Ava & Me - Jennifer Lösch - E-Book

Ava & Me E-Book

Jennifer Lösch

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Beschreibung

Emma und Ava leben gemeinsam mit Avas Mutter in Bristol, im Südwesten von England. Eine düstere Geschichte verfolgt Emma seit ihrer Kindheit. Sie versucht den Dingen auf den Grund zu gehen. Geplagt von wirren Albträumen weiß Emma bald nicht mehr was wahr oder Fiktion ist. Werden beide einen Ausweg aus der "Highfort Klinik für seelische Gesundheit" finden? Wird alles wieder so, wie es früher einmal war?

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Jennifer Lösch

Vorwort:

Als junge, Anfang dreißigjährige aus Mannheim, ohne weitere Erfahrung, einfach ein Buch aufzusetzen und plötzlich veröffentlichen zu wollen, war eine große Hürde für mich. Aber es war bereits zu meinem Projekt geworden. Ich möchte mit meinen Gedanken und Träumen inspirieren und andere Menschen ermutigen. Ermutigen, Dinge zu wagen, die sie sich aktuell nicht trauen würden. Gemeinsam Geschichten entwickeln und leichte Gänsehaut zu erschaffen. Denn ich liebe Gänsehaut. Schon immer faszinieren mich Thriller und Belletristik-Romane mit düsterem Hintergrund. Daher entschied ich mich, selbst eine Reise zu beschreiten und meine eigenen Geschichten ins Leben zu rufen. Ich freue mich, diese mit euch zu teilen und wünsche euch viel Spaß mit Emma und Ava, den etwas anderen Weg gehen zu können. Bleibt gespannt, denn es geht definitiv weiter.

Eure Jennifer

~ Es war dunkel und ich stand draußen. Um mich herum waren nur Bäume zu sehen. Viele Bäume und Äste. Der Weg, auf dem ich stand, war kein vorgegebener Weg. Ich stand im Wald inmitten von Laubhaufen und Ästen. Ich lief automatisch weiter, ohne groß darüber nachzudenken, wohin mich meine Füße tragen würden. Ein ganzes Stück weiter bemerkte ich eine kleine Hütte, in welchem Licht brannte und bei dem Rauch aus dem Kamin stieg. Also musste jemand dort sein. Ich lief ans Fenster und schaute hindurch, sah aber niemanden. Also lief ich weiter um die Hütte herum und suchte nach weiteren Fenstern oder einer Tür. Ich konnte nichts sehen. Da spürte ich, wie ich mich dabei erwischte, in meine Hosentasche zu greifen, um einen Schlüssel herauszuziehen, den ich seit dem letzten Traum bei mir trug. ~

Kapitel 1

Hallo, mein Name ist Emma. Emma Hensley und ich war damals noch recht jung. Aber ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen. Es war das erste Mal, dass ich dieses Gefühl in mir trug, aber nicht deuten konnte, was genau es ist und wo es herkam. Ich saß mit meiner Mutter, die ich gern auch einfach „Ma“ nannte, in einem Park. Es war Herbst und alles war goldbraun und verwittert. Meine liebste Jahreszeit, wenn ich so zurückdenke. Ich bastelte gerade mit ihr ein paar Kastanien-Tiere. Für dieses Ereignis hatte meine Mutter meistens ihre „Notfall-Zahnstocher“, wie sie diese vor dem Klinik-Personal nannte, dabei und stach sich regelmäßig damit in den Finger. Sie stieß hierbei meist einen kurzen Seufzer aus und tadelte sich danach selbst mit den Worten: "Nicht fluchen, Stacey! Deine Tochter ist hier!" Das passierte immer, bevor wir freudestrahlend das erste Tierchen gebaut hatten. Es sollte eine Giraffe werden. Aber der Zahnstocher, der das Köpfchen halten sollte, war wie immer zu lang und das Tier kippte nach vorne. Ich freute mich damals riesig, als ich es in Händen hielt, denn es war mein Lieblingstier. Ich sah meine Ma mit großen braunen Kulleraugen an. Sie strahlte zurück und freute sich, dass wir etwas Zeit verbringen konnten, bevor es wieder nach Hause ging und der Alltag bestimmt bald eintreten würde, um alles unruhig und hektisch zu gestalten.

