Bad Boys & Secret Moments - Nancy Salchow - E-Book
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Nancy Salchow

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Beschreibung

Erstmals zusammen in einem Sammelband: Die Erfolgsromane "Mr. Bad Love", "Broken Moment" und "Vergiss die Millionen". Kurztext zu "Mr. Bad Love": Der charmante Rafael hat mit dem Verkauf seiner Internetfirma Millionen verdient. Seitdem genießt er sein Leben in vollen Zügen, geprägt von Geld und belanglosen Affären. Doch macht ihn dieses Leben wirklich glücklich? Neila, die sich vor neun Jahren zwischen Rafael und seinem Bruder Tobin entscheiden musste, kehrt sechs Jahre nach Tobins viel zu frühem Tod mit ihrem kleinen Sohn Lian in ihre Heimat am Meer zurück. Als sie dort auf ihre Jugendliebe Rafael trifft, reißt dies augenblicklich alte Wunden bei ihr auf. Was hat Rafael zu diesem oberflächlichen Frauenhelden werden lassen? Trauert er wie sie um seinen Bruder Tobin oder steckt etwas ganz anderes hinter seiner distanzierten Persönlichkeit, die nichts mehr mit dem Mann gemeinsam hat, dem sie einst ihr Herz schenkte? Derselbe Mann, der sie damals ohne Begründung verließ und in die Arme von Tobin trieb? Auch wenn sofort dasselbe erotische Feuer wie damals zwischen ihnen aufflammt, ist die Mauer aus Geheimnissen, Schuldgefühlen und Schmerzen der Vergangenheit, die zwischen ihnen steht, nur schwer zu durchbrechen. Lediglich dem kleinen Lian gelingt es, Rafaels Fassade wenigstens für kurze Zeit zum Einsturz zu bringen. Aber ist Neila stark genug, um Rafaels Geheimnissen auf den Grund zu gehen? Und wird sie trotz aller Prinzipien erneut der alten Sehnsucht nach ihm verfallen?

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Inhaltsverzeichnis

Buch 1: Mr. Bad Love

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Buch 2: Broken Moment

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Buch 3: Vergiss die Millionen

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Impressum

Nancy Salchow

___________________________

Bad Boys & Secret Moments

Sammelband mit drei Liebesromanen

Roman

Buch 1: Mr. Bad Love

Der charmante Rafael hat mit dem Verkauf seiner Internetfirma Millionen verdient. Seitdem genießt er sein Leben in vollen Zügen, geprägt von Geld und belanglosen Affären. Doch macht ihn dieses Leben wirklich glücklich?

Neila, die sich vor neun Jahren zwischen Rafael und seinem Bruder Tobin entscheiden musste, kehrt sechs Jahre nach Tobins viel zu frühem Tod mit ihrem kleinen Sohn Lian in ihre Heimat am Meer zurück. Als sie dort auf ihre Jugendliebe Rafael trifft, reißt dies augenblicklich alte Wunden bei ihr auf.

Was hat Rafael zu diesem oberflächlichen Frauenhelden werden lassen? Trauert er wie sie um seinen Bruder Tobin oder steckt etwas ganz anderes hinter seiner distanzierten Persönlichkeit, die nichts mehr mit dem Mann gemeinsam hat, dem sie einst ihr Herz schenkte? Derselbe Mann, der sie damals ohne Begründung verließ und in die Arme von Tobin trieb?

Auch wenn sofort dasselbe erotische Feuer wie damals zwischen ihnen aufflammt, ist die Mauer aus Geheimnissen, Schuldgefühlen und Schmerzen der Vergangenheit, die zwischen ihnen steht, nur schwer zu durchbrechen. Lediglich dem kleinen Lian gelingt es, Rafaels Fassade wenigstens für kurze Zeit zum Einsturz zu bringen.

Aber ist Neila stark genug, um Rafaels Geheimnissen auf den Grund zu gehen? Und wird sie trotz aller Prinzipien erneut der alten Sehnsucht nach ihm verfallen?

Dieses Buch enthält sehr eindeutige und leidenschaftliche Szenen.

In sich abgeschlossener Einzelroman. Keine Serie.

Prolog

Das Wasser umspielt meine nackten Waden. Mit jedem Schritt, den ich mich vom Ufer entferne, wächst die Gewissheit, dass ich nicht hier sein sollte.

Was auch immer mich hergeführt hat, ich sollte einfach umkehren und diese verwirrenden Gefühle so schnell wie möglich vergessen. Doch noch während ich darüber nachdenke, was genau ich hier eigentlich tue, spüre ich seine Hand von hinten an meiner Taille.

»Warte«, ruft er.

Instinktiv bleibe ich stehen.

Als ich mich zu ihm umdrehe, kann ich sein Gesicht in der anbrechenden Dunkelheit nur schemenhaft erkennen, trotzdem haben seine Augen selbst jetzt noch dieselbe Wirkung auf mich.

»Wir sollten das nicht tun«, antworte ich.

