Backstein - Femke Vindevogel - E-Book
NEUHEIT

Backstein E-Book

Femke Vindevogel

0,0

Beschreibung

Eine unerwartete Erbschaft, zwei Säcke randvoll mit Steinen, katapultiert Iggy zurück in eine Kindheit voll Alkoholmissbrauch, körperlicher Gewalt und bizarrer DDR-Obsession. Es sind die Steine eines abgeschlagenen Wandgemäldes. Als Iggy in ihrer Genter Dachgeschosswohnung das sechs mal drei Meter große Bild zusammenfügt, stellt sich heraus, dass einige Steine fehlen. Iggy, die ihr eigenes Leben nur mit Mühe zusammenhält, tritt die Flucht nach vorn an. Gemeinsam mit ihrer Ex, der Künstlerin Luka, macht sie sich auf die Suche nach den fehlenden Puzzleteilen und der Wahrheit. Die Suche führt sie nach Berlin, wo Iggy der größten Lüge ihres verstorbenen Vaters auf die Spur kommt, eine Reise, die ihr Leben verändert. Immer an ihrer Seite, die wahre Heldin und treue Seele: Mopsdame Kuro. Backstein ist ein aufwühlendes Buch über das Aufwachsen in einer Familie, in der nichts sicher ist, außer, dass es niemanden etwas angeht. Ein beißender, feinfühlig geschriebener Entwicklungsroman mit Blick für die Möglichkeiten menschlicher Resilienz.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 253

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Frida, mein Ikigai

Inhalt

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 2

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Teil 3

Kapitel 36

Kapitel 37

Dank

Vita

Impressum

Mein Apartment brummt mit der vorbeifahrenden Tram im Viertelstundentakt. Ich wohne am Ring von Gent, im Dachgeschoss eines herrschaftlichen Hauses. Schwaden von Auspuffgasen hängen zwischen den hohen Hauswänden, vom ununterbrochenen Verkehrsstrom, der sich tagsüber wie eine Ziehharmonika von einer Ampel zur nächsten bewegt. Der viele Verkehr hat einen Sprung in der Fensterscheibe verursacht. Ich habe ihn mit kleinen Stücken Washi-Tape beklebt, um Zugluft und Abgase draußen zu halten. Würde ich die Stückchen abpulen und wieder aneinanderkleben, stünde dort in goldenen Buchstaben: Add a little confetti to each day. In meinem Fall ist dieses Konfetti in erster Linie meine Mopsdame Kuro. Sie kann sich zu allerlei Yogahaltungen verbiegen, ein Talent, das ihr zu meiner Verwunderung achtzigtausend Follower auf Instagram beschert hat.

Ich drücke mein Gesicht ans Fenster. Mein Spiegelbild schwebt über dem Verkehr. Schnee wirbelt durch meinen Kopf. Langsam löffle ich einen Becher Soja-Schokoladenpudding von Alpro in mich hinein. Eigentlich müsste ich in meine Schuhe springen und nach unten rennen, mit den Armen dem Tramfahrer winken, zumindest einen Versuch unternehmen, mal pünktlich zu sein, doch der Schnee fliegt horizontal vorbei, unterstreicht förmlich, dass dies kein Wetter ist, um arbeiten zu gehen. Die Tram um Viertel vor neun, die ich eigentlich nehmen wollte, stoppt an der Haltestelle. Pendler, die vor einer halben Minute noch wie Kühe bei einem Regenschauer den Rücken zum Wind drehten, drängeln sich an den Türen zusammen. Eine Straßenlaterne streut ihnen fortwährend gelbes Konfetti auf die Schultern, will sie glauben lassen, der öffentliche Personennahverkehr sei ein Fest.

»Komm«, sage ich zu Kuro. »Erst mal gassigehen. Ich nehme die nächste Tram.«

Kuro wirft einen halben Blick auf die Schneeflocken, die an die Scheibe tippen, streckt ihre Vorderpfoten und schläft weiter. Sie lässt sich nicht so leicht hetzen und verabscheut Kälte, genau wie ich. Wir sind die Gegenpole zu Luka: meiner besten Freundin, meiner Ex, meinem Status Es-ist-kompliziert. Ihr ist es immer zwei oder drei Grade wärmer als mir. Unsere Freundschaft besteht zu einem großen Teil aus dem heimlichen Hoch- und Runterdrehen des Thermostats. An den lammfrommen Tagen nennen wir uns gegenseitig Kleumpje und Puffie, nach den Kindern aus dem gleichnamigen Bilderbuch, dem Jungen ist immer zu kalt, dem Mädchen immer zu warm.

Unten an der Haltestelle klappen die Türen der Tram auf. Ein Passagier zwängt sich an den Hereindrängenden vorbei nach draußen. Er richtet seinen Kragen, zieht seine Mütze tiefer ins Gesicht und schlittert im Laufschritt Richtung Innenstadt. Die Tram fährt ab, verschwindet kreischend hinter der Kurve. Das Geräusch erinnert mich an das Milchaufschäumen von Espressomaschinen, an die Tasse Kaffee, für die ich nun keine Zeit mehr habe. Hektisch suche ich nach meinen Schlüsseln, schlüpfe in Jacke und Schuhe, schnappe Kuro und eile die Treppe hinab. Gerade als ich meine Chefin über meine Verspätung informieren will, entdecke ich die Nachricht, die sie mir vor einer halben Stunde geschickt hat: Bleib heute mal zu Hause. Heizung ist kaputt. Museum ist zu.

