Backfischchen's Leiden und Freuden (Mädchenroman) - Clementine Helm - E-Book

Backfischchen's Leiden und Freuden (Mädchenroman) E-Book

Clementine Helm

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Beschreibung

Diese Ausgabe von "Backfischchen's Leiden und Freuden" wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Clementine Helm (1825-1896) war eine vielgelesene Kinder- und Jugendbuchautorin im 19. Jahrhundert, die sich mit einem sogenannten Backfischroman einen Namen gemacht hat. Sie verfasste rund 40 Romane für Mädchen. Ihr bekanntestes Werk ist "Backfischchens Leiden und Freuden" aus dem Jahr 1863. Hier wird mit sehr viel Liebe die Geschichte der 15-jährigen Grete erzählt, die zu ihrer Tante nach Berlin gebracht wird, um eine standesgemäße Erziehung zu erfahren. Aus dem Buch: "Bald sah ich die beiden hübschen Blondinen, Marie und Schwester Hannchen, in ihren hellen Morgenkleidern durch den Garten schlüpfen, und wie Bienen von Blume zu Blume schwebend zwischen den Bäumen verschwinden. Ueberall wurde es nun lebendig. Von allen Seiten ertönte der gleichmäßige Schlag der Drescher rings im Dorfe, Hunde bellten, kleine Kinder trippelten halb angekleidet aus den Thüren, Fenster wurden geöffnet, feiner Rauch wirbelte aus den Schornsteinen empor, Stimmen erklangen nah und fern, und die Frühglocke läutete. Nun duldete es auch mich nicht länger im Zimmer; eben wollte ich den jungen Mädchen in den Garten nacheilen, da öffnete sich unter mir ein Fenster, und eine fröhliche Kinderstimme krähte in die Morgenluft hinein."

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Clementine Helm

Backfischchen's Leiden und Freuden

(Mädchenroman)

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-637-3

Inhaltsverzeichnis

1. Die Abreise
2. Am Morgen
3. Visiten
4. Freundschaft
5. Mittagessen
6. Verschiedenes
7. In Gesellschaft
8. Folgen
9. Noch eine Neuigkeit
10. Eugenie
11. Noch einmal Eugenie
12. Allerlei
13. Der Ball
14. Begegnung
15. Allerlei Neues
16. Die Braut
17. Der Mensch denkt – Gott lenkt
18. Ein froher Tag
19. Die Reise
20. Ein Abenteuer
21. Wieder im Vaterhause
22. Nachtrag

1. Die Abreise

Inhaltsverzeichnis

Der Wagen war vorgefahren, Friedrich knallte mit der Peitsche und die Braunen stampften ungeduldig den Fußboden. Noch einmal lag ich Vater und Mutter weinend in den Armen, küßte noch einmal alle meine lieben Geschwister und reichte dem versammelten Gesinde die Hand zum Abschied; dann drückte ich mich schluchzend in die Ecke des Wagens, beugte mich jedoch sogleich wieder zum Fenster desselben hinaus, um mit dem feuchtgeweinten Taschentuche unzählige Abschiedsgrüße zurück zu winken. Nun fuhr der Wagen durch das Dorf, und aus allen Fenstern, von allen Thüren her tönten freundliche Grüße und Wünsche zu mir herüber, denn ich kannte ja alle Bewohner dieser friedlich kleinen Bauerhäuser, war allen mehr oder weniger nahe getreten während der glücklichen Kindheitstage, die ich hier in der Heimath verlebte. Und nun sollte ich fort von allem, was meinem Herzen bis jetzt das Liebste gewesen, fort von meinem Vaterhause und von dem schönsten Orte der Welt, meinem lieben Heimathsdorfe! Neben mir im Wagen saß eine sanfte, feine Frau von mittleren Jahren, deren mildes Gesicht graue Löckchen umgaben, unter denen zwei kluge dunkle Augen hervorblickten. Sie war es, die mich aus der Heimath hinweg führte nach ihrem stillen Hause in Berlin. Dorthin sollte das junge Backfischchen sie begleiten, um unter ihrem Schutze etwas von Welt und Leben kennen zu lernen. Diese milde Frau hieß Tante Ulrike und war die verwittwete Schwester meines Vaters, verehrt und geliebt von allen, die sie kannten.

Sie streichelte sanft meine Hand, die ich in meinem Schmerz in die ihre legte, und sprach so liebe Trostesworte zu mir, daß ich mich bald etwas beruhigte, denn an der Seite einer so lieben Gefährtin war ich gewiß nicht so verlassen, als es mir bisher erscheinen wollte.

Jetzt fuhr der Wagen einem Gehölz zu, das auf der Höhe sich weit hinzog, und noch einen letzten Blick sandte ich zurück nach meinem lieben Dorfe. Der Kirchthurm und die kleinen Bauerhäuser alle blickten mich so freundlich an, die grünen Fensterladen am Giebel unseres Hauses konnte ich noch ganz deutlich erkennen, mir war, als wehte von dort ein weißes Tuch herüber, und wehmüthig erwiderte ich den Gruß. Dann entzogen mir die Bäume neidisch alle weitere Aussicht, und ich hing still meinen Gedanken nach, in denen mich die Tante auch wenig störte.

Nach einigen Stunden waren wir in Magdeburg, von wo die Eisenbahn uns der Residenz zuführen sollte. Hier trennte sich der letzte Bote aus dem Vaterhause von mir, der alte treue Kutscher Friedrich, mit den lieben beiden Braunen, die ich so oft selbst an der Leine gehabt, wenn wir auf das Feld hinaus fuhren, Getreide oder Heu einzuholen. Tausend, tausend Grüße trug ich ihm noch auf für jeden Einzelnen in Schreibersdorf, immer wieder streichelte ich die Pferde und gab ihnen noch ihre Leckerbissen, Weißbrod und Zucker, strich zärtlich über die blauen Sitzkissen der lieben weichen Chaise und verfolgte dann mit Thränen im Auge lange noch die Staubwolke, die hinter dem fortrollenden Wagen dahinzog.