»Wer sagt, was wir sollten und was nicht?« Er greift nach meinem Unterarm. »Es gibt einen Grund, warum wir hier sind. Und das weißt du auch.«

»Ich wünschte, es wäre so.« Ich schau hinab ins Wasser. »Aber die Wahrheit ist, dass das alles überhaupt keinen Sinn ergibt.«

»Muss denn alles unbedingt immer einen Sinn ergeben?« Er führt meine Hand zu seinen Lippen und küsst sie sanft.

»Für mich schon«, antworte ich leise.

Eine Weile schaut er mich schweigend mit seinen durchdringenden Augen an. Ein Blick, der das Ganze noch verwirrender für mich macht.

»Ich verstehe es doch selbst nicht«, sagt er schließlich. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich dich brauche. Mehr als alles andere.«

In diesem Moment fallen alle Zweifel von mir ab. Alles, was übrigbleibt, ist ein Verlangen, das jede Logik ausblendet.

Seine Hände umschließen meine Wangen, während er mich sanft an mich zieht.

Gedankenverloren verliere ich mich in einem endlosen Kuss, während mich erneut die altvertraute Leidenschaft packt. Auch ihm scheint es so zu gehen; seine Erregung ist deutlich zu spüren und macht mich nur noch ungeduldiger.

Alles in mir schreit nach ihm und danach, ihn hier und jetzt mit Haut und Haaren zu spüren.

Seine Lippen wandern zu meinem Ohrläppchen und bringen mich beinahe um den Verstand.

»Ich habe dich vermisst«, flüstert er in meinen Nacken. »Und nicht zu haben, was ich vermisse, macht mich wahnsinnig.«

Doch anstatt ihm zu antworten, wandert meine Hand zu seinem Rücken. Instinktiv ziehe ich ihn fester an mich heran, während seine Küsse noch eindringlicher werden.

Je näher wir uns kommen, desto intensiver spüre ich seine kräftige Mitte an meiner, was meine Lust nur noch mehr ankurbelt.

Ist es richtig, ihn zu wollen? Hier und jetzt? Nach allem, was war?

»Ich glaube, dass ich den Verstand verliere«, flüstere ich ihm atemlos zu.

Doch als er den Finger auf meine Lippen legt und mich wortlos anlächelt, weiß ich, dass der Verstand in diesem Moment sowieso keinerlei Bedeutung hat.

Kapitel 1

Rafael

Ich betrachte ihren nackten Rücken, während sich ihr Kopf unter ihren Atemzügen sanft auf dem Kissen auf und ab bewegt. Ihre blonden Strähnen wirken an diesem Morgen heller als im gedämmten Barlicht am Abend zuvor.

Auf meinen Ellbogen gestützt betrachte ich sie schweigend.

Ist es schon zu früh, einfach aufzustehen und zu verschwinden?

Ich schaue zum Fenster herüber. Durch den Spalt des Vorhangs stiehlt sich die grelle Morgensonne.

Einen Moment zögere ich noch, dann kann ich die innere Unruhe nicht länger unterdrücken. So lautlos wie möglich schiebe ich die Bettdecke zur Seite und bücke mich nach meinen Shorts.

Gerade als ich mich hinstelle, um sie überzustreifen, dreht sie sich verschlafen zu mir um.

»Hey.« Sie reibt sich mit der Hand übers Gesicht. »Du bist schon wach?«

Ich greife nach meinen Jeans. »Schlaf weiter. Ich wollte dich nicht wecken.«

»Soll ich uns einen Kaffee kochen?« Sie lächelt müde.

»Nur keine Umstände. Ich habe eh keine Zeit.«

»Keine Zeit?« Sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn. »Und ich dachte, wir starten direkt eine neue Runde.« Sie lässt die Bettdecke ein paar Zentimeter nach unten rutschen, um den Blick auf ihre nackten Brüste freizugeben.

Für einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, der Versuchung nachzugeben, doch die Vernunft ist stärker.

»Wir waren uns doch einig, dass es eine einmalige Sache bleiben wird.« Ich ziehe mein Hemd von der Lehne ihres Schminksessels.

»Stimmt.« Sie öffnet verführerisch den Mund. »Aber wer kann zu einem kleinen Dessert am nächsten Morgen schon Nein sagen?«

Ich betrachte sie skeptisch. War sie am Abend zuvor nicht viel geheimnisvoller? Gerade die Tatsache, dass sie kaum etwas gesagt hat, hatte mich so zu ihr hingezogen. Frauen, die wenig reden, wissen in der Regel besonders genau, was sie wollen. Und Frauen, die wissen, was sie wollen, halten sich an Deals, die man mit ihnen abschließt.

»Wirklich eine nette Idee.« Ich beginne, mein Hemd zuzuknöpfen. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Tut mir leid.«

Sie lässt sich zurück aufs Kissen fallen und grinst. »Auch gut. Dann kann ich noch ein paar Stunden Schlaf nachholen, bevor ich ins Restaurant muss.«

Restaurant? Ist sie Kellnerin? Köchin? Andererseits, welche Rolle spielt schon ihr Job, wenn wir uns eh nie wiedersehen werden?

