B.O.T.E. - Everly Cranchester - E-Book

B.O.T.E. E-Book

Everly Cranchester

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Beschreibung

Jeden Tag folgt Nero demselben Ritual. Er zählt Konserven, Nudelpackungen und Trockenfrüchte, während die Abgeschiedenheit der Appalachen im Jahr 1979 ihn umgibt. Unter dem strengen Regiment seines tyrannischen Vaters lebt er mit seiner Mutter in einem Leben voller Kontrolle und Furcht. Als zwei Mädchen aus dem nahen Dorf spurlos verschwinden, kriecht die Angst in die kleine Gemeinde. Nero, gefangen zwischen gehorsamem Sohn und neugierigem Jungen, stolpert über ein Geheimnis, das dunkler ist als alles, was er sich je vorstellen konnte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 235

Veröffentlichungsjahr: 2025

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B.O.T.E.

Beginning Of The End

Impressum

© 2025 Everly Cranchester

Covergrafik von: Christin Bouzrou

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:

tredition

GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926

Ahrensburg,

Deutschland.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kommentar der Autorin

Gewalt

B.O.T.E.

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Kapitel 1

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Kapitel 1

Mein Vater war früher Anwalt. Das erzählen zumindest die Farmer der benachbarten Höfe. Wenn ich frage, was genau Anwälte tun, sehen mich die meisten überrascht an.

Wieder eines dieser Dinge, die ich mit 16 Jahren wissen sollte. Zuerst habe ich nicht verstanden, wieso die Leute unsicher lachen und das Thema wechseln, wenn ich Fragen wie diese stelle. Vor zwei Jahren habe ich meinen Mut zusammengenommen und einen der Farmer gefragt, was an meiner Frage so amüsant ist.

»Junge, dass du das in deinem Alter nicht weißt …« Dann lächelte der Mann gezwungen, murmelte etwas Unverständliches und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Ich habe darüber nachgedacht, bis ich es nicht länger leugnen konnte. Diese Menschen kennen eine andere Welt als ich. Ich weiß nicht, wie diese aussehen soll, aber ein Anwalt muss dort normal sein. Es ist nicht so, dass die Menschen hier keine anderen Berufe als Farmer haben. Einige haben sich hier zur Ruhe gesetzt, sie nennen es Rente. Manche fahren jeden Morgen in die andere Welt, um zu arbeiten, aber die meisten besitzen eine Farm. Manchmal spreche ich nach der Jagd mit ihnen, was mein Vater nie erfahren darf. In diesen Gesprächen merke ich immer wieder, wie wenig ich weiß.

Trotzdem bin ich nicht komplett hinterwäldlerisch, denke ich. Natürlich weiß ich, dass die andere Welt keine zweite Erde ist. Sie ist nur ein Ort, an dem die Menschen anders leben, als wir es hier tun. Ich weiß auch, dass ein Anwalt für Rechte kämpft, Dinge, die jedem zustehen, und die einem niemand wegnehmen darf. So ungefähr hat mir das mal jemand erklärt. Wahrscheinlich ist es etwas schwieriger.

Warum er nicht mehr Anwalt ist und in die andere Welt fährt, sondern in den Bergen wohnt, habe ich nie herausgefunden.

Da fängt das Problem schon an: Mit einem Anwalt kann ich nicht viel anfangen, weil es für mich keine Rechte gibt. Meinem Vater gehört alles. Auch meine Mutter und ich, sagt er. Wir diskutieren darüber nicht. Wenn ich es doch wage, sehe ich die Konsequenzen am nächsten Morgen auf meinem Körper. Das Blau sieht nicht nur seltsam aus, es tut auch weh. Mittlerweile spüre ich die Schmerzen kaum noch. Eher fühlt es sich falsch an, wenn sie nicht da sind.

Meine Mutter scheint damit größere Probleme zu haben. Ich sehe es daran, dass sie scheinbar schrumpft, sobald er nach Hause kommt. Wenn sie glaubt, dass niemand in der Nähe ist, höre ich sie schluchzen.

Einmal habe ich gefragt, wieso wir nicht von hier fortgehen.

»Er beschützt uns, Nero«, war ihre einzige Antwort.