Damals wollte ich noch eine letzte Runde schaukeln - ich erinnere mich daran, weil es plötzlich wie aus Eimern zu regnen begann. Meine Ma, die immer wieder von den Männern am Seitenrand im Park begutachtet wurde, wurde sichtlich nervös und blickte ständig auf ihre rote Armbanduhr. Sie schaute mit einem nervösen Gesichtsausdruck umher, aber nickte mir letztendlich zu, um mir das „OK“ zu geben, dass es losgehen konnte. Im nächsten Moment rannte ich unkontrolliert los. Zu einer sehr alten Reifenschaukel, die an einem alten Baum befestigt war. Sie war so alt, dass man dachte, beim nächsten Benutzen und Schwingen riss das Seil ab und der Insasse der Schaukel würde über das nächstgelegene Feld befördert werden. Aber das machte mir nichts, da ich wollte, dass sie stolz auf mich ist und sieht, wie hoch ich es schaffen kann.

Sie kam also zu mir rüber, stellte sich hinter mich und schubste mich am Rücken an. In diesem Moment dachte ich, die Welt läge mir zu Füßen und ich könne so hoch schaukeln, um die Wolken zu berühren, denn hier würde ich alles andere vergessen. Hoch oben, über den Wolken. Am liebsten hätte ich meine Ma mit auf diesen Reifen genommen und wäre einfach davongeflogen. Einige Male spürte ich noch das Schubsen an meinem Rücken. Nach ein paar wenigen Minuten nicht mehr.  Nach einer Weile schwing ich also allein hin und her und merkte, dass keine Hilfe mehr von meiner Ma zu erwarten war. Ich konnte mich nicht umdrehen, um zu schauen, ob sie noch da ist. Also rief ich ein paar Mal nach ihr und wollte mit den Füßen bremsen. Ich hörte sie auch nicht auf meine Rufe antworten. Also wartete ich noch eine kurze Weile und wollte im nächsten Moment abspringen. Zum einen wollte ich ihr zeigen, wie weit ich springen konnte, zum anderen wollte ich schauen, ob sie noch da ist, da mir die Stille unheimlich war und ich das zuvor schon oft erlebt hatte.

Nachdem die Schaukel fast ausgependelt hatte, nahm ich meinen Mut zusammen und sprang ab. Wie bei einer Hochseiltänzerin hielt ich meine Arme in die Höhe und schrie: "Tadaaaa!" Auf ein Lachen oder ein Klatschen wartete ich aber vergeblich. Als ich mich umdrehte, waren die Männer, die uns bereits die ganze Zeit beobachteten, auch schon neben ihr und zogen sie am Arm mit sich. "Die Besuchszeit ist vorbei, Mrs. Hensley", hörte ich sie sagen. Ich konnte ihren schmerzlichen Blick sehen, weil sie sich noch von mir verabschieden wollte. Es war immer wieder das Gleiche. Die Zeit verging wie im Flug und wenn meine Ma ihre Uhr nicht im Blick hatte, musste ich eine ganze Weile auf die nächste Umarmung beim nächsten Besuch warten. Sie wollte mich aber auch nie enttäuschen und ließ mich daher solange schaukeln oder Steine in den See werfen, wie es nur möglich war. Nur noch einmal kurz umdrehen und in den Arm nehmen, dachte ich. Aber da war sie bereits auf dem Weg zurück in die „Highfort Klinik für seelische Gesundheit“, am anderen Ende des Parks.

