Away - Nic Jordan - E-Book

Away E-Book

Nic Jordan

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Beschreibung

Das Tagebuch einer Vagabundin Eines tristen englischen Herbsttags trifft Nic mal wieder eine Entscheidung, die ihr Leben umkrempeln wird. Aber diesmal komplett. Wenige Monate später bricht sie per Anhalter auf in Richtung Byron Bay, Australien – und reist einmal kreuz und quer durch Europa und Asien. Was sie unterwegs erlebt, wird sie ihr Leben lang begleiten: In Polen begibt sie sich auf die Suche nach ihrem entfremdeten Vater. Auf der Strecke zwischen St. Petersburg und Moskau rettet sie eine Rollstuhlfahrerin aus einem brennenden Auto, bevor sie als einzige Fahrgästin in die Transsibirische Eisenbahn steigt. In Kambodscha übernachtet sie mitten im Dschungel und in Malaysia in einem Geisterhaus. Jeden Tag aufs Neue lässt sie sich auf völlig unbekannte Situationen, Mitfahrgelegenheiten und Gastgeber ein. Sie setzt sich der absoluten Einsamkeit aus und begegnet Fremden, die gar nichts haben und doch so viel geben. Eindringlich und humorvoll erzählt Nic in »Away« von ihrem Vagabundenleben unterwegs, von der großen Kraft des Zufalls und von ihrer späten Einsicht: Um eine Reise wirklich zu verstehen, muss man an den Ort zurückkehren, an dem alles begonnen hat ...

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© Conbook Medien GmbH, Neuss, 2020

Alle Rechte vorbehalten.

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Einbandgestaltung: ZERO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Motivs von Marcel a vie

(www.marcelavie.com) Karte: Peter Palm, Berlin

Fotos: Nic Jordan, Marcel a vie

Satz: David Janik

ISBN 978-3-95889-368-9eISBN 978-3-95889-375-7

aWay

Wie ich nichts mehr zu verlierenhatte und per Anhalter vonLondon nach Australien reiste

NIC JORDAN

Inhalt

Lechzen nach Veränderung

LONDON

Die Geburt einer Vagabundin

MÜNCHEN

Erste Schritte in Richtung Freiheit

VON LONDON NACH DOVER

Mein Plan? Kein Plan!

VON CALAIS NACH BRÜSSEL

Manche Sachen ändern sich nie

VON KÖLN NACH PRAG

Wurzeln und Wunden

VON KATOWICE NACH ŚWINOUJŚCIE

Hundertmal verliebt und einmal gehasst

VON MALMÖ NACH OSLO

Es gibt keine Zufälle

VON OSLO NACH MOROKULIEN

Robin und ein Foto, das mein Leben veränderte

VON STOCKHOLM NACH LULEÅ

Lichtblicke im dunklen Norden

VON LULEÅ BIS ROVANIEMI

Das Jaulen der Wölfe

LAPPLAND

Neue Freunde und alte Laster

VON HELSINKI NACH KITEE

Winterspaziergang im gefährlichen Russland

VON NIIRALA NACH ST. PETERSBURG

Weihnachtswunder

VON ST. PETERSBURG NACH MOSKAU

Zeit- und wortlos durch Sibirien

VON MOSKAU NACH PEKING

Atemlos in China

VON PEKING NACH NANYANG

Magische Orte, komische Sitten

VON SHANGHAI NACH BEIHAI

Die Armen sind die Reichen

VON HANOI BIS KOH RONG

Einfach sein

VON BANGKOK NACH KOH PHAYAM

Gespenster und andere Bekanntschaften

VON HAT YAI NACH MELAKA

Hati-Hati

VON SUMATRA NACH BALI

Am Ziel?

VON DARWIN NACH BYRON BAY

Epilog

MÜNCHEN

Karte

Bildteil

Über die Autorin

Ich widme diese Seiten den Menschen,die mich zu der gemacht haben,die ich heute bin:

Didi, meinem liebsten Bruder.

Du bist für immer ein Teil von mir undmeinen Reisen.

Mummsy, der coolsten Mummsy dieser Erde.

Lechzen nach Veränderung

LONDON

Ich hatte nicht viel zu verlieren. Ich meine, was war das Schlimmste, was passieren konnte? In der Theorie musste man etwas haben, woran man festhalten möchte, um Angst vor Verlust zu spüren, und ich hatte momentan nicht das Gefühl, dass es in meinem Leben so etwas gab. Meine ungesunde Beziehung war vor ein paar Monaten in die Brüche gegangen und zog einen Schleier aus Selbstzerstörung und Traurigkeit mit sich. Warum sollte ich mir über Risiken Gedanken machen? Ich wollte einfach mal wieder etwas fühlen. Ich wollte mich auf den nächsten Tag freuen, mal wieder lächelnd durch die Straßen laufen, weil eine Erinnerung vom Vortag mich einholte oder einfach nur weil ich mich freute, am Leben zu sein.

Nach einem Jahr, in dem ich zum ersten Mal verstanden hatte, was ›Depression‹ bedeutete, hatte ich das Verlangen nach Freiheit und nicht nach Flucht. Geflohen war ich schon mehrmals, und bis auf eine kurzfristige Veränderung meiner äußeren Welt hatte sich sonst nie viel getan. Diesmal wollte ich nicht mehr weglaufen und fliehen, nein, diesmal wollte ich auf die Suche gehen. Auf die Suche nach was? Hmm, da war ich mir noch nicht so ganz sicher, um ehrlich zu sein. Aber ich wusste, dass es mehr da draußen gab. Mir war bewusst, dass ich mich nicht für immer meinen Ängsten hingeben konnte, um bequem, umgeben von Langeweile, vor mich hinzuvegetieren.

Ich wollte Wunden der Vergangenheit heilen lassen und sie nicht nur sporadisch abdecken. Ich wollte mal wieder genug Energie haben, um mich kopfüber ins Leben zu stürzen und neue Wunden zu erlauben. Jede Narbe ist eine Lektion, ein Geschenk und ein Schritt nach vorne. Allerdings war die letzte, die mir zugefügt worden war, so tief, dass mir nicht ganz klar war, was ich daraus lernen sollte. Meine Sicht war verschwommen, als würde ich durch eine verschmierte Brille schauen. Fast so, als hätte ich eine Extrarunde auf dem Karussell gedreht, und der Schwindel wollte nicht schwinden.

Beziehungen hatten mich jahrelang davon abgehalten, richtig auszubrechen und mich einfach mal um mich selbst zu kümmern. Paradoxerweise war es irgendwie immer ›Liebe‹, nach der ich mich sehnte und vor der ich zugleich fortlief. In dieser Zeit vergaß ich komplett die wichtigste Liebe von allen, nämlich die zu mir selbst.

Die Beziehungen, die ich führte, waren fast wie ein Vorwand, den ich mir selbst gab. Der Vorwand, nicht zu weit weg zu können, und im selben Moment gab ich ihnen die Schuld dafür, dass ich mich unbeweglich fühlte. Ich denke, das ist oft ein Fehler, den Menschen im jungen Alter machen: Sie fesseln sich an Dinge, um sich nicht zu sehr herauszufordern und um am Ende einen Schuldigen zu haben, wenn sie aus eigener Feigheit doch nicht glücklich werden.

Ich hatte wie die meisten Menschen in der westlichen Welt einen routinierten Alltag, der mich genug ablenkte, um nicht den Verstand zu verlieren. Mein Kellner-Job in einer Restaurantkette hielt mich auf Trab, auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass ich eigentlich alles daran hasste. Kennen wir das nicht alle, dass wir für Geld einem Job nachgehen, der sämtlichen unserer Grundvorstellungen widerspricht? Täglich zwang ich mich aufs Neue in die knallenge weiße Uniform und servierte mit einem aufgesetzten Lächeln double bacon, und das definitiv nicht aus artgerechter Haltung. Das Einzige, was mich vorantrieb, war der schwere, mit Geld gefüllte Kellnergeldbeutel, den ich jeden Tag erschöpft nach Hause trug. Ich war mir ganz sicher, dass ich das angesparte Geld für irgendetwas Großes verwenden würde. Jede Münze wurde von mir zur Seite gelegt. Ich lebte so sparsam wie möglich für einen Plan, der bis jetzt noch nicht mit einer Idee gesegnet war.

Ich zahlte zu viel Geld für ein Zimmer, das sich wie ein Schuhkarton anfühlte. Zwar hatte ich es mir gemütlich gemacht, und es war in dieser Zeit mein Zufluchtsort, aber da sind wir auch wieder bei dem Wort ›Flucht‹. Ich wollte gerne wissen, wie es sich anfühlt, diesen Ort gar nicht mehr zu haben und irgendwo zu sein, wo man auch nicht mal eben kurz bei Freunden und Familie unterkommen kann. Das Gefühl des kompletten ›Alleinseins‹ machte mir Angst. Ich meine die Art von Alleinsein, wenn nichts in deiner Nähe bekannt ist und komplette Stille herrscht, dein Handy nicht funktioniert und du dir einfach selbst helfen musst. Ich konnte nur darüber fantasieren, was es hieß, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und damit meinte ich nicht Selbstständigkeit an sich, diese beherrschte ich. Im Alltag war ich schon immer selbstständig gewesen.

