9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Eine versunkene Ruine und die Jagd nach dem verborgenen Schatz
Der furiose Abenteuerthriller voller Spannung, Geheimnisse und Action
Als verschollen geglaubte Schriftrollen aus dem 7. Jahrhundert in Syrien entdeckt werden, reist die Paläografin Ilana Shaik nach Aleppo, um die rätselhaften aramäischen Schriften zu untersuchen. Zur gleichen Zeit stößt das Team des renommierten Unterwasserarchäologen Konstantin Nikolaidis auf eine versunkene Ruine vor der Hafenstadt Alexandria. Das Team kann dort zahlreiche Goldmünzen bergen, die geheimnisvolle Inschriften aufweisen. Konstantin sucht Rat bei Ilana und die beiden finden zusammen heraus, dass die Münzen aus der Templerzeit stammen. Doch nicht nur sie haben Interesse an den Münzen. Plötzlich befinden sie sich auf der Flucht, und die Grenze zwischen Freund und Feind verschwimmt. Wem können die beiden noch vertrauen?
Erste Leserstimmen
„Rasant, kurzweilig und rundum empfehlenswert!“
„Wer auf temporeiche Abenteuerromane steht, muss hier zugreifen.“
„Perfekte Mischung aus rätselhaften Geheimnissen, gut recherchierten geschichtlichen Hintergründen und durchgehender Spannung!“
„Sehr sympathische Protagonisten, mit denen man gerne mitfiebert.“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2021
Willkommen zu deinem nächsten großen Leseabenteuer!
Wir freuen uns, dass du dieses Buch ausgewählt hast und hoffen, dass es dich auf eine wunderbare Reise mitnimmt.
Hast du Lust auf mehr? Trage dich in unseren Newsletter ein, um Updates zu neuen Veröffentlichungen und GRATIS Kindle-Angeboten zu erhalten!
[Klicke hier, um immer auf dem Laufenden zu bleiben!]
Als verschollen geglaubte Schriftrollen aus dem 7. Jahrhundert in Syrien entdeckt werden, reist die Paläografin Ilana Shaik nach Aleppo, um die rätselhaften aramäischen Schriften zu untersuchen. Zur gleichen Zeit stößt das Team des renommierten Unterwasserarchäologen Konstantin Nikolaidis auf eine versunkene Ruine vor der Hafenstadt Alexandria. Das Team kann dort zahlreiche Goldmünzen bergen, die geheimnisvolle Inschriften aufweisen. Konstantin sucht Rat bei Ilana und die beiden finden zusammen heraus, dass die Münzen aus der Templerzeit stammen. Doch nicht nur sie haben Interesse an den Münzen. Plötzlich befinden sie sich auf der Flucht, und die Grenze zwischen Freund und Feind verschwimmt. Wem können die beiden noch vertrauen?
Alle Bände der Ein Konstantin Nikolaidis Thriller können unabhängig voneinander gelesen werden.
Erstausgabe September 2021
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-880-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-892-9 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-648-2
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Elena Schweitzer, © fotoslaz, © journey601, © Winston Springwateri, © klyaksun depositphotos.com: © jankovoy neo-stock.com: © Tom Parsons Lektorat: Astrid Pfister
E-Book-Version 23.06.2025, 22:32:33.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
Newsletter
TikTok
YouTube
Eine versunkene Ruine und die Jagd nach dem verborgenen Schatz Der furiose Abenteuerthriller voller Spannung, Geheimnisse und Action
Paris, Frankreich, März 1314
In Dunkelheit gehüllt, saß der Großmeister auf seinem Schlafbrett aus vermodertem Holz. Das Gesicht hatte er in den Händen vergraben. Seine Muskeln waren mit den Jahren geschwunden, die harten Kanten bohrten sich schmerzlich in seine dünn gewordene Haut. Die mageren Mahlzeiten, die er hier bekam, hatten ihre Spuren hinterlassen. Der Großmeister fühlte sich verraten, verlassen und allein mit seinen Erinnerungen. Erinnerungen an den Tag, an dem er in die Falle getappt war.
Wie habe ich bloß zulassen können, dass sich so viele meiner Ritter an einem einzigen Ort versammeln?, dachte er und seine Augen wurden feucht.
Die Ritter waren der Einladung von König Philipp dem Schönen gefolgt. Mit vielen Schätzen im Gepäck hatten sie sich auf den Weg nach Paris gemacht.
Jacques de Molay, der letzte Großmeister des Templerordens, sah noch immer das hämische Grinsen des Königs vor seinem inneren Auge, als dieser ihn damals gespielt freundlich begrüßt hatte.
Was für ein gemeiner Schuft!
Vergeblich hatte er versucht, sich und die Seinen zu retten. Seit der offiziellen Auflösung seines Ordens vor rund zwei Jahren durch Papst Clemens V. beim Konzil von Wien spürte er eine unendliche Leere in sich. Noch nie zuvor hatte de Molay mit dem Schicksal derart gehadert, doch anscheinend hatte sich die ganze Welt gegen ihn und seine Templer verschworen. Mit ihm würde einer der mächtigsten Orden der Geschichte untergehen.
De Molay hatte vieles über sich ergehen lassen müssen. Folter mit eiskaltem Wasser und Strappado, das Pfahlhängen. Aber das Schlimmste für ihn war es gewesen, zu erleben, wie seine Ritter einer nach dem anderen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren. Wie gern wäre er vor ihnen gestorben. Ihre gequälten Schreie, die jedes Mal zu ihm gedrungen waren, waren ihm durch Mark und Bein gegangen. Gott schien ihn prüfen zu wollen, das spürte er. Er zweifelte jedoch daran, dass er dieser Prüfung gewachsen war.
Eine Ratte huschte vor seinen Füßen über den Boden und verschwand in einem Spalt in der Mauer. De Molay hatte sich an die Nager und das Ungeziefer gewöhnt, die seine Zelle mit ihm teilten. Der furchtbare Gestank von Exkrementen und Fäulnis hingegen blieb unerträglich für ihn.
Wehmütig dachte er an jenen Tag im Jahre 1265 zurück, an dem er dem Orden beigetreten war. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er sich an das Aufnahmeritual erinnerte … wie er sich vor seinen Brüdern niedergekniet hatte, wie aufgeregt er gewesen war, als der Meister ihm den Ordensmantel umgehängt und ihn als Templer begrüßt hatte. Er schüttelte den Kopf. Das alles erschien ihm jetzt vollkommen unwirklich.
Nachdenklich knetete er seine Hände und erhob sich mühsam. Seine Knie protestierten knackend. Er ging im Kreis herum, um sich die Beine zu vertreten und seine eingeschlafenen Gliedmaßen aufzuwärmen. Es war noch sehr kalt in diesem Frühling. Der leise Hall seiner Schritte wurde von den Gemäuern des alten Gefängnisses zurückgeworfen. Das fahle Licht brennender Fackeln auf dem Flur drang unter dem Türspalt hindurch und erhellte seine Zelle schwach. Dicke, fensterlose Mauern umgaben ihn von allen Seiten. Zwei sich kreuzende Diagonalen unterteilten das dunkle Gewölbe und in einer Ecke stand ein Metalleimer für seine Notdurft.
De Molay dachte an die Anklagepunkte gegen ihn. Bittere Galle brannte in seiner Kehle. Ihm wurde vorgeworfen, das heilige Kreuz bespuckt, Christus verleugnet, und stattdessen den ziegengestaltigen Baphomet angebetet zu haben. Als wäre all das nicht schon Blasphemie genug, warf man ihm außerdem auch noch Sodomie vor. Mittlerweile bereute er es zutiefst, ein Geständnis abgelegt zu haben.
Nachdem er es widerrufen und erneut alle Beschuldigungen gegen den Orden zurückgewiesen hatte, war de Molay als rückfälliger Ketzer zum Tode verurteilt worden.
Dem Großmeister war bewusst, dass er bald schon gemeinsam mit seinem letzten noch lebenden Gefolgsmann und Lebensgefährten Geoffroy de Charnay hier in Paris hingerichtet werden würde.
Das Geräusch eines Schlüssels im Schloss schreckte ihn auf. Jemand näherte sich durch den Vorraum dem Zellentrakt. Mit dieser Person rückte der endgültige Niedergang seines geliebten Ordens immer näher. De Molay zählte jeden Schritt. Die Zeit floss dahin und er sah auf einmal sein ganzes Leben an sich vorüberziehen – seine Jugend in der Provinz Burgund, der Eintritt in den Templerorden, de Beaujeu, seinen ersten Meister, der Ritterschlag mit zwanzig, die Reise ins Heilige Land, der Fall von Akkon, die Rückkehr nach Frankreich über Zypern, der Verrat und schließlich die Gefangenschaft.
Die eiserne Zellentür wurde aufgeschlossen. De Molay hob den Kopf. Das einfallende Licht blendete ihn, sodass er für einen Moment blinzeln musste. Er schaute in die ausdruckslosen Gesichter seiner Wächter.
Suche ich etwa nach Mitgefühl?, fragte er sich.
Widerstandslos ließ er sich durch die Katakomben aus dem Gefängnis hinausführen. Wie betäubt folgte er den Wächtern. Auf der Straße schubsten sie ihn in einen großen Holzkäfig, der von einem Pferd mit einem Reiter gezogen wurde, weitere Wärter ritten daneben. Zu beiden Seiten der Straßen reihten sich Menschen, um sich das Spektakel anzusehen. De Molay senkte den Blick und versuchte, die Rufe der Schaulustigen auszublenden. Nach einer Weile erkannte er, wohin er gebracht wurde. Seine düsteren Ahnungen bewahrheiteten sich. Der Scheiterhaufen mitten auf dem Platz war so aufgeschichtet, dass der Verurteilte beim Anzünden des Holzes nicht durch den Qualm das Bewusstsein verlor oder durch den Rauch erstickte. Er sollte das Feuer so lange wie möglich spüren und den Gestank des eigenen verbrennenden Fleisches einatmen – er sollte leiden.