Eine Hand fasste mich ruckartig am Handgelenk und zog mich mit sich. Ich schaute nach oben, es war Tante Lynn. Ich war froh, sie in diesem Moment zu sehen - ein vertrautes Gesicht, dessen Augen und Gesichtsausdruck ich sehr gut kannte. Sie half mir immer, in diesen Situationen ruhig zu bleiben und redete zur Ablenkung auf mich ein. Es war nicht schlecht, dass Zuhause, zu dem ich zurücksollte. Aber ich vermisste meine Ma jeden Tag mehr. Genau, wie unsere alte Wohnung mit dem gemütlichen Kamin, in dem wir seit damals knapp einem Jahr nicht mehr gemeinsam wohnten. Es war wie in einem falschen Film und als Kind denkt man generell immer, dass die Hoffnung jede Bürde schaffen kann. Dass es schnell wieder so sein wird, wie vorher. Und daran glaube ich noch immer!

Damals erzählte mir Tante Lynn immer wieder, dass es meiner Mutter nicht sehr gut ginge. Sie sei überfordert mit allem gewesen. Der Tod meines Vaters, als ich noch ganz klein war. Der schmale Grat, einen Job zu haben, um uns ernähren zu können und auch mich richtig erziehen zu müssen. Alle Kosten decken zu können, ohne Hilfe und Rückhalt. Meine Ma hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt – einmal, als sie allein in der Klinik beim Putzen ausgeholfen hatte. Sie arbeitete damals in einer kleinen Putz-Firma, die immer wieder andere Einsätze plante, um das Örtchen in Schuss und sauber zu halten. Daher sprang sie auch des Öfteren ein oder konnte Doppelschichten annehmen. Dies kam dem Budget zu Gute, aber eben nicht uns als Familie. Aus diesen Gründen war ich auch bereits in jüngeren Jahren sehr oft bei Tante Lynn und auch bei Becky, der Freundin meiner Ma, gewesen. Genaue Gründe, warum meine Ma in der Klinik bleiben musste und ich nicht bei ihr sein durfte, kannte ich aber nicht. Damals zumindest nicht. Dafür war ich wohl noch zu klein gewesen.

Gedankenversunken und in Tagträumen versunken, sah ich rüber zum See. Dort sah ich es zum ersten Mal - einen kleinen kurzen Lichtball, am anderen Ende des Parks. Er blitzte wie aus dem Nichts auf und war genauso schnell wieder verschwunden. Damals dachte ich noch, es sei Einbildung gewesen. Aber da sollte ich mich wohl getäuscht haben.

Kapitel 2

Wir wohnten am Ende einer kleinen Reihenhaus-Siedlung in Bristol. Das ist in der Nähe von London. Wir: das waren meine Tante Lynn, meine Cousine Ava und Becky - eine enge Freundin aus Kindertagen meiner Mutter, die sich als Ziel gesetzt hatte, auf uns aufzupassen und meine Ma nicht allein zu lassen. Sie waren schon immer ein Herz und eine Seele gewesen und ich war froh, dass sie da war. Das Haus war bereits lange im Besitz der Familie und dementsprechend heruntergekommen. Das Geld für eine neue Fassade oder ein neues Dach war seit der Trennung von Lynn´s Mann Arthur nicht mehr vorhanden. Klar zahlte er Unterhalt, mal mehr, mal weniger, aber das langte gerade mal so für die Nebenkosten und das Nötigste am Haus. Ein Umzug war aufgrund der steigenden Mietpreise auch nicht so einfach. Verkaufen konnte man das Haus auch nicht in diesem Zustand. Ein Teufelskreis. Das einzige, das Geld bringen würde, wären Tante Lynns Puppen. Sie besaß eine riesige Sammlung aus Kindertagen. Sie waren eine Menge Wert. Aber wirklich trennen konnte sie sich nicht davon. Daher verschloss sie alle bei sich im Zimmer - wie ein kleiner Schatz, was Ava und mir nicht wirklich viel ausmachte, denn wir fanden sie einfach furchterregend.