Nero. So heiße ich nicht wirklich. Alle nennen mich so, wegen der schwarzen Haare, die ich von meinem Vater habe. Angeblich sind meine Vorfahren Italiener. Nero. Übersetzt bedeutet das „schwarz“. Angeblich hatte ich bei meiner Geburt schon so dichtes, schwarzes Haar, dass meine Großmutter mir diesen Kosenamen gab. Aus Sehnsucht nach ihr nennt mich meine Mutter nur noch so; und anscheinend hat es sich auf alle übertragen, die mich kennen. Ich stelle mich mittlerweile sogar selbst so vor.

Das interessiert mich allerdings nicht besonders. Grundsätzlich kann ich sagen, dass mein Leben langweilig ist. Jeden Tag tue ich das Gleiche. Immer ist es der gleiche Ablauf.

Ich werde bis zum Ende meines Lebens hier festsitzen und Konserven zählen. Konserven, Nudelverpackungen, Reisbeutel, Wasserflaschen, Tüten mit getrocknetem Obst, Essig und hochprozentige Spirituosen. Keine Flasche unter vierzig Prozent. Wieso? Weil Spirituosen erst ab vierzig Prozent desinfizieren und damit zur Reinigung von Wunden geeignet sind. Der halbe Keller steht voll davon.

Dann haben wir Unmengen an Wasser. Es darf nur in Glasflaschen aufbewahrt werden. Das Mindesthaltbarkeitsdatum auf den Plastikflaschen gilt nämlich nicht für das Wasser, sondern für das Gefäß, dessen Weichmacher mit der Zeit in die Flüssigkeit übergehen.

Wieso ich so etwas weiß, aber scheinbar alltägliche Berufe nicht einordnen kann? Die Sache ist die: Ich bin nie in eine Schule gegangen. Ich kann Bären ausweiden und in ihrem Bauch schlafen, um einen Blizzard zu überstehen. Ich kann ohne Kompass aus der Arktis nach Texas finden und über 50 verschiedene Tiere nachahmen. Sobald es aber um Bruchrechnung geht, bin ich hilflos.

Das ist, was mein Vater tut. Er bereitet mich auf den Tag vor, an dem »die Katastrophe« beginnt. Was er damit meint, hat er mir nie erklärt.

Das ist es wohl, was andere Menschen Abstand zu uns halten lässt. Eine Gedankenwelt, die sie nicht verstehen.

Während ich auch heute diesem Gedankengang folge, halte ich ein paar getrocknete Rosinen in einer Hand und betrachte sie nachdenklich. Nach einem verstohlenen Blick nach allen Seiten lasse ich eine in meinen Mund fallen. Ein besseres Geschenk zu meinem 16. Geburtstag werde ich nicht bekommen.

»Nero!«

Der Ruf kommt aus der Küche. Hastig lasse ich die runzeligen Früchte in eine Tüte verschwinden und springe auf. Die Tüte stelle ich in ein Regal, in dem bereits unzählige weitere gelagert sind. Dann laufe ich zur Tür, verschließe sie hinter mir und eile die Treppe hinauf. Ich sehe schon den zierlichen Schatten meiner Mutter auf die Stufen fallen, als ich oben ankomme.

»Dein Vater sieht es nicht gerne, wenn du so lange für die Überprüfung der Vorräte brauchst.«

»Die Rosinen sehen genauso trocken aus wie gestern«, erwidere ich genervt.

»Sei nicht so frech.«

»Du hast mich gerufen, was soll ich tun?«

Mein Arm wird für einen Moment stark nach unten gezogen, als sie mir einen riesigen Korb in die Hand drückt, dessen Inhalt fein säuberlich von einem Tuch abgedeckt wird.

Ich bin verwirrt. Ich bin Pfeil und Bogen gewohnt, sogar Schusswaffen, aber was soll ich mit einem Korb?

Meine Mutter scheint meine Verwirrung zu bemerken. »An der Kreuzung ist jemand eingezogen. Ich habe Brot gebacken und ein paar Früchte dazugelegt. Bring sie ihm.«

Ich nicke verwundert, sage aber nichts und verlasse die Hütte.

Wenn Eltern etwas befehlen, fragt man nicht, man gehorcht. Normalerweise achtet sie darauf, keinen Fremden näher kennenzulernen, aber wer bin ich schon, sie zu hinterfragen?

Ich überquere also den Vorhof und betrete einen schmalen Trampelpfad.