Die Wächter fesselten ihn an den Pfahl in der Mitte des Scheiterhaufens. Vor den Augen der Menge entzündete einer der Männer das Holz. Die Gnade, de Molay vor der Verbrennung zu erdrosseln verwehrten sie ihm. Viele waren gekommen, um der Hinrichtung beizuwohnen. Seine Blicke wanderten zwischen den Gesichtern umher. Doch er fand nur Neugier, Schaulust und Häme darin, keinen Funken Mitleid. De Molay schloss die Augen und murmelte vor sich hin.
„Vielleicht spricht er gerade zu Gott“, sagte einer der Wächter.
„Ist das Latein?“, fragte ein Zweiter.
„Das ist bestimmt Arabisch, die Sprache der Ketzer“, erwiderte ein Dritter scharf.
Sie alle verstummten, als de Molay vor unerträglichen Schmerzen zu schreien begann. Die quälende Hitze breitete sich weiter aus, während das Holz immer stärker brannte. Die aufsteigende heiße Luft verbrühte seine Haut.
Dieses Feuer musste direkt aus der Hölle kommen!
Obwohl die Flammen noch nicht einmal seine Knie erreicht hatten, spürte er, wie sein Gesicht glühte.
„Lieber Gott im Himmel, Dir dienen wir, und Dich bitten wir um Hilfe“, stieß er hervor.
Kurz darauf brannte der gesamte Holzhaufen lichterloh. Der Geruch des Holzes vermischte sich mit dem von verbranntem Fleisch zu einem abscheulichen Gestank.
„Innerhalb eines Jahres lade ich euch vor das Gericht Gottes, damit ihr eure gerechte Strafe erhaltet! Verflucht! Verflucht! Ihr alle werdet verflucht sein bis ins dreizehnte Glied!“, schrie de Molay und prophezeite damit den Tod seiner Peiniger, des Königs und des Papstes.
Bald darauf wurde es dunkel um den Großmeister, und er wurde endlich von seinen Qualen erlöst.
Seidenstraße, China, Sommer 1987
Der warme Ostwind blies ihm heißen Wüstenstaub ins Gesicht, als er aus dem Jeep sprang. Der junge Archäologe eilte zur Ausgrabungsstelle. Die senkrecht am Himmel stehende Mittagssonne brannte ihm auf den Nacken. Ein abgewetzter Hut schützte seinen Kopf, das Hawaiihemd klebte an seinem Oberkörper.
Nach wochenlanger Arbeit ohne einen Durchbruch hatte er dringend eine Auszeit gebraucht. Er war am frühen Morgen zum Grab des ersten Kaisers von China aufgebrochen, um die berühmte Terrakotta-Armee zu besichtigen. Dass sein Team ausgerechnet heute während seiner Abwesenheit auf etwas Neues gestoßen war, ärgerte ihn maßlos.
Trotz der Hitze war er bei klarem Verstand. Ob er nun endlich am Ziel war? Diese Frage ließ ihm seit Henry Rutherfords Anruf keine Ruhe. Seit Jahren folgte er verschiedenen Hinweisen, die ihn letzten Endes hierher, zum Anfang der uralten Karawanenstraße, geführt hatten.
Vor zwei Monaten hatte er die Stadt Xi’an erreicht. Seitdem hatte er nie mehr länger als vier Stunden geschlafen. Vollkommen besessen von seiner Suche, arbeitete er unermüdlich Tag und Nacht und verlangte sich selbst genauso wie seinen Mitarbeitern alles ab. Sie mussten die Ausgrabungen unaufhörlich in zwei Schichten durchführen. Die meisten von ihnen waren angeheuerte Einheimische, die glaubten, die Geschichte der Seidenstraße zu erforschen. Wonach er tatsächlich suchte, hatte er niemandem verraten. Das Team war nur eine Tarnung, denn in Xi’an durfte er als Ausländer nicht auf eigene Faust Grabungen durchführen.
Er war immer noch erstaunt darüber, dass ihn seine Suche in diese entlegene Ecke der Welt geführt hatte. Ihm war zwar bewusst, dass die Seidenstraße in der Antike und im Mittelalter die wichtigste Handelsroute gewesen war, aber, dass hier die Geheimnisse der Templer versteckt sein sollten, wunderte ihn dennoch. Er dachte an die zahlreichen Karawanen. Diese Menschen beförderten jedoch nicht nur Waren, sondern verbreiteten auch Wissen, Kulturen und Religionen. Sogar die Pest war den alten Pfaden gefolgt. Seine Reise war nicht ungefährlich gewesen. Obwohl die antike Straße längst nicht mehr als Handelsweg genutzt wurde, diente sie seit Jahren als Schmuggelroute für Waffen und Drogen.
Wie oft habe ich schon Schmiergeld an Banditen und korrupte Beamten zahlen müssen, um graben zu dürfen!
Er hoffte, dass damit jetzt endlich Schluss war.
Als er die Ausgrabungsstätte betrat, spürte er eine seltsame Kälte. Ein Windstoß wehte ihm den Hut vom Kopf. Er machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben, sondern lief stattdessen zum Fundort, wo eine Ansammlung von Arbeitern im Kreis stand und eifrig diskutierte. Das Getuschel erstarb bei seinem Näherkommen abrupt. Die Männer traten beiseite und bildeten einen menschlichen Korridor für ihn. Schweißgeruch stieg ihm in die Nase, als er hindurch eilte.
„Schau mal hier“, sagte Henry und trat aus der Menge hervor. Er deutete mit dem Kopf in Richtung einer Grabstätte und strich seine zerzausten hellblonden Haare zurück.
Ein gewaltiger Grabstein lehnte neben einer geöffneten Gruft an der Höhlenwand. Der junge Archäologe musterte den hohen weißen Kalkstein. Auf den ersten Blick konnte er nichts darauf erkennen. Er trat näher und fuhr mit der Hand über die raue Oberfläche. Von einem der herumstehenden Arbeiter nahm er eine Wasserflasche entgegen, trank einen Schluck und goss den Rest über den Stein. Er beugte sich nach vorn und betrachtete die Oberfläche so genau, dass sein Gesicht beinahe das Gestein berührte. Der Archäologe glaubte, ein eingraviertes Kreuz darauf erkennen zu können. Er hob einen herumliegenden Lappen auf und rieb damit vorsichtig über die entsprechende Stelle. Danach trat er einen Schritt zurück und nahm den Stein erneut in Augenschein. Er schürzte die Lippen und auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Furche.
Einen Augenblick später drehte er sich zu dem stämmigen Engländer um. „Denkst du nicht auch, dass das ein Kreuz auf dem Grabstein ist, Henry?“
Dieser zuckte mit den Schultern. „Sieht zumindest ganz danach aus, wenn du mich fragst.“
„Wann habt ihr das gefunden?“
„Einer der Einheimischen ist heute Morgen auf die Steinplatte gestoßen, als er Geröll aus einem eingestürzten Teil der Höhle wegschaufeln wollte“, berichtete Henry.
„Hättest du mit dem Öffnen der Gruft nicht warten können?“, blaffte er seinen Partner an.
„Ich habe jemanden nach dir geschickt, doch du warst nirgendwo zu finden“, erklärte Henry kleinlaut. Hastig senkte er den Blick.
Der junge Archäologe schnaufte verärgert. Angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Die Einheimischen flüsterten aufgeregt miteinander und ihre Blicke schweiften beunruhigt zwischen den beiden Europäern hin und her.
„Schau dir mal den Sarg an“, sagte Henry jetzt zögerlich.
Der junge Archäologe ging auf die Grabkammer zu und blieb davor stehen. Er musste sich bücken, um hineinschauen zu können. Die Gruft maß etwa anderthalb Meter in der Breite und war annähernd genauso hoch. In der Mitte befand sich ein Sarg aus Granit, der von einer schweren Steinplatte bedeckt wurde. Eine dumpfe Ahnung überkam ihn, als er einen Schritt nach vorn machte. Es war nicht das erste Mal, dass er in eine Grabkammer eindrang. Dieses Mal war jedoch etwas anders, denn vorn auf dem Sarg konnte er deutlich ein Kreuz erkennen. Das weckte natürlich seine Neugier. Er kniete nieder und betrachtete es genauer. Die Erregung ließ ihn sein mulmiges Gefühl schnell vergessen. Das Kreuz hatte vier gleich lange Balken mit angedeuteten Einkerbungen an den Enden.
„Ist das ein Malteserkreuz, Henry?“, fragte er aufgeregt, ohne sich zu seinem Begleiter umzudrehen.
„Es sieht in der Tat so aus“, erwiderte Henry hinter ihm. „Könnte aber auch ein Templerkreuz sein. Wir müssen zuerst das Alter des Grabes bestimmen. Danach kann ich eventuell Genaueres sagen.“
Der junge Archäologe hob die Brauen. „Ein Malteserkreuz“, murmelte er vor sich hin und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was ist los?“, erkundigte sich Henry.
„Das Malteserkreuz ist das Symbol des Johanniter-Ordens, der erst im zwölften Jahrhundert nach dem Vorbild der Templer entstanden ist. Seine Ritter hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Kranke, Arme und verletzte Pilger im Heiligen Land zu versorgen. Später haben die Johanniter in Malta zwischen 1530 und 1798 regiert.“
„Und?“, fragte Henry. Verwunderung schwang in seiner Stimme mit.