»Unten müsste noch frisches Obst sein«, murmelt sie in ihr Kissen. »Nimm dir gern was für unterwegs mit.«

»Nett von dir.« Ich öffne die Schlafzimmertür. »Aber ich habe keinen langen Heimweg.«

Kapitel 2

Neila

Ich klappe die Sonnenblende herunter und schaue mit schmalen Augen auf die weitläufige Landstraße vor mir. Trotz Sonnenbrille ist das Licht an diesem Julivormittag besonders grell, fast so, als wollte die Sonne uns einen ganz besonders herzlichen Empfang bereiten.

»Wann sind wir denn endlich da?«, mault Lian vom Rücksitz.

Ich werfe einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel und betrachte ihn mit einem Anflug von Wehmut. Ich sollte dringend mit ihm zum Friseur. Die goldblonden Wuschellocken fangen bereits an, ihm ins schmale Gesicht zu fallen – und verstärken die Ähnlichkeit mit seinem Vater auf eine Weise, die mir immer wieder aufs Neue einen Stich ins Herz versetzt.

»Mamaaaa?«, wiederholt er ungeduldig.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Ich schaue zurück auf die Straße vor uns. »Nur noch ein paar Minuten.«

»Das hast du vorhin auch schon gesagt.«

»Das war ja auch erst vor zwei Minuten.« Ich lache. »Keine Sorge, Lian, wir kommen noch früh genug an.«

»Ich muss mal aufs Klo«, jammert er.

»Weißt du eigentlich, dass du heute eine ganz besondere Nervensäge bist, du kleiner Räuber?«

Er seufzt. »Aber wenn ich doch so dringend muss ...«

»Wir waren vor nicht mal einer Stunde an der Raststätte, da hast du mir hoch und heilig geschworen, dass du bis Rerik locker durchhältst und überhaaaaaaupt nicht aufs Klo müsstest. Es sind keine fünf Minuten mehr, bis wir da sind – die hältst du doch noch durch, oder?«

»Aber nur, wenn es auch wirklich nur fünf Minuten sind.«

Insgeheim muss ich über seine Argumente schmunzeln. Nicht zu fassen, dass er schon acht ist. Nicht mehr lang und ich werde Schwierigkeiten haben, mit seinen Gegenkommentaren mithalten zu können.

Im Augenwinkel nehme ich den vertrauten Anblick weitläufiger Felder und Waldstücke wahr, die sich auf beiden Straßenseiten in endlose Weiten erstrecken. Die Ostsee ist in der Ferne nur zu erahnen, doch allein die Gewissheit, dass sie nur noch wenige Kilometer entfernt ist, erfüllt mich mit einem tiefen Heimatgefühl.

»Und das Haus gehört jetzt wirklich uns?«, fragt Lian.

»Ja, mein Großer – wir haben es geerbt.«

»Was ist geerbt?«

»Na ja, wenn jemand für immer einschläft, weil er schon gaaaanz alt ist, dann schreibt er vorher auf, wer mal sein Hab und Gut bekommen wird.«

»Und das hat jemand gemacht?«

»Ja, deine Uroma. Das habe ich dir doch schon erklärt. Schon vergessen? Das war die Oma von deinem Papa. Sie war schon sehr alt.«

»Aber die kannte uns doch gar nicht.«

»Doch, Lian, du hast sie sogar schon mal gesehen. Ist schon ein paar Jahre her. Als ich noch hier gewohnt habe, stand sie mir sehr nah. Ich war sehr oft bei ihr.«

Dass ich insgeheim vermute, dass Lisa mir das Haus nur deshalb vererbt hat, um mich wieder zurück in die Heimat zu holen, behalte ich dabei für mich.

»Deine Uroma war außerdem die Mutter von Oma Victoria«, erkläre ich.

»Ach ja? Sehen wir denn Oma Vicky auch wieder?«

Ich nicke. »Genau wie deinen Opa. Sie wohnen beide im selben Ort.«

Lian atmet geräuschvoll aus. »Und was, wenn mir die Schule nicht gefällt?«

»Das sagst du nur, weil jetzt noch alles ganz neu ist. Aber bis die Sommerferien vorbei sind, sind es noch ein paar Wochen. Bis dahin hast du bestimmt schon neue Freunde gefunden, vielleicht sogar jemanden, der auch in deine Klasse geht.«

Im Rückspiegel sehe ich, wie er einen Schmollmund macht und schweigend aus dem Fenster schaut.

Wieder überkommt mich das schlechte Gewissen. War es wirklich klug, ihn aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen?

Mach dir keine Vorwürfe. Nur der Anfang ist ungewohnt – irgendwann wird er dir dankbar sein, an der Ostsee aufwachsen zu dürfen.

»Und Papa ist wirklich hier aufgewachsen?«, fragt Lian.