Ich lasse meine Schultern sinken. »Na komm. Wir beeilen uns trotzdem«, sage ich zu Kuro, während ich die Tür öffne. »Es ist zu kalt zum Rumtrödeln.« Der Rest des Textes bleibt mir im Hals stecken. Der Blick auf die Straße ist blockiert. Zwischen mir und dem Tag stehen zwei brusthohe Säcke voller Bauschutt im Hauseingang. Ich sehe mich um, suche die Straße nach einem Bauunternehmen, Spaßvögeln oder einer versteckten Kamera ab, doch niemand springt irgendwo hervor und ruft: »Überraschung!« Ich weiche einen Schritt zurück, nun auf der Hut. Dann bemerke ich den Zettel mit meinem Namen darauf, der an einen der Säcke getackert ist. Eine Ahnung treibt mich zurück, in Sicherheit, auf die erste Treppenstufe. In fettgedruckten Buchstaben steht über meinen Gedanken: Frau findet Paketbombe vor dem Haus.

Das Problem ist, ich bin ziemlich misstrauisch.

Ich bin Iggy, eine dreißigjährige Frau, die als Aufsicht im Städtischen Museum für Gegenwartskunst arbeitet. Ich bin keine Heldin. Es wäre vielleicht besser, wenn ich rückwärts die Treppe hochginge und so tun würde, als sei nichts geschehen: eine Taktik, die ich auch bei der Arbeit anwende, wenn jemand einem Kunstwerk zu nahekommt.

Kuro trippelt einfach auf die Gefahr zu, hebt ihre Hinterpfote und pinkelt gegen den linken der beiden Säcke. Fluchend steige ich über die Schwelle, in diesen Morgen. Ich reiße den Zettel ab, stopfe ihn in meine Jackentasche und werfe vorsichtig einen Blick in den Bausack: gewöhnliche Backsteine, bestreut mit einer dünnen Schneeschicht, wie unschuldige frischgebackene Brote, mehlbestäubt. Ich muss mich auf die Zehen stellen, um richtig über den Rand gucken zu können.

»Das ist mal was anderes als ein Strauß Blumen«, sagt ein Mann im Vorbeigehen. Erst als die nächste Tram die Straße, den Hauseingang und mein Oberstübchen durchrüttelt, komme ich wieder zu mir und sehe die Gefahr. Im linken Sack liegt, ziemlich weit unten, ein Stein, auf den ein Teil eines Gesichtes gemalt ist, ein Auge, um genau zu sein. Das Auge und ich erkennen einander. Wir verhalten uns wie Magnete, die mit der falschen Seite aneinandergehalten werden, energisch stoßen wir uns voneinander ab. Ich nehme Kuro hoch. Rückwärts, bebend, scheuche ich mich selbst in den Hausflur, die Treppe hoch, in die Sicherheit meiner vier Wände. Dort sinke ich nach Luft ringend auf den Boden, mit dem Herzschlag eines Maschinengewehrs. Ich versuche so zu tun, als ob nichts wäre, zwinge mich aufzustehen und den Geschirrspüler einzuräumen. Doch es lässt sich einfach nicht mehr nicht denken: Manchmal findet man den eigenen Vater in einem Sack Bauschutt. Manchmal steht auf einem schmuddeligen Zettel: Iggy, dies ist das Kunstwerk, das dein Vater damals auf die Wand von unserem Speisesaal gemalt hat. Trees vom Psychiatrischen Zentrum Sint-Jan de Deo.

Die 11-Uhr-Tram rattert durch die Straße und liefert mir eine Ausrede für mein Schaudern. Mein Fenster vibriert. Winter rutscht die Scheibe herunter. Ich fühle mich unwohl. Der Zettel, der an einem der Säcke voller Steine hing, liegt jetzt in meinen Abfalleimer, begraben unter Zucchinischalen und Tomatenmark. Trotz meines Versuchs, ihn loszuwerden, hat er sich einen Weg in meine Erinnerung gebahnt, zu jenem Gang dort irgendwo, von dem ich dachte, ich hätte ihn sorgfältig verschlossen. Schon den ganzen Morgen sehe ich das Psychiatrische Zentrum Sint-Jan de Deo vor mir, sein blaues Eingangstor, das die Süchtigen und Verrückten gefangen hält.

