwei Menschen auf Stühlen, daneben hielten sich Fang und der Schwebebot bereit. Paladin schickte ihnen eine Nachricht und begrüßte die Menschen mit gesprochener Sprache; für die weitere Kommunikation sah das Protokoll menschliche Reichweite vor. Paladin postierte sich neben Fang und knickte die Beine ein, bis er sich mit den Menschen auf Augenhöhe befand. In dieser Haltung, mit nach hinten ragenden Kniegelenken und flach angelegten Rückenschilden, ähnelte er einem großen humanoiden Vogel.

»Willkommen im Camp Tunesia, Paladin«, sagte einer der Menschen. Am Kragen trug er einen winzigen roten Button, auf dem in goldenen Lettern IPC stand, was ihn als hochrangigen Verbindungsmann vom Föderationsbüro der International Property Coalition auswies. »Für die nächsten paar Tage wird dies hier deine Basis sein, während wir dich und deinen Partner Eliasz auf eure Mission vorbereiten.« Er deutete auf den anderen Menschen, einen schlanken Mann mit heller Haut, gelocktem Haar und weit auseinanderstehenden braunen Augen, der einen Kampfanzug der Föderation trug. Wie Paladin auffiel, ballte Eliasz seine rechte Hand auf ganz ähnliche Weise wie er zur Faust. Vielleicht erinnerte sich auch Eliasz an etwas Schmerzhaftes.

Der Verbindungsmann projizierte einige ungeöffnete Dateien in die Luft über dem Tisch. »Wir haben es mit einem schweren Vergehen im Bereich Pharma zu tun, gegen das wir rasch und klug vorgehen müssen«, erklärte er. Eines der Dateisymbole löste sich auf und formte erst das Firmenlogo von Zaxy, dann eine kleine Pillenschachtel mit der Aufschrift Zacuity.

»Ich nehme an, Sie haben von Zacuity gehört.«

»Eine Arbeitsdroge«, erwiderte Eliasz mit ausdrucksloser Miene. »Manche der großen Firmen haben Lizenzen für ihre Angestellten erworben. Soll sich richtig cool anfühlen. Selbst ausprobiert hab ich’s nie.«

Der Verbindungsmann verzog das Gesicht. »Es handelt sich um einen Wirkstoff zur Leistungssteigerung.«

Fang ergriff das Wort. »Wir haben Berichte erhalten, nach denen in den nördlichen Städten der Freihandelszone Raubkopien von Zacuity verkauft werden. Ein paar Aufklärungsbots haben etwa zwanzig Pillen in einer Sonderwirtschaftzone der First Nations nahe Iqaluit gefunden. Eine strafrechtliche Verfolgung ist dort nicht möglich – die Region liegt außerhalb des IPC-Jurisdiktion –, also hat es noch keine Festnahmen gegeben.«

Der Verbindungsmann rief nun Aufnahmen aus dem Zimmer eines Krankenhauses auf, mit ans Bett gefesselten, zuckenden Menschen. Er fuhr fort: »Zaxy wird später eine Strafverfolgung einleiten. Doch eingreifen müssen wir jetzt sofort. Dieses Medikament treibt die Leute in den Wahnsinn, manche liegen im Sterben. Wenn herauskommt, dass es sich dabei um Zacuity handelt, könnte das für Zaxy finanzielle Verluste bedeuten. Substantielle Verluste.«

Der Verbindungsmann sah zu Eliasz hinüber, der auf die Projektion aus dem Krankenhaus starrte, auf die sich abkämpfenden Leiber, die wie in Endlosschleife immer wieder von Krämpfen heimgesucht wurden.