„Diese Grabstätte hier stammt schätzungsweise aus dem fünften bis zehnten Jahrhundert“, erklärte er und drehte sich um. „Verstehst du jetzt, Henry?“ Er versuchte, seine Missbilligung zu unterdrücken.
Henrys Gesicht lief so rot an, als hätte er ihm eine Ohrfeige verpasst.
„Fass mal mit an.“ Der Archäologe begann, das Grab zu öffnen.
Henry kam ihm hastig zu Hilfe. Panik machte sich auf den Gesichtern der Einheimischen breit, als sich die Steinplatte mit einem schabenden Geräusch langsam in Bewegung setzte. Wie auf ein geheimes Zeichen hin traten sie gemeinsam einen Schritt zurück. Kurze Zeit später stand der Sarg einen Spalt breit offen. Der Archäologe schaute hinein und traute seinen Augen kaum. Er schloss sie für einen Moment und atmete tief durch, da er das Gefühl hatte zu träumen, denn im Sarg lag der mumifizierte Leichnam eines Mannes, der mit einer schwarzen Kutte bekleidet war.
„Ein Mönch“, murmelte Henry verblüfft.
Es sah so aus, als würde der Mönch nur schlafen. Sein mumifiziertes Gesicht war sehr gut erhalten. Die trockene Hitze in diesem Teil der Erde schien den Verwesungsprozess aufgehalten zu haben. Seine Züge sahen allerdings eher orientalisch als chinesisch aus.
„Hilf mir, die Steinplatte noch weiter zur Seite zu schieben“, bat der Archäologe.
Mit aller Kraft stemmten sie sich beide gegen die schwere Platte. Zögerlich und knarrend setzte sich diese daraufhin in Bewegung. Nach einiger Zeit gelang es den beiden, den Spalt über dem Sarg um wenige Zentimeter zu vergrößern. Keuchend vor Erschöpfung klopften sie sich den Staub von den Händen. Henry leuchtete neugierig mit einer Taschenlampe in den Spalt hinein. Gespannt spähte der Archäologe in den Sarkophag. Was er sah, ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken, denn auf der Brust des Mönches befand sich ein aus roter Seide gesticktes gleicharmiges Kreuz. An den Enden waren die Kreuzarme jedoch abgewinkelt.
„Ist das ein Hakenkreuz?“, rief Henry fassungslos.
„Leuchte mal bitte weiter unten“, forderte der Archäologe ihn auf.
In den Händen hielt der Geistliche einen Kodex. Auf dem Deckel aus versteiftem Tierleder war eine Palme abgebildet. Darunter befand sich eine Schrift, die Arabisch sein könnte.
Der Archäologe streckte eine Hand durch den Spalt, um der Leiche den Kodex abzunehmen, doch in diesem Moment fuhr eine Schlange mit geöffnetem Schlund fauchend dahinter hervor. Bevor er reagieren konnte, hatte sie ihn bereits gebissen. Reflexartig zog er den Arm zurück und schrie vor Schmerzen auf. Ihm wurde augenblicklich schwindelig, und er verlor das Gleichgewicht. Henry fing ihn auf, griff unter seine Achseln und schleifte ihn aus der Gruft heraus. Die Einheimischen wichen entsetzt vor ihnen zurück. Behutsam legte Henry ihn auf dem Boden ab. Alles um ihn herum, fing an, sich wie ein Karussell zu drehen. Ihm wurde zuerst flau im Magen, bevor sich alles um ihn herum verfinsterte.
Aleppo, Syrien, Dezember 2012
Ein lauter Knall durchschnitt die hereinbrechende Nacht. Die Gemäuer der Bibliothek erzitterten und Putz rieselte von der Decke. Bücher fielen von den Regalen und schlugen auf dem Boden auf. Noch hatten die Kämpfe das Viertel, in dem sich die Bibliothek befand, nicht erreicht. Doch mit jeder Explosion schienen sie näher zu kommen. Vom Fenster aus beobachtete Ilana Shaik, wie eine neue Rauchsäule emporstieg, um sich mit vielen weiteren zu einer dichten schwarzen Wolke zu vereinen. Sie war froh, dass ihr Kollege Saad Fadel und sie die wertvollen Schriftrollen bereits an einem sicheren Ort hatten verstecken können. Für diese Rollen war Ilana extra nach Aleppo zurückgekehrt und hatte ihr Leben in Gefahr gebracht. Alle hatten ihr davon abgeraten … Freunde, Bekannte und auch Arbeitskollegen. Sie hatte jedoch nicht riskieren können, dass die unbezahlbaren Schriftrollen mit ihren noch immer ungelüfteten Geheimnissen in die falschen Hände gerieten.
Für wenige Augenblicke herrschte eine trügerische Stille. Eine Krähe landete auf einer flackernden Straßenlaterne und putzte sich das Gefieder.
Ist sie ein Vorbote des Bösen? Freut sie sich auf Aas?
Eine weitere Detonation folgte und Ilana erschrak. Obwohl in den letzten Tagen laufend Explosionen zu hören gewesen waren, zuckte sie dennoch jedes Mal zusammen. Als sie wieder nach draußen schaute, flog die Krähe davon und löste sich einen Augenblick später in der Dunkelheit auf.
„Wir brechen auf.“
Ilana drehte sich um. Hinter ihr stand Carlos. Seinen Nachnamen kannte sie ebenso wenig wie Saad und das bereitete ihr Unbehagen.
„Es wird Zeit“, fügte er hinzu.
Ilana hielt unwillkürlich die Luft an, Saad nickte ihr ermutigend zu. Sie war sich nicht sicher, was sie von dem Plan halten sollte. Die zwei Schmuggler Carlos und Amira, Saads Cousine, würden sie im Schutz der Dunkelheit aus der Stadt schaffen.
„Ab jetzt heißt du Aisha Alwazir“, erklärte Carlos. „Hier, das ist dein neuer Ausweis.“
Ilana nahm den Pass entgegen. Unter ihrem Foto befand sich ihr neuer Name, ein Geburtsdatum und der Geburtsort.
Carlos gab ihr außerdem ein Blatt Papier. „Das ist dein Lebenslauf. Lern die Daten auswendig, und vernichte den Zettel danach. Du hast fünf Minuten Zeit dafür.“
***
Carlos stieß die Tür der Bibliothek auf und streckte den Kopf in die Dunkelheit hinaus. Eine milde Brise wehte Amira entgegen. Der Gestank von Rauch und Schießpulver hing in der Luft. Sie tastete nach ihrem Holster, zog ihre Waffe und überprüfte die Munition. Carlos gab ihr ein Zeichen, noch zu warten. Die Sekunden zogen sich in die Länge.
Schließlich drehte sich Carlos zu ihnen um. „Die Luft ist rein, los!“
Er verließ das Gebäude als Erster und lief auf die Straße. Die drei anderen folgten ihm stumm. Plötzlich fielen Schüsse. Geduckt bewegte sich Carlos auf die gegenüberliegende Straßenseite und Amira folgte ihm dicht. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Saad zu Ilana zurückrannte, die immer noch wie angewurzelt am Straßenrand vor der Bibliothek stand. Beinahe zur gleichen Zeit traf eine Granate die Straße und explodierte als gewaltiger Feuerball. Die Druckwelle riss Amira von den Füßen und schleuderte sie gegen einen Müllcontainer.
Langsam kam sie wieder zu sich, als Carlos ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Sie kniff die Augen zusammen und machte eine abwehrende Handbewegung. Daraufhin richtete er den Lichtstrahl ein wenig zur Seite.
Sie befanden sich offenbar in einem leeren Raum. Sie setzte sich vorsichtig auf und bewegte prüfend ihre Gliedmaßen. Ihre Knochen taten zwar weh, doch es schien nichts gebrochen zu sein.
„Bist du okay?“, fragte Carlos besorgt.
Seine Stimme drang wie durch Watte zu ihr. Ein hoher Pfeifton fiepte in ihren Ohren. Die Erinnerung drang jetzt langsam in ihr Bewusstsein.
„Wo sind die anderen?“, fragte sie.
„Sie haben es nicht geschafft“, sagte er leise.
Jaffa, das Heilige Land, Januar 2011, knapp ein Jahr zuvor
Ilana stand fassungslos vor dem Kalkstein mit der kunstvoll kalligrafierten arabischen Inschrift. Der Stein war Teil des Mauerwerks. Sie vermutete, dass er aus einer der vielen Ruinen in der Gegend stammte und beim Bau dieses Hauses wiederverwendet worden war. Das war im Heiligen Land nicht unüblich. Wenn es an Baumaterial fehlte, nahm man es sich eben von den unzähligen alten Bauwerken in der Umgebung.
Auf Bitten eines alten Kollegen war sie vor zwei Tagen nach Jaffa gereist, um diesen Fund näher zu untersuchen. Sie hatte eine wenig bedeutungsvolle Inschrift aus osmanischer Zeit erwartet.
„Schick mir einfach Fotografien davon“, hatte sie ihm daher vorgeschlagen.
„Das musst du dir in natura ansehen“, hatte er beharrt.
Ilana hatte sich schließlich breitschlagen lassen. Als sie nun den in lateinischen Buchstaben eingravierten Namen des Urhebers der Inschrift entschlüsselte, schlug ihr Herz automatisch schneller.
„Friedrich II.“, flüsterte sie kaum hörbar.