Nichts anderes ist auch die Kreuzung. Zwei Trampelpfade, von denen einer von unserem Hof in den Wald führt, während der zweite, der ihn durchquert, einen zu einem Bergsee führt. Die vierte Richtung bringt einen nach und nach aus den Bergen hinaus, an Farmen vorbei bis in ein Dorf, in dem so etwas wie eine Zivilisation beginnt. Nur daher weiß ich, wie Straßen aussehen. Früher waren wir dort noch öfter unterwegs, um Einkäufe zu erledigen. Inzwischen versorgen wir uns selbst.

Der Weg ist nicht lang. Ich gehe ihn immer, wenn ich im Wald jagen will. Drei Häuser, von denen zwei bisher leerstanden, stehen nah beieinander, bevor sich die Wege kreuzen. Unseres, ein direktes Nachbarhaus und ein paar hundert Meter weiter das dritte, in dem jetzt der neue Nachbar wohnt. Es liegt direkt an der Kreuzung.

Ich werde mich daran gewöhnen müssen, dass wir nicht mehr völlig allein in der Einöde leben. Über Jahre stand das Haus leer. Kein Wunder. Wer zieht freiwillig an so einen Ort?

Wenn ich könnte, wäre ich längst tausend Meilen von hier entfernt. Und irgendwer zieht freiwillig her?

Aus einem Gefühl heraus, das ich nicht benennen kann, empfinde ich dies als eine Frechheit. Ist es Neid?

Neid auf seine Freiheit?

Ich schlucke meine fremden Emotionen herunter, wie es mir mein Vater beigebracht – oder eingeprügelt – hat. Gefühle töten.

»Stell dir vor, die Katastrophe beginnt, und verzweifelte Leute hämmern an die Tür! Und aus Mitleid öffnest du ihnen! Wenn die unsere Vorräte entdecken, sind wir tot!«

Klingt sogar logisch, aber andererseits bedanke ich mich bei jedem Tier, das ich erlege, und weine auf dem Weg nach Hause. Also, was weiß ich schon.

Das hier ist zum Glück eine andere Situation. Es fällt mir leicht, Ruhe zu bewahren. Ich sehe das heruntergekommene Gebäude. Die Farbe blättert schon ab. Ich klopfe an die Tür. In den nächsten Augenblicken passiert nichts. Vielleicht ist der neue Nachbar alt und kann nicht mehr so schnell laufen. Ich warte eine Weile, dann werde ich ungeduldig. Ich klopfe noch einmal. Auch diesmal geschieht nichts. Er ist nicht da oder hat keine Lust auf Besuch, denke ich. Aber was mache ich jetzt? Es wird meiner Mutter nicht gefallen, wenn ich mit dem vollen Korb zurückkomme, und an meinen Vater will ich gar nicht denken.

Eine Zeit lang stehe ich nur da und lausche den Vögeln. Ich komme mir lächerlich vor, wie ich da mit dem Korb vor der Tür warte, als hätte mich eine Frau versetzt. Irgendwann beschließe ich, den Inhalt des Korbs auf dem Heimweg einfach im Wald zu entsorgen und noch ein paar Tierfallen aufzustellen. So wird mich mein Vater nicht verprügeln, meine Mutter ist nicht gekränkt und die Tiere haben sicher auch ihre Freude.

Ich will gerade gehen, da öffnet sich die Tür hinter mir. Ich bin von mehreren Dingen überrascht. Zum einen, dass überhaupt geöffnet wird, zum anderen von der Person, die öffnet.

Der Mann ist ganz und gar nicht alt. Nein, er ist vielleicht dreißig oder vierzig und sprüht vor Lebensgeist. Selbst die Zigarre in seiner Hand ändert nichts daran. Er wirkt intelligent und seine grünen Augen betrachten mich interessiert.

»Sie sind ja doch da«, eröffne ich rhetorisch ungeschickt das Gespräch.

»Ja«, sagt er lächelnd.

»Wieso haben Sie nicht geöffnet?«

»Manches muss zur richtigen Zeit geschehen, mein Junge.«

Ich verstehe nicht, was er damit ausdrücken möchte, weiß aber auch nicht, was ich antworten soll.