Als die Schule kein Thema mehr war, war ich nach Spanien gereist, um auf eigenen Füßen zu stehen und in der Sonne zu leben. Das waren meine ersten richtigen Schritte in ein langes, leicht unstrukturiertes, zugegeben auch sehr impulsives Vagabundenleben gewesen. Diese ständigen Reisen und Ortswechsel hatten mich zu dem geformt, was ich heute war. Auf Reisen und in der Sonne ging es mir immer gut, ich war zufrieden, anonym und frei.

Was machte ich eigentlich schon wieder in London? Hier war es kalt, laut und dreckig. Ich war zwar anonym, aber Sonne, Zufriedenheit und Freiheit gab es hier definitiv nicht.

Ein weiterer Tag in der Londoner Underground auf dem Weg zum Green Park, um mal wieder meine Zeit mit Arbeit zu füllen. Auf der Scheibe in meinem Blickfeld schien sich jemand künstlerisch ausgelebt zu haben, hatte mit einem dicken Filzstift ein Bild von einer nackten Frau gemalt und darübergeschrieben ›Love yourself‹. Immer wieder las ich das Wort ›Selbstliebe‹, jeder schien damit um sich zu werfen. Auf Bildern mit Yogis und Buddha drauf sah man es fast täglich auf irgendwelchen Social-Media-Kanälen. Wussten all diese Menschen denn tatsächlich und wahrhaftig, was es bedeutet, sich selbst zu lieben? Ich wusste noch nicht mal, wer zur Hölle ich überhaupt war. Also noch mal, was hatte ich schon zu verlieren?

Ich hatte ja schon mal den ›kleinen Plan‹ gehabt, nach Australien zu reisen, um diesen Ort, Byron Bay, zu suchen, von dem mir dauernd erzählt worden war. All die coolen, langhaarigen Reisenden sagten »Da musst du hin!« und »Da wirst du dich wohlfühlen!«. Besonders da ich in all den europäischen Orten, in denen ich gelebt hatte, immer ein Unikat gewesen war, ohne richtiges Zuhause, immer auf Reisen, nicht nur ein Jahr zwischen Abi und Uni, bevor ›der Ernst des Lebens losgeht‹. Ich hatte es weder bis zum Abi geschafft, noch hatte ich eine Ahnung, wieso sich Menschen hingezogen fühlen zu etwas, das sich ›der Ernst des Lebens‹ nennt.

An sich ist das alles nichts Schlechtes, doch es kam mir so vor, als liefen die Menschen immer in die entgegengesetzte Richtung. Auf Dauer ließ mich mein Lebensstil sehr einsam werden. ›Einsamkeit‹, was bedeutete das eigentlich? Wieso hatte ich immer dieses zerreißende Gefühl der Einsamkeit, obwohl ich durchgehend von Menschen umgeben war? Wenn ich so darüber nachdachte, stellte sich mir die Frage, ob es vielleicht nicht mehr so wäre, wenn ich mal wirklich allein wäre? Das alles ließ sich nur herausfinden, indem ich den Absprung wagte und meine Idee in die Realität umsetzte. Meine Idee von einer Reise. Einer richtig großen Reise … Doch wohin? Wie lange? Erst mal einfach nach Australien?

Es war Dienstag, und ich hatte frei. Einer von wenigen Tagen, an denen ich mir eine Auszeit gönnte und nicht versuchte, mich mit Sport oder anderen Aktivitäten von meiner Unzufriedenheit abzulenken. In unserer kleinen chaotischen Wohnküche saß ich am Laptop. Emily, meine italienische Mitbewohnerin, hatte mir ihren geborgt, da ich selbst keinen besaß. In dieser Zeit wohnte ich mit drei Mädels zusammen in einem typisch englischen zweistöckigen Haus im Norden Londons. Meistens jedoch verkroch ich mich in meinem Zimmer oder war arbeiten.

An besagtem Tag wollte ich einen Flug nach Australien buchen. Ich war stolz auf mich, dass ich mich wenigstens dazu entschlossen hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich gesagt hatte: ›Ich mache das jetzt.‹ Es war eher eine Art Ich-weiß-nicht-was-ich-sonst-machen-soll-Plan. Ich saß also konzentriert vor dem Laptop und wollte einfach nur einen Flug buchen, wie man das eben macht, wenn man ins Ausland möchte. Ganz normal mit einer Suchmaschine nach ›Schnäppchen‹ stöbern oder so. Zuerst einmal kratzte ich mich am Kopf, ich war gnadenlos überfordert von all den Flugangeboten, Airlines und verschiedenen Seiten im Netz. Bis jetzt hatte ich immer nur Kurzstreckenflüge gebucht, die nicht mehr als 100 Euro gekostet hatten. Hier wurde ich nun mit Preisen zwischen 600 und 2.000 Euro erschlagen und schnaufte erst mal gestresst auf.

Worauf musste ich denn überhaupt achten? Ich meine, wenn ich keinen Zeitdruck hatte, war ich sonst immer per Anhalter durch die Gegend gereist. Dabei sieht man auch am meisten und überfliegt nicht einfach all die kleinen Orte, die die meisten Touristen nie zu sehen bekommen.

Ich sah mir eine Weltkarte an und ging in meinen Gedanken all die magischen Orte durch, von denen ich mein Leben lang schon träumte. Das lag wohl alles zwischen hier und Australien. Wie wenig ich bislang von der Welt gesehen hatte, und jetzt würde ich mit dem Flugzeug über all die Länder drüberfliegen … es sei denn … ich … fuhr per Anhalter …?

Einen Augenblick lang starrte ich erstaunt und fast schon ein wenig erschrocken von meinem Gedanken auf die Weltkarte, die auf dem Bildschirm so winzig wirkte. Plötzlich lachte ich laut auf. Würde ich das wirklich bringen? Den Daumen ausstrecken und quasi ans Ende der Welt reisen? Meine Gedanken wie auch mein Blick verweilten eine Zeit lang auf der Karte. Vielleicht waren es Sekunden oder auch Minuten, in denen ich dasaß und einfach nur starrte.

Die Realität des englischen Wetters riss mich mit peitschenden Regentropfen gegen mein Fenster aus meiner Traumwelt. Ich ging rüber zum Wasserhahn und füllte mein Glas auf. Das Leitungswasser in London schmeckte übrigens nach Schwimmbad, was gerade nicht relevant war, aber mir in dem Moment wieder auffiel, weil ich beim ersten Schluck mein Gesicht verzog. Während ich da am Waschbecken herumstand, kehrte der Gedanke, nach Australien zu trampen, wie ein penetrantes Echo in meinen Kopf zurück und zwängte meiner Fantasie die ersten Bilder auf. Ich musste schmunzeln, und mein Blick wanderte zum Fenster. Man konnte vor lauter Regen kaum noch etwas sehen.

Mit einem klirrenden Geräusch stellte ich das halb volle Glas Wasser ab und ging wie hypnotisiert zurück zum Bildschirm, auf dem mir immer noch die Weltkarte farbig entgegenleuchtete, setzte mich davor und fing an, jeden Ort zu vergrößern, an den ich theoretisch gerne reisen wollte. Ich musste mir nun Gedanken machen, ob es in der Praxis überhaupt möglich war.

Meine erste Wahl fiel auf Skandinavien, doch den Gedanken verwarf ich beinah direkt wieder, als mir bewusst wurde, dass ich da wohl im Winter wäre, und im Winter war es da verdammt kalt und dunkel. Weiter südlich wäre die Überquerung in Richtung Asien allerdings wesentlich gefährlicher und auch schwerer. In diesem Moment stellte ich fest, dass ich bereits dabei war, meine total irre Idee in die Realität umzusetzen …

»Wieso eigentlich nicht«, nuschelte ich vor mich hin, während mein Cursor wieder nach Skandinavien flitzte. Eben hatte ich mir noch vorgenommen, Ängste zu überwinden und mich Herausforderungen zu stellen, um zu wachsen, und nun wollte ich Skandinavien nicht besuchen, weil es da kalt war? Nein, ich würde durch Skandinavien reisen und dann durch Russland, was bedeutete … Schluck. Sibirien! Was wusste ich schon über Sibirien? Wer ging denn schon mal einfach so nach Sibirien? Was konnte man in Sibirien überhaupt machen? Und vor allem: Fuhr da jemand Auto?

Das verrückte Schmunzeln von vorhin machte sich wieder auf meinen Lippen bemerkbar. ›Ich! Ich werde nach Sibirien gehen!‹, beschloss ich in diesem Moment. Ich stellte mir vor, wie sich die Kälte dort anfühlte und wie lang die Mauer in China wohl ist, wie es wäre, im Indischen Ozean zu schwimmen, und wie still es in finnischen Wäldern werden kann. Ich malte mir aus, wie ich in Moskau auf dem Roten Platz stehe und mich die ganzen prachtvollen Gebäude klitzeklein aussehen lassen. Ich konnte fast schon den Fahrtwind spüren, wenn ich in Bali mit dem Fahrrad zwischen Reisfeldern herumdüse, am besten mit einem Strohhut auf dem Kopf auf der Suche nach frischen Früchten, die von lächelnden Menschen am Straßenrand verkauft werden. Meine Fantasie arbeitete gerade auf Hochtouren. Jedes dieser Bilder fühlte sich klar und echt an, fast so, als hätte ich diese Reise schon einmal gemacht.