»Die Analysten bei Zaxy gehen davon aus, dass das Zacuity hier, in einem Schwarzmarktlabor innerhalb der Föderation, kopiert wurde. Das könnte die Geschäftsbeziehungen zwischen Föderation und Freihandelszone ernsthaft gefährden. Wir müssen uns, auf welchem Weg auch immer, darüber Klarheit verschaffen. Das wird eure Aufgabe sein.« Der IPC-Mann sah nun Paladin an. »Du bist von der IPC autorisiert worden, die Quelle des raubkopierten Medikaments aufzuspüren und auszuschalten. Wir haben ein paar Hinweise aus Iqaluit, die alle auf eine Person hindeuten.«

Die Krankenbetten lösten sich in Luft auf, stattdessen erschien der Kopf einer Frau, offensichtlich ein nachbearbeitetes Bild, aus mehreren Aufnahmen in geringer Auflösung zusammengesetzt. In ihrem kurzgeschnittenen schwarzen Haar sah man hier und da etwas Grau, und vom Nacken aus wand sich eine breite Narbe bis unter den Kragen ihres Overalls.

»Das ist Judith Chen – bekannt unter dem Namen Jack. Sie steht im Verdacht, mit einem der größten Pharmapiraten der Föderation zusammenzuarbeiten. Mit Sicherheit wissen wir, dass sie Verbindungen zu einigen illegalen Produktionsstätten in Casablanca unterhält, zugleich verfügt sie über eine Flotte scheinbar legitimer Frachtschiffe. Sie transportiert Gewürze und Kräuter in die Zone – also haufenweise stinkende kleine Schachteln. Die perfekte Tarnung. Wir glauben, dass sie diejenige sein könnte, die die Medikamente von hier in die Arktis schmuggelt.«

Fang sprach weiter: »Wir beobachten sie schon seit Jahren, haben es aber nie geschafft, sie auf frischer Tat zu ertappen. Was wir wissen, ist, dass sie mit potentiellen Dealern in der Handelszone in Kontakt steht. Außerdem hat sie eine Ausbildung in synthetischer Biologie. Passt alles zusammen. Wenn wir an sie rankommen, dann können wir wohl auch diesen Piratenring zerschlagen.«

»Außerdem ist sie eine Anti-Patent-Terroristin«, fügte Eliasz ruhig hinzu. »Sie hat mehrere Jahre im Gefängnis verbracht.«

»Die offizielle Anklage war nicht Terrorismus. Sie lautete Verschwörung zur Verletzung von Eigentumsrechten«, sagte Fang. »Sie war nur für wenige Monate im Gefängnis. Kurz nachdem sie entlassen wurde, ist sie nach Casablanca ausgewandert. Wir glauben, dass sie dort die Verbindungen geknüpft hat, die sie jetzt für ihren Handel mit Raubkopien nutzt.«

»Wenn wir sie erst einmal hier haben, könnten wir sie der Handelszone auf dem Silbertablett überreichen«, fügte der Verbindungsmann hinzu. »Dann war’s das vorerst mit den Piraten, Chen wird ein paar Jahre weggesperrt, und alle sind glücklich.«

»Klingt für mich immer noch nach Terrorismus«, befand Eliasz und sah Paladin direkt an. »Findest du nicht auch?«

Niemand hatte ihn je so angesehen – so als könnte er zu irgendetwas, das über seine Netzwerkfunktionen hinausging, eine Meinung haben. Gedankenschnell ging der Bot alles durch, was man ihm über Terrorismus beigebracht hatte, erstellte einen Index für Bilder und Daten und ließ einen primitiven Algorithmus drüberlaufen, um ein Muster zu erkennen. Er fand eines: Schmerz. Schmerz und dessen jahrelangen Nachhall in Millionen Körpern. Auf den Kontext und die politischen Umstände hatte Paladin keinen Zugriff und verspürte auch keinen Drang zu weiteren Recherchen. Für ihn gab es nur das Gesicht dieses Mannes vor ihm, dessen dunkle Augen eine unverständliche Botschaft aussandten, die Paladin verzweifelt zu entschlüsseln suchte.

Wie konnte er Eliasz ansehen und nein sagen?

»Es klingt tatsächlich nach Terrorismus«, stimmte Paladin zu. Als Eliasz lächelte, verzogen sich die Flächen seines Gesichts auf asymmetrische Weise.