»Was kann ich für dich tun?«

Ich weiß nicht, was an ihm mich so aus der Fassung bringt. Seine Ausstrahlung wirkt so exotisch, auch wenn er nicht so aussieht. Gutaussehend, ja, aber mehr auch nicht. Er hat keine dunkle Haut, keine Kleidung, welche nicht auch andere tragen würden. In seinen Augen liegt ein wacher Glanz, seine Zähne sind mir beinahe zu sauber, wenn er lächelt. Die Lippen wirken zu rosig, ebenso die Wangen. Insgesamt scheint er nicht so abgespannt und müde wie die anderen hier. Als hätte er nie etwas Schlimmes erlebt, nie gearbeitet. Sein gesundes und ausgeruhtes Bild passt nicht zu den abgekämpften Menschen dieser Gegend. Er ist trainiert, hat recht breite Schultern, ist aber normal groß.

Endlich komme ich wieder zu mir und höre auf, ihn anzustarren. Stattdessen halte ich ihm den Korb hin.

»Von meiner Mutter. Herzlich willkommen in der Nachbarschaft.«

»Das ist äußerst freundlich, vielen Dank. Und gut erzogen hat sie dich wohl auch. Komm doch rein und iss mit mir.«

Wieder nicke ich stumm und gehorche. Mir ist nicht ganz wohl dabei. Seine Stimme ist ein Grund dafür. Schneidend, kalt, aber doch sanft. Es passt nicht zusammen. Doch mein aufschreckender Fluchtimpuls scheint unnötig. Er tut nichts, was mir gefährlich vorkommt. Als mir das bewusst wird, beruhigt sich mein Herzschlag ein wenig. Der Mann führt mich in ein dunkles Zimmer, wo ich den Korb auf der Kücheninsel abstelle.

Es wird abrupt heller, als er die Vorhänge beiseitezieht und einen Lichtschalter betätigt.

»Verzeih die Unordnung, ich bin erst gestern Abend angekommen.«

Erst jetzt entdecke ich die vielen unausgepackten Kisten, die er übereinandergestapelt hat. Manche sind geöffnet, die meisten noch fest verschlossen. Mehr Unordnung kann ich nicht erkennen. Es sieht sogar sehr sauber aus, für die lange Zeit, die hier niemand gewohnt hat. Einen Moment frage ich mich, ob er als erste Handlung nach dem Umzug alles geputzt hat.

»Es sieht sehr gut hier aus«, sage ich höflich.

Seine Lippen verziehen sich zu einem Schmunzeln. Es fühlt sich falsch an. Die Menschen, die ich kenne, sind nicht fröhlich. Nicht an diesem Ort. Wieder habe ich das Gefühl, dass der Mann vor mir nicht stimmt.

»Wie heißt du?«, fragt er dann.

Wieder erwache ich aus einer Art Trance.

»Nero, Sir.«

Jetzt beäugt er mich eingehend. Mein Puls steigt wieder und meine Beine werden heiß.

»Nero?« Seine Stimme hebt sich, als würde er mir nicht glauben.

»So nennen mich alle, Sir.«

»Ich verstehe. Ich wollte dich nicht kränken. Aber tu mir einen Gefallen und sprich mich nicht an, wie beim Militär. Ich bin Ray.«

Noch etwas, das ich nicht verstehe.Wie sollte ich ihn sonst ansprechen? Ich habe gelernt, jeden erwachsenen Mann mit »Sir« anzusprechen. Alles andere ist doch respektlos. Ich nicke. Langsam komme ich mir stumpfsinnig dabei vor.

»Was willst du nach der Schule mal werden?«, fragt Ray plötzlich aus heiterem Himmel.

Wieso fragt er das? Ist das normal? Ich kenne keine Gespräche über die Schule.

Ich weiß nicht, was ich auf seine Frage antworten soll. Dass ich nicht zur Schule gehe, scheint mir plötzlich die falsche Antwort, aber er sieht mich so eindringlich an, dass ich mir besser schnell etwas einfallen lasse.

»Anwalt«, höre ich mich sagen.

Er nickt anerkennend.

»Ein guter Beruf. Du brauchst dazu einen guten Abschluss. Wieso ausgerechnet Anwalt?«

Mit klopfendem Herzen erwidere ich das erste, was mir darauf einfällt.