„Emma!“, rief es von unten durch den Flur. „Es wird Zeit, du musst gleich los.“ Verknittert schaute ich auf die Uhr, der Wecker zeigte bereits 07.30 Uhr. Oh Fuck, dachte ich und sprang aus dem Bett. Dass ich nicht über meinen Wäscheberg fiel, war alles - mein Zimmer glich einer Kleidermüllhalde. „Aufräumen“ klebte bereits seit einigen Wochen an meinem Ankleidespiegel auf einem Post-it. Handgeschrieben von Tante Lynn. Die restlichen mussten wohl durch das Herumwerfen der Kleidungsstücke auf DEN STUHL verschollen gegangen sein. Wer kennt ihn nicht, den Stuhl?

Schnell rannte ich ins Bad, warf mir etwas Wasser ins Gesicht und putzte meine Zähne. Für mehr war keine Zeit, denn ich musste den Schulbus noch erwischen, sonst hätte mich Becky mitnehmen müssen, die genau neben uns wohnte. Was an sich nicht schlecht gewesen wäre, aber ihre Freundin Nadja war gerade zu Besuch. Und diese Person ging gar nicht. Eine Frau Mitte 40 mit einem Ego, das durch die Decke schoss. Immer einen dummen Spruch auf den Lippen. Auch darin, Sprichwörter wiederzugeben, eine Niete. Aber sie selbst fand es immer lustig und Becky leider auch. Sie reimten auch manchmal zusammen an neuen Sprichwörtern, die gar keinen Sinn ergaben. Und auf Nadja hatte ich, ohne einen ersten Schluck Tee oder wenigstens ein Wasser intus zu haben, keine Lust.

Ich schaute nochmal in den Spiegel, hatte das, was ich dort sah, für OK befunden und kämmte meine Haare. Da ich sehr dicke, lockige, braune Haare hatte, war das immer der schlimmste Teil am Morgen. Aber ein Haargummi und ein schneller Dutt ging auch immer. Das wird es wohl heute werden. Beim Anziehen meiner Jeansshorts und dem T-Shirt mit einer Erdbeere drauf, knödelte ich meine Haare zusammen und spritzte einen Spritzer meines Lieblings-Parfüms in die Luft. Danach rannte ich durch die Dunst-Wolke und wollte gerade das Bad verlassen. „Sooooo, fertig!“, rief ich die Tür hinaus.

Da stand Ava mit ihrem weißen kurzen Kleidchen und einer Jeansjacke vor mir. Kaugummi-kauend schaute sie mich an und rümpfte die Nase. „Na? Hast du wieder rumgedieselt mit deinem tollen Parfüm?! Mom mag das nicht, das weißt du.“ Sie kaute ungeniert weiter und ergänzte ihren herzlichen Satz noch mit dem Ende: „Naja, besser, als muffig zu riechen. Deine Klamotten müssten wohl auch mal wieder in die Wäsche. So peinlich….“ Augenrollend ging sie nach unten.

Morgendliche Diskussionen mit Ava sparte ich mir gern, da sie in der Regel sowieso nichts brachten und mich nur noch mehr von allem abhielten, vor allem wenn ich zu spät war.

Unten angekommen nahm ich mir noch einen Frenchtoast, den Lynn für uns vorbereitet hatte und eine braune Tüte Essen mit Brot für den Tag mit. Was da wohl wieder drin sein mochte. Schnell schaute ich rein und entdeckte einen Apfel und eine Banane. Das untere müsste das Brot mit Erdnussbutter sein. Und daneben eine Packung Kaugummi. Die Kaugummisucht lag wohl in der Familie. Naja, in der Familie Hudson, wenn ich es genau nehme. „Hier habt ihr noch jeder 5 Pfund. Mehr ist leider nicht drin. Wünsch euch einen schönen Tag!“, sagte Lynn und verschwand nach oben. Sie selbst musste auch etwas spät dran sein, denn außer einer Kaffeetasse stand kein weiteres Gedeck an ihrem Platz am Esstisch. Mit Luftküssen sendend an uns stieg sie die Treppe nach oben.