»Das ist er. Genau wie ich. Wir haben es geliebt, hier zu wohnen. Und du wirst es ganz sicher auch lieben.«

»Und warum seid ihr dann nach Münster gezogen, wenn es hier angeblich so toll ist?«

»Dein Papa hatte damals ein sehr gutes Jobangebot, weißt du? Deshalb sind wir nach Münster gezogen. Wir hatten eigentlich nie gedacht, so lange dort zu bleiben. Immer wieder hat er davon gesprochen, irgendwann wieder hier zu leben. Er hat die Ostsee geliebt, genau wie ich.«

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Was für eine tragische Ironie, dass Tobin sich diesen Traum nicht mehr erfüllen konnte. Dass er seine Heimat nie wiedersehen wird.

»Und wie lange dauert es jetzt noch, bis wir da sind?« Er rutscht ungeduldig in seinem Sitz umher.

»Siehst du die Abzweigung da vorn? Da, wo die Birken stehen?«

Lian steckt den Kopf zwischen die Vordersitze und schaut durch die Frontscheibe. »Ja.«

»Da biegen wir gleich ab – und dann sind es nur noch wenige Meter bis zu unserem neuen Haus.«

Neugier überkommt ihn. »Und es gehört wirklich uns?«

»Ja, mein Schatz.« Ich lache. »Zum hundertsten Mal: Es gehört uns.«

»Und hat es auch einen Garten? Mit einer Schaukel und so?«

»Einen sehr schönen Garten sogar. Und falls es dort keine Schaukel gibt, stellen wir eben eine auf.«

Als wir auf das schmale Kopfsteinpflaster einbiegen, steigt auch in mir langsam die Nervosität.

Bin ich wirklich bereit für diesen Schritt? Genügt es wirklich, alle alten Brücken hinter uns abzuschlagen, um dadurch wie von Zauberhand wieder hier zu Hause zu sein?

Wir lassen eine kleine Wohnsiedlung hinter uns, hier und da bricht eine alte Eiche das Bild.

Am Ende der Straße sehe ich es endlich stehen.

Himmelblaue Fassade, eine sonnengelbe Tür, zwei Stockwerke, Spitzdach. Fast schon kitschig, aber dennoch – oder gerade deshalb – bezaubernd schön.

Als ich den Wagen neben dem Haus zum Stehen bringe, schiebt Lian erneut den Kopf zwischen die Autositze.

»Ist es das?«, fragt er aufgeregt.

Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.

»Ja, mein Schatz«, ich fahre ihm mit den Fingern durchs Haar, »das ist es.«

Kapitel 3

Rafael

»Nicht so viel, Mama.« Ich lege die Hand über den Teller, als sie mir gerade die dritte Kelle Eintopf auffüllen will.

»Ach komm schon, mein Junge. Wenn du schon mal zum Essen kommst, musst du mir auch erlauben, dich zu verwöhnen.« Sie verschiebt beleidigt die Mundwinkel.

»Na gut.« Ich nehme grinsend die Hand vom Teller. »Wenn es dich glücklich macht.«

Zufrieden befüllt sie meinen Teller und setzt sich mir gegenüber an den kleinen Holztisch. »Ist das nicht ein herrliches Wetter? Ich bin so froh, dass wir endlich mal wieder im Garten essen können.« Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Wasserglas. »Schade nur, dass dein Vater arbeiten muss. Gerade gestern Abend hat er noch darüber geschimpft, dass wir dich viel zu selten sehen. Man könnte glatt vergessen, dass du im Nachbarort wohnst, Rafael.«

»Du weißt, dass ich viel zu tun habe, Mama.«

»Viel zu tun? Du hast deine Firma vor ein paar Jahren verkauft. Seitdem arbeitet dein Geld für dich – das waren deine Worte, mein Lieber.«

»Trotzdem erwerbe ich immer wieder Anteile an anderen Firmen. Das alles muss sehr genau getaktet und durchdacht sein.«

Sie hebt skeptisch die Augenbrauen, während sie schweigend auf ihrem Teller herumrührt. Der Ansatz ihres schulterlangen, kastanienbraunen Haars schimmert silbern, was mir einmal mehr in Erinnerung ruft, dass sie bereits die Sechzig überschritten hat. Ihre sportliche Figur und das herzliche Lachen lassen sie jedoch höchstens wie Anfang fünfzig wirken.

»Du solltest dir nicht immer so viele Sorgen um mich machen«, sage ich, sehr wohl wissend, was ihr wieder mal durch den Kopf geht.

»Ich mache mir keine Sorgen.« Sie führt den Löffel zum Mund, während sie nach den richtigen Worten sucht. »Ich frage mich nur, ob es dich wirklich glücklich macht, keine richtige Aufgabe zu haben.«

Ich lache. »Alle Mütter machen sich Sorgen, ob ihre Kinder eine vernünftige Ausbildung haben und später genügend Geld verdienen werden. Aber du bist echt eine sehr interessante Ausnahme, Mama. Ich habe mehrere Millionen mit dem Verkauf meines Unternehmens gemacht – und du guckst mich trotzdem jedes Mal an, als wäre ich ein drogensüchtiger Rumtreiber, der gerade so über die Runden kommt.«