Sie traute ihren Augen kaum. Aber das war noch nicht einmal alles. Der Text darunter war in arabischen Buchstaben verfasst und das glich einer Sensation, denn es war die erste Kreuzfahrerinschrift in arabischer Sprache!
Sie wusste, dass der Kaiser des Arabischen mächtig gewesen war. Er trug immerhin den Titel König von Jerusalem. Schon in Kindertagen war Ilana fasziniert von dem deutsch-römischen Kaiser gewesen, der Jerusalem ganz ohne einen Kampf zurückerobert hatte. Trotz dieses Erfolges hatte ihn Papst Gregor IX. den Antichristen genannt und ihn exkommunizieren lassen.
Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die Inschrift, als wolle sie sich davon überzeugen, dass sie wirklich da war. Das war nicht irgendeine Inschrift, sondern die vom Oberhaupt des Hauses Hohenstaufen, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen. Sein Reich hatte sich von Sizilien im Süden über ganz Italien bis nach Deutschland im Norden erstreckt. Im Osten hatte seine Macht bis nach Jerusalem gereicht. Nachdem er im Jahr 1220 mit dem ägyptischen Sultan einen Waffenstillstand geschlossen hatte, hatte er, ohne zu kämpfen, friedlich mehr Land gewinnen können als alle Kreuzfahrer vor ihm.
Das Meer war rauer geworden. Wellen türmten sich in die Höhe und brachen sich krachend in der Brandung. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf und verdeckten die Sonne. Der frische Wind blies ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Ilana strich ihre Haare kurzerhand nach hinten und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann schlang sie sich den braunen Wintermantel enger um den Körper.
Sie konnte die damaligen Geschehnisse beinahe vor sich sehen … die Schiffe des Kaisers glitten sanft über die Wellen des Mittelmeeres und ganz vorne auf dem Deck stand er.
Was hatte er wohl gedacht, als er das Heilige Land am Horizont erblickt hatte? Hatte er an seinen Großvater, Kaiser Friedrich I. Barbarossa gedacht, der während des dritten Kreuzzuges auf dem Weg ins Heilige Land in einem Fluss ertrunken war?
Nur die Gebeine des großen Barbarossa hatten das Heilige Land erreicht und waren hier beigesetzt worden.
Sie war froh, dass ihr Vater sie gelehrt hatte, die alten Schriften zu lesen und zu verstehen. Nachdem ihre Mutter viel zu früh gestorben war, hatte sie ihn oft besucht. Als orthodoxer Priester konnte ihr Vater sowohl Hebräisch als auch Aramäisch. In dem Jerusalemer Altstadtkloster, in dem sie ihre Jugend verbracht hatte, hatte sie sich in unzählige Schriften gestürzt, wenn sie sich wieder einmal einsam gefühlt hatte. Jetzt kam es ihr so vor, als hätte sie immer schon auf diesen speziellen Moment hingearbeitet, in all den Studienjahren, in denen sie sich ihren Ruf als Expertin für alte Handschriften und semitische Sprachen mühsam erarbeitet hatte.
Leise las sie noch einmal die Inschrift: „1229 Jahre nach der Fleischwerdung unseres Herrn Jesus des Messias.“
Ihr Handy klingelte. Als sie die Stimme am anderen Ende hörte, schien ihr Herz stehen zu bleiben.
Kairo, Ägypten, Januar 2011
Gegen Mittag verließ Konstantin Nikolaidis das Gebäude. Die Strahlen der tief stehenden Januarsonne blendeten ihn. Er hob schützend die Hand vor die Augen. Langsam drang der Lärm der Straße in sein Bewusstsein. Die Menschen liefen scheinbar ziellos umher und das Hupen der Autos kam ihm heute irgendwie lauter vor als sonst.
In Kairo herrschten chaotische Zeiten. Seit Tagen kam die ägyptische Hauptstadt nicht mehr zur Ruhe. Hunderttausende demonstrierten tagaus, tagein auf den Straßen. Osny Nubarak regierte das Land bereits seit Jahrzehnten mit eiserner Hand. Oppositionelle wurden systematisch bekämpft und von der einst versprochenen Meinungs- und Pressefreiheit war keine Spur zu sehen. Wiederholt hatte der ägyptische Präsident radikale politische Veränderungen versprochen, seine Glaubwürdigkeit hatte er nun endgültig eingebüßt. Das Volk hatte das Vertrauen in seinen Anführer für immer verloren und außerdem den Respekt und die Angst vor dem Polizeiapparat des Diktators abgelegt. Mehr und mehr Menschen in diesem Land waren zu der Überzeugung gelangt, dass sie nichts mehr zu verlieren hatten. Der Tahrir-Platz inmitten von Kairo war zum Symbol des Widerstands geworden.
Konstantin verharrte einige Sekunden vor der ägyptischen Altertumsverwaltung. Dass so etwas einmal in Ägypten passieren würde, hätte er niemals für möglich gehalten.
Schüsse hallten plötzlich durch die Luft und ließen ihn zusammenfahren. Erschrocken schaute er sich um, doch die Schüsse schienen weit entfernt gefallen zu sein. Er vermutete, dass sie vom Tahrir-Platz kamen. Heute lag Ungewöhnliches in der Luft. Die Passanten schienen auf einmal in großer Eile zu sein. Einige schauten sich panisch um, zumindest kam es ihm so vor. Zwei Streifenwagen fuhren mit heulenden Sirenen an ihm vorbei.
Sein Telefon klingelte. Hastig kramte er in seiner Hosentasche danach und nahm den Anruf entgegen.
„Konstantin, ich glaube, wir haben sie endlich gefunden!“, sagte eine aufgeregte Männerstimme ohne eine Begrüßung.
Jerusalem, das Heilige Land, Januar 2011
Ilana ging durch das Neue Tor der Altstadt die Via Dolorosa entlang. Ihre Schritte wurden immer langsamer, je näher sie ihrem Ziel kam. Vor dem Kloster Johannes der Täufer blieb sie stehen und betrachtete den imposanten kreuzförmigen Bau. Die griechisch-orthodoxe Abtei stammte aus byzantinischer Zeit. Sie befand sich zwischen der Suwaqa Alwan, dem bekannten arabischen Markt, und der Straße, die zum christlichen Viertel von Jerusalem führte. Das Kloster bestand aus zwei Kirchen. Einer unterirdischen in byzantinischem Stil, die 450 nach Christus erbaut worden war, und einer zweiten aus dem Jahr 1048, die während der Fatimiden-Epoche entstanden war. In der Zeit der Kreuzzüge hatte das Kloster als Lazarett und Residenz für die Johanniter gedient. Heute lebten wieder Priester und Mönche dort, die beteten, lernten und das Gotteshaus pflegten.
Tränen stiegen in ihr auf.
Seit zwei Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater friedlich in seinem Sarg liegen. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie das Kloster, ihr früheres Zuhause, betreten hatte. In der kleinen Bibliothek ihres Vaters hatte sie die alten Bücher studiert und gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.
„Jedes Buch hat eine Geschichte zu erzählen, die man zum Leben erwecken soll“, hatte ihr Vater damals philosophiert. In solchen Momenten hatte er geklungen, wie zu der Zeit, als er als Pastor Issa zu den Menschen gesprochen hatte.
In diesem alten Gemäuer hatte sie ihre Bestimmung gefunden. Für die Mönche und Priester war sie mit der Zeit Teil des Klosterlebens geworden.
Das hatte sich allerdings geändert, als Abt Ibrahim Almundi eines Tages erfahren hatte, dass sie sich heimlich mit einem Messdiener traf.
„Ihre Tochter ist jetzt eine erwachsene Frau“, hatte er in herrischem Tonfall zu ihrem Vater gesagt. „Sie kann nicht den ganzen Tag hierbleiben.“
Damals verstand Ilana, die das Gespräch belauschte, nicht, was der Abt meinte. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen.
„Aber sie ist hier aufgewachsen. Die Brüder betrachten sie als ihre eigene Tochter“, hatte ihr Vater dagegengehalten.
„Sehen Sie es mir bitte nach. Es sind auch junge Mönche bei uns, und Ihre Tochter ist zu einer sehr attraktiven jungen Frau herangewachsen.“
Von da an war sie nur noch selten im Kloster gewesen. Das hatte sie dem Abt niemals verziehen. Deshalb wunderte sie sich darüber, warum der Priester sie nach so vielen Jahren angerufen und gebeten hatte, zum Kloster zu kommen. Sie hatte nach dem Grund gefragt, doch er hatte darauf bestanden, mit ihr persönlich darüber zu sprechen. Anfangs war sie versucht gewesen, seine Einladung auszuschlagen, da sie immer noch wütend auf ihn war. Am liebsten hätte sie ihn aus ihrem Gedächtnis gelöscht wie ein misslungenes Foto aus ihrem Smartphone. Ihre Neugier war jedoch stärker gewesen. Irgendetwas in seiner Stimme hatte sie dazu bewogen, seiner Aufforderung zu folgen – obwohl ihr Bauchgefühl ihr sagte, dass es nichts Gutes sein konnte.
Kairo, Ägypten, Januar 2011
Konstantin stand wie vom Blitz getroffen da, unfähig, irgendetwas zu sagen. Als Unterwasser-Archäologe hatte er auf der Suche nach dem sagenumwobenen Herakleion jahrelang alte griechische Texte gelesen. Allem Anschein nach steckte hinter dem Mythos mehr Wahrheit, als er zu träumen gewagt hatte.
„Konstantin, bist du noch dran?“, fragte Yasser Imam.
„Ja“, stieß er mit zittriger Stimme hervor.