Ich traf die Entscheidung schnell und tatsächlich unüberlegt, wusste aber in dieser Sekunde des Leichtsinns auch, dass mich kaum etwas noch davon abhalten konnte. Ich würde auf die andere Seite der Welt reisen, einmal per Anhalter nach Australien.

Ich ging nach oben und lief in meinem knapp zehn Quadratmeter großen Zimmer auf und ab. Der Blick aus dem Fenster ließ mich wie immer die Stirn runzeln. Ein Meer aus Grautönen!

Der penetrante Regen hatte mittlerweile eine Pause eingelegt. Die Wolken zogen schnell vorbei, und dahinter kamen nur noch mehr graue Wolken zum Vorschein. Vor den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete ich, wie die Bäume in den Londoner Mini-Vorgärten sich fast schon lustlos im Wind bewegten.

Weder Winter noch Frühling, das spiegelte auch meinen Gemütszustand perfekt wider. Ich hatte beinah vergessen, dass ich quasi etwas zu feiern hatte. Das Grau da draußen konnte mich heute nicht beeindrucken und auch nicht meine Stimmung töten. Ganz im Gegenteil, je mehr Grau meine Augen erblickten, desto farbiger wurde meine Gedankenwelt. Aus dunkelgrauen Häuserwänden zauberte meine Vorfreude saftig grüne Reisfelder. Und aus der nass-grauen Straße einen bunt bepflasterten Pfad in einer schönen, unbekannten Altstadt.

Begeisterung und Aufregung flossen wie eine Droge durch meine Venen, und alles um mich herum wurde von neuem Licht geflutet. Und siehe da, ich hatte ein Lächeln auf den Lippen! Ein echtes Lächeln! Ich hatte fast schon vergessen, wie es sich anfühlte, wenn mein Gesicht sich vor Freude verzog. Es war das erste Mal seit Langem … ein Licht am Ende des Tunnels. Des verdammt langen Tunnels!

Ich hielt es für eine gute Idee, mein Vorhaben so vielen Leuten zu erzählen wie möglich. Damit wollte ich bewirken, dass es unmöglich wäre, einen Rückzieher zu machen. Ich wollte auf Nummer sicher gehen. Wer wusste schon, wie weit ich letztendlich kommen würde? Aber das war auch nicht wichtig. Es wäre fast ein Wunder, wenn ich das überlebte und tatsächlich in Australien ankäme. Aber eines wusste ich mit Sicherheit: dass jeder Kilometer es wert wäre und mich mit Erinnerungen füllen würde, die die letzten farblosen Monate auch tatsächlich verblassen lassen könnten.

Ich riss meine klemmende Zimmertür mit einem lauten Quietschen auf, schlüpfte in meine Stiefel und ging nach draußen. Aufregung pochte durch meinen Köper und brachte mich in Bewegung. Mein Spaziergang führte mich durch zahlreiche kleine, mit dreckigen Pfützen übersäte Straßen in Camden. Zwar merkte ich, wie ich vorankam, aber ich war in einer anderen Welt versunken, irgendwo tief in der neu entdeckten bunten Welt in meinem Kopf. Ein Auto hupte mich beim Überqueren einer Straße an, beinah hätte es mich wegen meiner Tagträumerei überfahren. Viel Kraft für Negativität hatte ich nicht, also lachte ich dem Fahrer einfach ins Gesicht. Auch ein Radler war kurz davor, mich in einer Seitenstraße umzufahren, und auch er bekam nur ein müdes Lächeln als Antwort auf: »For fuck’s sake, watch the road and don’t fucking daydream, mate.« Beinah belog ich mich vor Glücksgefühlen selbst und dachte: ›Ach, ich werde diese Briten vermissen.‹ Kopfschüttelnd versuchte ich den Gedanken wieder loszuwerden.

Stattdessen wollte ich über all die anderen wichtigen Dinge nachdenken, zum Beispiel wo ich das Visum für China herbekam? Wann musste ich was beantragen? Passte alles, was ich brauchte, in meinen Rucksack? Wie kalt war es an den meisten Orten tatsächlich? Ich trabte die Gassen entlang, und nicht mal meine mittlerweile nassen Socken störten mich.

Eine Graffiti-überzogene Wand nach der anderen zog an mir vorbei. Von Amy Winehouse über die Beatles bis hin zu Che Guevara waren allerlei Motive hundertfach und in allen Farben mühsam auf die Hauswände gesprüht worden.

›Einen Drink, ich brauche einen Drink‹, dachte ich und steuerte zu dem veganen Café, in dem ich einst gearbeitet hatte. Mit Sicherheit würde ich hier auf jemanden treffen, dem ich von meinem verrückten Vorhaben erzählen konnte.

Mein ehemaliger Boss Christian stand, wie erwartet, an der Theke und musterte mich misstrauisch: »You look different! What is it? Hmm, let me see. You look kinda happy today.«

Ich lächelte und fühlte, wie meine Augen strahlten. Christians Aussage machte mir gute Laune, weil er bemerkt hatte, dass ich etwas Großes plante. Eine Idee muss bei ihrer Geburt so viel Energie ausstrahlen wie eine werdende Mutter. Man weiß nicht genau, was anders ist, aber man fühlt eine gewisse Veränderung, die unerklärlich scheint. Es platzte aus mir heraus: »I will leave London soon. I am going to hitchhike to Australia.« Triumphierend plusterte ich mich auf wie ein Gockelhahn.

Doch das erwartete Staunen blieb aus. Christian sah mich einen kurzen Moment reaktionslos an und lachte nur kurz auf. »Why does it not surprise me coming from you? So when are you leaving?«

Seine Gelassenheit verdutzte und nervte mich zugleich. Wieso fiel er nicht aus allen Wolken? Warum war er nicht total aus dem Häuschen? Er gab mir das Gefühl, entweder nicht ernst genommen zu werden oder sogar, dass meine Idee nicht ganz so verrückt und außergewöhnlich war, wie sie für mich schien. Mit einem leicht unterdrückten eingeschnappten Unterton berichtete ich weiter: »Well, I will save some money in the next six months and leave. I mean like for real. I will hitchhike once across the globe and maybe I will not survive this crazy adventure.« Damit hatte ich klar genug dargelegt, wie ernst ich es meinte, und mir offiziell ein Zeitlimit gesetzt, das ich wohl einhalten musste. Sechs Monate also!

Christian brachte mich zum Nachdenken, als er fragte, ob ich denn in sechs Monaten genug Geld ansparen könnte und wie ich es denn mit den Visa machen würde. Gute Fragen, zugegeben, mit denen ich mich aber zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich auseinandersetzen wollte. Ich wollte meine Euphorie nicht bremsen lassen.

Auf dem Weg zurück in meinen Schuhkarton in Camden holte ich dennoch mein Handy raus und fing an zu recherchieren. ›Man muss in China die Ein- und Ausreise bestätigen, wenn man sich um ein Visum bewirbt, und dazu muss man eine Unterkunft nachweisen für die Zeit, die man dort verbringt.‹ Mein Herz legte in diesem Moment einen Zahn zu, denn ich hatte keine Ahnung, wie das zu meiner Freiheits-Tramper-Theorie passen sollte. Würde ich schon bei den ersten Vorbereitungen scheitern? Und ich hatte gerade erst ein Land recherchiert. Was waren wohl die Bestimmungen in Russland und Südostasien?

Die nächsten Tage setzte ich mich dann doch noch genügend mit all den Themen auseinander. Die wenigsten würden von mir behaupten, besonders deutsch zu sein, aber was organisatorische Sachen angeht oder Dinge wie Reiseversicherungen, war ich dann doch sehr effizient und wollte immer auf Nummer sicher gehen. Und das ist bei Deutschen wohl eine Art Klischeeeigenschaft.

Langsam wuselte ich mich Schritt für Schritt durch zahlreiche Webseiten und Foren. Mit dem Ziel, die perfekte Route zu finden und alles Bürokratische vorab zu klären, durchforstete ich das World Wide Web länger als je zuvor und fühlte mich ein wenig stolz. Richtig organisiert kam ich mir vor! Es war das erste Mal, dass ich so viel Zeit aufwendete, um mich auf eine Reise vorzubereiten. Man muss dazu sagen, dass ich mich tatsächlich nur um den bürokratischen Teil kümmerte. Ich verschwendete keinerlei Zeit damit, ›die schönsten Strände in Thailand‹ oder ›Was isst man in China?‹ zu googlen.