»Mein Vater war Anwalt, Sir.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Nein.«

Ich warte darauf, dass er mich nach dem Grund dafür fragt. Stattdessen schweigt er und sieht mich an. Bis er plötzlich ein sympathisches Lächeln aufsetzt.

»Entschuldige, Junge, Das muss dir sehr unangenehm und merkwürdig vorkommen, dass ich dich so mit Fragen löchere. Ich lerne gerne die Menschen kennen, die so nah bei mir wohnen.«

Endlich etwas, das ich verstehe. Fremdes ist mir nie geheuer, am wenigsten fremde Menschen.

»Kein Problem«, erwidere ich höflich.

»Ich erzähle dir im Gegenzug auch etwas über mich.«

Während er das sagt, geht er zur Kücheninsel und lüftet das Tuch aus dem Korb, sodass nun der Duft von frisch gebackenem Brot den Raum erfüllt.

Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Meine Mutter ist eine großartige Bäckerin, aber frisches Brot essen wir selten. Wie fast alles wird auch das gehortet, so lange es geht. Für den Tag, an dem die Katastrophe beginnt.

»Ich heiße Raymond Burner. Ich habe in Philadelphia gewohnt, aufgewachsen bin ich aber in Sacramento, Kalifornien. Mein Vater war beim Militär und hat im zweiten Weltkrieg gedient. Ja, was noch? Ich bin Mechaniker. Das ist vielleicht nicht so spannend wie ein Anwalt, aber doch ein wichtiger Beruf.«

Nun kramt er in einer Schublade, bis er schließlich ein Messer herauszieht.

»Diese Technik …« Er sieht das Messer wie einen wertvollen Schatz an. »Maschinen haben mich schon als Kind fasziniert. Was Menschen alles erschaffen können. Sie sind kreativ.« Er beginnt, das Brot zu schneiden. »Du musst dir immer vor Augen halten, Nero: Die Welt quillt über vor Ideen. Viele finden Anklang bei den Menschen, besonders die der Schriftsteller, Philosophen und Künstler. Aber die Wissenschaft ist besonders interessant.«

Er hält mir eine Scheibe des Vollkornbrots hin, das ich zwar an mich nehme, doch mit meiner Aufmerksamkeit bin ich ganz bei Raymond. Irgendetwas an seiner Erzählweise zieht mich in seinen Bann.

»Wie funktionieren die Dinge? Diese Frage stellen sich Menschen sicher seit Anbeginn der Zeit. Die Wissenschaft antwortet auf unsere Fragen. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass ein Mensch aus Milliarden Ideen genau die umsetzt, die ein Auto zum Fahren bringt?«

Ich verstehe, was er meint, obwohl ich nicht die geringste Ahnung davon habe, wie diese Autos funktionieren, von denen er spricht.

»Ja, gewissermaßen sind wir Menschen Wunder. Dass man auf die Idee kommt, ein Gott hätte uns geschaffen, ist verständlich. So viele Lebewesen, doch allein wir sind fähig, Maschinen zu bauen, die sich fast von allein fortbewegen.«

Ich kann seine Begeisterung nicht teilen. Ich verstehe nichts von diesen Dingen. Und doch wecken seine Worte in mir ein Gefühl von Erhabenheit und Macht. Und eine fremdartige Sehnsucht. Wonach, weiß ich aber nicht.

»Deine Mutter ist eine exzellente Bäckerin«, wechselt er jetzt so unerwartet das Thema, dass ich aus meiner Faszination hochschrecke.

»Ja«, stimme ich halb betäubt zu.

»Richte ihr doch bitte meinen herzlichsten Dank aus. Sie ist jederzeit willkommen in meinem Haus. Selbstverständlich gilt dies für deine ganze Familie.«

Ich bin mir nicht sicher, wie ich reagieren soll. Es klingt wie eine Aufforderung an mich, nach Hause zu gehen, aber die Art, wie er mich ansieht, und seine offene Körperhaltung bestätigen meinen ersten Eindruck nicht.

Wieder einmal nicke ich verunsichert.

»Ich würde mich freuen, wenn du mich gelegentlich besuchen kommst. Es ist nicht sehr gesellig hier.«

An diesem Punkt setzt wieder das Gefühl ein, dass etwas nicht stimmt. Wenn ihm die Einsamkeit nicht zusagt, wieso zieht er dann hierher?