„Heute Morgen hat das Sonar eine ungewöhnliche Anomalie gezeigt. Das Signal der Ultraschallwellen ist reproduzierbar. Es ist tatsächlich die Stelle vor Alexandria.“ Yasser klang überwältigt. Er legte eine dramatische Pause ein, bevor er triumphierend fortfuhr: „Konstantin, glaub mir, wir sind auf etwas Gewaltiges gestoßen.“
„Das ging schneller, als ich gedacht hätte“, sprach Konstantin mehr zu sich selbst.
„Ja, es ist nicht zu fassen“, sagte Yasser. „Wann bist du wieder hier?“
„Ich komme gerade aus der Altertumsbehörde und nehme die nächstmögliche Verbindung.“ Konstantin wurde von den heulenden Sirenen vorbeifahrender Polizeifahrzeuge und Feuerwehrwagen übertönt. Er wartete, bis sie verstummten. „Ich denke, in drei bis vier Stunden. Wir treffen uns am besten an der Festung.“ Er verabschiedete sich hastig und legte auf.
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Wenn er es heute noch nach Alexandria schaffen wollte, musste er sich beeilen. Er nahm mehrere Stufen auf einmal die kleine Treppe hinunter. Er hätte niemals gedacht, dass dieser Tag, der so langweilig begonnen hatte, zu einem der aufregendsten seines Lebens werden würde. Den ganzen Vormittag über hatte er Formulare ausgefüllt. Er war in aller Herrgottsfrühe nach Kairo aufgebrochen, um seine Ausgrabungsgenehmigung zu verlängern. Eine Aufgabe, die er verabscheute. Der neue Generalsekretär der ägyptischen Altertumsbehörde hatte die Bedingungen für Ausgrabungen in Ägypten nämlich empfindlich verschärft. Wie viele seiner Kollegen begrüßte Konstantin diese Maßnahme, auch wenn sie einige Unannehmlichkeiten mit sich brachte. Auf diesem Gebiet wimmelte es nur so von Hobbyarchäologen, Schatzsuchern und zweifelhaften Wissenschaftlern. Zahlreiche Schätze Ägyptens waren in den letzten Jahrzehnten entwendet und auf dem Schwarzmarkt verkauft worden.
Konstantin winkte ein Taxi herbei. „Zum Ramses-Bahnhof bitte.“
Der Verkehr in Kairo war wie immer chaotisch. Der Taxifahrer wendete unter Hupen den Wagen und fuhr in Richtung Osten. Er überquerte den Nil über die Brücke des 15. Mai. Die ägyptische Altertumsbehörde lag auf der Giza-Insel, dem vornehmen Stadtteil zwischen den beiden großen Armen des Flusses. Hier verkehrte die High Society. Zwar lag der Ramses-Bahnhof westlich der Insel, Konstantin wusste jedoch, dass der Fahrer einen Umweg machte, um den Tahrir-Platz großräumig zu umfahren. Hinter der Brücke bog er nach Süden ab und nahm die belebte und unter den Einheimischen beliebte Corniche, die Nilpromenade. Trotz überfüllter Straßen rollte der Verkehr gemächlich dahin.
Kanuartige Fischerboote fuhren den Nil hinab. Einige wenige wurden durch Dieselmotoren angetrieben und zogen eine schwarze Rauchwolke hinter sich her. Andere bewegten sich durch die bloße Muskelkraft rudernder, sonnengegerbter Männer fort. Der Duft von gebratenem Fisch aus den zahlreichen Lokalen in der Umgebung erfüllte die Luft. Konstantins Magen begann zu knurren. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er seit dem Morgen nichts zu sich genommen hatte. Der Verkehr wurde nun dichter und das Taxi fuhr nur noch im Schritttempo.
Konstantin schloss für einen Moment die Augen.
Konnte es sein, dass mein Team endlich auf Herakleion gestoßen ist?
Er war aufgeregt wie ein kleines Kind, das unter dem Weihnachtsbaum ein langersehntes Geschenk entdeckte. Seit Jahren hatte er nach der Stadt gesucht. Er stellte sie sich unwillkürlich mit ihren eingestürzten Tempeln und Häusern in allen Details vor.
„Das antike Herakleion lag an der Mündung eines später versandeten Nilarms“, hatte ihm sein Großvater einst erzählt. Oft hatte der alte Mann ihm Gute-Nacht-Geschichten aus der griechischen Mythologie vorgelesen. Seit seiner Kindheit begleitete ihn das Märchen vom Spartanerkönig Menelaos, der seine Heimreise nach Griechenland in Herakleion unterbrochen hatte, nachdem er Troja bezwungen hatte.
Wie stolz wäre Großvater auf mich, wenn er diesen Moment hätte miterleben dürfen, dachte Konstantin. Er war überzeugter Atheist, doch zum ersten Mal in seinem Leben hoffte er, dass sein Großvater hoch im Himmel saß und gerade auf ihn herabschaute.
Erneut fielen Schüsse. Dieses Mal nicht vom Tahrir-Platz, sie klangen deutlich näher. Der Taxifahrer schaute sich nervös um.
„Was ist denn los?“, fragte Konstantin besorgt.
Bevor der Fahrer antworten konnte, rannten drei maskierte Männer am Taxi vorbei. Mehrere Polizeibeamte mit Schutzwesten verfolgten sie. Plötzlich drehte sich einer der Maskierten um und schoss auf die Polizisten. Instinktiv duckte sich Konstantin und rutschte vom Rücksitz in den Fußraum hinunter. Er schluckte schwer, denn seine Kehle fühlte sich trocken an. Sie waren mitten in einen Straßenkampf geraten!
Panik drohte ihn zu übermannen. Er riskierte einen Blick nach draußen. Der Taxifahrer behielt zum Glück die Nerven und bog in die nächste Nebenstraße ein. Nach und nach verstummten die Schüsse, und Konstantin kletterte zurück auf den Rücksitz. Das Handy des Fahrers summte und er nahm den Anruf entgegen. Mit dem Telefon am Ohr lenkte er das Taxi geschickt durch die schmalen Gassen. Bei diesen Straßenverhältnissen fuhr er viel zu schnell. Konstantin hielt sich mit beiden Händen am Vordersitz fest. Als er sich anschnallen wollte, stellte er fest, dass der Gurt hinten fehlte. Er wusste nicht, was gefährlicher war: der Schusswechsel oder diese waghalsige Fahrt.
Trotz der Anspannung musste er bei dem Gedanken lächeln. Der Fahrer brüllte nun regelrecht in sein Smartphone. Aus dem Gespräch erfuhr Konstantin, dass es einen Raubüberfall auf das Ägyptische Museum gegeben hatte. Auf einmal bremste das Taxi stark ab. Konstantin wurde nach vorne geschleudert und sein Kopf prallte gegen die Kopfstütze des Beifahrersitzes.
Jerusalem, das Heilige Land, Januar 2011
Zögerlich trat Ilana durch das Klostertor. Augenblicklich überkam sie dieses mulmige Gefühl. Die Abwesenheit ihres Vaters war allgegenwärtig. Ein Stich fuhr ihr durch das Herz. Ihr Vater hatte eine Energie ausgestrahlt, die ansteckend und gleichzeitig bestärkend gewesen war. Wann immer sie die Abtei besucht hatte, hatte er sie mit seinem einnehmenden Lächeln begrüßt.
Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und das Kloster fluchtartig verlassen. Ihre Neugier wegen der geheimnisvollen Einladung des Abts war jedoch stärker. Ihre Füße fühlten sich bleiern an, als ihre Schritte durch das Klostergewölbe hallten.
Je weiter sie ins Innere vordrang, desto heimischer fühlte sie sich wieder, so als wäre sie nie weggewesen. Wie ein kleines Kind ging sie durch die große Klosterhalle von einer Säule zur nächsten und strich dabei über die raue Steinoberfläche.
Bald darauf erreichte sie die Treppe, die zu Abt Ibrahims Kammer hochführte. Ihr wurde schwer ums Herz. Sie verabscheute diesen Mann. Wieder blieb sie stehen und dachte daran, umzukehren. Doch sie nahm die Treppe hinauf und klopfte an die Tür, die beinahe sofort aufsprang.
Ihr stockte der Atem, als sie ihr Gegenüber erblickte. „Mike, was machst du denn hier?“
„Vater Michael“, erwiderte er. „Ich bin jetzt der Abt des Klosters.“
Verstört schaute sie Michael Azar, ihren ehemaligen Jugendfreund, an. Sie war voller Bewunderung, gleichzeitig empfand sie aber Mitleid. Er schien kaum älter geworden zu sein. Bis auf einen kleinen Bauchansatz sah er genauso aus wie damals. Seine dunklen Augen zogen sie immer noch in den Bann. Als sie ihn umarmen wollte, wich er zurück, drehte sich um und ging ins Zimmer hinein.
Ilana dachte daran, wie sie sich früher heimlich getroffen und die Altstadt von Jerusalem über die Dächer hinweg vom einen bis zum anderen Ende überquert hatten. Allzu präsent war ihr der Moment, in dem sich ihre Lippen das erste Mal berührt hatten. Er war ihre erste große Liebe gewesen … bis Vater Ibrahim davon erfahren hatte. Er hatte Mike ein Stipendium in Russland verschafft und ihn schwören lassen, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Wie alt war sie damals gewesen? Gerade einmal fünfzehn Jahre. Ilana hatte das Kloster danach verlassen müssen.
Unzählige Male hatte sie später versucht, Mike zu erreichen, und ihm zahlreiche Briefe geschrieben. Eine Antwort war jedoch ausgeblieben. Jahrelang hatte sie von einem Wiedersehen geträumt – so hatte sie es sich allerdings nicht vorgestellt.