Papa ist auf einer Reise nach Berlin, sagten meine kleine Schwester Pinkie und ich früher, wenn er mal wieder weggeschlossen worden war. Das war nicht mal gelogen. Er selbst bezeichnete Sint-Jan de Deo als DDR. Die hohen Mauern, die den Gebäudekomplex von der Außenwelt trennten, sahen der Berliner Mauer täuschend ähnlich, wie er aus eigener Anschauung wusste: Er besuchte Ostberlin mehrere Male pro Jahr. Jeans sind dort drüben wertvoller als Gold, sagte er, was stimmte. Mit dem Gewinn, den er durch den Verkauf der Hosen in der DDR erzielte, konnten wir uns dann einen großen Einkauf im Unic von Scheldewindeke leisten, dem schicksten Supermarkt weit und breit.

Das letzte Mal, das ich ihn in Sint-Jan de Deo besuchte, gaben sie meinem Vater ein Tagesticket und Taschengeld, so dass er mit mir (der verlorenen Tochter, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte) losziehen konnte. Von meinem Besuch war er geradezu entzückt, und insbesondere verwundert über die Tatsache, wie groß ich geworden war. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, in die erstbeste Kneipe einzulaufen und ein Pint zu bestellen. Voller Stolz verriet er mir seine Tricks, mit denen er Alkohol in die Entzugsabteilung schmuggelte, offensichtlich war ihm entfallen, dass ich nur deswegen gekommen war, weil er am Telefon überzeugend behauptet hatte, schon Monate trocken zu sein. Als ich Pinkie davon erzählte, sagte sie, ich hätte es doch wissen müssen, sie habe mich schon tausend Mal vor dem hohen Gehalt an Geschwätz gewarnt, das aus dem Mund eines Trunkenbolds strömt.

Im Laufe dieses famosen Tagesausfluges rutschte ihm auf der Rolltreppe des Einkaufszentrums Gent Zuid zwischen zwei Etagen versehentlich heraus, er habe ein kleines Geschwür.

Gefühl für Timing war nie seine Stärke gewesen, etwas kleinreden schon. Als er sich am Ende des Nachmittages wieder zu seiner Einrichtung aufmachte, drehte er sich noch einmal um. Er war kreideweiß. Ich erinnere mich, wie ich damals am liebsten bei HEMA eine Zahnbürste und Wasserfarbe gekauft hätte, um ihm Sommersprossen ins Gesicht spritzen zu können, so wie ich es als Kind mit den Figuren gemacht hatte, die meine Zeichnungen bevölkerten. Vater winkte, das Grinsen eines kleinen Jungen im Gesicht, der fröhlicher tut als er ist, und ich fühlte mich älter als ich war. Diese Bilder würde ich später immer wieder in meinem Kopf abspielen, voller Zweifel darüber, ob es wirklich so gewesen war – das kleine Geschwür entpuppte sich als ein schwerer Fall von Zungen- und Speiseröhrenkrebs. Ich habe es nicht über mich gebracht, Vater mit den statistischen Zahlen zu konfrontieren, mit der Korrelation vom Hang zum Alkohol und dieser Art von Krebs. Konnte ihm nicht vorwerfen, dass es seine eigene Schuld war, und wie schlimm ich das fand.

Mutter kann ich nicht anrufen. Was sie betrifft, ist Vater Geschichte. Jede Erinnerung an ihn führt zu einer Aneinanderreihung von Schlaftabletten und Klageliedern. Zu Pinkie kann ich damit auch nicht, sie wohnt auf einer Insel und hat kein Telefon, lebt wie anno dazumal. Wir kommunizieren in erster Linie über Weihnachtskarten und Schachpartien per Brief, haben einander schon seit zehn Jahren nicht mehr gesprochen.

Ich rufe Luka an. Da sie beim Malen nicht ans Telefon geht, rufe ich achtmal hintereinander an. Als sie schließlich abnimmt und hört, was vor meiner Haustür steht, legt sie auf und kommt sofort zu mir.

Zusammenhanglose Erinnerungen, in denen mein Vater die Hauptrolle spielt, spulen sich in der Zwischenzeit auf der Innenseite meiner Augenlider ab.

Damals am Küchentisch, als er mein Gesicht in einen Teller heißen Kartoffelbrei drückte.

Damals, als er so hart mit den Fäusten auf den Tisch schlug, dass das Geschirr synchron hochsprang.

Damals, als er von der Nachtschicht beim Sortierzentrum der Post nach Hause kam und in seinem benebelten Zustand das Fischglas meiner Schwester für einen Stuhl hielt und alle ihre Goldfische einen zappelnden Tod fanden.

Damals, als er mich zur Strafe gegen den Kachelofen drückte. Die Haut meines Knies blieb zischend am Sichtfenster kleben und hatte was von der schrumpeligen Haut, die manchmal auf warmer Milch schwimmt.

Damals hinterm Haus. Pinkie und ich blickten unverwandt und voller Angst auf die Lamellen des Dunstabzugs, die klappernd die Essensgerüche und Fetzen eines Streits nach draußen beförderten. Wir liefen, wie Pferde an einer Longierleine, die immer gleiche Runde um den kleinen Baum mit der schirmartigen Krone, in der Hoffnung, es würde uns beruhigen. Das taten wir so oft, dass unsere Füße mittlerweile einen kahlen Pfad des Unwohlseins in das Gras getreten hatten. Ein langgezogener Schrei in der Küche ließ die Tauben auffliegen. Das Bäumchen zitterte und verlor prompt einige Blätter. Pinkie, zwei Jahre jünger als ich, fing an zu heulen.