Ein Spaziergang, den ich mit der Tante durch die Stadt und deren Umgebung machte, zog mich endlich von meinen trüben Gedanken etwas ab, und die Fahrt auf der Eisenbahn durch Gegenden, die mir noch fremd waren, zerstreute mich sehr wohlthätig. Die Tante verstand es gar zu gut, die Aufmerksamkeit rege zu erhalten für alles, was an uns vorüberzog, und auch die Reisegesellschaft beschäftigte meine Gedanken vielfältig. Endlich öffnete die Tante sogar eine Schachtel mit allerlei leckern Früchten und Kuchen, die Mama ihr heimlich für mich mitgegeben, und der reiche Inhalt derselben zeigte mir so ganz das liebe, sorgliche Mutterherz, das ihrem Kinde auch in der Ferne noch Freude machen wollte. Ich war wirklich noch Kind genug, um mit diesen köstlichen Leckerbissen meine letzten Thränen hinab zu schlucken, und so hatte meine beste Mama den Zweck erreicht, den sie damit im Sinne gehabt.

Hellen Auges zog ich endlich der großen Stadt entgegen, die sich jetzt vor uns ausbreitete, und mit neugierigen Blicken schaute ich mich in den Straßen um, durch welche wir dann fuhren. Die schönen Häuser und glänzenden Kaufläden erregten meine volle Bewunderung, hohe Statuen sahen hier und da ernst zwischen grünen Bäumen hervor, breite Brücken führten über den Fluß, der die Stadt durchschnitt, und stattliche Kirchen und Paläste blickten stolz und würdig auf mich armes Landmädchen hernieder. Alles verkündete die Hauptstadt, die Residenz eines großen Fürsten.

Endlich hielt der Wagen in einer der breiten Straßen vor einem freundlich aussehenden Hause, das nicht so hoch in den Himmel hinein ragte als seine Nachbarn, die mir ordentlich das Herz bedrückten durch ihre unzähligen Fenster. Hier in der gewaltig großen Stadt, wo so zahllose Menschen Platz finden wollten, mußte man freilich hoch in die Luft hinein bauen; selbst die Keller der Häuser, in welchen bei uns kein Mensch sich aufhalten möchte, sah ich von unzählig viel Familien bewohnt, und kein Plätzchen schien unbenutzt gelassen. Das hübsche Haus der Tante hatte nur wenig Mitbewohner und sprach durch sein zierliches sauberes Ansehn von Wohlstand und Behaglichkeit. Ein kleiner schattiger Garten umschloß seine Rückseite, und da an denselben keine Straßen, sondern wieder andere Gärten anstießen, so konnte man beim Blick über diese grünen Bäume ganz vergessen, daß man sich in der geräuschvollen Residenz befand.

Hier also sollte ich nun die nächste Zeit verleben, hier in dem fremden Hause, der fremden Stadt, den neuen Verhältnissen! O wie bang klopfte mir mein Herz, als ich die Stufen der Treppe hinauf stieg, hinter Tante Ulrike und der saubern Dienerin her, welche sich mit den unzähligen Packeten und Schachteln bepackt hatte, die mich auf der Reise begleiteten. Schüchtern blieb ich an der Thürschwelle des schönen Zimmers stehen, in das wir eintraten, und wagte nicht, meine Sachen abzulegen. Da aber kam Tante Ulrike freundlich auf mich zu, zog mich liebevoll an ihr Herz und sagte: »Nun sei mir willkommen in meinem Hause, mein liebes Kind! Gott gebe, daß du dich wohl und glücklich hier fühlen mögest, und meine Liebe dir die Heimath ersetze!« Mit welcher Innigkeit schmiegte ich mich an die Brust dieser lieben, lieben Tante! O wie allein, wie schrecklich allein und verlassen hätte ich in dieser großen, fremden Stadt dagestanden ohne diese treue, mütterliche Freundin! Aber an ihrer Seite, unter ihrem Schutz konnte ich getrost all dem Neuen und Fremdartigen entgegen gehen, das mich hier erwartete.

Nun führte mich die Tante in ihrer ganzen Wohnung umher, die für eine einzelne Frau sehr groß und geräumig war. Ueberall herrschte die größte Sauberkeit, sowohl in den Zimmern, als in Küche und Wirthschaftsräumen, alles war reich und gut eingerichtet, überall erkannte man behagliche Fülle, aber nirgends blendende üppige Pracht oder modernen Luxus. Einfach und gediegen, das war der Eindruck, den alles umher auf mich machte, und ebenso war ja auch die ganze Erscheinung der Bewohnerin dieser Räume. Es lag etwas in dem Wesen der Tante, das mir immer wieder geheime Bewunderung erweckte, und doch war durchaus nichts Auffallendes in der Art und Weise dieser stillen, feinen Frau, im Gegentheil, alles erschien so einfach, so natürlich, man hätte meinen sollen, gerade so und nicht anders müsse man auch sprechen, gehen und sich bewegen. Aber das war ja eben das Ausgezeichnete an ihr, nirgends ein Mangel, nirgends etwas, das man anders gewünscht hätte. Damals wußte ich mir nicht Rechenschaft zu geben, worin das Harmonische eigentlich bestand, das sie umgab, jetzt aber weiß ich es, – es war eben die gute Erziehung!

Erst jetzt neben dieser ausgezeichneten Frau fühlte ich mehr und mehr, wie sehr mir armen Landmädchen die feinere Erziehung noch fehlen möchte. Zu Haus auf dem Dorfe, in einfachen Verhältnissen, und mitten unter den vielen kleinen wilden Geschwistern war mir nie dieser Gedanke gekommen. Aber meine liebe Mama, welche durch die vielen Kinder und große Kränklichkeit abgehalten wurde, sich mehr mit meiner Erziehung zu beschäftigen, und die ihre eigene Jugend nur auf dem Dorfe verlebt hatte, fern von den feineren Sitten und Gewohnheiten der Städte, sie wünschte sicher lange schon, daß ihr ältestes Töchterchen in anderen Verhältnissen lernen möchte, was das Vaterhaus ihr nicht bieten konnte. In den stillen, häuslichen Tugenden, mit denen meine geliebte Mutter das Glück ihres Hauses begründete, hatte sie mich mit Sorgfalt und Treue unterwiesen, und nie in meinem Leben kann ich ihr dafür genug danken. Ihre Lehren bildeten die Grundlage alles dessen, was das spätere Leben mir zuführte, und wodurch Herz und Verstand seine fernere Entwicklung erhielt. Daß ich diese weitere Ausbildung aber nirgends besser finden konnte, als an der Hand unsrer lieben Tante Ulrike, das wußte meine Mama recht wohl, da sie selbst die treffliche, feingebildete Schwägerin so aufrichtig verehrte. Wie gern überließen meine Eltern mich ihr deshalb für einige Zeit, als sie sich erbot, für meine weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Welchen treuen, liebevollen Händen ich anvertraut worden, das fühlte ich selbst gar bald.