»Du weißt, dass ich stolz auf dich bin.« Sie neigt den Kopf zur Seite, den Blick noch immer fest auf mich gerichtet. »Aber ich glaube einfach, dass jeder Mensch eine Aufgabe im Leben braucht. Du musst doch neue Ideen haben, Pläne – irgendetwas, das dich morgens dazu bringt, das Haus zu verlassen.«

»Es geht mir gut, Mama.« Ich streichele ihre Hand. »Wirklich. Nur weil ich zum Arbeiten nicht das Haus verlassen muss, heißt das nicht, dass ich nichts zu tun habe. Andere Leute wären froh, wenn sie sich der täglichen Hamsterrad-Maschinerie entziehen und einfach ihren Traum leben könnten.«

»Aber du wirkst immer so ernst, mein Junge.« Sie seufzt. »Früher warst du immer so voller Tatendrang, hast ständig wie ein Wasserfall über deine neuen Projekte geplappert. Und auch wenn ich davon immer nur die Hälfte verstanden habe, hat es mich glücklich gemacht, wenn du glücklich warst.«

»Ich bin glücklich.« Ich straffe meinen Rücken und nehme einen großen Löffel vom Eintopf. »Schon allein, weil es wahnsinnig guttut, niemals Geldsorgen zu haben. Und du weißt, falls Papa endlich in Rente gehen will, ich könnte euch finanziell unter die Arme greifen. Es wäre kein Problem, wenn er ...«

»Rente?«, fällt sie mir mit lautem Lachen ins Wort. »Du kennst doch deinen Vater. Man wird ihn schon mit Gewalt aus seinem Zug zerren müssen, um ihn zum Aufhören zu bewegen.«

»Ich weiß, dass er seinen Job liebt. Aber er wird nicht jünger – und ich würde mich freuen, endlich auch mal etwas Gutes für euch tun zu dürfen.«

»Uns geht es gut, mein Junge. Wir haben alles, was wir brauchen. Dieses riesige Haus am Strand mag ja zu dir passen, aber wir brauchen keinen Luxus. Uns reicht, was wir haben.«

»Ich rede ja auch nicht von Luxus, sondern ...« Ich lege den Löffel zur Seite. »Ach, nicht so wichtig. Tut mir leid, dass ich schon wieder davon angefangen habe.«

Schweigend lasse ich meinen Blick durch den farbenfrohen Garten schweifen. Weiße und rote Rosen auf der einen Seite, leuchtend gelbe Studentenblumen auf der anderen. Hier und da eine kleine Bank oder ein alter Eisenstuhl, die als Blumenuntersatz zweckentfremdet wurden. Buntes Chaos, das jedoch auf den zweiten Blick einer liebevollen Struktur unterliegt.

»Außerdem würde ich es niemals wagen, euer Leben ändern zu wollen«, sage ich schließlich. »Alles hier ist ganz genau so, wie es sein muss. Ich wollte euch nur ein wenig Druck nehmen, das ist alles.«

»Was für einen Druck? Das Haus gehört uns, zum Leben selbst brauchen wir nicht viel. Uns könnte es nicht besser gehen.«

Eine sanfte salzige Brise zieht von der Ostsee hoch und ruft mir einmal mehr in Erinnerung, dass ich viel zu lange nicht schwimmen war.

»Schon okay, Mama. Tut mir leid, dass ich davon angefangen habe.« Ich nehme einen weiteren Löffel. »Der Eintopf ist wirklich klasse.«

»Freut mich, dass es dir schmeckt.« Sie steht auf und greift erneut nach der Kelle, um mir nachzufüllen.

»Immer mit der Ruhe.« Ich lache. »Ich habe doch noch gar nicht aufgegessen.«

Seufzend legt sie die Kelle zurück und setzt sich wieder, was mich unweigerlich zum Grinsen bringt. Typisch Mutter! Immer denkt sie, dass ich jeden Moment verhungern oder auf die schiefe Bahn geraten werde.

Das zweite Mal innerhalb von zehn Minuten schaut sie auf ihre Armbanduhr.

»Musst du noch irgendwohin?«, frage ich.

»Nein nein. Ich frage mich nur, ob Neila und Lian schon da sind. Sie wollten im Laufe des Vormittags ankommen.«

Ich spüre, wie sich mein Magen verkrampft. Augenblicklich läuft es mir heiß und kalt den Rücken herunter, während sich mein Hals langsam zuschnürt.

Neila.

Allein ihr Name hat selbst nach neun Jahren noch immer nichts von seiner Macht verloren.

»Sie kommen heute?«, frage ich so gelassen wie möglich.

Sie nickt gedankenverloren. »Ja. Ich habe gestern Abend noch mit ihr telefoniert. Habe ich das nicht erzählt?«

Ich bemühe mich um Fassung, doch mein Innerstes scheint gegen mich zu kämpfen.

»Nein, hast du nicht.« Ich räuspere mich. »Warum auch? Auf einen Tag früher oder später kommt es ja nicht an.«

Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, realisiere ich in diesem Moment zum ersten Mal, dass sie wirklich zurückkommt. Habe ich es bisher nur für eine verrückte Idee gehalten, die sie eh nicht in die Tat umsetzen wird? Habe ich versucht, mich auf diese Weise vor allzu verwirrenden Gefühlen zu schützen?