»Nichts passiert«, sagte ich, in exakt dem gleichen Ton, den meine Mutter für gewöhnlich anschlug, wenn sie uns beruhigen wollte. »Die sind nicht sauer aufeinander. Vater macht nur seine Gesangsübungen, das ist alles.«

Der Krach in der Küche schwoll an. Ich zitterte. Ich versuchte, Vaters Worte gegen den Wind aufzufangen. »Das mache ich mit den verdammten Ravioli!«, schrie er. Unter großem Getöse knallte der Kochtopf gegen die Wand. Mein Abendessen blutete an der Tapete herunter. Ich kniff meine Augen fest zu, wusste jedoch auch ohne es zu sehen, wie sich meine Mutter am Boden zu einem Schlagzeug zusammenkrümmte, wie Vater seinen Schlag auf ihr übte, hart und rhythmisch. Ich hielt meine Hände über die Ohren meiner kleinen Schwester, drückte ihr rotblondes Köpfchen gegen meinen Bauch, hielt den Lärm draußen, legte unseren Gedanken das Schweigen auf. Die Stille in meinem Kopf war keine normale Stille. Nicht die Stille einer schallisolierten Kabine beim Ohrenarzt vor dem ersten Piepton eines Hörtestes. Nicht die gedämpfte Stille eines Nadelwaldes, vom Moos verschluckt. Es war die Sorte Stille, die nach einer Weile anfängt zu schreien. Stille, die einer Heilung bedarf.

Immer tiefer rutschte ich in mir selbst ab, schnappte nach Buchstaben, fieberhaft auf der Suche nach unerreichbaren Sätzen, eines Mundes entledigt, auch jeder Tatkraft, klebte ich an meinem Pfad des Unwohlseins und zitterte wie die Flanke eines Pferdes, in das sich eine Bremse verbiss. Hätte ich mich nach drinnen getraut, wäre ich zu der großen Dose Haarlack meiner Mutter gelaufen und hätte mich damit eingesprüht, bis sie leer gewesen wäre, nur um mich zusammenzuhalten. Stattdessen presste ich meine Lippen zu einem Gedankenstrich zusammen. Was sich bei uns zu Hause abspielte und wie ich mich dabei fühlte, durfte niemand erfahren. Damals war über Gefühle zu sprechen so etwas wie das Einräumen eines Geschirrspülers: So sehr du auch kramst und puzzelst, so sehr du auch nach einem logischen System suchst, es gibt immer wen, der es besser kann als du.

Ich drücke Kuro an mich, nehme zwei Baldriantabletten, mache den Abwasch und gebe meinen Zimmerpflanzen ein High Five: eine Routine, die mich normalerweise runterbringt, heute jedoch nicht. Ich zähle meine Atemzüge. Ich atme vier Sekunden ein und sieben Sekunden aus. Das wiederhole ich fünf Mal. Es hilft nicht. Ich nehme zwei weitere Baldriantabletten. Vergeblich. Meine Gedanken lassen sich nicht zähmen. Sie gleiten immer wieder zu den Säcken voller Steine, zu Ihm-der-nichtgenannt-werden-darf: dem dreiköpfigen Hund, Vater. Während ich auf meinen Bücherschrank blicke, sehe ich seinen Bücherschrank vor mir, zubetoniert mit deutschen Büchern, die ich unter keinen Umständen anfassen durfte. Anfangs dachte ich, die DDR sei etwas wie der BFG, der Big Friendly Giant aus Sophiechen und der Riese (von Roald Dahl), doch schon bald kam ich dahinter, dass seine Obsession nichts mit Kinderbüchern zu tun hatte, sondern mit Tyrannei und mit jemandem, der Stalin hieß. Viel zu oft sprach Vater von der atomaren Bedrohung, der nuklearen Apokalypse, mit der sich die Welt im Sommer 1964 konfrontiert sah, und über den Anlass dieses Konfliktes: den Mauerbau, der drei Jahre zuvor aus einem Berlin zwei gemacht hatte. Eine Mauer, die Vater so sehr bewunderte, dass er sie als zwei Meter hohe, undurchdringliche Weißdornhecke um unseren Garten pflanzte, um uns vor schlechten Einflüssen von außen zu schützen. Wenn ich mich an all das erinnere, fühlt sich mein Kopf an, als hätte der nukleare Ernstfall damals tatsächlich stattgefunden. Meine neurologische Verdrahtung wird abrupt durchtrennt. Ich werde zu einer Ostberliner U-Bahn-Linie, deren gestutzte Route zu diesem einen Haltepunkt in meiner Kindheit führt: jenem Tag, an dem ich ein Stein wurde. Ich war neun Jahre alt und lag auf dem Küchenboden. Hämmernder Herzschlag zeigte an verschiedenen Stellen meines Körpers den Schaden an …