In der ersten Zeit meines Aufenthaltes aber bei der Tante war ich unaussprechlich bedrückt und unglücklich, denn neben dieser fein gebildeten Frau fühlte ich jeden Augenblick, wie hölzern ich mich bewegte, und meine angeborene Schüchternheit vermehrte die Aengstlichkeit meines Benehmens. Wie ein steifer Perückenstock stand ich an Tantes Seite, und so oft sie mit mir sprach, wurde ich bis unter das Haar hinauf feuerroth und wagte nicht zu antworten, denn ich kam mir gar zu albern und kindisch vor. Die sanfte Freundlichkeit der Tante wirkte aber bald ungemein wohlthätig; meine Schüchternheit schmolz davon wie Schnee vor der Sonne, und ich gewann nach und nach meine kindliche Heiterkeit wieder, trotz aller Fehler und Verstöße, die ich immer von Neuem beging. Die Tante sagte mir schon am ersten Tage sehr liebevoll, sie werde mich gleich von vorn herein erbarmungslos auf alles aufmerksam machen, was sie anders wünsche, nur müsse ich dabei nicht ungeduldig werden, böse sei es nie gemeint. Natürlich versprach ich dies aus vollem Herzen, und hielt es tapfer und standhaft, so schwer es mir oft genug wurde.

Was mir nun von diesem meinem Aufenthalte im Hause der Tante noch im Gedächtniß geblieben, das erzähle ich euch, meine lieben Freundinnen, jetzt mit offenem Herzen, es sind gar liebe Erinnerungen für mich. Und da das Geschlecht der Backfischchen noch bis auf den heutigen Tag grünt und blüht, so ist unter ihnen gewiß eins oder das andre, das sich in seiner 15jährigen Haut ebenso unbehaglich fühlt, als es bei mir der Fall war, und ihnen mögen denn diese Zeilen zum Troste und zur Unterhaltung dienen.

2. Am Morgen

Inhaltsverzeichnis

»Du sollst mit in meinem Zimmer schlafen, Gretchen!« sagte Tante Ulrike, als sie mich in ihrer Wohnung umher führte, und dabei öffnete sie ein nettes, behagliches Stübchen. Mit ängstlicher Scheu blickte ich nach dem zierlichen Himmelbett, unter dessen schneeweißen Gardinen ich von jetzt an träumen sollte. Mein einfaches Bettchen zu Haus entbehrte jeglichen Schmuckes, und doch, wie himmlisch hatte ich darin geschlafen! Das Bett der Tante war auch von langen, weißen Vorhängen umgeben, deren Schnüre von dem Schnabel eines Adlers gehalten wurden. Das Thier sah mich so böse an, als ärgere ihn der neue Ankömmling, mir wurde ganz unheimlich zu Muthe. Zum Glück schien es mir bald, als blicke er von Tag zu Tage freundlicher auf mich armes Kind hernieder, er mochte wohl einsehen, daß ich den besten Willen mitbrachte, es jedem recht zu machen.

Neben meinem Bett stand ein niedliches Waschtischchen, ebenfalls von Gardinen umwallt, und alle möglichen Toilettengegenstände schmückten dasselbe. Ein weicher Teppich bedeckte den Fußboden, grüne Vorhänge harmonirten mit der grünen Tapete der Wände, und machten das Zimmer ungemein behaglich. Das Beste darin aber war der Platz meines Bettes unmittelbar neben dem Fenster, das nach dem Garten hinaus führte. Von hier aus fielen meine Blicke ja gleich beim Erwachen auf Himmel und Bäume, gerade wie es zu Hause gewesen in der großen Unterstube, in welcher wir Kinder schliefen.

Mit welch’ unbeschreiblich schwerem Herzen drückte ich am ersten Abend meinen Kopf in die weichen Kissen meines Himmelbettes! Ach es war die erste Nacht, die ich außer dem Vaterhause zubrachte, die erste Trennung von meinen Lieben in der Heimath! Thräne auf Thräne rollte auf die weißen Kissen, und unnennbares Heimweh bedrückte mein Herz. Endlich aber faltete ich still meine Hände und suchte Trost und Ruhe bei Dem, der ja auch hier über mir wachte, und dessen Hand mich auch hier gütig und väterlich leiten würde, wie sie es bisher gethan. Ein süßer Friede kam während des Gebetes in mein Herz, und ruhig schloß ich endlich die Augen, um im Traume wieder dorthin zu fliegen, wo mein Herz und meine Gedanken weilten, nach dem lieben, theuren Vaterhause!

Wie erstaunt war ich, als ich am andern Morgen erwachte, und halb noch im Geiste unter meinen lärmenden Geschwistern, mich nun hier in dem stillen, grünen Zimmerchen fand. Mit einem leisen Seufzer besann ich mich endlich auf alles und blickte nun spähend nach dem anderen Himmelbett hinüber, ob dessen Bewohnerin schon erwacht sei. Sie nickte mir einen freundlichen Morgengruß zu und fragte, wie ich geschlafen.

»Sehr gut, liebe Tante,« sagte ich fröhlich. »Ich habe die ganze Nacht von Schreibersdorf geträumt und von all meinen Geschwistern. Sie sind heut gewiß rechte Langschläfer, da ich sie nicht aus den Federn treibe.«

»Du scheinst mir auch noch nicht ausgeschlafen zu haben, Kleine!« sagte die Tante lächelnd, als ich jetzt den Mund zu einem lauten Gähnen öffnete, und ohne die Hand vorzuhalten, die Tante anblickte. »Hu, verschling mich nicht, Mädchen!« rief diese, sich die Augen zuhaltend, und beschämt steckte ich meinen Kopf wieder unter die Decke. Es war die erste Unmanier, mit der ich den Tag begann, und sie machte so tiefen Eindruck auf mich, daß ich mein Gähnen seitdem außerordentlich cultivirte.