Mein Kopf glühte und meine Augen brannten, nachdem ich stundenlang klein gedruckte, mir entgegenleuchtende Informationen auf trist aussehenden Einwanderungsseiten studiert hatte. Das Ergebnis? Bis auf mein Visum für Australien konnte ich mich vorerst um nichts Weiteres kümmern. Das Visum für Russland musste ich in München beantragen, wo ich selbstverständlich seit meiner Geburt bei Mama gemeldet war. Und das für China durfte ich erst einen Monat vor Anreise beantragen, was meine ganze Planung ein wenig riskant werden ließ. Was würde ich tun, wenn mir aus irgendeinem Grund das Visum nicht genehmigt werden würde? Ich müsste es in einer Vertretung in Finnland beantragen und hoffen, dass ich all die nötigen Papiere bis dahin zusammenhätte. Bislang hatte ich außer einem Reisedokument keine einzige der Informationen, die China von mir haben wollte.

Gestresst rieb ich mir übers Gesicht mit beiden, vom Tippen angespannten Händen. Obwohl ich theoretisch bis auf ein paar Infos, die ich in mein rosafarbenes Notitzheft geschmiert hatte, nicht sehr viel weitergekommen war, fühlte ich mich bereit und hatte keine wirklichen Zweifel daran, dass ich das rechtzeitig schaffen würde. Allgemein hatte ich nicht das Gefühl, dass an diesem total irren Plan irgendetwas schiefgehen könnte. Jetzt musste ich wohl nur die sechs Monate abwarten, bis es endlich losging.

Die Geburt einer Vagabundin

MÜNCHEN

Mit 14 Jahren fing mein kleines – nennen wir es mal: – Ausreißerleben an. Damals fuhr ich per Anhalter quer durch Deutschland. Meine erste Hürde war es, meine Reiseideen bei meiner Mutter durchzuboxen. Als ich das geschafft hatte und sie mich unfreiwillig nach Berlin trampen ließ, blieb es nicht bei diesem einen Mal. Es entwickelte sich zu einer Art Sucht, immer und immer wieder aufzubrechen.

Oft hatte ich meine besten Freundinnen dabei. Wenn wir nicht den Daumen rausstreckten, versteckten wir uns in Zügen auf den Toiletten, manchmal auch stundenlang, um ohne Geld neue Orte besuchen zu können. Mir war zu der Zeit noch nicht bewusst, wie wertvoll und lehrreich diese Erfahrungen für meine bevorstehende Reise sein würden.

Der normale Alltag und das routinierte Leben meiner Altersgenossen hatten mich nie interessiert. Ständig hatte ich den Drang, was anders zu machen und aus der Reihe zu tanzen. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass ich ohnehin ein Außenseiter war: Keiner in der Schule hatte mich überhaupt erst in die Reihe hineingelassen, also blieb mir nichts anderes übrig, als aus ihr herauszutanzen. Immer wollte ich etwas Größeres, Bunteres, und vor allem wollte ich weiter weg.

Einfach nur Studium, Job, Haus und Kinder reizten mich nicht, kamen als Zukunftsplan nie infrage. Ich wollte immer nach den Sternen greifen und Menschen kennenlernen, die anders waren. Wir versuchten immer wieder, uns im Teenageralter auf After-Show-Partys zu schleichen, um wenigstens einen kleinen Einblick in die Welt der Künstler zu ergattern und unseren Blick für einen Moment vom ›langweiligen‹ Leben der Durchschnittsmenschen abzuwenden.

Mit den Jahren wurden unsere Tramper-Aktionen zur Norm, ebenso wie der Besuch der Backstage-Veranstaltungen. Doch die Welt, in die wir hier eintauchten, war sehr oberflächlich und half mir nur kurzzeitig, aus dem Alltag auszubrechen. Es dauerte nicht lange, bis ich den spirituellen Pfad entdeckte und mich Champagnerfeten mit Prominenten nicht mehr ansprachen. Stattdessen beschloss ich, in mich hineinzuschauen, und tauschte Partys gegen Meditation ein.

Mein neuer Lebensabschnitt fing durch meinen Bruder Didi an. Er war der typische Einzelgänger, würde ich sagen. Kung-Fu und Meditation waren neben alten Filmen seine Leidenschaften. Er hatte sich irgendwann selbst Chinesisch beigebracht, weil es sein Traum war, irgendwann in China in einem Tempel zu leben. Wie fast alle Geschwister zankten wir uns in der Schulzeit viel und wussten wenig von den Welten, in denen wir hinter unseren Zimmertüren verschwanden. Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich aber die Verbindung zu Didi herstellen. Den Spitznamen trug er in unserer Familie, seit ich denken konnte, aber bis heute weiß ich nicht wirklich, wieso, denn sein eigentlicher Name war Lech.

Er lebte sein Leben hinter verschlossenen Türen. Nur in seltenen Fällen erlaubte er mir oder meiner Mutter Zutritt in sein Reich. Seine vier Wände waren minimalistisch im chinesischen Stil gehalten. Zum Beispiel sägte er die Tischbeine seines Holztischs kurz, sodass er davor auf dem Boden sitzen konnte. Er tauchte abends meistens ab in die Welt alter chinesischer Schwarz-Weiß-Filme. Mit den Jahren erlaubte er mir ab und zu, an seinem Abendprogramm teilzuhaben, aber er erzählte mir nur wenig über das, was in seinem Inneren vor sich ging.

Eines Abends kam mein Bruder nicht nach Hause. Ich machte mir Sorgen, da er in den letzten Wochen öfter über das Thema Suizid gesprochen hatte. Aus irgendeinem Grund wagte ich es nicht, näher darauf einzugehen, wenn er über solche Dinge sprach. Da sich die Freundschaft zu meinem Bruder immer fragil anfühlte, wollte ich die Dinge, die er sagte, nie hinterfragen. Die Verbindung, die wir mittlerweile hatten, war das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses gewesen, das ich nicht mit falschen Fragen kaputtmachen wollte.

An dem besagten Abend, als mein Bruder untypisch für ihn nicht nach Hause kam, saß ich stundenlang in meinem Zimmer und wartete auf ein … Lebenszeichen. Ich lief in meinem kleinen Zimmer auf und ab, beleuchtet vom Scheinwerferlicht des Dummmachfernsehers, und verpestete meine Lunge mit dem stinkenden Qualm einer Mentholzigarette. Immer wenn ich eine zu Ende geraucht hatte, drückte ich die Stummel in einem leeren Teelichtbehälter aus.

Mitten in der Nacht hörte ich endlich Schritte im Treppenhaus und eilte zur Haustür. Als Didi versuchte, unbemerkt die Tür zu öffnen, erschrak er, weil ich besorgt auf der anderen Seite wartete.

»Wo warst du?«, fragte ich ihn, hatte aber Angst vor seiner Antwort.

»Nirgendwo. Lass mich in Ruhe!«, murmelte er, und ich musste feststellen, dass sein Gesicht schmerzverzerrt war. Zudem bemerkte ich seine gekrümmte Haltung. Ich folgte ihm in sein Zimmer und sah Blut an seiner Hand.

Zögernd fragte ich erneut: »Wo warst du? Was hast du gemacht?« Ich konnte die Panik in meiner Stimme kaum verbergen. Mein Versuch, cool zu bleiben, ging nach hinten los, und mein Bruder sah mich nur leicht genervt an.

Er sagte leidend: »Ich war draußen. Ich habe mich umgebracht, aber es hat nicht funktioniert.«

Ich werde seine Wortwahl nie vergessen: Ich habe mich umgebracht, aber es hat nicht funktioniert. Dieser Moment brannte sich für immer tief in mein Gedächtnis, wie das Brandzeichen eines Zuchttieres, und veränderte mein Leben.

Zuerst sah ich ihn regungslos an und versuchte, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr mich seine Worte trafen. Wir hatten nie eine emotionale Geschwisterbeziehung gehabt. Über Gefühle wurde bei uns nie gesprochen, und geweint hatten wir nur als Kinder voreinander. Irgendetwas in mir redete mir ein, dass es nicht okay wäre, jetzt zu zeigen, wie ich mich wirklich fühlte. Mir kam kein Wort über die Lippen, und mein Kopf war leer. Mein Herz jedoch zerriss es von innen. Es zerriss so laut, dass ich mir Sorgen machte, er könnte es hören.

Ich hatte immer gedacht, ein Herz fühle sich leer an, wenn es verletzt wird. Doch als sich die besagten Ereignisse in meinem behüteten Zuhause abspielten wie ein Drama auf der Leinwand, musste ich lernen, dass es sich eher anfühlte, als würde das Herz riesig und untragbar schwer, fast so, als würde es einen von innen erdrücken, sodass für nichts anderes mehr Platz blieb. Soweit ich mich erinnern kann, hörte ich ein paar Sekunden sogar auf zu atmen. Die Zeit stand still, und ich kämpfte mit den Tränen, die unaufhaltsam in meine Augen vordrangen.

»Du kannst weinen«, flüsterte Didi fast schon einfühlsam und gab mir damit das Zeichen, auf die Knie zu sinken und die Tränen zuzulassen.

»Aber warum?«, wiederholte ich schluchzend alle paar Sekunden. Mein Körper zitterte, und ich war in einem völligen Schockzustand. Widerwillig zeigte mir mein Bruder die Wunde, die er sich mit einem Samuraischwert am Bauch zugefügt hatte. Der Schnitt war tief, aber nicht tief genug, um in Lebensgefahr zu schweben. Didi verarztete sich selbst, setzte sich ans Bettende, atmete schwer und begann endlich zu sprechen.