Für einen kurzen Augenblick brach Fang das Protokoll und übermittelte eine inoffizielle Botschaft. Interessante Analyse für jemanden, der in seinem Leben noch nie mit Terrorismus zu tun hatte.:(

3 Privateigentum

2. Juli 2144

Wann verschwinden nach einem Mord die letzten Spuren des genetischen Materials? Irgendwann werden sie unsichtbar für das menschliche Auge. Das Blut wird durch Wasser und Wischen verdünnt, und doch bleiben kleine Teilchen zurück – zerbrochene Zellwände, DNA-Windungen, ein paar Reste vom Zytoplasma. Wann verschwinden auch diese letzten Fetzen?

Jack sah dem runden Wischbot zu, wie er vor und zurück über einen verblassenden rosa Flecken fuhr, wo gerade noch eine rotschwarze Kruste auf dem Boden des Kontrollraums geklebt hatte. Das vom Wasser gefilterte bläuliche Sonnenlicht schimmerte durch das Kompositglas der Fenster, geblendet senkte sie den Blick wieder auf den fleckigen Boden. Den Leichnam hatte sie schon vor Stunden entsorgt. Inzwischen war er tief unter den eisigen Wassermassen begraben.

Jack hatte schon lange niemanden mehr töten müssen. Normalerweise befand sie sich in brenzligen Situationen nicht mitten auf dem Ozean und konnte wegrennen, anstatt zu kämpfen. Sie fuhr sich durch die salzverkrusteten Haare. Am liebsten hätte sie sich erbrochen oder geheult oder wieder einmal aufgegeben. Er war einfach hoffnungslos, dieser nie endende Kampf gegen die Pharma-Ausbeuter-Todesmaschinerie.

Bei diesem letzten Gedanken musste sie lächeln. Pharma-Ausbeuter-Todesmaschinerie. Das klang wie etwas, das sie damals im College geschrieben und anonym auf einem verschlüsselten Offshore-Server veröffentlicht hatte.

Pillen zu schmuggeln war nicht gerade die Arbeit, die sie sich vor dreißig Jahren als revolutionäre Studentin erträumt hatte. Damals hatte sie geglaubt, die Welt verändern zu können, einfach indem sie Textrepositorien und symbolische Proteste gegen das Patentrecht organisierte. Nach der Uni war es aber auf eine einzige, simple Entscheidung hinausgelaufen: miesen kleinen Start-ups neue Patente verschaffen oder Piratin werden. Für Jack war das nicht wirklich eine Wahl gewesen.

Sicher brachte dieses Leben einige Gefahren mit sich. Es kam vor, dass ein gut etabliertes Netzwerk plötzlich hochgenommen wurde – vor allem dann, wenn sich eine große Firma wegen einer Patentrechtsverletzung beschwert hatte. Wie sie nur zu gut wusste, gingen auch Morde auf das Konto der Pharmariesen. Doch wenn man unauffällig operierte, bescheiden und umsichtig, war es ein Geschäft wie jedes andere.

Was eher selten dazugehörte: saubermachen, nachdem man einen Typen wegen eines Sacks voller Pillen und eines Bots getötet hatte.

Verdammt, wo war der überhaupt hergekommen? Mit einer Handbewegung wandte sie sich ans lokale Netz ihres U-Boots und öffnete ein Fenster, das ihr die gesprenkelte Meeresoberfläche von unten zeigte. Außer den gelegentlichen dunklen Umrissen der Eisberge konnte sie nichts entdecken. Vielleicht verlor sie nach all den Jahren ständiger Wachsamkeit allmählich den Verstand. Der Eindringling hatte offensichtlich ein Loch in ihrem Sicherheitssystem ausgenutzt und die Sensoren des Schiffsperimeters ausgetrickst, um an Bord zu gelangen und sich seinen Rucksack mit ihrer Ladung vollzustopfen. Ein Sack voller Demenzmedikamente hätte ihm immerhin einen Jahresvorrat an Euphorika plus Glücksspiel am Strand irgendeines Arktis-Resorts eingebracht.