Die Tante mahnte jetzt zum Aufstehen, und so fuhr ich denn schleunigst, wie ich all mein Lebtag gethan, mit beiden Beinen unter dem Deckbett hervor und kauerte mich im allerleichtesten Nachtkostüm auf den Fußboden, um mir dort die Strümpfe anzuziehen.

Ein herzliches Gelächter der Tante brachte wieder dunkle Gluth auf mein Gesicht. »O,« rief sie lustig, »wie alt ist denn das liebe kleine Hemdenmätzchen dort an der Erde, das fünf Fuß preußisch in der Länge mißt?«

Wie der Blitz flog ich bei diesen Worten der Tante hinter die Bettgardine, und jetzt lernte ich erst deren Tugenden schätzen, denn bis ich mein gar zu natürliches Nachtkostüm mit andern Kleidern vertauschte, schützte mich diese gar trefflich. Beschämt kam ich hinter derselben wieder zum Vorschein und eilte an das Bett der Tante, um derselben meinen Morgengruß zu bringen.

Den Gruß erwiderte sie freundlich, als ich ihr jedoch meine Lippen zum Kuß darbot, schob sie mich sanft zurück und sagte:

»Erst waschen und den Mund reinigen, ehe man damit küßt, liebes Gretchen!«

Das war schon Dummheit Nummer drei, die ich beging, und ich war kaum aus den Federn; zu welcher Summe würden Tante’s Ermahnungen wohl angewachsen sein, wenn ich am Abend mich wieder hinter den weißen Gardinen meines Himmelbettes niederlegte!

Kleinlaut schlich ich zum Waschtisch, meine Morgentoilette zu machen, die bisher zu Hause sehr wenig Zeit gekostet hatte. Ein wenig Wasser, eben genug, um die Hände naß zu machen, genügte mir vollkommen zum Waschen, und ohne mein weißes Nachtjäckchen abzulegen, fuhr ich mit dem nassen Handtuchzipfel ein paar Mal über das Gesicht und den Nacken, ebenso schnell ging es mit den Händen, und fertig war ich.

Die Tante war indessen aufgestanden und trat nun zu mir an den Waschtisch.

»Ist bei Euch auf dem Lande das Wasser so theuer, daß du so sparsam damit bist?« fragte sie, auf die paar Tröpfchen im Waschbecken deutend.

»Ich brauche nicht mehr, Tantchen!« sagte ich verwundert.

»Ich wünschte, daß du diesem Geschäft etwas mehr Sorge zuwendest, es ist gut sowohl für die Reinlichkeit als für die Gesundheit!« sprach die Tante freundlich, und begann nun selbst ihre Toilette, der ich erstaunt zusah.

Zuerst goß sie eine große Menge Wasser in das Waschbecken, entblößte dann Nacken und Arme von ihrer Umhüllung, und badete nun Kopf und Hals immer und immer wieder mit einem großen weichen Schwamme, den sie im Nacken ausdrückte. Dann rieb sie Arme und Hände mit schäumender Seife ab und rief munter: »Wasser und Seife kannst du mir nie zu viel verschwenden! Nach dem Verbrauche der Seife taxirt man die Cultur der Staaten, je mehr Seife derselbe consumirt, je weiter ist er im Fortschritt.« Dabei überreichte sie mir einen ebenso schönen, weichen Schwamm, als der ihrige war, und forderte mich auf, nun ihrem Beispiele zu folgen. Verlegen machte ich mich an das ungewohnte Werk und benahm mich dann auch dabei so geschickt, daß bald alles um mich herum schwamm. Zum Ueberfluß stieß ich auch noch den Wasserkrug um, und nun triefte alles rings umher, sowohl der zierliche Waschtisch, als auch der Fußboden und meine Bettgardine, ja sogar die Kleider auf meinem Stuhle.

»Himmel, wir ertrinken! Das nenne ich Wasser consumiren!« lachte die Tante, nach mir umschauend, und rettete die noch trockne Umgebung vor den strömenden Wogen. »Du bist ja riesenhaft cultivirt, meiner Theorie zu Folge!«

»Ach der dicke Schwamm ist dran Schuld, Tantchen!« rief ich fast weinend und blickte trostlos auf die Sündfluth um mich her.

»Alles will gelernt sein, Kind!« tröstete die Tante freundlich. »Mache jetzt, daß du wieder trocken wirst, sonst bezahlst du meine Lehren mit einem tüchtigen Schnupfen.«

»Wäre dies Anziehen doch nur erst überstanden!« seufzte ich im Herzen, während ich mir das Wasser zur Reinigung des Mundes zurecht machte. »Was wird dabei nun wieder falsch sein!« Aber das ging besser ab, als ich gefürchtet. Die Bürste war köstlich fein, das Pulver von angenehmen Geruch, und das half mir trefflich.

»Ich hoffe, du wiederholst dies Geschäft auch stets nach dem Mittagessen, Kind?« sagte die Tante, als ich fertig war.

»Nach dem Mittagessen, Tantchen? Nein, bis jetzt that ich das nie!«

»So thue es ja von heut an, es ist vortrefflich für die Conservirung der Zähne!«

»Ja wohl, liebe Tante!«

Ach wie oft habe ich in jener Zeit »Ja wohl, liebe Tante!« gesagt! Hätte ich für jedes Mal einen Thaler bekommen, ich wäre als Millionärin nach Haus zurück gekehrt!

»Ich habe es gern, wenn junge Mädchen sich gleich am Morgen das Haar flechten!« sagte die Tante, als ich mir eben meine braunen Zöpfe unter das Morgenmützchen stecken wollte.

»Ja wohl, liebe Tante!« entgegnete ich demüthig und riß mein Häubchen schnell wieder vom Kopfe und die Flechten herunter, daß die Nadeln umher flogen.