Keuchend schiebe ich das Schreckensbild aus meinem Kopf. Ziehe meine Kopfhaut nach hinten, um meinen Schädel zu lüften. Meine Arme und Hände kribbeln. Vor meinen Augen entstehen Flecken, und aus der Kehle steigt mir ein bitterer Geschmack in den Mund, mein Puls klingt in den Ohren immer schneller und wilder, galoppierende Hufe, die meinen Kopf in Besitz nehmen. Ich muss mich beruhigen. Vielleicht ist das Problem inzwischen von selbst verschwunden. Sind die Steine längst wieder weg. Wer in diesem Viertel etwas loswerden will, stellt es draußen an die Hauswand, und eine Stunde später ist es verschwunden. Fahrräder und Pflanzkübel werden mit mindestens drei Schlössern befestigt, doch auch die verschwinden. Schon mehrmals hat die alte Frau aus dem Erdgeschoss mit Tränen in den Augen vor meiner Tür gestanden, weil in der Nacht zuvor irgendjemand ihre Hornveilchen aus der Rabatte gebuddelt hatte, und letzte Woche musste der männliche Part des fortwährend im Clinch liegenden jungen Paares unter mir gezwungenermaßen ohne Fahrradsattel zur Arbeit aufbrechen, einen Aktenordner zwischen seinem Hinterteil und der Sattelstange, um das Risiko einer Penetration zu minimieren. In Gent ist Diebstahl an der Tagesordnung. Als ich das erste Mal einen Fahrraddiebstahl zur Anzeige brachte, sagte die Polizei: »Mädchen, such’ dir ein anderes. Am Bahnhof gibt’s reichlich Auswahl.«

Auch mein zweites und drittes Fahrrad wurden gestohlen. Beim vierten umhäkelte ich den Rahmen, den Sattel und den Lenker mit neongelber Wolle und stattete es mit einer Überdosis an Bändern, einem Blumenkorb, Fähnchen und Schleifen aus. Das hilft. Dieben fehlt die Geduld, all den Klimbim abzumachen.

Widerwillig gehe ich nach unten. Ich trete in den Hausflur, schlängele mich an dem alten Schrank vorbei, auf dem eine löchrige Monstera steht, kralle mich am Treppengeländer fest und starre in die Tiefe. Meine Augen sind nicht die meinen. Sie gehören der Iggy, die ich früher war: Vater sitzt in dem geblümten Sessel und schüttelt seine Zeitung auf, flucht über das schlaffe Papier, das nur mit Mühe Haltung bewahrt. Pinkie und ich sitzen artig auf dem Knüpfteppich zu seinen Füßen. Ich muss dringend pinkeln und stelle mir vor, wie Zugluft in Vaters Zeitung fährt, sie zu einem Segel macht und ihn von mir wegbläst. Doch der Wind hat nicht genug Kraft. Gar nichts in unserem Haus hat genug Kraft. Seufzend blickt Vater zur Uhr. Er misst die Zeit, die er mit uns verbringen muss, bis unsere Mutter nach Hause kommt. Ich senke den Kopf, bete, er möge nicht auf die Idee kommen, mich nach der Uhrzeit zu fragen. Ich patze noch immer beim Lesen der Uhr. Meine Mutter meint, ich hätte Dyspraxie. Vater glaubt nicht an Lernschwierigkeiten, er glaubt an Gehorsam und militärische Disziplin. Er versteht nicht, dass die Zahl Neun unvermittelt Handstand macht und zu einer Sechs wird, dass die Acht meine Gedanken zum Schlittschuhlaufen bringt, gefangen in einer Endlosschleife aus Verwirrung, dass ich keinen Weg durch die Standardordnung der Zeit finde.

»Stillsitzen«, sagt Vater. Er guckt mahnend. Lesen ist eine ernste Angelegenheit, bei der er nicht gestört zu werden wünscht. Pinkie muss inzwischen ebenfalls dringend mal zum Klo. Ich versuche ein gutes Vorbild zu sein, spanne meine Pobacken an und lasse mich von seiner Autorität auf dem Teppich festnageln. Stundenlang bleiben meine Schwester und ich bewegungslos sitzen, wie abgerichtete Welpen, die sich nicht aus dem Körbchen trauen, den Blick ununterbrochen auf die Wohnungstür gerichtet, auf die Erlösung durch Mutter wartend. Unseren Hunger heben wir uns lieber auf, bis sie von der Arbeit in der Brillenfabrik zurückkommt. Neben seinem Hang zum Alkohol hat Vater auch einen Hang zu Innereien: gebratene Nieren, Leber und Blutwurst. Wenn er das zubereitet, stinkt es in der Küche so furchtbar, dass wir schon im Voraus würgen müssen. Doch unser Hunger ist unartig, er knurrt und gluckert und stört und lässt Vater wütend aufspringen. »Wie soll man sich bei diesem Lärm konzentrieren«, wettert er. »Stillsein, habe ich gesagt!« Er bleckt die Zähne, schiebt die Ärmel hoch, nimmt seine Halskette mit dem Peace-Anhänger ab und demonstriert mir den giftigen Geifer des dreiköpfigen Hundes. Pinkie springt auf und rennt nach oben. Der Abdruck von Vaters Anhänger auf meinem Arm sieht vage aus wie ein Kussmund von Lippenstift. »Guck mal, ich werde geliebt«, lüge ich später gegenüber allen, die es hören wollen. Beim Schwimmunterricht sieht Lukas Mutter, die mich an den Hüften hält, damit ich den Armschlag fürs Rückenschwimmen üben kann, lang und kopfschüttelnd auf den Abdruck. Den Rest der Schwimmstunde und auch im Rückspiegel während der Fahrt zurück zur Schule sehe ich ihr gequältes Lächeln: diese Art von Lächeln, das Leute sich für solche Situationen aufsparen, in denen sie etwas wollen würden, es sich aber nicht trauen.