Doch der tote Pharmajunkie war im Moment das geringste ihrer Probleme. Jack musste herausfinden, ob mit ihrer Charge von rekonstruiertem Zacuity etwas schiefgegangen war. Sie besaß immer noch ein paar Proben der Originaldroge, zusammen mit jeder Menge Raubkopien. Jack steckte das Original und die Kopien in ihre Anlage für forensische Chemie und ging mit kritischem Blick die Molekularstruktur noch einmal durch. Keinerlei Fehler – sie hatte eine perfekte Kopie hergestellt. Das Problem war also die Originalrezeptur von Zacuity. Sie beschloss, jeden Bestandteil der Droge zu isolieren und sich gesondert anzusehen. Manche davon waren ganz offensichtlich harmlos. Andere setzte sie auf die Liste für eine genauere Untersuchung.

Schließlich hatte Jack die fragwürdigen Bestandteile auf vier Moleküle reduziert. Sie projizierte ihre Strukturen in die Luft und musterte stirnrunzelnd die stilisierten, glänzenden Atomverbindungen. Eine kurze Suche in den Datenbanken ergab, dass alle vier Moleküle auf Gene abzielten, die bei großen Teilen der Bevölkerung im Zusammenhang mit diversen Suchtkrankheiten standen. Was für eine Scheiße. Sie konnte es kaum glauben. Natürlich ging es Zaxy um Profit und nicht um das Wohl der Menschheit, doch das hier übertraf die übliche Fahrlässigkeit großer Pharmafirmen bei weitem. Internationales Recht schrieb vor, dass Leistungsverstärker und Euphorika keine Suchtmechanismen einsetzen durften, und selbst die großen Konzerne mussten sich an die IPC-Vorschriften halten. Mit anderen Worten: Zacuity war komplett illegal, es war bisher nur noch niemandem aufgefallen, weil die Tabletten bislang streng kontrolliert ausgegeben worden waren. Nach der Betaphase würde Zacuity dann so teuer sein, dass nur Menschen mit außergewöhnlich guter medizinischer Versorgung die Pillen nehmen würden. Der Abhängigkeitserscheinungen würde man sich dann in aller Stille annehmen, vielleicht in einer netten Rehaklinik der Eurozone. Nur wenn jemand wie Jack anfing, das Zeug auf der Straße zu verkaufen, konnten sich die Nebenwirkungen zu einem größeren Problem auswachsen.

Jack schwankte zwischen Wut auf Zaxy und Wut auf sich selbst, weil sie die beschissene Droge unters Volk gebracht hatte. Womöglich nahmen gerade Hunderte von Menschen, allesamt ohne ordentliche Gesundheitsversorgung, diese Pillen und verloren den Verstand. Was für ein Scheißszenario das war, wollte sie sich gar nicht ausmalen. Sie fasste in die Tasche ihres frisch gewaschenen Overalls, zog etwas 420 heraus und warf es ein. Es ging doch nichts über Drogen, um mit Drogenproblemen fertig zu werden.

Außerdem musste sie sich immer noch um den vermutlich beschädigten Bot kümmern, den sie im Frachtraum eingeschlossen hatte. Jack hatte erwartet, ihn am selben Ort vorzufinden, an dem er zusammengebrochen war, reglos vielleicht bis auf ein paar Augenbewegungen, die durch irgendeinen schrottigen Freeware-Algorithmus gesteuert wurden. Doch der Bot war nicht mehr da. Stattdessen hatte er sich in den Schatten an der Wand verkrochen.

Und schlief.

Plötzlich begriff Jack, wie der Bot so ramponiert aussehen konnte, ohne dass irgendwo das metallene Endoskelett zum Vorschein kam. Das war kein Biobot – das war einfach nur Bio. Ein Mensch.

Sie lehnte sich gegen die Wand und stöhnte leise auf. Einen beschädigten Bot konnte man fast immer reparieren, aber einen beschädigten Menschen? Mit ihren Bordmitteln konnte sie eine mutierte DNA-Region reparieren oder die üblichen Viren ausmerzen, aber sie hatte nichts, um ein havariertes Hirn wiederherzustellen. Während sie noch nachdachte, richtete sich die zusammengesunkene Gestalt mit einem Ruck auf und starrte sie aus Augen an, deren Leere noch weit grauenhafter war als schlechte Software. Wie lange hatte der Dieb den Jungen wohl schon unter Kontrakt gehabt? An seinem Hals befand sich ein Brandzeichen aus Nummern, und offensichtlich war er es gewohnt zu gehorchen.