»Ich lese dir indeß aus der Zeitung vor, Gretchen, nimm dir Zeit, daß du ordentlich aussiehst, darauf halte ich etwas!« fuhr die Tante fort, indem sie sich in einen Lehnstuhl setzte und mir aus der Zeitung allerlei vorlas, wobei sie aber fortwährend über dieselbe hinaus und zu mir hin blickte, ob ich auch alles regelrecht mache. Da hieß es denn bald: »Löse die Haare aus dem Kamme, ehe du wieder damit kämmst! Lege das Haar nicht auf den Tisch, sondern auf Papier! Nicht so fest flechten, hübsch gleichmäßig! Reinige Kämme und Bürsten, ehe du sie fortlegst!« und was dergleichen kleine Mahnungen mehr waren.

Endlich war das Werk vollbracht, und ich griff nach dem Morgenrock, um mich, wie ich gewöhnt, bequem hinein zu hüllen.

»Nein Kind, ein junges Mädchen zieht sich gleich fertig an, nur keine Verwöhnung!« sagte die Tante mir zusehend, und erstaunt legte ich das verschmähte Kleidungsstück wieder auf die Seite. »Das ist vortrefflich, wenn du krank bist, aber nicht in gesunden Tagen, mein Töchterchen!« fügte sie freundlich hinzu. »Nur immer schmuck und à quatre épeingles! Ein saloppes Mädchen ist etwas Widerwärtiges, und der Schlafrock verleitet nur gar zu gern hierzu. Komm, ich will dir helfen, mein Kind!«

Dabei griff sie nach meinen Kleidern und befestigte mir freundlich alle Bänder und Haken und Knöpfe, die zu meinem Anzuge gehörten.

»Ei ei! da sehe ich allerlei Dinge, die mir nicht gefallen!« tönte es aber während ihrer Hülfsleistungen hinter mir, und dabei schwebte eines meiner Rockbänder, das ich gestern in der Eile zusammen geknotet, als es tückisch aus einander riß, verhängnißvoll in der Luft.

»Dergleichen darf nun und nimmer bei mir vorkommen, Gretchen!« sagte die Tante streng. »Und hier, die Haken deines Kleides sind sämmtlich so lose, daß sie sich von oben bis unten in ihrer ganzen Fülle an das Licht drängen! Das geht nicht, geschwind hole ein andres Kleid, und das Rockband nähe augenblicklich.«

Wie ein begossener Pudel schlich ich zum Kleiderschranke und that, wie mir geheißen.

»Hat deine gute Mutter denn dergleichen Unordnung gelitten?« sagte die Tante, während ich das Band annähte.

»Ach nein, Tantchen, niemals! Sie hält sehr auf Ordnung!« entgegnete ich leise und fast weinend. »Ich bin auch nicht immer so nachlässig, es ging gestern bei der Abreise nur so schnell, daß ich keine Zeit zum Ausbessern hatte.«

»Ich will dir einen guten Rath geben, damit dergleichen nicht öfter vorkommt, mein Kind!« sagte die Tante liebevoll. »Jeden Abend vor Schlafengehen sieh regelmäßig all deine Sachen nach, die du andern Tages anziehen willst, und bringe das Fehlende daran in Ordnung. So viel Zeit hat man da immer, und entbricht man sich dadurch etwas am Schlafe, so hat das nicht viel zu bedeuten. Wie man Herz und Seele vor dem Einschlafen prüfen, und wie man sich vornehmen soll, alles das besser zu machen, was an diesem Tage nicht recht war, ebenso muß man auch den äußeren Menschen in Ordnung halten, und am Schlusse des Tages nachhelfen, wo etwas fehlt. Solche kleine gute Angewöhnungen tragen gute Früchte, das sollte man immer bedenken. Vernachlässigte kleine Schäden wachsen schnell zu großen an, sowohl im Kleid als im Herzen, und dann macht jede Reparatur zehnfache Arbeit.«

Ich küßte der guten Tante still die Hand, mit der sie mir die Wange streichelte. Da bemerkte ich, wie sie plötzlich ein halb ernstes, halb komisches Gesicht machte und auf meine Hände blickend sagte: »Du hast ja Hoftrauer, Gretchen!«

»Hoftrauer, liebe Tante? Was meinst du damit? Ist jemand von der königlichen Familie gestorben?« fragte ich verwundert.

»Wie? den Ausdruck kennst du nicht?« lachte die Tante und hielt meine beiden Hände mir vor das Gesicht. »Das hier nennt man Hoftrauer, Kind, deine zehn schwarzen Fingernägel, denen keine Nagelbürste zu Hülfe gekommen ist! Geschwind, lege die Trauer ab, ich habe auf deinem Waschtische reichlich für die Mittel dazu gesorgt, geh und bürste deine Nägel!«

»Geh und bürste deine Nägel!« Ich ging und versuchte mein Heil, das erste Mal in meinem Leben, zu Haus hatte nie jemand meine Finger dieser Procedur unterworfen. Tantchen kam bald zu meiner Hülfe herbei, und das war gut, nun erfuhr ich doch, wozu die netten kleinen Bürsten und Haken da waren, die meinen Waschtisch schmückten. Es ist wahr, als zum ersten Male in meinem Leben so schöne weiße Nägel an meinen Fingerspitzen prangten, sahen die Hände noch einmal so hübsch aus.

»Gretchen, die Morgenschuh gehören auch in das Bereich der Dinge, welche junge Mädchen außerhalb des Schlafzimmers nicht an den Füßen dulden sollen!« wandte sich die Tante noch einmal zu mir, indem sie meinen Füßen verdächtige Blicke zuwarf. »Auch blitzt es noch gewaltig, mein Herz.«

»Es blitzt?« rief ich erstaunt und blickte nach dem Fenster. Die Tante lachte abermals herzlich über meine Einfalt und sagte: »Bist du denn eben vom Baume herunter gefallen, Mädchen, daß du die Redensart auch noch nicht kennst? Der Schlitz deines Kleides steht offen, das nennt man blitzen, du kleines Närrchen! Gewiß hast du ihn nicht zugesteckt!«

»Nein, das thue ich nie, Tantchen!« erwiderte ich verwundert.