Sie kämpfte gegen die Tränen an. Rasch fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. Die mit weißgrauem Zementputz bedeckten Wände des Gewölbes drohten, sie zu ersticken. Durch ein kleines rundes Fenster in der südwestlichen Wand schickte die mittägliche Sonne ihre Strahlen und erhellte den Raum. In der Mitte stand ein antiker Schreibtisch aus dunklem Holz und davor zwei abgenutzte dunkelrote Ledersessel. Ilana ließ sich in einen der Sessel fallen und schaute Abt Michael, der sich ihr gegenüber in den zweiten Sessel setzte, direkt in die Augen.
„Was ist aus dir geworden?“, wollte sie wissen.
„Damals waren wir sehr jung. Gott wird uns hoffentlich unsere Sünden vergeben.“
Seine Antwort traf sie wie ein Schlag. War das derselbe Mike, in den sie sich verliebt hatte? Hatte sie sich dermaßen in ihm getäuscht?
In diesem Augenblick hörte sie jemanden an der Tür. Vater Ibrahim betrat den Raum. Die Jahre hatten ihren Tribut gefordert. Sein Haar war fast komplett ergraut. Trotzdem machte er einen agilen Eindruck.
Übertrieben freundlich begrüßte er sie. „Guten Tag, meine Tochter. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Ich hoffe, es geht dir gut!“
Da ist es wieder, dachte Ilana, dieses heuchlerische Lächeln.
„Ich bin zufrieden“, erwiderte sie knapp. „Wie ich sehe, sind Sie nicht mehr der Abt hier.“
Vater Ibrahim begab sich gemessenen Schrittes hinter den Schreibtisch und setzte sich. Dann beugte er sich nach vorn, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände wie zum Gebet.
„Ja, das stimmt, meine Tochter.“ Er seufzte, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern. „Gott hat mich mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, alle Klöster im Heiligen Land zu betreuen. Diese Bürde habe ich natürlich gern auf mich genommen.“
Welcher Idiot redet denn heutzutage noch so?, schoss es Ilana durch den Kopf.
Die lange Nase und der kleine Mund mit den spitzen Vorderzähnen verliehen Vater Ibrahim ein vampirähnliches Aussehen und unterstrichen noch dazu seine Boshaftigkeit. Die arrogante Körperhaltung vervollständigte das Bild.
„Ich bin mir sicher, dass Sie der Richtige dafür sind“, gab sie zynisch zurück.
„Meine Tochter“, Ibrahim räusperte sich, „du bist offenbar immer noch verärgert über das, was einst vorgefallen ist. Aber es war, aus damaliger wie aus heutiger Sicht, die richtige Entscheidung. Hätte ich mich nicht eingemischt, wäre Vater Michael nie Abt geworden.“
Der Priester sah sie schweigend an, als suchte er Verständnis in ihrem Gesicht. Wut stieg in ihr auf. Sie ballte die Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihr Fleisch bohrten. Kurz öffnete sie den Mund, um etwas zu entgegnen, in letzter Sekunde überlegte sie es sich jedoch anders.
Woher soll solch ein realitätsferner Mensch wissen, was Liebe ist?
Ihr Blick huschte zu Abt Michael hinüber. Ein verlegenes Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Sie erinnerte sich unweigerlich daran, wie weich und warm sie gewesen waren.
Empfindet er noch irgendetwas für mich?
Ilana schüttelte unmerklich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
„Sie haben nach mir geschickt, Vater Ibrahim?“
Wenn ihm die Abneigung in ihrer Stimme aufgefallen war, ließ er es sich nicht anmerken. Er stand auf und lief im Raum auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
„Ja“, antwortete er. „Ein alter Freund von mir, Doktor Rahman, leitet die Bibliothek von Aleppo. Dort hat man bei Restaurierungsarbeiten bislang verschollen geglaubte Schriftrollen gefunden. Allem Anschein nach stammen sie aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus.“ Er legte eine Pause ein. „Also aus frühislamischer Zeit. Die Schriftrollen sind teilweise in arabischer und aramäischer Sprache verfasst.“ Wieder hielt er inne, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Jetzt hatte er Ilanas volle Aufmerksamkeit.
„Die Schriften wurden in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der Ruine des Klosters Qalʿat Simʿan gefunden und werden seitdem in der Bibliothek von Aleppo aufbewahrt.“ Vater Ibrahim verstummte.
Im Gewölbe herrschte gespanntes Schweigen.
Das Kloster war eine der bedeutendsten Pilgerstätten im Norden Syriens im Gebiet der antiken toten Städte. Die Schriften mussten daher von unschätzbarem Wert sein.
„Meine Tochter“, fuhr Ibrahim fort.
Sie hasste es, wenn er sie so nannte.
„Verstehst du die Bedeutung dieser Schriftrollen?“
Sie nickte. „Wieso hat man sie damals nicht analysiert und bis …?“
Vater Ibrahim unterbrach sie. „Genau zu diesem Punkt wollte ich gerade kommen. Man vermutet, dass der alte Direktor der Bibliothek sie unter Verschluss gehalten hat. Zumindest hat man die Rollen nach seinem Ableben in seinem Büro versteckt gefunden.“
Ilanas Augen weiteten sich. „Versteckt?“
„Ja“, erwiderte er. „Jetzt bittet uns Doktor Rahman um Hilfe bei der Übersetzung der in aramäischer Sprache verfassten Schriften.“
„Uns?“, fragte sie und verdrehte die Augen.
„Die Kirche. Aber ich habe ihm dich als Expertin vorgeschlagen, denn es gibt dafür keine bessere Wissenschaftlerin. Dein Ruf auf dem Gebiet der semitischen Paläografie eilt dir voraus.“
„Wobei genau brauchen Sie meine Hilfe?“, fragte Ilana argwöhnisch.
„Der Doktor hat mir berichtet, dass er Schwierigkeiten damit hat, die Texte sowohl zu lesen als auch zu verstehen.“
„Welche Art von Schwierigkeiten?“
Vater Ibrahim kehrte zurück zu seinem Schreibtisch. Aus einer Schublade holte er ein Blatt Papier hervor. Kurz schaute er darauf, dann schob er es zu ihr hinüber. Es zeigte die Abbildung einer Schriftrolle. Ilana zog das Blatt zu sich heran. Ihre Hände zitterten vor Aufregung und ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Kunstvoll gewundene Buchstaben verzierten das Pergament, das offenbar aus Tierhaut hergestellt worden war. Vermutlich aus Ziegen- oder Schafshaut, dachte sie, das war zu der damaligen Zeit üblich gewesen.
Auf den ersten Blick war sie nicht in der Lage, die Schrift zu entziffern.
„Das ist Garschuni!“, stieß sie überrascht hervor. „Eine Schrift, mit der normalerweise Arabisch mit aramäischen Buchstaben geschrieben wurde.“
„Meine Tochter“, unterbrach Vater Ibrahim sie erneut, „du kannst dir vorstellen, wie bedeutsam diese Dokumente für die Kirche sein könnten. Sie könnten die Geschichte in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ich würde es daher außerordentlich begrüßen, wenn du diese Aufgabe übernehmen und Abt Michael regelmäßig berichten würdest.“
Die Kirche war Ilana vollkommen egal, doch die Schriftrollen entfachten ihre wissenschaftliche Neugier.
„Die Mönche haben damals die aramäische Sprache als heilig betrachtet. Aus diesem Grund wurden sogar andere Sprachen mit dieser heiligen Schrift geschrieben, wie beispielsweise Sogdisch, Türkisch, Persisch, Malayalam und die kurdischen Sprachen.“ Sie betrachtete die Abbildung eingehender. „Sogar Latein wurde manchmal in aramäischen Buchstaben geschrieben.“
„Ist das denn Latein?“, fragte Abt Michael neugierig.
„Das glaube ich nicht. Es könnte Griechisch sein. Ich müsste es mir genauer anschauen. Habt ihr eine Lupe?“
Abt Michael umrundete den Schreibtisch, holte eine Lupe aus einer der Schubladen und reichte sie Ilana. Sie hielt das Papier in das einfallende Licht. Unter der Schrift schimmerte daraufhin eine weitere, beinahe unsichtbare Schrift durch.
„Ein Palimpsest!“, rief sie aufgeregt.
Kairo, Ägypten, Januar 2011
Ein dumpfer Knall ließ ihn erzittern. Ein Ruck ging durch das Taxi und Glas zerbarst. Sprünge durchzogen spinnennetzartig die Windschutzscheibe. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Erst jetzt begriff Konstantin, dass das Taxi einen Menschen angefahren haben musste. Warme Nässe lief ihm über das Gesicht. Er wischte sich über die Stirn und stellte fest, dass sich die Hand rot gefärbt hatte. Der Taxifahrer sprang aus dem Auto und Konstantin stieg ebenfalls aus. Ihm war schwindelig, deshalb musste er sich am Autodach abstützen. Bremsspuren zogen sich über den Asphalt und der Gestank von verbrannten Reifen verbreitete sich. Der Taxifahrer kniete vor einem reglosen Körper und schüttelte ihn. Neben dem Verletzten lag eine Handfeuerwaffe. Der Mann war offenbar aus einer der Seitengassen auf die Straße gelaufen. Um den Hals trug er eine Kufiya, ein Kopftuch, das nur Männern vorbehalten war. Schritte näherten sich. Zwei weitere Bärtige mit Kufiyas stürzten aus der Gasse heraus. In den Händen hielten sie Pistolen.