Einen Tag später, wieder auf dem Knüpfteppich zu Vaters Füßen. Er schickte mich, ihm ein Bier zu holen, ich sprintete aus meinem Körbchen, froh, meine Pfoten strecken, froh, ein gehorsames Mädchen sein zu können. Als ich ihm das Bier reichte, strich er mir über den Kopf und fragte mich, ob ich ihm etwas malen wolle. Sicherheitshalber erwähnte ich nicht, dass ihn das Kratzen meiner Buntstifte an einen hechelnden Hund erinnert. Dass er, gerade mal vor einer Woche, eines meiner Bilder – eine Szene auf dem Mond – fluchtend erst in Stücke gefetzt und dann damit den Kachelofen gefüttert hatte. Das hatte er offensichtlich schon wieder vergessen. Er besaß das Erinnerungsvermögen einer Erbse. Seine Unfähigkeit, etwas zu behalten, sei die Schuld von Korsakow, sagte meine Mutter häufig. Wer das genau war, wusste ich nicht, vermutete jedoch, es sei einer seiner Ostberliner Freunde.

Vater zauberte eine Tüte hervor und überreichte sie mir. »Laut der Verkäuferin ist das ein gutes Buch«, sagte er. »Du bist noch etwas zu jung dafür, aber du bist ja im Lesen schon etwas weiter, das wird schon gehen.«

Voller Argwohn sah ich ihn an.

»Ich hatte gestern einen schlechten Tag«, erklärte er. »Ich hätte nicht so schnell die Geduld verlieren dürfen.«

Pinkie traute sich vom Knüpfteppich herunter. Ob sie auch ein Geschenk bekomme, fragte sie neidisch. Dass Vaters Reue immer zu spät kam und zudem nicht viel bedeutete, wusste sie damals noch nicht. Sie riss mir das Buch aus der Hand, setzte sich wieder hin und blätterte es durch auf der Suche nach Bildern. Der Titel des Buchs lautete: Charlie und die Schokoladenfabrik. Schon nach den ersten Kapiteln wusste ich, es würde auch noch zwanzig Jahre später in meinem Schrank stehen, abgegriffen und zerlesen. Seitdem suchte ich bei jeder Tafel Schokolade fieberhaft nach einer Goldenen Eintrittskarte, die mich aus dem Elend erlösen würde, bei jeder Fahrt in einem Lift fahndete ich nach dem Schalter für Hinauf und Hinaus, Tag und Nacht sehnte ich mich nach einer Herde dressierter Eichhörnchen, die ihre Knöchelchen auf Vaters Kopf ticken würden, um zu prüfen, ob er wohl hohl sei. Allein die Vorstellung, er würde genau wie Veruschka überwältigt und in den Müllschlucker, Richtung Verbrennungsanlage, geworfen, wo schlechte Nüsse hingehörten, tröstete mich. Bei jedem seiner Wutausbrüche stimmten die Umpa Lumpas gereimte Witzlieder für mich an.

»Hast du Hunger gehabt?«, fragt Luka. Sie ist mit ihrem Schlüssel in die Wohnung gekommen und beugt sich nun über mich. Ihre Haare berühren meine Wange. Verwirrt sehe ich mich um. Gerade noch stand ich auf der vorletzten Stufe zur Haustür, jetzt finde ich mich auf dem Küchenboden wieder. Einwickelpapiere von Süßigkeiten liegen verstreut um mich herum, in einem Kreis, der genau die gleichen Abmessungen hat wie der Knüpfteppich von damals.