Seine Antwort machte aus mir den Menschen, der ich heute bin.

Er erklärte mir, wie er die Welt sah, wie ihn die Menschheit anwiderte und dass er der Meinung war, die Menschen wüssten all die Wunder, die sie umgaben, gar nicht zu schätzen. Zerstörten sie sogar. Er sagte: »Keiner will was von der Welt sehen, alle drehen sich nur um ihre eigene Achse!« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass ihn auch mein Lebensstil in dieser »falschen Welt« anekelte und es ihn jeden Tag stresste, wie ich meine Zeit mit Klatschzeitschriften, Make-up, Alkohol und Zigaretten vergeudete. Seine Worte trafen mich wie Messerstiche. Alles, was über seine Lippen kam, zerrte mein Leben unwiderruflich in eine neue Richtung. Ich war nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.

Am nächsten Tag erwachte ich nach einer, vielleicht zwei Stunden Schlaf. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Meine verschwollenen Augen holten mich allerdings in die Realität zurück.

›Dein Lebensstil widert mich an‹, hallte seine Stimme in meinem Unterbewusstsein nach.

Ich ging zu meiner Handtasche und leerte den Inhalt auf meinem Bett aus. Make-up, Flyer für irgendwelche unwichtigen Partys, Zigaretten und viele weitere unnütze Dinge nahm ich Stück für Stück in die Hand und warf sie direkt in den Papierkorb. Das Rauchen gab ich an dem Tag für immer auf. Den Großteil meiner Kleidung verschenkte ich, und was übrig war, ging in die Altkleidersammlung. Nur das Nötigste behielt ich.

Von diesem Tag an versuchte ich, mein Leben bewusster zu leben, und versprach mir, die ganze Welt zu bereisen und so viel Gutes weiterzugeben wie nur in meiner Macht stand. Meine erste Mission sollte es allerdings sein, meinem Bruder Lebensfreude zu schenken. Wir verbrachten fast jeden Tag miteinander, und meine Priorität war es, ihn von den Suizidgedanken zu befreien. Ich wollte für ihn ein Beispiel für Veränderung darstellen und ihm beweisen, dass die Welt sich bessern kann, wie auch ich es konnte. Es kam der Moment, an dem ich mir sicher war, dass es ihm besser ging, und ich mich auf meinen eigenen Weg begeben musste.

Wenig später – ich hatte meine schulische Laufbahn schon vor einiger Zeit unfreiwillig abgebrochen – machte ich mich auf meine erste große Reise, per Anhalter in den Süden Spaniens, nach Andalusien. Von dem Moment an kannte ich kein Halten mehr. Je mehr ich reiste, desto kleiner erschien mir das Land, in dem ich damals lebte, und ich fühlte mich in Deutschland fast schon eingeengt. Der Wunsch, auszubrechen und mehr zu sehen, wurde immer größer. Ich wollte eine andere Welt auf demselben Planeten erleben.

Diese Gedanken waren schon immer in mir gewesen. Ich kann mich noch genau an unsere ersten Familienurlaube erinnern. Der Moment, wenn man aus dem Flugzeug steigt und wie gegen eine Wand läuft aus hoher Luftfeuchtigkeit, fremden Gerüchen und neuen Energien.

Die Kinder, mit denen ich mich im Familienurlaub anfreundete, schienen immer Heimweh zu haben und freuten sich aufs Nachhausefahren. Sie erzählten freudig von ihren Freunden, Klassenkameraden und Lieblingsspielplätzen. Doch in mir löste der Gedanke an die Heimfahrt immer nur Panikattacken aus. Jedes Mal überlegte ich, wo ich mich verstecken könnte, sodass meine Mutter mich vielleicht in dem fremden, aufregenden Land zurücklassen würde. Ich hatte mehr Angst vor der Langeweile des Gewohnten als vor der Gefahr des Unbekannten.

Es fühlte sich so an, als wäre das immer mein Weg gewesen, aber das Leben in München, in der Gesellschaft, der ich mich nie zugehörig fühlte, hatte mich zu etwas gemacht, was ich nie sein wollte. Mein Bruder hatte mich aus meinem falschen Leben geholt und wieder auf den Weg gebracht, der für mich bestimmt war. Er hatte es mit Schmerz und einer unfassbar traumatischen Erfahrung geschafft, aber er hatte es geschafft, und dann ging er. Drei Jahre später nahm er sich letztendlich doch sein Leben. Durch die Veränderung, die er in mir bewirkt hat, lebt er für immer in mir weiter.

Erste Schritte in Richtung Freiheit

VON LONDON NACH DOVER

Langsam hatte ich mich von meiner Abschiedsfeier vor zwei Tagen erholt und war bereit. Die ganze Zeit hatte ich versucht, nicht viel über meine Reise nachzudenken, um mich nicht im Voraus zu stressen und in Panik zu verfallen, aber nun war ich tatsächlich etwas ungeduldig.

Ich kann nicht zählen, wie viele dieser Abschiedsfeiern ich in meinem Leben schon hatte. Immer wieder war ich aufgebrochen und im Kreis durch Europa getrampt. So vieles hatte ich gesehen, so viel fremde Kultur aufgesaugt, im jungen Alter schon. Es fühlte sich fast schon wie eine Routine an, meinen Rucksack immer wieder ein- und auszupacken und mich, wie gejagt, von einem Ort zum anderen zu bewegen.

Aber diesmal war alles anders, und ich ging die Sache ruhig an. Ich war nicht gehetzt, ganz im Gegenteil fühlte es sich fast schon wie in Zeitlupe an. In mir herrschte ein ungewohntes Gefühl der Gelassenheit. Aufmerksam versuchte ich, jede Etappe der Reisevorbereitungen zu genießen. Alles geschah bedacht.

Zum gefühlt hundertsten Mal sah ich die Weltkarte und meine Route an. Sofort fühlte ich mich, als würde ich leuchten; das gleiche Leuchten hatte ich bei der Geburt dieser verrückten Idee verspürt. Kurz grunzte ich lachend auf, als mir klar wurde, was ich da eigentlich vorhatte. Ich konnte spüren, dass ich jedes bisschen Liebe und Hoffnung auf dieses Stück Papier vor mir projizierte.

Fast keines der Länder, die ich durchqueren würde, hatte ich schon mal besucht. Jede Kultur war mir vorerst fremd, jeder Geruch undefinierbar und jedes Klima eine Herausforderung.

Ich wurde dauernd gefragt: »Hast du denn keine Angst?«

Meine Antwort war allerdings immer die gleiche: »Wovor denn? Vor der Welt, auf der wir alle zu Hause sind? Was ist schon das Schlimmste, was passieren kann? Dass ich sterbe?! Wieso sollte ich davor solche Angst haben, dass ich lieber meinen Traum wegwerfe und unglücklich vor mich hin existiere? Sterben … das werden wir alle irgendwann. Ich habe mehr Angst davor, dass ich sterbe, ohne mein Leben und meine Träume gelebt zu haben, ohne gesehen zu haben, was ich immer sehen wollte, ohne etwas zu fühlen, ohne dem Tod einmal ins Auge zu blicken, ohne Adrenalin zu spüren und zu wachsen. Ich habe Angst, mich lebendig tot zu fühlen, weil ich nichts Erfüllendes erlebt habe. Träumen ist ein schöner Zustand, aber Fühlen, Schmecken, Sehen und Riechen sind, was Leben bedeutet. Ich bin bereit dafür, alles zu riskieren, denn wenn mir etwas passiert, dann wenigstens während ich das tue, was ich liebe, und nicht während ich tue, wodurch ich mich lebendig tot fühle.«

Es war so weit. Südlich von London stieg ich aus der Bahn und folgte dem Weg in Richtung Autobahn. Ich fühlte eine unvergleichliche Freiheit. Das Gefühl, alles machen zu können und überallhin gehen zu können. Keine Verpflichtungen, die mich nachts wachhielten, kein Job, dem ich nachgehen musste, keine Miete, die anfiel.

An der Autobahnauffahrt angekommen, brannte die Sonne mir bereits um diese frühe Uhrzeit auf der Haut, mein Rucksack war schwer, und die Träger drückten auf meine Schultern. Ich war klatschnass vom Schweiß, aber all das störte mich nicht. Ich überquerte die Straße, um in einem Pub nach einem Stift und einem Stück Karton zu fragen. Die Frau an der Bar sah meinen Rucksack und lächelte. Meine gute Laune war nicht zu verbergen, und ich lächelte mit aller Euphorie zurück.

In dem dunklen, mit Holz bekleideten Laden herrschte ansonsten Stille, man hörte nur einen leichten Wind durch die Türspalte sausen. Es war noch früh, außer einem älteren Mann konnte ich niemanden sehen. Nach einem kurzen, typisch englischen Small Talk verschwand die Frau hinter einer Tür, um Karton und Stift für mich zu holen. Bevor ich ging, gab sie mir noch ein Glas Wasser, da ich jetzt schon völlig dehydriert war. Wie würde das erst in Südostasien und im Outback Australiens werden?