Das 420 verlieh Jack eine Art philosophischen Großmut und ein Gefühl der Verpflichtung. Es war nicht seine Schuld, dass sein Herr sich entschlossen hatte, mitten im Nirgendwo eine bewaffnete Piratin zu überfallen. Sie würde tun, was sie konnte, um ihm zu helfen, auch wenn das nicht viel war.

»Möchtest du etwas Wasser?«, fragte sie.

Sofort rappelte sich der Junge auf. Er hielt sich an einer Kiste fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und ihr wurde klar, dass er eigentlich ziemlich groß war – größer als sie selbst, auch wenn ihn die Unterernährung sehr zerbrechlich wirken ließ. Falls es brenzlig wurde, würde sie ihn mühelos überwältigen können.

»Danke«, sagte er. »Und auch Essen, wenn du etwas erübrigen kannst.« Sein Englisch klang ganz nach Mittelklasse und Asiatischer Union, was man bei einem Kind mit einem Brandzeichen am Hals nicht gerade erwartet hätte.

»Na, dann komm.« Jack streifte ihn leicht am Ärmel, vermied dabei sorgsam, seine Haut zu berühren. Sie führte ihn vom Kontrollraum die Wendeltreppe hinunter in ihr Labor/ihre Küche. Dort fuhr sie die Kochmaschine hoch und machte die Gesten für Brühe und Brot. Er sank auf einen Stuhl an dem kleinen Tisch; die Schulterknochen stachen durch sein dünnes Hemd, als er sich vorbeugte und auf seine Hände starrte.

Sie stellte das Essen vor ihm ab. »Ich bin Jack.«

Ohne sie zu beachten, nahm er einen Schluck aus der Schüssel, tauchte dann das Brot hinein und biss ab. Jack lehnte sich an die Theke und sah ihm zu. Sie fragte sich, ob der Junge überhaupt einen Namen hatte. Manchmal verkauften arme Familien ihre Kinder an Kontraktschulen, wo man ihnen unterwürfiges Verhalten antrainierte, geradeso wie man einen Bot programmierte. Bots konnten sich ihre Freiheit zumindest im Lauf der Zeit erarbeiten, Upgrades erhalten und autonom werden. Im Prinzip konnten sich auch Menschen die Freiheit erarbeiten, doch es gab keinen Autonomieschlüssel, der eine solche Kindheit ungeschehen machte.

»Ich bin Dreinull«, antwortete er schließlich und riss Jack damit aus ihren Gedanken. Er hatte ungefähr die Hälfte der Brühe vertilgt, und sein Gesicht sah nicht mehr ganz so leer aus. Es war kaum zu übersehen, dass das Brandzeichen an seinem Hals auf die Ziffern drei und null endete. Die Narbe war zugleich sein Name. Jack verschränkte die Arme über dem plötzlichen stechenden Mitleid in ihrer Brust.

»Schön, dich kennenzulernen, Dreinull.«

4 Iqaluit

4. Juli 2144

Sie würden eng zusammenarbeiten müssen, selbst wenn sie sich weit voneinander entfernt aufhielten. So lautete Eliasz’ Begründung, warum er zwei Tage lang mit Paladin über die Sanddünen kraxelte, während der IPC-Mann pausenlos süßen Tee mit Milch trank und sich dabei in stummer Frustration durch die Nachrichtenfeeds seiner Brille gestikulierte.

Seite an Seite mit jemandem zu trainieren war eine neue Erfahrung für Paladin. Zwar hatte er meistens in Funkkontakt mit Lee oder einem anderen Botadmin gestanden, doch deren Stimmen hatten den inneren Anweisungen seiner Programmierung geähnelt. Seine Botadmins hatten ihn nie angeblickt und darüber geredet, wie sehr sie das Wetter in Europa vermissten.