»Ich habe eben noch mal nach den Steinen gesehen«, sage ich. Luka sieht mich besorgt an, glaubt mir nicht so ganz. Zu Recht. In den letzten Jahren entstehen in meiner Zeitachse immer häufiger kleine Perforationen, in denen sich die Zeit ohne mein Zutun vorspult: aufwachen in einem Tagtraum und feststellen, dass ich drei Haltestellen zuvor hätte aussteigen müssen, aufwachen am Wohnzimmerfenster, die Stadttauben anstarrend, während ich mir einen Becher Kaffee holen wollte, nichts wirklich Beunruhigendes – dennoch. Kleine Löcher können zu großen werden, zu schwarzen Löchern, und in diesen Löchern kannst du dich selbst verlieren, die Dunkelheit wiegt dort so schwer, selbst das Licht kann nicht mehr entwischen. Laut Luka liegt die Ursache für diese Löcher bei meinen Eltern, sie hätten übersehen, dass eine neue Leinwand porös ist und, um eine gute Basis zu schaffen, zunächst mit einer ordentlichen Schicht hochwertigem Gesso eingestrichen werden muss. Sie sagt, mir fehle eine Lage Grundierung, so dass alles, was das Leben malt, durch das Mulltuch, das ich bin, entweicht. Sie hat Recht. Daten und Erlebnisse bleiben nicht haften, sie werden zu schnell absorbiert und verklumpen zu verlorenen Tropfen auf der Rückseite meiner Leinwand. Sobald etwas zuwiderläuft, schaltet mein Hirn ab und ich verschwinde aus der Welt.

»Ich bleibe über Nacht«, sagt Luka entschieden, um meinem Protest vorzugreifen. Sie legt eine Hand auf meinen Arm. Unter ihren Nägeln hausen die Reste einer Malsession: eine Mischung aus Ultramarin und Bleiweiß, der Auftakt zu einem Sommertag. Mein Blick saugt sich an dem Lederarmband an ihrem Handgelenk fest; meine Wangen werden heiß. Obwohl sie in groben Zügen weiß, wie es früher bei mir zu Hause zuging, habe ich ihr nie Einzelheiten erzählt. Sie hat mich darum gebeten, mehrmals sogar, doch ich konnte nicht. Meine Verschwiegenheit hat sie letztendlich fortgejagt. Dass ich sie noch immer liebe, muss sie nicht wissen. Sie verdient jemanden, der das Wort wir über die Lippen bringt, jemanden, der es erträgt, eingeladen zu werden, der weniger von Freiheit besessen ist als ich, jemanden, der nicht ständig und vergeblich gewärmt werden muss.

In der Reflexion ihrer sorgenvollen Augen begegne ich meinem eigenen glasigen Blick. Dem Blick, den ich von den Fotos kenne, die mein Vater von den Ostberlinern machte, ein Blick, der denen eigen ist, die eingesperrt sind. Ich kann mich nicht dazu bringen, mich in Bewegung zu setzen.

»Du kannst die Säcke nicht stehenlassen«, sagt sie. »Die Nachbarn kommen kaum daran vorbei.«

Luka tappt mit dem Fuß auf den Boden. »Entweder rufst du eine Firma an, die sie abholen soll, oder du trägst sie rein und findest heraus, was nun eigentlich genau darauf gemalt wurde.«

Widerwillig schleppe ich mich nach unten. Schweigend trage ich Vater Stein für Stein die Treppe hinauf, zum ersten Mal leise darüber fluchend, dass es keinen Fahrstuhl gibt.

Die Uhr der Sankt-Michael-Kirche schlägt zeitgleich mit dem Piepen eines rückwärtsfahrenden Müllwagens. Die Stadt erwacht, und ich bin müde. Schlaftrunken strecke ich meinen Arm nach Luka aus, doch die linke Seite vom Bett ist kalt. Dann fällt mir wieder ein, dass sie in der Nacht vor der eisigen Kälte und dem unbarmherzigen Licht der Lampe über meinem Bett ins Wohnzimmer geflüchtet ist – ihre Anwesenheit hatte nicht gereicht, mich in Sicherheit zu wähnen. Auf einmal fürchtete ich wieder, jemand würde die Birne aus der Fassung drehen, hatte Angst, die Dunkelheit könnte sich wie ein Backstein auf mich legen.

Es ist an der Zeit, die verschrumpelte Haut des vergangenen Tages aufzulesen und aus dem Fenster zu werfen, damit ich einigermaßen rein in den Tag starten kann. Das ist leicht gesagt. Der Berg Steine liegt zwischen meinem Bett und dem Fenster, nimmt mir die Sicht auf die Dachterrassen und die kleinen, von Mauern umgebenen Hinterhöfe. Das Bild wurde auf kleine graue Backsteine gemalt, die sich in Grüppchen, in der Form von Tetrisbausteinen, aneinander festhalten. Ich stelle mir vor, wie sie vom Fußboden aufsteigen, bis an die Decke, und ich immer nur ein paar Sekunden Zeit habe, sie ordentlich zu positionieren, damit sie, begleitet von einer futuristischen Melodie und aufblitzenden neonfarbenen Funken, in ganzen Reihen gleichzeitig verschwinden. Mühsam quäle ich mich aus dem Bett. Meine Muskeln fühlen sich schwer und steif an. Das Tragen aneinanderklebender Backsteine scheint für einen untrainierten Körper wie den meinen zu schwer zu sein. Sie sind auch für das Parkett zu schwer, der Boden biegt sich durch. Unvermittelt sehe ich dort Vater liegen. Müllsäcke, Landstreicher, zusammengewehtes Stroh auf Feldern im August, aufgetürmter Schnee in der Gosse, ein Haufen Blumenerde, ein Stapel Lumpen, ein Berg Steine … alles, was rumliegt, nimmt ungefragt seine Form an: Die strähnigen Haare links und rechts von seinem Gesicht, die Augen geschlossen, die Arme halb angewinkelt hochgestreckt, jemandem entgegen, der ihm vom Boden aufhelfen soll. Bei meinem ersten Festivalbesuch fand ich ihn halb im Matsch versunken, einen feuchten Fleck auf Höhe des Schrittes. Ich sah in ihm einen armseligen Zaun, nicht hoch genug, um den Durchgang zu versperren, und stieg achtlos über ihn hinweg, tat meiner Begleitung gegenüber so, als ob ich ihn nicht kennen würde.