Ich schob den Gedanken beiseite und spazierte ganz entspannt zu der Tankstelle, die auf der Straße in Richtung Dover lag, von wo ich mit der Fähre nach Frankreich übersetzen wollte. Am liebsten trampe ich von Tankstellen los, da ich mir die Leute genauer anschauen kann und es in meiner Macht liegt, wen ich ansprechen möchte. Zudem sagen in einer Face-to-Face-Situation mehr Leute zu, wenn du sie darum bittest, dich mitzunehmen.

Die erste Person, die ich an der Tankstelle ansprach, war eine circa fünfzigjährige Engländerin namens »Just call me Kate«. In ihrem pinken Kleinwagen hatte sie meine Aufmerksamkeit gewonnen. Ohne groß zu überlegen, war sie sofort dazu bereit, mich mitzunehmen. So war der erste Schritt in die Freiheit gemacht.

Das nächste Auto, das anhielt, gehörte einer deutschen Künstlerfamilie, die durch den Tunnel bis nach Deutschland fahren wollte. Allerdings hatte ich mir die romantische Idee in den Kopf gesetzt, unbedingt mit der Fähre fahren zu wollen. Ich hatte mir bildlich ausgemalt, wie ich winkend auf einem Schiff stehe und England in der Ferne immer kleiner werden sehe. Mir kam es zu einfach vor, direkt mit einem Auto so eine lange Strecke zurückzulegen und am selben Tag schon in Deutschland anzukommen. Wo war da das Abenteuer? Zumindest in Frankreich wollte ich zwischenstoppen, am Meer ein Croissant zum Frühstück essen und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lassen.

Nach nur fünfzehn Minuten Fahrt bat ich die Familie, mich an der nächsten Raststätte rauszulassen. Unsicher, ob es die richtige Entscheidung war, kroch ich mit meinem schweren Rucksack und müden Schultern aus dem Wagen. Es hatte sich irgendwie nicht natürlich angefühlt, die Fahrt abrupt abzubrechen, und irgendwie die Energien verändert. Trotzdem blieb ich bei der Entscheidung und tat so, als wüsste ich genau, was ich da tat.

Aber anscheinend hatte mir meine Sturheit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf einmal stand ich auf einem verlassenen Rastplatz und suchte in der heißen Mittagssonne nach wenigstens einem Auto, das ich fragen könnte, mich ein Stück mitzunehmen. Doch weit und breit kam nichts. Der Rastplatz war ein wenig abgelegen von der Hauptstraße und dadurch schlecht besucht.

Ein Hungergefühl breitete sich in meinem Magen aus, und ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich nur noch vier Stunden bis zum Sonnenuntergang hatte. Wenig später kamen die ersten Autos und reihten sich an der Tanksäule ein. Hoffnungsvoll machte ich mich auf den Weg zu denen, die bereits ausgestiegen waren, und sprach die ersten zwei Leute an, die aber nicht in meine Richtung mussten.

Hinter mir erklang eine aufgebrachte Stimme: »Excuse me, Miss, what are you doing here?«

Als ich mich umdrehte, war es die Dame, die auf dem Rastplatz arbeitete und mir erklärte, dass ich hier nicht trampen durfte. Nach einer kurzen, sinnlosen Diskussion gab ich auf. Ich wusste, dass es keine gesetzlichen Vorschriften dazu gab, wollte mich aber auch nicht weiter streiten, um keine Kraft zu verschwenden. Kurz sah ich mich nach einer Lösung um und stellte mich dann mitten auf den gegenüberliegenden Kreisverkehr.

Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, und ich fühlte, wie mein Rücken nass an meinen Backpack gepresst war und noch mehr Hitze erzeugte. Mein Magen knurrte lauter und lauter. Dazu war ich verdammt durstig, die Hitze saugte jegliche Flüssigkeit aus mir, und die Abgase an den Straßen hinterließen einen staubigen Belag auf meiner Zunge. Meinen Platz wollte ich nicht verlassen, also unterdrückte ich all die menschlichen Bedürfnisse, die mich bereits jetzt in die Knie zu zwingen versuchten. Die unfreundliche Tankstellenmitarbeiterin glotzte immer wieder zu mir rüber, ihr schmeckte es sicherlich nicht, dass sie mir hier draußen nichts zu sagen hatte.

Da, wo ich stand, gab es keinen richtigen Seitenstreifen, auf dem jemand für mich hätte halten können. Dadurch fuhren die meisten Autos entweder hupend oder mit verächtlichen Blicken an mir vorbei. Sie verstanden nicht, was ich von ihnen wollte, und ehrlich gesagt war ich mir selbst nicht ganz sicher, was ich da tat. Langsam kam mir der Gedanke, dass ich vorhin meine Glückssträhne ausgereizt hatte, als ich auf meinem Fährenplan beharrte.

Etwa eine Stunde und gefühlte hundert hupende Autos später hielt ein Kleintransporter. Ein dicker Mann mit blassem Gesicht schaute kurz aus dem Fenster. Mehr konnte ich zunächst nicht erkennen, denn die Sonne schien mir direkt in die Augen. Mit einem unüberhörbar deutschen Akzent rief er: »Where do you go?«

Ich antwortete: »Dover, ferry terminal! Are you German?«

»Ja, du auch? Steig ein«, rief er zurück und öffnete die Beifahrertür. Er stand mitten im Kreisverkehr auf der Straße, und zwei genervte Autofahrer hinter ihm fluchten und hupten. Die Situation hatte mich unter Druck gesetzt, sodass ich über die Straße rannte und unüberlegt auf den Beifahrersitz sprang. Sobald ich die Türe schloss, bereute ich meine Entscheidung. Ein unausweichlicher strenger Geruch schoss mir in die Nase. Auf dem Boden lagen unzählige zusammenhanglose Gegenstände, unter anderem eine Puppe ohne Kopf. Ich sah den aus allen Poren schwitzenden Mann an und fühlte mich unwohl. Meine Intuition schlug Alarm und schrie mich in meinem Kopf an, wieso zur Hölle ich in dieses Fahrzeug gestiegen war. Sein beflecktes weißes T-Shirt klebte an ihm und war fast durchsichtig vor Schweiß. Mir fiel so schnell keine Ausrede ein, um wieder auszusteigen, und leider waren wir schneller als gedacht auf der Autobahn.

Der Geruch im Kleintransporter und mein leerer Magen ergaben eine unangenehme Mischung, die mich keinen klaren Gedanken fassen ließ. Hinzu kam der Stress, für den ich selbst verantwortlich war. Die Spucke in meinem Mund schmeckte immer süßer vor Übelkeit.

Trotz allem versuchte ich mir einzureden, dass er wahrscheinlich nur ein harmloser Messi war. Eine Zeit lang herrschte unheimliche Stille im Auto. Wieso sagte er denn nichts? Mit Sicherheit ginge es mir besser, wenn wir uns ein wenig unterhielten, also durchbrach ich das große Schweigen, um ihn nach dem Namen zu fragen.

Wie in Zeitlupe drehte er seinen Kopf, und seine starrenden, beinah durchsichtigen Augen durchbohrten mich. Sie wirkten tot, frei von Energie und Liebe. Frei von irgendetwas, mit dem ich mich hätte identifizieren können. Mit krächzender Stimme antwortete er langsam: »Dieter, ich heiße Dieter«, und musterte mich dabei von oben bis unten. Als er seinen Kopf wieder der Straße zuwendete, wanderte seine Hand unübersehbar in Richtung Schritt.

Ich bekam Panik. Ich dachte an die Worte meiner ehemaligen Mitbewohnerin, die Selbstverteidigungskurse für Frauen gab. Sie hatte mir vor meiner Abreise erklärt, dass man, wenn man sich von einem Mann bedroht fühlt, keine Angst zeigen und in die Opferrolle verfallen, sondern laut werden soll. Denn genau das Opfer ist es, was für Psychopathen den Reiz ausmacht.

Ich nahm all meine Mut zusammen und sagte bestimmt: »Bitte anhalten. Mir ist übel, und ich brauche frische Luft!«

Zuerst ignorierte Dieter meine Anweisung, also wiederholte ich mich und wurde lauter. Dieter sagte, dass er an der Autobahn nicht halten durfte und starrte mich erneut mit durchbohrendem Blick an. »Du musst wohl noch ganz lange bei mir bleiben«, sagte er mit seiner Hand in seinem Schritt.

Meine Alarmglocken schlugen dann vollends aus, als ein Polizeiauto vorbeifuhr und Dieter panisch zu rufen anfing: »Was gibt’s da zu glotzen? Wieso haben die so geschaut? Was gibt’s da zu schauen?«, obwohl zu meinem Bedauern keiner der Beamten uns eines Blicks gewürdigt hatte.