Ava und ich nahmen unsere Sachen und gingen gemeinsam zum Bus. „Verpetzt du mich, wenn ich mit Markus fahre?“, fragte mich Ava, keines Blickes würdigend. „Nö, wieso sollte ich? Könnt ihr mich mitnehmen?“ „Weil ich weiß, dass du Markus nicht magst. Und Mom es nicht wissen soll, noch nicht.“ „Quatsch! Habe ich schon jemals was gesagt?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue. „Nein.“, antwortete Ava kleinlaut. „Aber du könntest.“ „Und du könntest damit kontern, dass ich schon nachts allein draußen war oder allein an die Klinik gefahren bin. Also ist es ausgeglichen. Solange wir zusammenhalten und Markus dich nicht schlecht behandelt, ist alles andere deine Sache.“

Ava schaute mich an, dann fing sie an zu lachen und meinte: „Gut, denn er steht da vorne um die Ecke mit seinem Auto. Wir können dich gern mitnehmen, aber …“

„…nur bis zur Sporthalle an der Schule.“, vervollständigte ich ihren Satz. „Weil uns niemand sehen soll.“ „Genau.“, erwiderte Ava und zwinkerte mir zu. „Na, dann los.“

An der Sporthalle angekommen stieg ich aus dem Auto und Markus und Ava fuhren noch ein Stück weiter. Markus war der aufgeblasenste und seltsamste Typ, den ich kannte. Er war Trainer im Fechtclub und ein Ass im Mathe-Club. Durch ihn hatte der Mathe-Club der Jason High schon etliche Pokale und Urkunden gewonnen. Aber ein typischer Streber war er nicht. Er hätte auch in einem Rugby-Club sein können, was sein Aussehen anging. Aber dennoch war er nicht in der Clique der coolen Jungs, sondern eher bei den Querdenkern unterwegs. Leider auch sehr selbstverliebt und einnehmend. Genau das, was Ava nicht war.

Sie tat zwar immer auf cool und nahm seit einigen Wochen auch den Kleidungsstil an, den Markus gerne wünschte, aber im Inneren war sie eher ruhig und verletzlich. Da wir uns in der Familie nicht sehr viel leisten konnten, war sie froh, dass sich jemand wie Markus mit ihr abgab. Denn nur durch ihn wurde sie auf die Beachpartys oder andere Veranstaltungen der Umgebung eingeladen und konnte sich auch mal ein Getränk leisten. Sonst galt die Regel: jeder durfte maximal 2x im Monat auf eine Feier, einen Geburtstag oder eine Party und Geld ausgeben. Für mehr hatte unser Taschengeld nicht hergehalten. Aber es war okay. Denn wir wussten beide, dass Lynn sich viel Mühe mit allem gab und auch kein High-Verdiener war. Lynn war Lehrerin an einer Grundschule im Nachbarort und putzte nebenbei, meistens an den Wochenenden die Kindertagesstätte daneben. Es war schon viel zu tun und wir kamen immer hin.

Aber auch die Kosten vom Haus wurden immer mehr, da, je länger nichts daran gemacht wurde, mehr und mehr zu reparieren war. Daher würde es nicht mehr lange dauern und auch Ava und ich würden uns einen Job suchen müssen, um mithelfen zu können. Tante Lynn wollte bereits in den Sommerferien mit uns etwas Wichtiges besprechen. Daher wussten wir schon, dass wir den Urlaub unterstützend Zuhause oder mit einem Sommer-Job verbringen würden. Aber auch das würden wir hinbekommen.

Ich wurde aus den Gedanken gerissen, als das Läuten der Schulglocke erhellte. Nur noch 2 Wochen. Dann waren endlich Ferien.

Kapitel 3

Heute war Mittwoch und es war wieder soweit. Nach einigen ausbleibenden Wochen hatte ich mich erbarmt und wollte Ma mal wieder besuchen. Es glich schon einem schlechten Gewissen, wenn ich früher nicht regelmäßig zu Besuch war. Aber mit der Zeit wurden auch meine Briefe seltener beantwortet und das Band zwischen uns wurde immer dünner.