Konstantin dämmerte es, dass es sich bei den Männern um die Räuber aus dem Museum handeln musste. Die Bärtigen eilten zu dem Verletzten. Als der Taxifahrer sie bemerkte, machte er einen Satz zurück und setzte an, etwas zu sagen. Doch einer der beiden schob ihn grob beiseite und kniete sich hin. Er trug einen Henna gefärbten Bart.
„Bruder!“, rief er und schlug dem Mann am Boden leicht auf die Wangen.
In der Ferne heulten Sirenen.
„Komm, wir müssen uns beeilen“, sagte der andere.
„Wir können ihn nicht einfach liegen lassen.“
„Wir können nichts mehr für ihn tun. Er hat sein Leben für ein höheres Ziel geopfert.“
Konstantin kam die Stimme des zweiten Mannes vertraut vor. Allerdings war er zu benommen, um sie einordnen zu können. Wahrscheinlich hatte er eine Gehirnerschütterung. Er hob den Blick, um sich den Mann genauer anzuschauen. Doch ein Schwindelgefühl und Übelkeit machten sich in ihm breit, sodass er den Kopf senken musste.
„Die beiden haben unsere Gesichter gesehen“, sagte Hennabart.
Konstantin brauchte ein paar Sekunden, um die Bedeutung der Worte zu erfassen. Der Taxifahrer schien die Konsequenzen schneller verstanden zu haben. Er ging hastig einen Schritt zurück, drehte sich um und lief, so schnell er konnte, davon. Hennabart erhob sich, zielte und feuerte. Der Taxifahrer wurde ruckartig nach vorne geschleudert und fiel zu Boden. Adrenalin schoss Konstantin durch die Adern. Sein Herz raste. Er hatte keine Chance. Hennabart würde ihn erschießen, bevor er sich überhaupt umdrehen könnte. Ohnehin würde er sofort zu Boden fallen, sobald er die Hände vom Auto nahm. Hennabart richtete seine Waffe nun direkt auf ihn. Die ganze Welt vor Konstantin schrumpfte, und er sah nur noch den Lauf der Pistole. Jeden Moment würde es mit ihm zu Ende gehen.
„Nein“, befahl der andere Mann plötzlich, „nicht schießen!“
Konstantin rutschte zu Boden und lehnte sich gegen das Taxi. Ein Schatten baute sich vor ihm auf. Der Bärtige mit der vertrauten Stimme stand vor ihm und im nächsten Augenblick verdunkelte sich seine Welt.
Alexandria, Ägypten, Februar 2011
Noah nahm in dem Café an einem Tisch mit Aussicht auf den Hafen von Alexandria Platz. Zufrieden ließ er den Blick über die herrlichen Blumenanlagen und Springbrunnen wandern. Kleine Fischer- und Segelboote sowie Luxusschiffe liefen in das u-förmige Hafenbecken ein und aus. Die stimmungsvolle Beleuchtung rund um die Promenade ergänzte den malerischen Eindruck.
Das macht Appetit, dachte er und schaute sich um. Eine dunkelhaarige Kellnerin bemerkte ihn und eilte herbei. Sofort setzte sie ein Lächeln auf und reichte ihm die Speisekarte. Lange, dick getuschte Wimpern umrahmten ihre großen braunen Augen.
„Der Hafen von Alexandria begeistert mich immer wieder“, sagte er auf Englisch mit einem betont britischen Akzent.
„Nicht nur Sie“, erwiderte die Kellnerin und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie wirkte verlegen. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“
„Nein, danke. Ich trinke lieber nach dem Essen.“
Sie nickte freundlich und wandte sich ab.
„Warten Sie bitte“, rief ihr Noah hinterher. „Ich möchte direkt bestellen, denn ich sterbe vor Hunger.“ Schnell blätterte er durch die Karte. „Da hat sich in den letzten Jahren ja nicht viel verändert. Normalerweise lasse ich mich in die kulinarische Welt der arabischen Küche entführen, aber Sie haben meine Lieblingssuppe mit Krebsen und Muscheln auf der Karte. Die nehme ich.“
„Gerne.“
„Darf ich die Karte hierbehalten?“
„Natürlich“, sagte sie lächelnd und war im Begriff sich umzudrehen.
„Was ist eigentlich los im Hafen?“, fragte er. „Es kommt mir alles so hektisch vor.“
„Das stimmt. Man munkelt, dass eine alte Stadt unter dem Wasser gefunden worden ist.“
„Interessant“, sagte Noah. „Eine wirklich interessante Sache“, wiederholte er geistesabwesend.
Nach dem Essen bestellte er sich einen arabischen Kaffee, den ihm die Kellnerin auf einem silbernen Tablett brachte. Er zwinkerte ihr zum Dank zu und drückte ihr ein großzügiges Trinkgeld in die Hand. Als sie sich entfernte, schaute er ihr hinterher, bis sie hinter einer Klapptür verschwunden war. Anschließend ging er auf die Toilette und wusch sich die Hände. Im Spiegel betrachtete er flüchtig sein Ebenbild und strich seine blond gefärbten Haare zurecht. Wegen seines durchtrainierten Körpers sah man ihm seine fünfundfünfzig Jahre nicht an. Nur die tiefen Krähenfüße an den Augenwinkeln ließen erahnen, auf welch ein turbulentes Leben er zurückblickte.
Draußen am Hafen blies ihm ein angenehm warmer Wind entgegen. Er beobachtete das Meer. Nach einer Weile tastete er in seiner Jacketttasche nach seiner Pfeife, holte sie hervor und stopfte sie. Anschließend kramte er sein goldfarbenes Feuerzeug heraus, zündete den Tabak an und zog mehrere Male daran, bis der Kolben glühte. Dabei stieß er dichte, weiße Rauchwolken in die Luft. Noah verfolgte scheinbar gleichgültig, wie dunkelblaue Geländewagen mit der Aufschrift Altertumsverwaltung in den Hafen hinein- und wieder hinausfuhren.
Er steckte das Feuerzeug wieder ein. Seine Hand stieß gegen etwas und holte es hervor. Es war sein Reisepass. Er war erst vor wenigen Stunden in Ägypten eingereist und musste ihn in seinem Jackett vergessen haben. Noah schlug ihn auf. Die Augen seines jüngeren Selbst starrten ihm vom Passfoto entgegen und daneben stand Alexander Noah. Von allen Namen, die er bei seinen Missionen benutzte, war ihm dieser am liebsten. Selbstverständlich war es nicht sein richtiger. Diesen hatte er seit Jahren nicht mehr verwendet, nicht seit dem Tod seiner geliebten Mutter vor einem halben Jahrzehnt. Die meisten kannten ihn nur als Noah. Mehr musste niemand über ihn wissen.
Alexandria, Ägypten, Februar 2011
Konstantins Kopfwunde pochte, als er auf dem Oberdeck der Venus stand und das Treiben auf dem Schiff beobachtete. Wegen des Verdachts auf eine Gehirnerschütterung hatten ihm die Ärzte geraten, ein paar Tage im Krankenhaus zur Beobachtung zu bleiben. Er hatte sich jedoch noch am selben Tag selbst entlassen. Auch das angeordnete Tauchverbot hielt ihn nicht davon ab, täglich mit Yasser und seinem Team auf der Suche nach Schätzen ins Meer zu gehen.
Für einen Augenblick dachte er über den Vorfall in der vergangenen Woche nach. Die Polizei hatte ihn bewusstlos vor dem Taxi gefunden und ihn ins Hospital gebracht. Seitdem grübelte er darüber nach, warum die Räuber sein Leben verschont hatten. Die ganze Zeit über gingen ihm absurde Gedanken durch den Kopf. Hatte er einen von ihnen gekannt? Die Stimme des einen war ihm vertraut vorgekommen und hatte ihn an einen alten Freund erinnert. Doch dieser war schon lange tot.
Der Raubüberfall auf das Nationalmuseum schaffte es sogar auf die Titelseite der meistgelesenen Zeitung Ägyptens. Kurioserweise hatten die Diebe sämtliche wertvollen Schätze im Museum belassen und lediglich eine einzige Münze entwendet. Nach Aussagen des Museumsdirektors handelte es sich dabei um eine der ersten arabischen Goldmünzen, die den Namen des Propheten Muhammad trugen. Die Polizei hatte den Vorfall bereits als gewöhnlichen Raubüberfall zu den Akten gelegt.
„Er hat sein Leben für ein höheres Ziel geopfert.“
Das waren die Worte des Räubers gewesen. Was hatte er damit gemeint? Ein Raubüberfall war schließlich kein höheres Ziel. Was steckte also wirklich dahinter?
Als ihn die Polizisten wenige Stunden später im Krankenhaus befragt hatten, hatte Konstantin diesen Gedanken allerdings für sich behalten. Viel hatte er den Beamten nicht erzählen können. Nach dem Unfall war er viel zu benommen gewesen, um eine genaue Beschreibung der beiden Bärtigen abzugeben.
Das Getümmel auf dem Unterdeck holte ihn in die Gegenwart zurück. Seine Mitarbeiter hievten gerade eine Statue aus dem Wasser. Es war die Abbildung eines kleinen Kindes, das auf dem Schoß seiner Mutter saß. Es trug eine Jugendlocke, einen Zopf, der es als rechtmäßigen Erben des Gottes Osiris kennzeichnete. Einer der Männer gab laute Anordnungen und gestikulierte wild, als sich die Statue in der Luft bedrohlich zur Seite neigte. Konstantin hielt den Atem an. Doch dann setzten die Männer die Skulptur sicher auf dem Schiffsboden auf.