›Jetzt oder nie‹, dachte ich und wagte einen weiteren Versuch, zu entkommen. Ich sprang auf und schrie ihm lauthals ins Gesicht: »HALT SOFORT AN!! SONST SPRINGE ICH HIER UND JETZT AUS DEM FAHRENDEN AUTO, UND WIE WILLST DU DAS DEM POLIZEIAUTO HINTER UNS DANN ERKLÄREN??!?« Demonstrativ nahm ich den Türgriff in die Hand. Selbstverständlich hatte ich geblufft, was das Polizeiauto hinter uns anging, aber meine Worte waren genug, um die Kontrolle über die brenzlige Situation zu gewinnen.

Dieter war seine Paranoia ins Gesicht geschrieben, er schien auf einmal noch einen Farbton heller als kreidebleich zu sein. Mehrmals schaute er sich um und versuchte hektisch, den Rückspiegel zurechtzurücken. Man konnte sehen, wie er mit sich kämpfte und nach Möglichkeiten suchte, mich im Auto zu behalten. Meine Hand drückte die Klinke, und die Autotür öffnete sich ein kleines Stück. Im schlimmsten Fall wäre ich tatsächlich aus dem Auto gehüpft. Besser gebrochene Knochen als Futter für einen klebrigen, stinkenden Messi.

Mit einem kurzen Zögern riss Dieter nun das Lenkrad nach links und hielt an dem Seitenstreifen. Er ließ mich wortlos aussteigen und raste schnell davon. Erleichtert fiel ich auf meine vor Adrenalin zitternden Knie.

Natürlich weiß ich bis heute nicht, ob der Mann in dem Kleintransporter tatsächlich eine Bedrohung für mich war, aber alle meine Alarmglocken waren gleich in dem Moment angegangen, als ich die Autotür hinter mir geschlossen hatte. Ich war einfach nur heilfroh, nicht mehr in diesem stinkenden Fahrzeug zu sitzen, neben diesem unheimlichen Mann. Alles andere war gerade Nebensache.

Was nun? Ich stand mitten auf der Autobahn, umgeben von dichtem Gestrüpp und Wald. Mein Herz raste, und ich fühlte mich absolut noch nicht bereit, in das nächste Auto zu steigen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Seitenspur entlangzulaufen, bis mir etwas Besseres einfiel. Die Blicke der vorbeifahrenden Menschen lösten zusätzlichen Stress aus. Viele tippten mit ihrem Zeigefinger gegen ihren Kopf, um mir zu signalisieren, dass ich verrückt sei. All dies versuchte ich zu ignorieren. Den Fakt, dass mein Vorhaben und meine Situation verrückt waren, mussten mir keine Fremden erklären.

Nach circa einer halben Stunde Wanderung erblickte ich einen weiteren Kleintransporter, der auf dem Seitenstreifen geparkt war. Als ich mich ihm näherte, erkannte ich ein polnisches Nummernschild. Der Fahrer stand an der Rückseite des Fahrzeugs und versuchte anscheinend etwas zu reparieren. Da meine Eltern aus Polen stammen, beherrsche ich die Sprache, also fragte ich, ob er Hilfe bräuchte, und einen Augenblick lang sah er mich verdutzt an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn eine junge Frau mitten auf der Autobahn ansprechen würde und vor allem nicht in seiner Landessprache.

Sein rundes Gesicht lief rot an, und er zeigte mir alle seine fünf verbliebenen Zähne. Jurek hieß er und war zum Stehen gekommen, weil ihn ein klapperndes Geräusch unruhig gemacht hatte. Er hatte zuerst das Innere seines Transporters unter die Lupe genommen, konnte aber die Ursache des mysteriösen Klapperns nicht finden. Erst als er um das Fahrzeug herumlief, um Pinkeln zu gehen, stellte er fest, dass hinten die Plane nicht richtig befestigt und beim Fahren vom Wind immer wieder gegen die Seite des Fahrzeugs gepeitscht worden war. Wir versuchten gemeinsam, das Problem zu lösen, während er mir von seiner sechsköpfigen Familie erzählte und ich ihm von meinem Vorhaben. Jurek wollte unbedingt Teil von meiner Reise sein und bat mich darum, mit ihm ein Stück mitzufahren.

Die Reparaturen waren beendet, und Jurek war mir sympathisch. Ohne zu zögern, hüpfte ich auf den Beifahrersitz. Meine Hand wanderte suchend Richtung Gurt, und Jurek stellte einen Radiosender ein. Aus dem Nichts heulten hinter uns Sirenen auf, und grelles Blaulicht flackerte im Rückspiegel. Auch das noch. Ein Polizeibeamter erschien im Fenster und fragte, wieso wir hier standen, und als ich anfangen wollte zu erklären, verbat er mir den Mund mit dem Satz: »Ich habe nicht dich gefragt, zu dir komme ich gleich!« Leider merkte ich in dem Moment, dass mein polnischer Freund kaum ein Wort der englischen Sprache beherrschte. Irritiert und Hilfe suchend sah er mich an und fummelte dabei nervös mit seinen Wurstfingern im Handschuhfach rum, um seine Papiere zu finden. Ich drehte mich noch mal zu dem Beamten und erklärte ihm, dass der Mann kein Englisch sprach, woraufhin er nur laut auflachte und mich fragte, wieso ich Jurek dann in solch eine Situation brachte. Ich verstand nicht ganz, was hier vor sich ging, bis er mich beschuldigte, Autos mitten auf der Autobahn angehalten und somit mich und die Fahrer in Gefahr gebracht zu haben. Das sei schließlich eine Straftat, und dem Fahrer und mir drohe jetzt eine Anzeige. Ein Streit entfachte, da der Polizist mir nicht glauben wollte, dass der polnische Lkw-Fahrer rein zufällig auch auf der Seitenspur gehalten hatte, um sein Fahrzeug zu reparieren. Jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, befahl mir der Polizist »die Schnauze zu halten«. Er verlangte nach unseren Ausweisen, um unsere Personalien durchzugeben. Er hoffte gierig darauf, dass einer von uns bereits eine Vorstrafe hatte, um uns festnageln zu können. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass weder Jurek noch ich Dreck am Stecken hatten und er nicht beweisen konnte, dass ich meinen Fahrer tatsächlich zum Stehen gebracht hatte. Er musste uns wohl oder übel gehen lassen. Als ich zurück ins Auto steigen wollte, stellte sich der Polizist vor die Tür und sagte: »Du nicht! Wie ein ganz normaler Mensch wirst du mit dem Zug weiterfahren und dich hier nicht durchschnorren, und wenn ich dich noch mal auf der Autobahn oder in einem fremden Fahrzeug erwische, finde ich einen Grund, deinen Fahrer und dich einzusperren.«

Mein polnischer Freund verabschiedete sich wehmütig und fuhr davon. Die Polizei brachte mich auf eine Landstraße, die per Fußweg circa vier Kilometer von der nächsten Zughaltestelle entfernt war. »Viel Glück beim Laufen, du Schnorrer!«

Hungrig und durstig und mittlerweile auch echt erschöpft und mit schmerzendem Rücken machte ich mich an den Fußweg Richtung Bahnhaltestelle. Ich wollte mich nicht stressen, denn auch das war Teil dieser Reise und würde mich irgendwann über einem Glas Wein beim Erzählen zum Schmunzeln bringen. Der Rebell in mir wagte es nach der Hälfte des Wegs aber doch, den Daumen rauszustrecken. Oder vielleicht war es auch mein knurrender Magen. Jedenfalls dauerte es diesmal nicht lange, bis ich den vorbeifahrenden Autos auffiel. Zwei junge Französinnen, die erst an mir vorbeifuhren, drehten extra noch mal um und brachten mich zum Hafen in Dover.

Dort angekommen, war ich überrascht, denn vor dem Auto-Check-in standen tatsächlich sechs weitere Tramper mit Schildern und hatten, wie es aussah, die gleiche Idee wie ich. Da meine Chancen schlecht wären, wenn ich mich zum Rest der bunt bekleideten Meute gesellen würde, stellte ich mich vor ein kleines Pub um die Ecke und versuchte dort mein Glück. Mit geschlossenen Augen sammelte ich mich und versuchte, die negativen Energien der letzten Stunden abzuschütteln. Das Meer flüsterte mir die Worte zu: »Du hast es fast geschafft, du bist schon weit gekommen«, und mit einem Lächeln streckte ich meinen Daumen raus.

Es wurde langsam kalt, und die Sonne verschwand glorreich hinter den Hügeln der Hafenstadt. Leider dauerte es über dreißig Minuten, bis endlich jemand anhielt, und die Fähre, die ich nehmen wollte, war bereits weg. Mal wieder war es ein Mann in einem Kleintransporter, und ich versuchte, diesmal genau hinzusehen bei der Auswahl meiner Mitfahrgelegenheit.

Er hielt mitten auf der Straße, ohne Rücksicht auf die anderen Autos zu nehmen. Sein kleiner Kopf ragte aus dem Fenster, und er sagte: »Ich nehme das Schiff in dreieinhalb Stunden und kann dich gerne mitnehmen.«

Schon bei dem Wort ›Schiff‹ war mir klar, dass der Kleine ein Talent für Übertreibungen hatte. Ich musterte ihn und fragte, was er hinten in seinem Anhänger hatte.