»Ja das gehört aber auch zur Ordnung, Kind!« entgegnete die Tante, das Versäumte nachholend. »Es ist ein häßlicher Anblick, oft bei ganz eleganten Toiletten diese Nachlässigkeit zu bemerken.«

Während ich nun noch die verpönten Morgenschuh von meinen Füßen streifte, um sie mit straffen Schnürstiefeln zu vertauschen, verließ die Tante unsere Schlafstube, und bald folgte auch ich ihr nach dem Wohnzimmer, wo das Frühstück uns erwartete. Als ich dort eintrat, kam Tante Ulrike freundlich auf mich zu, nahm meinen Kopf zwischen beide Hände und drückte einen herzlichen Kuß auf meine Lippen.

»Siehst du, jetzt bekommst du gern, was ich dir vorhin versagte!« sprach sie heiter. »Es ist eine arge Zumuthung, von unsaubern und unappetitlichen Lippen geküßt zu werden, und das vergessen gar viele Menschen, nicht blos meine kleine, liebe Grete! – Aber nun komm zum Kaffee, mein Töchterchen!« fuhr die Tante fort, und brachte die zierliche gemalte Kaffeekanne herbei. »Heut ist er schon fertig, aber von jetzt an übergebe ich dir das Geschäft des Kaffeekochens, sowie Abends auch die Theebereitung. Ich mache all’ das gern in meinem Zimmer, das Summen des Theekessels ist gar zu behaglich.«

Geschäftig eilte ich, der Tante die Tasse mit Kaffee zu füllen und ihr denselben mit Sahne und Zucker zu versetzen.

»Erst Zucker, dann Sahne, das ist eine alte Regel, sonst giebt es eine unglückliche Liebe!« scherzte die Tante, indem sie mir zusah. »Und dann gieß die Tasse nicht so voll und schütte nichts über!«

»Ach verzeih!« rief ich erröthend und goß schnell aus der Untertasse wieder in die obere, was beim Hinreichen übergeflossen war. Aber nun kam ich aus dem Regen in die Traufe, wie man zu sagen pflegt, denn das war ja erst recht unschicklich.

Endlich setzte auch ich mich zum Frühstück nieder und machte mir ganz behaglich, wie zu Hause, eine recht schöne »Brockei«, wie wir Kinder es nannten, das heißt, ich stopfte eine Menge Weißbrod in die Tasse, daß es vom Kaffee dick aufgeschwemmt wurde und hoch oben hinaus stand.

»Du bist doch noch ein recht ordentliches Kind!« rief die Tante und sah mir lächelnd zu. »Nun laß es dir gut schmecken! Wenn wir unter uns sind, will ich dir dein Vergnügen nicht stören, aber in Gesellschaft von Andern mußt du solchen Kaffeepudding schon dran geben.«

»Wie schade! das schmeckt so gut, Tantchen!« sagte ich kindisch, und blickte mein süßes Gericht zärtlich an. Die zweite Tasse jedoch versuchte ich, nach Tante Ulrike’s Angabe, ganz manierlich hinunter zu schlürfen; da er aber sehr heiß war, goß ich ihn in die Untertasse, damit er schneller abkühlte, und führte dieselbe dann pustend an die Lippen.

»Das schickt sich ja aber wieder nicht, Kind!« lachte die Tante, und erschrocken setzte ich schnell die Tasse nieder.

»Wir Kinder haben zu Haus immer aus der Untertasse getrunken!« sagte ich erröthend.

»Das glaube ich gern, Kindern ist eben alles erlaubt!« entgegnete die Tante. »Aber du bist ja doch bei mir um das zu lernen, was sich für erwachsene Leute schickt, und die Kinderschuh abzustreifen, und drum quäle ich dich so ohne Erbarmen, du armer kleiner Backfisch! Nun wollen wir es aber für heut gut sein lassen, mache jetzt, was du Lust hast, sonst vergißt du am Ende eins mit dem andern. Heut habe ich dich mit den Pflichten und Regeln des Morgens gepeinigt, das war Lection Nummer I. Ich denke, wenn wir alle Tage solch Kapitelchen durchnehmen, so werden wir ja wohl in Jahr und Tag so ziemlich mit dem fertig sein, was ein Backfischchen zu lernen hat.«

In dieser freundlich heitern Weise verstand es Tante Ulrike, mich ungehobeltes Dorfmädel nach und nach etwas abzuschleifen, was gewiß keine leichte Aufgabe war. Die Milde und Geduld, mit welcher sie mich auf alles aufmerksam machte, ließ in mir jede Aufwallung von Aerger oder Unwillen zur Unmöglichkeit werden. Wenn ich auch noch so viel Falsches und Thörichtes that, noch so viel Verweise erhielt, immer war ich nur von Dank erfüllt gegen die, welche meine Erziehung mit so viel Selbstverleugnung und Liebe übernommen hatte, und das größte Bestreben, diese Bemühungen mit Eifer und Aufmerksamkeit zu vergelten, beseelte mich an jedem Morgen von Neuem.

Aber freilich, was hatte ich alles zu merken, was alles anders zu machen, als ich es bisher gethan hatte! Wie eine Fluth brauste es über mich daher, denn nur allein der Morgen, wie reich war der an vielfachen Rügen und Mahnungen gewesen! Welch’ langen Herzenserguß sandte ich da gleich am ersten Tage nach meinem lieben Vaterhause! – Ach dort war stets alles recht und gut, was ich that, dort war ich noch ein Kind, für das sich alles schickte, und wie glücklich und seelensfroh war ich dabei gewesen! Aber jetzt! Jetzt war ich kein Kind mehr, jetzt sollte ich ein erwachsenes Mädchen vorstellen, mit neuen Pflichten und neuen Anforderungen! Da kamen mir immer und immer wieder die Schlußworte jenes schönen Liedes in den Sinn, die auch ich aus tiefstem Herzen seufzte: »O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!«

3. Visiten

Inhaltsverzeichnis

So deutlich, wie mir dieser erste Morgen im Hause meiner lieben »Tante Anstand«, wie ich sie scherzend nannte, im Sinne geblieben, ist es freilich mit alle den darauf folgenden Tagen und Stunden nicht der Fall. Doch stehen mir besonders aus der ersten Zeit meines Aufenthaltes noch viele einzelne Scenen so deutlich in der Erinnerung, als hätten sie sich eben erst zugetragen, und von diesen will ich denn weiter erzählen.