Jede Woche, Mittwochnachmittags für ganze zwei Stunden, durfte ich meine Mutter besuchen. Selten auch an ausgewählten Wochenenden. Bei guter Führung kamen die Wochenenden noch mit dazu, aber nur unter Begleitung und an ausgewählten Plätzen. Wir trafen uns meist draußen bei schönem Wetter oder auch in der Klinik selbst. Dort gab es mehrere Räume zum Aufenthalt und auch gemeinsames Essen. Es war netter eingerichtet, als es das äußere Erscheinungsbild der Klinik versprach - recht verspielt, aber dennoch sehr modern. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei um eine Psychiatrie handelte. Die Möblierung der Inneneinrichtung war zwar weiß, aber immer wieder tauchten Farbklekse auf. Meist in grün, rot oder orange. Das nahm dem Ganzen das Sterile und brachte ein paar frohe Gedanken mit hinzu. Es gab auch eine Wand, an der die selbst gemalten Bilder der Patienten hingen. Diese erneuerte das Personal alle 2 Wochen und man konnte die Bilder kaufen. Die Bilder der meisten Insassen waren allerdings einfarbig oder dunkel gehalten. Meine Ma nannte das immer „die inneren Dämonen, die keine Farbe zuließen“. Die Bilder meiner Ma waren, im Vergleich, sehr bunt und blumig. Sie hingen nie besonders lange, da meine Familie oder Becky mir die Bilder immer zu irgendwelchen Festen als Andenken schenkten. Aber nur die besonders guten. Und davon hatte meine Ma einige, denn zeichnen konnte sie.

Nach mehr als 10 Jahren mit mehr oder weniger getakteten Mittwochnachmittagen, an denen ich meine Mutter besuchen durfte, war die Hoffnung, die ich damals fast täglich hatte, geschwunden. Ein Zusammensein war wohl nicht möglich. Auch, wenn ich es liebte, ihr immer wieder meine Erfahrungen und Erfolge zu berichten und ich auch wusste, dass sie sich freute, waren die Sehnsucht nach der Teilnahme an all den Ereignissen und auch die Sehnsucht an eigenen, neuen Erfahrungen jedes Mal in den Augen meiner Ma zu sehen. Das brach mir, je mehr Zeit verging, immer stärker das Herz.

Manchmal wollte ich es noch verstehen. Verstehen, warum sie, ohne ein Wort zu sagen, immer von diesen Männern in diese Klinik gebracht wurde - unzwar mehr und mehr ohne Widerstand. Fragen zum Aufenthalt meiner Ma und der Gründe, wieso alles soweit gekommen ist, beantworteten mir weder die Ärzte, noch meine Familie. Die Begründung der ausbleibenden Antworten war immer wieder: „das bekommst du alles noch mit, wenn du alt genug bist.“ Daher habe ich es irgendwann einfach aufgegeben.

Der Termin diese Woche war wie viele andere. Ich erzählte von den vergangenen Wochen und meine Ma hörte mir zu. Wir saßen zwar draußen im angrenzenden Klinik-Garten, um das Wetter und die Sonne zu genießen, aber so richtig da war meine Ma wohl gedanklich nicht. „Ich soll dir liebe Grüße von Lynn sagen“, hörte ich mich sagen, ohne dass ich das eigentlich geplant hatte. Meine Ma schaute auf, lächelte mich an und seufzte nur ganz langsam. „Lynn… meine Lynn. Wie geht es ihr und wie geht es euch?“ Das war wohl das Schlagwort, auf das meine Ma reagierte und wir kamen langsam ins Gespräch. „Es geht ihr gut, denke ich. Uns geht es gut. Es sind bald Sommerferien und wir haben alle eine Pause verdient, denke ich.“

„Dennoch höre ich Tante Lynn oftmals leise weinen und auch schluchzen“, erzählte ich weiter. „Vielleicht liegt es daran, dass sie allein ist, ihren Mann vermisst oder auch dich?!“ Ich konnte es damals wirklich nicht einschätzen, wie das Verhältnis zwischen meiner Ma und Tante Lynn war. Lynn besuchte sie auch ab und an. Aber nicht so regelmäßig, wie ich. Aber vielleicht hat sich das auch einfach verlaufen oder auseinander gelebt. Aber meine Ma bekam jede Woche einen Strauß weiße Rosen von ihr. Das waren die Lieblingsblumen von beiden, hatte Tante Lynn mal erwähnt.