»Ich hasse diese Hitze«, knurrte Eliasz, als er sich oben auf einer Düne niederhockte. Er blickte kurz zu Paladin hinüber und setzte sich dann richtig hin. Es war 8:00 Uhr morgens, und Paladin testete wieder seine Reflexe auf sandigem Untergrund. Er hatte gelernt, den Panzer möglichst weit abzusenken und zugleich mit seinen Sensoren ein weites Spektrum zu erfassen. Diese Haltung auf Ellbogen und Knien nahm er nun ein, hörte Eliasz zu und empfing gleichzeitig das öffentliche Botnetz.

Ihr seid alle. Ich bin Raptor. Hier kommen meine Daten. Um 13:00 Uhr breche ich auf eine Mission auf. Es geht für eine Seuchenintervention in den Kongo. Wünscht mir Glück. Zurück in 48 Stunden.

»Ich mag es lieber feucht und kühl wie in Mitteleuropa«, fuhr Eliasz fort und wischte mit gespreizten Fingern den Schweiß auf seiner Stirn ins Haar. »Die Leute reden immer davon, dass sie Warschau unerträglich finden, weil es dort so kalt ist … ich schätze, man liebt immer das Wetter, mit dem man aufgewachsen ist, selbst wenn man nie zurückwollte. Woher kommst du eigentlich, Paladin?«

Ihr seid alle. Ich bin Cldr. Hier kommen meine Daten. Ich brauche drei Bots, die mir beim Ausladen einer Waffenlieferung helfen. Die Position füge ich an.

Paladin hielt in seinen Bewegungen inne; sein Kopf berührte inzwischen beinahe Eliasz’ Bein, das vor ihm im roten Sand lag. Er war sich unsicher, wie die angemessene Antwort auf diese Frage lautete – er war noch gar nicht lange genug auf der Welt, um von einem bestimmten Ort zu stammen.

»Von Kagu Robotics in Kapstadt«, sagte er laut.

»Nein, das meine ich nicht.« Eliasz schüttelte heftig den Kopf und klopfte dann mit den Fingerknöcheln gegen Paladins unteren Rücken. »Woher kommst du ursprünglich? Woher stammt dein Gehirn?«

Unter den verschiedenen Schichten seines Bauchschilds schwamm Paladins Biohirn, in einer zähflüssigen Mixtur aus Schockgel und Rückenmarksflüssigkeit. Es war über eine Schnittstelle mit dem physikalischen Substrat seines Verstands verbunden. Das Gehirn übernahm bei ihm die Gesichtserkennung, wies jedem Menschen, mit dem er zu tun hatte, entsprechend den Kanten und Schatten seines Mienenspiels eine eigene Kennung zu, doch sein Dateisystem war mit Paladins eigenem weitgehend inkompatibel. In erster Linie benutzte er das Gehirn als eine Art Graphikprozessor. Auf jeden Fall hatte er keine Ahnung, woher es stammte. Er wusste nur, dass ein toter Mensch, ein Angehöriger der Föderationsarmee, es gespendet hatte.

Eliasz sprach weiter. »Ist es für dich nicht wichtig zu wissen, wer du wirklich bist? Woher deine Gefühle kommen?«

Das ergab wenig Sinn. Keines von Paladins Gefühlen oder ethischen Prinzipien wurde in seinem menschlichen Gehirn erzeugt. Doch in den dunklen Augen des Menschen lag gespannte Aufmerksamkeit. Eliasz blickte direkt in die Sensoren, die auf Paladins Gesicht montiert waren. Plötzlich wollte Paladin nicht länger über die Architektur seiner Dateiablage sprechen.

»Ich weiß nicht, woher mein Gehirn stammt«, erwiderte er nur. »Ich habe keinen Zugang zu seinen Erinnerungen.«

Er spürte, wie sich Spannung in Eliasz’ Körpers aufbaute, sah die Elektrizität, die über seine Hautoberfläche sprang. Eliasz wechselte häufig zwischen solchen intensiven emotionalen Unterhaltungen und völligem Schweigen, das war Paladin in den Tausenden von Sekunden, die sie inzwischen miteinander verbracht hatten, bereits aufgefallen.

»Sie sollten zulassen, dass du dich erinnerst«, grollte er. »Das sollten sie wirklich.«

Ein Wunsch, der kaum in Erfüllung gehen würde. Doch in diesem Moment erhielt Eliasz zumindest etwas anderes, auf das er ungeduldig gewartet hatte. Es kam in Form einer Nachricht an Paladin, als Teil einer gesicherten und verschlüsselten Session.