Er lächelte. Seine Beharrlichkeit hatte sich endlich ausgezahlt.
„Die Stadt Herakleion ist bereits vor Abukir gefunden worden“, hatten ihm seine Kollegen in der Vergangenheit weismachen wollen.
„Hören Sie endlich auf zu träumen“, hatten sie ihn ermahnt.
Konstantin war anderer Meinung gewesen. Er nahm an, dass die Stadt, die sein französischer Kollege Franck Goddio um das Jahr 2000 in der Bucht vor Abukir entdeckt hatte, nur ein Teil von Herakleion gewesen sein konnte oder gar nicht Herakleion war. Denn die Metropole musste zeitgenössischen Berichten zufolge deutlich größer gewesen sein. Am Ende war sein Eifer belohnt worden und sein Lebenstraum war wahr geworden. Es sah ganz danach aus, als ob sein Team auf das echte Herakleion oder zumindest auf einen wichtigen Stadtbezirk davon gestoßen war.
Herakleion galt als eine der prächtigsten Städte der Antike, bis sie im Meer versunken war. Später rankten sich viele Mythen um die Stadt und deren Bewohner. Er hatte viele Nächte damit verbracht, ebendiese Mythen in den antiken Texten zu analysieren, um daraus auf die genaue Lage der Stadt und deren Größe schließen zu können. Es kam ihm so vor, als hätte er sein halbes Dasein in verstaubten Archiven mit dem Studium von Texten und alten Karten verbracht.
Die Entdeckung dieser von gewaltigen Wassermassen bedeckten Stadt war eine Sensation. Bereits acht Meter unter der Wasseroberfläche hatte sein Team Straßen, Häuser mit Gärten und ein Abwassersystem gefunden, und das war noch lange nicht alles. Ein beachtlicher Teil der versunkenen Stadt musste noch unter Schlick und Sand vergraben liegen. Es würde Jahre dauern, bis man alle verborgenen Schätze freigelegt hatte. Es überraschte ihn, wie gut die Bauwerke unter Wasser konserviert worden waren. Es sah so aus, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Ein Räuspern ließ Konstantin herumfahren. Es war Yasser. Konstantin betrachtete seinen Mitarbeiter, der zugleich sein Freund seit Kindertagen und sein treuer Begleiter war. Kurz musste er an den bärtigen Banditen denken. Schnell schob er diesen sonderbaren Gedanken beiseite.
„Alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte sich Yasser besorgt.
„Ja, alles gut“, murmelte er. „Wir lassen die alten Götter wiederauferstehen.“
Yasser schaute zu den Männern auf dem Unterdeck. „Der altägyptische Gott Horus auf dem Schoß seiner Mutter Isis“, stellte er fest.
„Ich sehe, du hast dich inzwischen mit der ägyptischen Mythologie beschäftigt“, erwiderte Konstantin und lächelte schelmisch.
Yasser schien der Sarkasmus in seinem Tonfall nicht verborgen zu bleiben. „Ich bin nun mal ein gebildeter Mann“, gab er nicht weniger ironisch zurück.
Konstantin hob anerkennend den Daumen.
Yasser schnaufte. Er übertrieb seine Verärgerung so sehr, dass sie eindeutig gespielt wirkte.
„Da seid ihr ja.“ Fatima Hayek balancierte geschickt ein Tablett mit einer Teekanne, einer Zuckerdose, henkellosen Tassen und arabischen Süßigkeiten zu ihnen hinüber. Vorsichtig stellte sie es vor die beiden auf den Boden. Sie strahlte über das ganze Gesicht, denn für die meisten ägyptischen Mitarbeiter auf dem Schiff war dies ein historischer Tag. Die Medien verkündeten, dass Präsident Osny Nubarak nach Wochen der Massenproteste endlich seinen Rücktritt erklärt hatte.
Konstantin verband mit Ägypten eine Art Hassliebe. Seine Großeltern hatten in den frühen Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts das Land verlassen müssen. Damals hatte der ehemalige Machthaber Gamel Nassir im Zuge der Verstaatlichung nach der Revolution griechische Hoteliers und Geschäftsleute enteignet. Die meisten von ihnen waren zurück nach Griechenland geflohen. Dazu hatte auch Konstantins Familie gehört. Andererseits war Alexandria für ihn seit seiner Kindheit durch die vielen Erzählungen seines Großvaters allgegenwärtig. Er kannte sogar die Namen der Straßen und Gassen, die mit der Zeit ständige Begleiter seiner Träume geworden waren. Bei seinem ersten Besuch in Alexandria vor vielen Jahren hatte er daher das Gefühl gehabt, er hätte die Stadt bereits vorher gekannt.
„Wie geht es dir, Konstantin?“, fragte Fatima.
Ihre zusammengezogenen Brauen verrieten ihm, dass er furchtbar aussehen musste. „Deine Wunde ist frisch verbunden. Du solltest lieber mit dem Tauchen warten, sonst holst du dir nachher noch eine hartnäckige Infektion.“ Sie zog einen Schmollmund, legte den Kopf schräg und lächelte zuckersüß.
Sie hatte kindliche Gesichtszüge, die von einem gewagten roten Tuch eingerahmt wurden. Darunter lugten nachtschwarze, seidige Locken hervor.
Yasser schluckte hörbar. „Danke für den Tee, Fatima“, sagte er hastig, als hätte er Angst, sie würde seine Gedanken lesen und erkennen, was er für sie empfand.
Konstantin fuhr vorsichtig über den Verband und zwang sich, vor Schmerzen nicht laut aufzustöhnen. „Das salzige Meereswasser desinfiziert die Wunde und hilft bei der Heilung“, scherzte er und zwinkerte Fatima zu.
„Da wird eine Narbe bleiben, mein Lieber“, entgegnete sie lachend. „Das wird dich nur interessanter und mysteriöser erscheinen lassen und darauf stehen Frauen bekanntlich.“
„Jaja, Konstantin, eine Narbe wird deiner Schönheit keinen Abbruch tun“, brummte Yasser.
Konstantin ließ Yassers Kommentar unerwidert. Stattdessen lächelte er. Er nutzte jede Gelegenheit, um mit Fatima zu flirten und seinen Freund anzustacheln. Auch wenn Yasser es vermutlich ahnte, reagierte er jedes Mal sensibel darauf.
„Quatsch, auf gar keinen Fall“, wehrte Yasser ab, wann immer jemand ihn auf seine Gefühle ansprach.
Konstantin kniete sich hin, griff nach der Kanne und goss allen Tee ein. Aus der Hosentasche kramte er einen Blister Schmerztabletten hervor, drückte zwei Tabletten heraus und spülte sie mit einem Schluck Tee hinunter. Mit weit aufgerissenem Mund sog er die kühle Luft ein, als er sich die Zunge verbrannte. Begleitet von Fatimas Gelächter biss er in ein Stück Baklava, bevor er die halb volle Tasse auf dem Tablett abstellte und auf das Unterdeck hinunterkletterte.
Dort widmete sich Konstantin der Untersuchung einer etwa siebzig Zentimeter hohen und dreißig Zentimeter breiten Stele aus schwarzem Granitstein, die gerade mit frischem Wasser gereinigt wurde. Die Grabsäule war ihm schon vorhin aufgefallen. Darauf war der stehende Sonnengott Horus mit einem menschlichen Körper und einem Falkenkopf abgebildet. In der einen Hand hielt er das Ankh-Kreuz, in der anderen das stabartige Was-Zepter. Auf dem Haupt trug er eine Doppelkrone. Horus war im alten Ägypten bereits seit etwa dreitausend vor Christus verehrt worden. Viele Mythen und Legenden rankten sich um sein Leben, weil er der Sohn der Göttin Isis und des Gottes Osiris war. Mit den beiden bildete er die Dreifaltigkeit der ägyptischen Mythologie. Konstantin hatte fast alles über diesen Gott gelesen. Als Jugendlicher hatte er die ägyptischen Tempel oft mit seinem Vater besucht und mit ihm zusammen die vielen Wandmalereien bewundert.
Die Horus-Anbetung war eine der ältesten überlieferten Religionen. Manche Historiker behaupteten, dass Isis den Sonnengott am 25. Dezember geboren hatte. Ein heller Stern im Osten soll zu dieser Zeit am Himmel zu sehen gewesen sein. Drei Könige, die von vielen Wissenschaftlern als mythologische Darstellung dreier Sterne am Himmel betrachtet wurden, waren ihm aus dem Osten gefolgt und hatten das Neugeborene beschenkt. Später hatte Horus mehrere Jünger gehabt, mit denen er durch das Land gereist war und Wunder vollbracht hatte. Er trug viele Namen: das Licht, der gute Hirte oder das Lamm Gottes. Am Ende soll er, so die Überlieferung, von Typhon, einer weiteren ägyptischen Gottheit, verraten und gekreuzigt worden sein. Anschließend hatte er für drei Tage geruht, bevor er am dritten Tag wiederauferstanden war. Konstantin betrachtete die Horus-Abbildung.
Jetzt bist du wirklich auferstanden, dachte er.
***
Während Konstantin auf Deck die geborgenen Fundstücke begutachtete, nahmen die Mitarbeiter des Ministeriums für Antiquitäten auf dem Schiff ihre Arbeit auf. Akribisch dokumentierten und katalogisierten sie alles. Ihre Anwesenheit störte ihn. Er wusste jedoch, dass es nicht zu ändern war. Das ägyptische Gesetz forderte die prompte Übergabe aller Funde an die Behörden. Eingehende Untersuchungen an den Reliquien durften erst später im Ägyptischen Museum stattfinden.