Nachdem der Termin vorbei war und ich an der Klinik-Pforte stand, dachte ich über die gesamte Situation nach. Wir funktionierten einfach, wie eine normale Familie es tat. Jede Familie hatte schließlich ihre Päckchen zu tragen und wir hatten eben einfach viel damit zu tun, leben zu können, meine Ma auf den Weg der Genesung zu führen und erwachsen zu werden, redete ich mir ein. Es sollte realistisch bleiben. In meinem imaginären Notizbuch notierte ich allerdings: Ma öfter und regelmäßiger besuchen. Schon allein bei dem Gedanken bekam ich irgendwie Gänsehaut…

Außerdem wurde mir die Klinik an sich immer suspekter. Viele der damaligen Betreuerinnen waren bereits in Rente und mit dem neuen Personal ging die Herzlichkeit. Es ging nur noch um das Nötigste und darum, kostengünstig Personal einzustellen. Daher ließ irgendetwas an dieser Klinik meine Alarmglocken läuten. Aber ich wusste nie, was es war.

Die Ärzte sagten immer, es ginge meiner Ma nicht sehr gut und dass sie Ruhe brauchte. Bei einem meiner letzten Versuche, herauszufinden, wieso sie nie raus konnte, starrte mich meine Ma einfach nur mit geweiteten braunen Kulleraugen an. Meine Augen hatte ich definitiv von ihr. Sie sahen, anders als meine, traurig und sehr müde aus. Wenn sie die Betreuer bereits von der Ferne sah, stand sie auf und verabschiedete sich gleich, um den Herren entgegen zu laufen. So wie heute. Es war keine Mühe mehr dahinter, die Treffen auszudehnen. Vielleicht war sie aber auch einfach nur müde und hatte, wie ich, die Hoffnung bereits aufgegeben. Sie zeigte hinter sich an der kleinen Hecke vorbei zum See.  Einmal starrte sie ewig in eine Richtung und bewegte sich nicht mehr, sodass sie mir in diesem Moment wirklich einen Schrecken einjagte. Solche Momente gab es immer wieder und keiner von der Familie konnte sie deuten. Ava wurde durch Ma einmal so erschreckt, dass sie seitdem nicht mehr bei den Besuchen dabei war. Sie sah Ava, als wir hereinkamen, da sie bereits in der Klinik unten im Aufenthaltsbereich saß. Da riss sie ihre Augen weit auf. Sie stottere und murmelte immer wieder etwas in ganz schnellen und sehr missverständlichen Sätzen und lief auf Ava zu. Ava wusste nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte und fing an, zu schreien und weg zu laufen. Meine Ma beruhigte sich erst wieder, nachdem Ava den Raum verlassen hatte - konnte sich aber die letzten Male, nachdem wir sie darauf ansprachen, nicht erinnern.

Lynn hat mir daher verboten, mit meiner Ma über Ava´s Besuch zu sprechen oder zu oft nachzufragen, was eigentlich los sei und was genau passiert war.  Das würde sie nur zu sehr aufwühlen. Sie war bei jedem Besuch mit dabei, seit ich mich zurück erinnere. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich solle doch einfach die Zeit mit ihr genießen und meiner Mutter bei der Heilung ihrer Seele helfen. Das sei das Wichtigste und so könnten wir auch schnell wieder vereint sein. Diesen Rat habe ich leider jedes Mal erhalten, wenn wir gemeinsam in der Klinik waren. Der immer wiederkehrende Gedanke, dass sie mir etwas sagen wollte und ich einfach noch nicht bereit dafür war, ließ mich dennoch nicht los. Das sollte sich aber alles noch ändern.