Und wenn schon. Es ist neun Jahre her, dass sie die Ostsee verlassen hat. Wir waren damals im Grunde noch Kinder. Die Frau von heute und das Mädchen von damals haben nichts mehr miteinander zu tun. Dafür ist in den letzten Jahren viel zu viel geschehen.

»Ich kann es kaum erwarten, Lian wiederzusehen.« Ihre Freude ist nicht zu überhören. »Das letzte Mal, als wir die beiden besucht haben, ist fast vier Monate her. Er ist bestimmt schon wieder ein ganzes Stück gewachsen, der Kleine.« Sie gerät ins Stocken. »Wie lange ist es eigentlich her, dass du ihn das letzte Mal gesehen hast?«

Ich tue so, als würde ich nachdenken, doch die Antwort liegt mir bereits auf den Lippen.

»Das ist anderthalb Jahre her«, sage ich schließlich.

»So lange schon?« Fast schon entsetzt legt sie den Löffel zur Seite. »Er ist dein Neffe, Rafael. Vergiss das nicht.«

»Was kann ich dafür, wenn die zwei so selten hier waren? Damals hatte Neila ihn bei dir abgegeben, weil sie sich mit ein paar alten Freundinnen treffen wollte. Weißt du nicht mehr? Ich habe extra bei dir vorbeigeschaut, um ihn zu sehen.«

Sie überlegt kurz. »Stimmt. Trotzdem kannst du froh sein, dass sie jetzt wieder hier leben werden. Es wird Zeit, dass der Kleine seinen Onkel richtig kennenlernt.«

»Hast du schon vergessen, dass es Tobins und Neilas Entscheidung war, nach Münster zu ziehen? Niemand hat sie dazu gezwungen.«

Sie möchte etwas sagen, schließt den Mund aber schon im nächsten Augenblick wieder.

Eine Weile sagt niemand von uns ein Wort. Schweigend essen wir weiter, während ich versuche, mir die letzte Begegnung mit Neila in Erinnerung zu rufen.

Tobins Beerdigung.

Sechs Jahre ist es her.

Und danach? Ich kann mich an eine flüchtige Begegnung erinnern, vielleicht vor zwei Jahren, als sie gemeinsam mit meinen Eltern und Lian ein Picknick am Strand veranstaltete. Unsere Begrüßung war derart gezwungen und angespannt, dass es mir heute noch eine Gänsehaut bereitet, wenn ich daran denke.

»Wie kommst du damit zurecht?«, fragt sie plötzlich, als hätte sie direkt in mein Innerstes geschaut.

Wie ertappt schaue ich auf. »Was meinst du?«

»Komm schon, Rafael, du weißt genau, was ich meine.« Sie schaut mich mitfühlend an. »Sie war deine erste große Liebe. Ich weiß, wie schwer es dir damals fiel, sie gehen zu lassen.«

»Das ist neun Jahre her, Mama. Wir waren neunzehn. Im Grunde noch Kinder.«

Ich versuche, so unbefangen wie möglich weiter zu essen. Doch sie scheint ganz genau zu wissen, wie es in mir aussieht.

»Außerdem wissen wir beide, dass Tobin das Beste war, was sie bekommen konnte«, fahre ich fort. »Er war der Richtige für sie.«

Sie faltet die Hände unter dem Kinn zusammen und betrachtet mich aufmerksam. »So einfach, wie du das heute in Worte fasst, war es damals aber nicht.«

»Was damals war, spielt heute keine Rolle mehr. Du weißt genauso gut wie ich, dass niemand sie so hätte lieben können, wie Tobin es getan hat. Er war«, ich schlucke, »einfach der perfekte Mann für jemanden wie Neila.«

So schwer mir diese Worte selbst heute noch fallen, so sicher bin ich mir auch nach all den Jahren noch, dass es stimmt.

Eine Weile schaut sie mich schweigend an, dann senkt sie betrübt den Blick.

»Es ist nicht fair, dass ihre junge Familie so früh zerbrochen ist«, sagt sie leise, während sie die Tränen erdrückt. »Wäre er doch nur nie in dieses verdammte Flugzeug gestiegen.«

Stille legt sich über uns und macht Tobins viel zu frühen Tod wieder allgegenwärtig – und mit ihm all die unausgesprochenen Worte, die die Reue geradezu lähmend machen.

Nach einem heftigen Räuspern macht sie sich gerade und ringt sich ein zuversichtliches Lächeln ab. »Umso wichtiger ist es, dass die beiden jetzt in unserer Nähe sind. So hat all das Drama wenigstens etwas Gutes.«

Ich möchte etwas antworten, doch das Chaos in meinem Kopf verhindert jeden klaren Gedanken.

Mehr als ein monotones »Du hast recht« bekomme ich nicht heraus.

In genau diesem Moment setzt sich eine Elster auf die Vogeltränke, nur wenige Meter neben dem Gartentisch.