»Hole dir Hut und Tuch, Gretchen, wir wollen einige Visiten machen!« sagte die Tante eines Tages, und ich eilte, ihrer Weisung zu folgen, um schnell fertig zu werden, denn sie liebte es gar nicht, auf mich zu warten. Nun war ich aber an solch’ feierliches Ausgehen gar nicht gewöhnt, denn zu Haus stülpte ich schnell meinen Hut über und sprang sonst, wie ich war, hinaus in Garten und Flur; Shawl, Handschuh, Schirme, Aufschürzer und was dergleichen nöthige Gegenstände mehr waren, die zu einer Stadtpromenade gehörten, kannte ich wenig. So kam es denn regelmäßig, daß ich jetzt irgend etwas von diesen Dingen vergaß, was ich erst bemerkte, sobald wir unterwegs waren, und natürlich wurde die Tante hierüber oft recht verdrießlich.

Heute nun hatte es geregnet, und so schürzte ich mit zwei niedlichen Klammern, welche die Tante mir zu diesem Behufe geschenkt, mein Kleid sehr sorgfältig auf, denn oft hatte die Tante mich aufmerksam gemacht, wie häßlich es aussah, wenn nett gekleidete Damen entweder die guten Kleider im Schmutze nachschleppten, oder sich dieselben so ungeschickt aufnahmen, daß man alle Etagen ihrer Unterkleider verfolgen konnte, wobei sich oft nicht eben das Sauberste den Augen darbot. »Oben hui, unten pfui!« wie Tantchen sagte. Mit Shawl und Regenschirm wohl ausgerüstet folgte ich eilig meiner Führerin, welche wie gewöhnlich früher als ich fertig war. Auf der Treppe aber bemerkte ich erst, daß ich meine Handschuh vergessen, und erschrocken sprang ich zurück, dies mir recht unangenehme Kleidungsstück zu suchen. Glücklich holte ich die Tante auch bald ein, bemerkte aber in der Eile nicht, wie naß die Straße war, und daß ich dünne Zeugstiefeln an den Füßen hatte, bis die Tante plötzlich stehen blieb und auf mein Fußwerk zeigte.

»Ohne Ueberschuh in solchem Wetter, Mädchen?« rief sie unwillig. »Das geht nicht! Erstens bekommst du nasse Füße, und zweitens verdirbst du deine guten Zeugstiefeln. Kehre schnell um, hole dir Gummischuh und komm mir dann nach, du kannst mich bei Geh. Rath Delius treffen, wohin ich zuerst gehen werde.«

Auf Windesflügeln lief ich nach unsrer Wohnung zurück und holte die vergessenen Schuh aus ihrem Kasten. Aber wie ärgerlich! Sie waren von dem Schmutz des letzten Regenwetters noch völlig überdeckt, und ich mußte nun warten, bis Dore sie mir gereinigt hatte.

»Warum dachte ich auch daran nicht und setzte die dummen Dinger schmutzig in den Kasten!« brummte ich ärgerlich und trippelte vor Ungeduld mit den Füßen. »Mach doch nur rasch, Dore,« schalt ich dann heftig, »ich kann ja sonst Tantchen nicht mehr einholen, und muß dann allein bei Geh. Rath Delius in das Zimmer treten!« Mir wurde ganz heiß vor Angst bei diesem Gedanken, und so schnell ich konnte, rannte ich der Tante nach, so daß ich in tausend Pfützen patschte, alle Menschen umriß, die mir begegneten, oder denselben meinen aufgespannten Regenschirm vor den Magen stieß.

»Gott bewahre, die hat’s eilig! Das fahrige, junge Ding!« hörte ich hinter mir drein rufen, aber unaufhaltsam stürzte ich vorwärts, um die Tante noch einzuholen, ehe sie an dem betreffenden Hause angelangt war. Doch vergebens, ich hatte mich zu sehr verspätet und mußte nun allein in das Zimmer treten.

Mit hoch klopfendem Herzen folgte ich dem anmeldenden Diener, und trat dann schüchtern der Dame des Hauses entgegen, welche mich freundlich bewillkommnete. Tante Ulrike saß schon neben ihr auf dem Sopha, stand jedoch bei meiner Ankunft ebenfalls auf, um mich der Geheimräthin vorzustellen. Da kam ein schrecklicher Moment: ich mußte meine Verbeugung machen! Ach das war ein großer Stein des Anstoßes, und täppisch genug mochte ich mich bewegt haben, ich fühlte es ordentlich an meinen zitternden Knieen und der brennenden Gluth, die mein Gesicht bedeckte.

»Kommen Sie näher, liebes Gretchen!« sagte die Geheimräthin herzlich und bot mir einen weichen Lehnstuhl zum Niedersitzen an.

»Erlauben Sie, liebe Freundin, daß Gretchen zuvor Ueberschuhe und Regenschirm in den Corridor trägt!« sagte die Tante jetzt, als ich mich eben ängstlich auf den Lehnstuhl setzen wollte.

Erschrocken fuhr ich schnell wieder von meinem Sitz empor und blickte an mir hernieder. Da sah ich denn, in welch’ erbaulicher Verfassung ich in meiner Hast und Verlegenheit in dies elegante Zimmer eingetreten war! Nicht bloß, daß ich vergessen, mein aufgeschürztes Kleid herunter zu lassen, damit es die Röcke bedeckte, welche bei dem schnellen Sturmlauf arg besprützt worden, sondern ich hatte auch meine kothigen Ueberschuh an den Füßen behalten, welche herrliche Spuren auf dem glatten Parquetfußboden, sowie auf dem köstlichen Teppich zurück ließen. Ebenso umklammerte meine Hand noch mit krampfhafter Gewalt den Regenschirm, an dessen Spitze die Gewässer des heutigen Regenhimmels in sanften Strömen herab träufelten und sich zu einem kleinen See auf dem Fußboden vereinigten.

Eine scheue Entschuldigung stammelnd stürzte ich zum Zimmer hinaus und entledigte mich in der Vorstube dieser argen Missethäter. Dabei blickte ich in den Spiegel und sah nun, wie wenig meine Erscheinung für eine feine Morgenvisite geeignet war. Das Haar hing vom Winde gezaust nach allen Himmelsrichtungen um meine Stirn, der Hut saß schief und hatte eine arge Quetschung beim Kampf mit andrer Leute Regenschirmen erhalten, die Schleifen meines Knüpftuches hingen im Nacken, und der Kragen war eben im Begriff, auf und davon zu gehen.