Du bist Paladin. Ich bin Fang. Erinnerst du dich an die abgesicherte Session, die wir eingerichtet haben? Lass sie uns noch einmal benutzen. Hier kommen meine Daten. Die abschließende Besprechung der Mission beginnt um 9:00 Uhr. Bring Eliasz mit.

Einverstanden. Ich bin Paladin. Wohin wird man uns schicken?

In die klimatisch gemäßigte Arktis, wie es aussieht. Ihr werdet dort ein paar von Jacks Kontakten treffen und versuchen, ihr Drogenversteck zu finden.

Eliasz und ich werden in 30 Minuten zurück in der Basis sein. Das ist das Ende meiner Daten.

Es folgten die Koordinaten für das Meeting – es handelt sich um denselben Raum, den sie während der vergangenen zwei Tage für die Einsatzbesprechung benutzt hatten.

»Gute Nachrichten«, sagte Paladin laut zu Eliasz, der ihn immer noch anblickte. »Wir brechen bald zur nördlichen Freihandelszone auf, wo viel niedrigere Temperaturen herrschen.« Eliasz sagte nichts, doch sein Herzschlag verlangsamte sich. Die beiden machten sich auf den Weg über die Dünen, um einen Eingang in die unterirdische Einrichtung zu finden und ihre Befehle entgegenzunehmen.

Auch wenn es sich bei ihrer Mission nur um einen Routineauftrag handelte, hatte er für Paladin eine besondere Bedeutung – schließlich war es sein erster Einsatz. Der heutige Tag markierte den Beginn seines Kontrakts mit der Afrikanischen Föderation und den Abschluss seiner Entwicklungszeit. Nach internationalem Recht durfte seine Zeit als Kontraktarbeiter von nun an nicht mehr als zehn Jahre dauern – diese Zeitspanne galt als ausreichend, damit es sich für die Föderation lohnte, eine neue Lebensform zu erschaffen.

Auch wenn er erst am Beginn seines Kontrakts stand, hatte Paladin in der Fabrik schon genug gehört, um zu wissen, dass die Föderation das Gesetz ziemlich großzügig auslegte. Gut möglich, dass er zwanzig Jahre würde warten müssen, bis er seinen Autonomieschlüssel erhielt. Sehr wahrscheinlich würde er davor sterben. Doch er hatte eine Chance und wollte überleben – das war Teil seiner Programmierung und zugleich der Grund, warum er den Menschen gleichgestellt war und die Autonomie überhaupt verdiente. Er hatte gar keine andere Wahl, als um sein Leben zu kämpfen. Für Paladin fühlte sich das allerdings nicht wie Determinismus an, sondern wie Hoffnung.

5. Juli 2144

Der Jet schoss übers Nordpolarmeer, und langsam zeigte sich am Horizont die Silhouette der Baffininsel – knubbelige Arme, die ihre Fäuste gen Himmel reckten. Paladin konnte sogar bereits die Tausenden von Windturbinen ausmachen, deren rotierende Bewegungen die Umrisse der Gebäude flimmern ließen. Bald nahm er auch die chemische Signatur der Farmen wahr, die spiralförmig um jeden der Gebäudekomplexe verliefen. Die nördlichen Städte um die Arktis tankten im Sommer so viel Sonnenenergie wie möglich, und ihre Farmen durchliefen während der langen Tage zwei Ernteperioden. Die ganze Stadt brummte vor Aktivität.

Als sie die äußeren Inseln überflogen und in den Luftraum über Baffin eindrangen, wurde Eliasz wach. Paladin registrierte den Wechsel in seinem Atemrhythmus, anscheinend hatte Eliasz sich pünktlich zur Ankunft in Iqaluit von seinem Perimeter wecken lassen. Jetzt erstreckte sich die Stadt unter ihnen, die Kuppeln eine glitzernde Kruste am Ende einer spitz zulaufenden Bucht, die tief in die riesige Insel schnitt.