»Ja, Sir«, antworte ich höflich, unsicher, ob ich diese Zusage jemals in die Tat umsetzen werde.

»Ich schlage vor, dass du erst einmal nach Hause gehst. Ihr esst sicher bald zu Mittag. Und um ehrlich zu sein, wäre es auch mir recht. Du hast ja bestimmt die vielen Umzugskisten bemerkt, die ich noch auspacken muss. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.«

Ganz im Gegenteil. Klare Anweisungen verstehe ich wenigstens. Zumal ich selbst keinen höflichen Weg gefunden hätte, mich aus dieser seltsamen Atmosphäre zu verdrücken.

»Kein Problem, Sir.«

Erneut lächelt er auf seine charismatische Art und zwinkert mir zu.

»Für dich Ray. In Ordnung, Junge. Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Wir sehen uns sicher bald.« Dann macht er sich an einer der Kisten zu schaffen und beachtet mich nicht weiter.

Das ist mein Signal. Ich drehe mich um und verlasse die Wohnküche. Die Haustür schließe ich behutsam hinter mir. Schleunigst sehe ich zu, außer Sichtweite des Hauses zu kommen. Ich laufe einige Minuten in den Wald hinein. Erst auf einer kleinen Lichtung bleibe ich stehen.

In der kühlen Waldluft denke ich über meine seltsame Begegnung nach. Die meisten Menschen würden mich wohl als paranoid bezeichnen. Sie würden in Raymond lediglich einen freundlichen Mann sehen, der Frieden in den Bergen sucht. Aber ich werde im Überlebenstraining ausgebildet, seit ich vier war, und mein Training für die Jagd begann nur ein Jahr später. Mir fallen die kleinsten Unstimmigkeiten auf. Ich kann sie hier vielleicht noch nicht benennen, aber ich werde herausfinden, was mich an dem neuen Nachbarn stört.

Zu meiner Zufriedenheit entdecke ich in ein paar Metern Entfernung zwei Glasflaschen auf dem Moos liegen. Ich gehe heran, hebe sie auf und stecke sie mir unter die Jacke. Manchmal lassen Wanderer welche im Wald liegen. Wenigstens komme ich nicht ganz mit leeren Händen nach Hause.

Ich lausche den Naturgeräuschen. Der Vogelgesang ist leiser geworden, der Wind stärker. Für ungeschulte Augen kann der dunkelblaue Himmel nach gutem Wetter aussehen. Ich weiß aber, dass es vor einem Unwetter ebenfalls so aussieht.

Tatsächlich komme ich gerade so trocken zu Hause an. Kaum habe ich die Tür hinter mir geschlossen, stürzen draußen Fluten aus dem Himmel.

Ich bemerke erst jetzt die große, dunkle Gestalt, die offenbar im Flur auf mich gewartet hat.

»Sohn«, grollt die Stimme meines Vaters durch den Raum.

Automatisch nehme ich eine stramme, aufrechte Körperhaltung ein, in der Erwartung, eine Ohrfeige für etwas zu kassieren, was ich nicht getan habe.

»Ja, Sir!«

Doch nichts passiert. Einen Moment lang sieht er mich streng an, doch er holt nicht zum Schlag aus. Stattdessen schweigt er.

Zwar kann ich die Situation nicht deuten, aber ich weiß, was ich zu tun habe. Nichts. Ich bleibe stehen und warte, was geschieht.

Nach einer Weile spricht er endlich.

»Wir gehen ins Dorf.«

Der Satz überrascht mich dann doch. Aber mein Vater redet noch weiter.

»Ein Mädchen ist verschwunden. Es gibt eine Suchaktion.«

Die Erklärung irritiert mich noch mehr.

»Sagen Sie nicht immer, dass wir uns aus den Angelegenheiten anderer raushalten?«, frage ich schneller, als ich meine Dummheit bemerken kann.

Aber auch jetzt passiert nichts. Mein Vater nickt sogar. »Ganz recht. Aber es ist das zweite Mädchen in diesem Monat. Und wenn sich hier ein Mörder herumtreibt, geht uns das sehr wohl was an.«

Ich traue mich nicht zu fragen, ob und in welchem Zustand das erste Mädchen gefunden wurde. Mein Vater drückt mir etwas in die Hand. Als ich den Gegenstand umdrehe, um ihn mir anzusehen, stellt er sich als ein Foto heraus. Zu sehen ist ein Mädchen mit großen, hellen Locken und einem zarten Lächeln.