»Daß auch Tantchen gerade bei solch’ gräßlichem Wetter Visiten macht!« dachte ich ärgerlich und brachte meine Toilette wieder einigermaßen in Ordnung. Während ich aber hastig noch damit beschäftigt war, fiel mein Blick auf meine Handschuh, und neuer Schrecken durchfuhr mein armes Herz! Ach in der Eile und Hitze hatte ich ein Paar alte ergriffen, und erst jetzt mußte ich das bemerken! Was würde die Tante sagen, wenn sie das sah, denn sehen würde sie es, ihrem Auge entging ja nichts! Und was sollte die vornehme Geheimräthin von mir denken, vor der ich mich schon so schrecklich blamirt hatte! Anbehalten mußte ich die abscheulichen Dinger, denn ohne Handschuh, wie ich auf dem Lande ging, das wäre ja ganz unschicklich! So trat ich denn ängstlich und zaghaft wieder in das Visitenzimmer herein, meine Hände sorgfältig unter den Enden meines Shawles versteckend, was mir aber ein noch steiferes, ungelenkeres Benehmen gab.

Die liebe Dame des Hauses war taktvoll genug, meinen Wiedereintritt wenig zu beachten und sprach eifrig mit der Tante, und so setzte ich mich still auf einen einfachen Rohrstuhl, denn ohne Aufforderung wagte ich den schwellenden Polstersessel nicht wieder einzunehmen.

Da saß ich denn schweigend eine lange Zeit und hatte Muße genug mich zu sammeln. Ich zog und zerrte heimlich an den Fingerspitzen meiner unglückseligen Handschuh, von denen an einer Hand zwei, an der andern gar drei Finger aufgeplatzt waren, so daß die Fingerspitzen wie Rosenknospen aus der Blätterhülle hervorleuchteten. Es half aber nichts, davon wurden sie nicht wieder ganz.

Endlich hatte ich Verlangen, mein Taschentuch zu gebrauchen und griff darnach, aber siehe da, mein Tuch fehlte, ich mußte es in der Eile verloren oder im Vorzimmer liegen gelassen haben. Das war doch gar zu unangenehm! Wie sehnlich wünschte ich, Tantchen möchte aufbrechen, aber diese schien nicht daran zu denken und sprach lebhaft immer weiter. Da endlich stand die Geheimräthin auf, um dem Diener zu klingeln, und diesen Moment benutzte ich schnell. Mit einem flehenden Blicke neigte ich mich zu Tante Ulrike hinüber und zog das feine Taschentuch aus ihrer Hand, was sie zwar ruhig duldete, aber ein mißbilligendes Schütteln ihres Kopfes sagte mir gar wohl, was sie von ihrer ausgezeichneten Nichte dachte.

»Friedrich, sagen Sie meiner Tochter, daß Besuch bei mir ist!« rief die Geheimräthin dem eintretenden Diener entgegen! Bald öffnete sich denn auch die Thür des Nebenzimmers, und eine hohe, schlanke Dame in höchst eleganter Toilette schwebte zu uns herein. Mit ein Paar ruhigen, schmachtenden Augen blickte sie um sich, und begrüßte dann die Tante mit einer leichten Verneigung. Mich schien sie gar nicht zu sehen, obwohl ich in meiner ganzen Länge neben ihr stand, bis endlich ihre Mutter mich vorstellte. Das miserable Compliment, das ich der Dame des Hauses bei meinem Eintritt gemacht hatte, wollte ich jetzt durch ein besseres wieder gut machen, und so verneigte ich mich vor Fräulein Amanda denn höchst schulgerecht fast bis zur Erde, und ich war wirklich ganz zufrieden mit mir. Das Fräulein aber nickte kaum bemerkbar mit dem Kopfe und ließ sich dann langsam in den von mir leer gelassenen Lehnstuhl niedergleiten, in welchem sie sich nachlässig zurücklehnte. Das schien ihr aber noch nicht bequem genug zu sein, denn sie zog sich einen kleinen Fußschemel herbei, auf den sie ihre Füße stützte, und während sie den Kopf leicht auf die eine Hand lehnte, und mit der andern einen zierlichen Fächer auf und zu rollte, sah sie mich mit halb geschlossenen Augen lange schweigend an.

Mir trat bei dieser Prüfung der Angstschweiß auf die Stirn, ich rutschte unruhig auf meinem Sitz hin und her und blieb endlich auf der äußersten Stuhlecke hängen, dunkelroth bis zum Wirbel.

»Sie sind wohl vom Lande?« sagte die junge Dame endlich mit gezierter Stimme.

Neue Gluth färbte mein Gesicht bei dieser einfachen Frage. Bis jetzt war ich noch immer stolz auf meine Heimath gewesen, und mein Auge leuchtete, wenn ich jemand davon erzählen konnte, jetzt aber war mir, als müßte ich mich schämen, daß ich »nur vom Lande« war, denn ich fühlte recht wohl die Geringschätzung, welche für mich in dieser Frage Amanda’s lag.

Die Tante, welche zwar während dieser Zeit mit der Geheimräthin gesprochen hatte, erlöste mich von meiner peinlichen Situation, indem sie an meiner Stelle antwortete. Nach einiger Zeit, in welcher ich wieder stumm dagesessen hatte, denn wie hätte ich gewagt, dieses Fräulein meinerseits anzureden, wandte sie sich abermals zu mir.

»Wie alt sind Sie denn, Liebe?« fragte sie herablassend, ungefähr so, wie eine Prinzessin ein armes Mädchen fragen würde, das eine Gnade von ihr erflehen möchte. Auch mein Alter hatte ich bis jetzt Jedermann offen und freudig genannt, Amanda Delius gegenüber aber war ich wie ausgetauscht.

»Eben 16 Jahre geworden!« lispelte ich, abermals vor Schaam erglühend, daß es nicht mehr Jahre waren.

»Also noch ein Backfischchen!« schmachtete Amanda gelangweilt, und wehte sich mit ihrem Fächer langsam frische Luft zu.