»Oh, schau mal«, Mutter lächelt entzückt, »Elsie ist da und wartet auf eine Nudel.«

»Eine Nudel?« Ich hebe grinsend die Augenbrauen.

»Nudeln mag sie besonders, weißt du?« Sie fischt eine kleine Eiernudel von ihrem Teller und wirft sie zur Tränke, wo die Elster sie sofort aufpickt. »Sie leistet uns oft Gesellschaft, wenn wir draußen essen.«

Schweigend widme ich mich meinem Teller, während meine Gedanken erneut abschweifen.

Ja, vielleicht stimmt es wirklich, dass es für die Familie besser ist, wenn der kleine Lian und seine Mutter in Tobins Heimat leben. Und sicher ist es auch für die beiden das Beste, hier zu wohnen. Ob es allerdings für meinen Seelenfrieden besser ist, Neila wieder gegenüberzutreten, wage ich zu bezweifeln.

Sollte ich das erste Treffen mit ihr lieber so schnell wie möglich hinter mich bringen, damit sich wenigstens so etwas ähnliches wie Normalität zwischen uns entwickeln kann, jetzt wo wir praktisch so etwas wie Nachbarn sind? Oder zögere ich die Begegnung lieber so lange hinaus wie möglich? Will sie mich überhaupt sehen? Macht sie sich möglicherweise gar keine Gedanken über unser Wiedersehen?

Da ist es wieder, das seltsame Gefühl in der Magengegend, das mich überkommt, wann immer ich an Neila denke.

Selbst heute noch – neun Jahre nach der schwersten Entscheidung meines Lebens.

Kapitel 4

Neila

Die Kisten, die im Laufe der letzten Woche vom Umzugsunternehmen hergebracht wurden, stapeln sich in jeder freien Ecke des Hauses. Die Möbel stehen bereits an den vorgesehenen Plätzen, trotzdem fällt es mir von meinem Sessel am Fenster aus schwer, mir das Haus als ein bald bewohnbares Zuhause vorzustellen.

Gedankenverloren schaue ich hinaus in den Garten hinter dem Haus. Die pastellblaue Farbe des Holzzauns blättert bereits an einigen Stellen ab. Ihn zu streichen wird ein weiterer Punkt auf der Todo-Liste werden, gleich nach einem Besuch im Baumarkt, um eine Schaukel zu besorgen.

Ob ich die ungepflegten Blumenbeete vor dem Geräteschuppen neu bepflanze? Oder mache ich sie lieber ganz platt und sähe einfach einen Rasen aus?

Seufzend lasse ich das Gesicht in die Hände sinken.

War es wirklich so eine gute Idee herzukommen? Mute ich mir nicht vielleicht ein bisschen zu viel zu? Eine Dachgeschosswohnung mit kleinem Balkon ist eben doch etwas anderes, als für ein ganzes Haus verantwortlich zu sein. Noch dazu eins von den Häusern, die ich vermutlich für immer mit Tobin in Verbindung bringen werde. Ich erinnere mich nur zu gut an den Nachmittag im Mai, als er mich zum ersten Mal mit zu seiner Großmutter mitgenommen hat. Dass Lisa von diesem Moment an eine der wichtigsten Bezugspersonen für mich werden würde, konnte ich damals natürlich noch nicht ahnen.

Als ich wieder aufschaue, bemühe ich mich um ruhigen Atem. Im Grunde bin ich doch glücklich – oder?

Glücklich über diesen Neuanfang. Glücklich über die schöne und unbeschwerte Kindheit, die Lian hier verbringen darf. Und sicher wird es nicht lange dauern, bis er seine ersten Freunde finden wird.

Ein Klopfen an der angelehnten Tür reißt mich aus meinem Gedankenkarussell.

Er ist es.

Er ist es wirklich.

Ich brauche ein paar Sekunden, um diesen Moment zu begreifen, aber je weiter er in das Innere das Zimmers tritt, desto klarer wird mir, dass das Wiedersehen mit ihm einer der Hauptgründe war, unseren Umzug bis heute hinauszuzögern.

Eine Weile sitze ich einfach nur da und schaue ihn schweigend an – fast so, als müsste ich erst voll und ganz verinnerlichen, dass er wirklich hier ist. Dann stehe ich schließlich auf.

»Rafael.« Mit zögerlichen Schritten gehe ich auf ihn zu. »Das ist aber nett, dass du vorbeischaust.«

Das Lächeln, das ich mir abringe, ist mechanisch und unsicher. Ob er meine Nervosität bemerkt?

So sehr ich auch versuche, seinen Blick zu deuten, der Ausdruck in seinen tiefbraunen Augen ist undurchdringlich.

Als er kurz vor mir steht, breitet er schließlich die Arme aus und zieht mich an sich.

Eine Umarmung unter alten Freunden – eigentlich nichts Besonderes. Und doch spüre ich seine verkrampfte Haltung, seinen angespannten Atem.

Als wir uns wieder voneinander lösen, lächelt auch er endlich.

»Ich wollte euch natürlich auch in der Heimat willkommen heißen«, sagt er, während er einen Schritt zurücktritt.