Kapitel 4

Endlich Sommerferien. Es sind weitere zwei Wochen vergangen, ohne dass ich auch nur einen Gedanken an die Klinik und an meine Ma verschwendet hatte. Mein inneres Notizbuch blinkte schon rot bei den Punkten: mein Zimmer aufräumen und Ma öfter besuchen. Aber nun hatte ich bestimmt ganz viel Zeit dafür und vor allem auch die Lust, hin zu gehen.

Oder es liegt die Wahrheit darin, dass ich finde, dass ich Zuhause angekommen bin. Und daher einfach nur meine Ruhe wollte und es endgültig aufgab, meine Ma zurück haben zu wollen. Die Komfortzone ist klein, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und wenn alles gut lief, dann ist es schwer, Kraft und Mühe in andere Themen zu investieren.

Klar streite ich mich mit Ava, immer mal wieder. Sie ist nun 16 geworden und daher ein Jahr älter als ich. Wie Teenager, oder junge Erwachsene so sind, möchte sie ihren Willen durchsetzen und auch ihre Ruhe vor mir haben. Die kleine Cousine stand Ava in den meisten Dingen nur im Weg. Daher musste ich in das alte Kinderzimmer meiner Mutter ziehen, das sich im Keller befand. Zimmer kann man das auch nicht wirklich nennen. Es war eher ein umgebauter Hobbyraum, der damals, als es meiner Mutter zunehmend schlechter ging, als Zwischenstation diente und sie ein paar Mal bei ihrer Schwester übernachten konnte.

Seit ich in diesem Zimmer bin, fühle ich mich seltsam und mein Schlaf könnte auch besser sein. Aber ich beschwere mich nicht. Nichtsdestotrotz kann ich hier Ava aus dem Weg gehen und mich auf mich konzentrieren. Da ich generell nicht sehr viele Freunde habe, im Gegensatz zu Ava, bin ich auch ganz froh, mal für mich zu sein. Es scheint so, als würde mir, seit meiner Kindheit, alles etwas schwerer gemacht werden, als ihr. Aber wir halten im Großen und Ganzen einen harmonischen Haushalt. Streit gab es immer mal wieder, aber ich gewöhnte mich immer mehr daran, hier zu bleiben, einen Sommerjob anzunehmen und nächstes Jahr nach der Schule einen weiteren Weg einzuschlagen.

Mit 15 Jahren hat man für gewöhnlich andere Dinge zu tun oder auch andere Gedanken, die man verfolgen sollte. Es steht in den Sternen, wie es schulisch für mich weitergeht und wo es mich in Zukunft hin verschlagen wird. Ich war schon immer eher eine mittelmäßige Schülerin und immer sehr introvertiert. Daher auch eher der Außenseiter bei uns in der Schule.

Auch, wenn es seltsam klingt und wir bereits groß und zum Teil erwachsen sind, ist Becky immer noch bei uns als Haushälterin angestellt. Sie freut sich noch immer, wenn ich sie frage, ob sie bei den Besuchen dabei sein möchte. Becky hat sich sichtlich eingelebt und hat das kleine Häuschen direkt neben uns gekauft, um in unserer Nähe zu sein. Sie war immer da, wenn Lynn sie brauchte oder ich nicht alleine in die Klinik wollte. Kinder oder einen Lebensgefährten hatte Becky aber nicht. Ich denke, sie hat ihre Aufgabe, uns zu helfen, so ernst genommen, dass sie ihre eigenen Interessen immer hintenanstellt. Bei uns in der Nähe hatte sie sich schon immer am Wohlsten gefühlt. Das sagt sie selbst. Nicht wegen meiner Tante, sondern eher wegen mir. Sie erwähnte immer wieder, dass ich so verträumt und abwesend durch das Leben gehe. Sie würde sich schlecht fühlen, mich allein zurück zu lassen. Außerdem war sie jahrelang die beste Freundin meiner Mutter und auch sie konnte sie nicht allein in der Klinik zurücklassen. Denn Becky war immer noch, auch nach all den Jahren, regelmäßig bei meiner Ma zu Besuch.