Auf einmal wurde sein Gesicht ganz ernst und von Stolz erfüllt: »Ein Aston Martin Baujahr XYZ mit Spezialreifen von Keineahnungwas …« Seine Augen glitzerten, als er mir das Fahrzeug beschrieb, aber ich verstand kein Wort mehr. Es war, als hielte er eine Rede, die ich danach benoten sollte, und für den Fall, dass mir etwas entgehen würde, wiederholte er jedes zweite Wort. Während seines gesamten Monologs behielt er mein Gesicht fest im Blick und hoffte auf eine Reaktion. Doch vergeblich.

Ich saß täglich in so vielen Fahrzeugen, konnte aber nicht mehr als drei Hersteller nennen, geschweige denn sie unterscheiden. Aber als ich die Leidenschaft aus seinen Augen strahlen sah, hatte ich im Gefühl, dass er kein schlechter Kerl sein konnte, und kletterte auf den Beifahrersitz. Er hatte eine unschuldige Art an sich, fast wie ein Kind, und schien, soweit ich das beurteilen konnte, harmlos zu sein. Wir fuhren zum Check-in, um uns zu registrieren, hatten aber noch locker zwei Stunden totzuschlagen, und ich war mittlerweile wirklich ausgelaugt. Zum dritten Mal fragte ich den Kleintransporterfahrer, wie er hieß, doch mein Kopf konnte heute nichts mehr aufnehmen. Er war halb Grieche und halb Albaner, entsprechend kompliziert war auch sein Name. Auf die Frage, ob er denn keinen Spitznamen hätte, reagierte er alle drei Male überhaupt nicht, als würde ich plötzlich eine andere Sprache sprechen, also beließ ich es dabei mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich ihn nach den nächsten Stunden eh nie wiedersehen würde.

Mittlerweile war es finster, und wir beschlossen, in einem Pub zu Abend zu essen. Je mehr Zeit verging, desto mehr seltsame Eigenschaften stellte ich an meinem Begleiter fest. Wenn er Geschichten erzählte, nuschelte er monoton und ohne jegliche Mimik und Gestik, und zum Ende jedes Satzes wurde er so leise, dass ich selbst mit Mühe nicht erraten konnte, was er sagte. Sprach er von den Autos, die er transportierte, hielt er sogar eine Hand vor seinen kleinen Mund, begann zu flüstern und sah sich dabei um, als hätte er eine streng geheime Mission. Ununterbrochen zog er an seinem Anzugärmel, um seine Uhr hervorschauen zu lassen; offenbar wollte er seine Mitmenschen unbedingt auf sie aufmerksam machen. Doch weder die Uhr noch die Autos konnten auch nur einen Funken Begeisterung in mir entfachen.

Es waren die drei längsten Stunden meines Lebens. Gefühlt zählte er mir jedes Fahrzeug auf, das er in acht Jahren Berufserfahrung transportiert hatte, und zeigte mir Bilder dazu. Als ob das nicht schon genügte, zoomte er auf Einzelteile und beschrieb sie mit größter Genauigkeit. Zwischendurch erwähnte er die Namen von berühmten Personen, die er angeblich persönlich kannte, und von all den Models und Schauspielerinnen, mit denen er ausgegangen sei. Es waren so offensichtliche Lügen, dass ich nicht wusste, ob ich mich ärgern sollte, dass er mich für dumm verkaufen wollte, oder einfach drüber lachen.

Den Höhepunkt erreichten wir, als er mir von seinem »besten Freund« erzählte, einem weltbekannten DJ. Meine Kenntnisse über House waren gewiss nicht überragend, aber diesen Namen hatte ich einfach noch nie gehört. Dennoch hörten wir uns zehn Minuten eines Techno-Live-Sets auf seinem Handy an, natürlich in voller Lautstärke und schlechter Tonqualität mitten im dining room des gut besuchten Pubs. Um uns herum saßen nur Pärchen und Familien bei Kerzenlicht, und alle Gäste schenkten uns ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit, während ich verlegen an meinem Salat kaute und mein Begleiter laut schmatzend seine BBQ-Deluxe-Fleischplatte verspeiste.

Ich suchte nach einem Ausweg aus dieser peinlichen Situation. Doch mir fiel nichts Besseres ein, als alle viertel Stunde die Toilette aufzusuchen und auf dem Rückweg eine Extrarunde durch das Restaurant zu drehen. Natürlich blieb mein vorgetäuschter Harndrang nicht ganz unbemerkt, und so bekam ich den Rat, baldmöglichst einen Arzt aufzusuchen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war es an der Zeit, sich auf die Fähre zu begeben. Die Fahrzeuge standen Schlange, um an Bord zu kommen, und ich musste feststellen, dass mein Kleintransporterfahrer gar nicht so unrecht hatte, als er die Fähre als ›Schiff‹ bezeichnete. Das Ding war riesig, wirkte heruntergekommen, und ich konnte kaum glauben, wie viele Autos hier mitfahren würden.

Als tatsächlich all die Autos, die hier angestanden waren, auf dem – na gut – Schiff verstaut waren, setzte es sich endlich in Bewegung. Vom Heck aus sah ich, wie die Lichter der englischen Küstenstadt kleiner wurden, bis sie in der Ferne ganz verblassten. Mein Fahrer hatte sich heute wohl ins Koma geredet und war auf der Bank neben mir mit offenem Mund eingeschlafen. Und während ich England zum Abschied winkte, wehten meine Haare im kühlen Sommerwind. Ich verließ mein Zuhause über dunkles Wasser, das vom Mondschein glitzerte. Goodbye England, it was a pleasure. Dann drehte ich mich um und blickte Richtung Zukunft: Bonjour la France.

Mein Plan? Kein Plan!

VON CALAIS NACH BRÜSSEL

Als das Schiff anderthalb Stunden später das neue Land erreichte, rüttelte ich die Nervensäge aus ihrem Tiefschlaf, und nur wenige Sekunden später fing sie wieder zu reden an. Ich musste unverzüglich schmunzeln und folgerte daraus, dass ich den Kleintransporterfahrer ein wenig lieb gewonnen hatte.

Er nahm mich noch ein Stück mit und bot mir mehrmals an, mich bis nach Deutschland zu fahren, doch das kam für mich nicht infrage. Abgesehen davon, dass ich mir die Ohren abschneiden müsste, würde ich das Angebot annehmen, wollte ich auch ein wenig Zeit in Frankreich verbringen. Wie einen geheimen Umschlag reichte er mir auf dem menschenleeren Parkplatz seine Visitenkarte und blickte im Anschluss aus dem Fenster, um sicherzugehen, dass es niemand mitbekommen hatte. Er fuhr davon, und ich fühlte mich unfassbar leicht und frei.

Eine Zeit lang irrte ich durch die dunklen, verlassenen Straßen von Dunkerque. Die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen, waren meine Schritte auf dem unebenen Kopfsteinpflaster, das Quietschen der schaukelnden Boote und das Meeresrauschen in der Ferne. Um diese Uhrzeit konnte ich spontan keine Unterkunft für die Nacht finden, doch die Müdigkeit der letzten 24 Stunden zog sich durch meinen Körper. Am Ende der Straße sah ich ein leuchtendes Schild, das aussah, als gehörte es zu einem Hotel, und eine kleine Hoffnung kam in mir auf: Ich könnte mich doch zumindest in die Lobby setzen und da auf den Sonnenaufgang warten. Das Hotel war süß, nicht besonders edel, aber es hatte einen typisch französischen Flair. Der junge Mann an der Rezeption grüßte mich beim Reinkommen, als wäre es in dieser kleinen Hafenstadt völlig normal, mitten in der Nacht in ein Hotel zu marschieren. Nach dem anstrengenden Tag wäre ich sogar bereit gewesen, mit meinem Vagabundenleben direkt am Anfang zu mogeln und für ein Zimmer zu bezahlen. Doch das Schicksal ließ es nicht zu, dass ich einfach so mein Abenteuer gegen Komfort eintauschte, denn zu meinem Bedauern war das Hotel seit Tagen ausgebucht. Der nette Rezeptionist rief für mich sogar bei anderen Hotels an, um nach einem freien Bett zu fragen, doch leider überall ohne Erfolg. ›Clément‹ stand auf seinem Namensschild, und auch wenn ich ihn nie beim Namen nannte, fand ich es schön, ihn zu wissen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, schlug Clément vor, dass ich es mir auf dem Sofa in der Lobby bequem machen könnte, zumindest bis die Sonne aufging. Er setzte sich ein wenig zu mir, schaltete den Fernseher an und gab mir eine Tasse Kaffee aufs Haus. Als ich ihm erzählte, welches Abenteuer hinter mir lag und was noch bevorstand, war er völlig aus dem Häuschen. Durch seinen französischen Akzent rieselte eine Extraportion Charme auf jedes Wort, und während er arbeitete, sah er hin und wieder mit einem zufriedenen Lächeln zu mir rüber. Da das Hotel keine komplette Absteige war, wollte ich es mir nicht erlauben, auf dem Sofa einzuschlafen, und zwang meinen Körper, stundenlang wach zu bleiben. Was für eine Qual, denn das Sofa war weich und flauschig, der Raum war warm und die Stimme der Nachrichtensprecherin außergewöhnlich meditativ.