»Louise Garner, 17 Jahre alt. Gestern Abend verschwunden. Hol den Verbandskasten, man weiß nie. Und nimm das Jagdgewehr mit. Alles, was sich bewegt und nicht der Suchmannschaft zugeordnet werden kann, erschießt du.«

»Ja, Sir.«

Meine Gedanken sind bei dem Mädchen, während ich die Treppen in den Keller laufe. Der Mörder selbst, wenn es einen gibt, macht mir keine Angst. Auch ich habe Waffen. Auch ich kann töten, aber um das Mädchen sorge ich mich. Ich muss nicht lange nach dem Kasten suchen. Wie immer hängt er neben dem Wein. Ich greife ihn und will schon nach oben laufen, doch mein Blick bleibt an den Spirituosen hängen. Soll ich? Wenn ich sie finden sollte und sie verletzt ist, könnte ich die Wunden desinfizieren und anständig behandeln. Aber wenn mein Vater herausbekommt, dass ich ohne seine Erlaubnis an die Vorräte gegangen bin … Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen, beschließe ich. Nicht, wenn es um ein Leben geht. Ich stelle die leeren Glasflaschen, die ich im Wald gefunden habe, in eines der Lagerregale und tausche sie gegen eine sechzigprozentige Spirituose ein, die ich ebenfalls unter meine Jacke stecke, nehme den Verbandskasten und steige die Stufen zum Flur hinauf. »Hast du alles?«, fragt mich meine Mutter, die sich dazugesellt hat.

Ich greife mir eines der Gewehre samt Ladung.

»Ja.«

»Passt auf euch auf.«

Ich nicke. Dann steht mein Vater auch schon wieder im Flur. Er ist noch schwerer bewaffnet als ich.

Draußen höre ich das Unwetter toben. Normalerweise kein Grund für mich, Angst zu bekommen, aber ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bleibt, als ich meinem Vater in die brüllenden Sintfluten folge.

Kapitel 2

Das Dorf ist nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, zumindest bei gutem Wetter und klarer Sicht. Bei diesem Unwetter bin ich froh, meinen Vater noch vor mir sehen zu können, so dicht fällt der Regen.

Meine Jacke war schon durchweicht, als wir die Haustür hinter uns geschlossen haben. Die Nässe kriecht meinen ganzen Körper entlang und lässt mich frösteln.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich bei einem Sturm draußen bin, aber im Normalfall hätte ich mir längst eine Höhle oder einen anderen Unterschlupf gesucht. Mein Vater hat beim Überlebenstraining auf jedes Detail geachtet. Dazu gehörten auch Orientierung im Sturm und Schutzmöglichkeiten.

Zumindest kann der Tag heute kaum verrückter werden. Wenigstens hoffe ich das, während ich gegen den Wind ankämpfe. Der Regen peitscht in meine brennenden Augen und nimmt mir so noch mehr meiner ohnehin schon beschränkten Sicht.

Es fällt auch der letzte Schutz der Bäume weg, als wir an einigen Feldern einer Farm vorbeiziehen. Immerhin haben wir damit die Hälfte des Weges geschafft.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schirmen uns endlich wieder ein paar Bäume von den Böen ab, aber ich frage mich zunehmend, wie wir Louise unter diesen Umständen finden sollen.

Wir legen den härtesten Abschnitt hinter uns. Dieser ist mit zwei aneinander grenzenden Farmen der längste. Als wir die Ländereien der Höfe hinter uns gebracht haben, tröstet mich das ein wenig. Wir sind fast am Ziel. Nur noch ein solcher Abschnitt, dann werden die ersten Häuser des Dorfes zu sehen sein.

Das Land wird flacher. Allmählich wandelt sich der Feldweg in Schotter und schließlich in eine schlechte Straße.

Dann ist es geschafft. Der Sturm flaut ein wenig ab. Von irgendwo höre ich einen Hund bellen. Seine Laute sind tief und erinnern mich an ein riesiges Tier.

Die dicken, kalten Regentropfen werden zu Fäden, die zwar auch nicht angenehm sind, mich aber längst nicht so aufhalten wie der