Was wäre gewesen, wenn ich damals gesprochen hätte, statt bloß zu denken?

Was, wenn ich ihm all das, was ich jahrelang für mich behalten hatte, entgegengeschleudert hätte?

Unwahrscheinlich, ungeheuerlich.

Was, wenn ich ihn aus dem Schlamm gezogen hätte?

Was, wenn ich meinen Pullover vor seinen vollgepissten Schritt gehalten hätte?

Immer mehr davon. Eine Hitzewelle aus Scham legt sich in meinen Nacken und verbrennt mich.

Kuro klettert auf dem Steinhaufen herum, aufmerksam hin und her schnüffelnd, die Schnauze im Schutt, als könne sie dort einen Geruch ausmachen, der meinem ähnelt, den Geruch eines Blutsverwandten.

»Komm, Kuro«, sage ich. Doch sie weigert sich zu kommen, sie erstarrt auf halber Höhe bei einem Stein und bellt. Es ist ein wichtiger Eckstein. Sie hat Recht. Es ist am besten, am Anfang die Ecken und die Randsteine zu suchen, dann erst beginnt das Einsetzen vom Rest.

Ich springe aus dem Bett. Eifrig drehe ich die Steine mit der bemalten Seite nach oben, ordentlich aufgereiht wie Artefakte, die bei einer archäologischen Ausgrabung nummeriert und datiert werden müssen. Aus Platzmangel laufen die Reihen einfach über meine Möbel und verwandeln den Raum in den gestreiften Rücken eines schlafenden Tieres. Da stolpert Luka herein, das Kopfkissen unter dem Arm, und erschrickt. Sie sagt, ich hätte zum Schutz des Parketts eine Plane unterlegen sollen. Einige Sekunden später balanciert sie auf den schmalen Streifen zwischen den Reihen und begutachtet die Bruchstücke meiner Vergangenheit.

»Manche haben einen schwarzen Rand«, sage ich. »Vielleicht ist das Wandgemälde ein vergrößertes Polaroidfoto.«

»Möchtest du, dass ich dableibe?«, fragt Luka.

Ich schüttle den Kopf, fische stumm die schwarzgeränderten Steine aus den Reihen, mit der gleichen Ernsthaftigkeit, die jemand an den Tag legt, der das erste Mal für die Schwiegereltern kocht und nur die schönsten Zucchini beim Gemüsehändler auswählt. Luka kommt zu mir herüber und legt eine Hand auf meinen Arm. »Iggy?«

Ich kann nicht antworten. Meine Aufmerksamkeit wird von einem Stein gefesselt, auf den eine Kugel gemalt ist.

»Theorie- und Praxisunterricht in Wehrkunde gehören für die Schulkinder in Ostberlin zum Alltag«, hatte Vater eines Tages gesagt. »Da lernen sie, nicht zu jammern, sondern gehorsam zu sein, und sie beginnen jeden Tag mit einem Gruß.«

Gesagt, getan. Ab da begannen unsere Tage mit Vater, der rief: »Seid bereit!«, und meine Schwester und ich antworteten, die rechte Hand am Kopf: »Immer bereit!« Viele Fragen stellten wir uns dabei nicht. Kurz darauf organisierte Vater die erste Schießstunde hinter unserem Haus. »Kommt, wir spielen ein Spiel«, sagte er.

Ich ließ mein Buch sinken und suchte seinen Blick. Im Weiß seiner Augen versuchte ich auszumachen, wie hoch das Bier in seinem Kopf stand – die ungezügelte Zufuhr von Alkohol machte aus seinem Gemüt ein unberechenbares Karussell. Was er im einen Moment sagte, schaffte es manchmal kaum bis zum nächsten. Dieses Mal hatte das Weiß seiner Augen die Farbe eines Ballettröckchens, seine Laune konnte augenblicklich in etwas Bösartiges umschlagen. Er tappte mit der Fußspitze ins Gras. Ich betrachtete die ausgefransten Ränder seiner Badehose, die krausen Haare, die aus ihr entwischten, und dachte an die Bernauer Straße am Stacheldrahtsonntag, an die Menschen, die dort voller Panik aus den Fenstern ihrer Wohnblöcke auf die Straße in Westberlin sprangen. Auch ich suchte jetzt fieberhaft nach einem Ausweg.

»Kommt ihr?«, fragte mein Vater. Er stank nach