»Iqaluit ist eine hässliche Stadt«, brummte Eliasz, als er sich zu Paladin gesellte und zum Fenster hinaussah »Die Kuppeln sehen aus wie in Vegas – kennst du das?«

»Eine Kuppelstadt in der westlichen Wüste der Freihandelszone«, sagte Paladin laut.

»Und das globale Zentrum des Kontrakthandels. Jede Menge miese Typen. Schwarzmarktsklaverei und ähnliche Scheiße. Ein Menschenleben ist da nichts wert, also bauen die Leute diesen billigen Mist, der viel zu viel UV-Strahlung durchlässt. Iqaluit ist dasselbe in Grün – nur sauberer und neuer.«

Paladin fragte sich, ob Eliasz etwas gegen das Kontraktsystem hatte. Es gab ganze Text-Repos, in denen dafür plädiert wurde, menschliche Kontraktarbeit zu verbieten. Die Autoren argumentierten, dass man Menschen nicht wie Bots besitzen dürfe, weil niemand für ihre Herstellung bezahlte. Bei Bots, die Geld kosteten, war eine Zeit der Kontraktarbeit unausweichlich, damit sich die Herstellung lohnte. Ein solcher Anreiz war aber nicht nötig, damit Menschen andere Menschen produzierten.

Doch was immer die Menschenrechtler davon hielten, in den meisten Städten und Wirtschaftszonen existierte irgendein System menschlicher Kontraktarbeit. Und Vegas war der Ort, wo die meisten Deals abgeschlossen wurden. Die überkuppelten Gebäudekomplexe dienten fast ausschließlich dazu, menschliche Ware abzufertigen, auszubilden und unter Kontrakt zu nehmen. Wie Vegas war auch Iqaluit in sehr kurzer Zeit erbaut worden und bestand nur aus Wolkenkratzern und Kuppeln. Darüber hinaus ergab ein flüchtiger Datenscan allerdings wenig Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Städten.

»Hier gibt es wenig Kontraktarbeiter«, stellte Paladin fest.

»Schon klar. Die miesen Typen ticken hier anders, aber es sind immer noch miese Typen«, sagte Eliasz. Sein erhöhter Blutdruck sah für Paladin aus wie ein rötlicher Schleier, der über dem Körper lag. »Hier gibt es dafür jede Menge Piraten. Einfach alles hier ist gestohlen.«

Als das Flugzeug auf der Landebahn zum Stehen kam, berührte Eliasz reflexhaft Stirn, Schultern und Gürtel, um sein Perimeter und die damit vernetzten Waffen zu überprüfen. »Das fühlt sich immer an, als würde ich mich bekreuzigen«, brummte er, und sein Herzschlag beschleunigte sich vor unterdrückter Wut. »Weißt du, was ich meine?«

»Die Gesten sind ähnlich«, erwiderte Paladin.

»Mein Vater war gläubig«, sagte Eliasz, mit so leiser Stimme, dass nur ein Bot es hätte hören können. Dann änderte sich seine Haltung ganz plötzlich: Er zwang seinen Atem in einen regelmäßigen Rhythmus, und es war nicht länger möglich, seinen emotionalen Zustand zu erkennen.

»Und, Paladin, wohin gehen wir als Erstes?« Eliasz grinste, und seine Augen suchten die fünf visuellen Sensoren auf dem Kopf des Roboters, oberhalb der diagonalen Platten – eine abstrakte Version menschlicher Wangen –, die sein Gesicht einrahmten. Es gab mehr als drei Dutzend Orte, die in Frage kamen, darunter die Adressen von Jacks mutmaßlichen Kontaktpersonen und ein paar ihrer Lieblingsrestaurants.

»Wir sollten mit den nächstgelegenen Privatadressen beginnen, die Leute dort befragen und auf Basis der so erhaltenen Informationen Jacks Aufenthaltsort bestimmen. Zur Not können wir auch die Sicherheitsfeeds der Restaurants und Bars auf Jacks biometrische Daten hin überprüfen.«

Eliasz stieß ein bellendes Lachen aus. »Von HUMINT hast du wirklich keine Ahnung, oder?«