Für einen Moment betrachte ich ihn wortlos. Seine Augen wirken noch tiefer, noch einnehmender als damals. Das kaffeebraune Haar ist kurz geschnitten, der Zehn-Tage-Bart passt sich perfekt den ausgeprägten Konturen seines Gesichts an.

Für den Bruchteil einer Sekunde spüre ich das altvertraute Flattern in der Magengegend, das mich schon damals in seiner Gegenwart grundsätzlich aus dem Konzept gebracht hat. Doch schon kurz darauf hat mein Verstand erneut das Kommando übernommen.

»Lieb von dir«, antworte ich so gefasst wie möglich und wende mich von ihm ab, um in die Küche zu gehen – und somit seinem verwirrenden Blick auszuweichen. »Kann ich dir vielleicht einen Kaffee anbieten?«

Er folgt mir. »Nett von dir.«

Allein die Gewissheit, dass er hinter mir geht, macht den Moment umso absurder.

Kann ich dir vielleicht einen Kaffee anbieten?

Habe ich ihn das gerade wirklich gefragt?

Neun Jahre nach einer so tiefen Liebe. Eine Liebe, die ich glaubte, niemals überwinden zu können – und alles, worüber wir jetzt reden, ist eine Tasse Kaffee?

In der Küche angekommen hebe ich einen Karton vom Stuhl, damit er sich setzen kann.

»Tut mir leid, ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.« Lachend wende ich mich der Kaffeekanne auf der Anrichte zu. »Für Koffein zu sorgen hielt ich erst mal für das Wichtigste.«

»Nur kein Stress.« Er nimmt auf dem Stuhl direkt vor dem kleinen Küchenfenster Platz. »Es ist euer erster Tag. Du hast alle Zeit der Welt. Wenn du willst, kann ich dir beim Auspacken helfen.«

So lieb sein Vorschlag auch gemeint ist, so deutlich ist ihm die innere Anspannung noch immer anzumerken. Sicher macht er mir dieses Angebot nur aus Höflichkeit. Wer weiß, vielleicht hat ihn sogar seine Mutter dazu gedrängt, mich zu unterstützen?

»Schon okay.« Ich schiebe einen großen Kaffeebecher zu ihm herüber und setze mich mit meiner Tasse auf den Platz gegenüber. »Deine Mutter hat mir ihre Unterstützung auch schon angeboten, aber ich fand es hilfreicher, wenn sie mit Lian zum Strand herunterfährt. So habe ich ein bisschen Zeit, nicht nur all den Krempel, sondern auch meine Gedanken ein bisschen zu sortieren.« Ich lächele leicht. »Man zieht schließlich nicht alle Tage um.«

»Vielleicht hast du recht.« Er räuspert sich. »Vermutlich ist es besser, die Lage erst mal allein zu überblicken, bevor man sich von jemandem helfen lässt. Am Ende stehen wir dir doch nur im Weg.«

»Ganz genau das meine ich.« Ich atme tief durch. »Wobei ich euch natürlich für jede Hilfe dankbar bin. Aber ich glaube, ich wäre jetzt gar nicht in der Lage, euch zu sagen, wie genau ihr mir helfen könnt. Es ist alles noch so ... so neu und verwirrend. Auch wenn es im Grunde eine Heimkehr ist.«

»Ich verstehe, was du sagen willst.«

Der Blick, mit dem er mich betrachtet, ist undurchschaubar. Versteht er wirklich, was ich meine? Und ist er hier, weil er es möchte – oder weil er denkt, dass es von ihm erwartet wird?

Eine Weile sagen wir gar nichts. Stattdessen schauen wir uns auf eine Weise an, die all die verdrängten Erinnerungen auf einen Schlag zurückholt.

Ich spüre, wie der Puls in meinen Schläfen pocht. Merke, wie meine Hände feucht werden.

Ganz ruhig, Neila. Du redest dir diese Nervosität nur ein. Es ist neun Jahre her, verdammt! Neun Jahre, in denen sich deine Welt mehrmals um die eigene Achse gedreht hat. Neun Jahre, in denen sich alles – wirklich alles – verändert hat, was sich verändern konnte.

Ich umklammere meine Tasse mit beiden Händen, während ich mich um ruhigen Atem bemühe.

*

Rafael

Sie trägt das glatte Haar inzwischen länger als damals, doch das Rostbraun mit seinem leicht rötlichen Schimmer ist noch genauso intensiv wie damals. Ihre Gesichtszüge sind inzwischen wesentlich fraulicher, das Mädchenhafte ist einer Sinnlichkeit gewichen, die ihre Anwesenheit noch verwirrender macht.

Habe ich gerade auf ihre weichen Lippen gestarrt?

Krieg dich wieder ein, du Schwachkopf!

Reflexartig wende ich meinen Blick ab und schaue aus dem Fenster. »Der Garten ist ziemlich heruntergekommen. Lisa hatte zuletzt nur noch wenig Energie, um sich darum zu kümmern. Aber wenn man ihr angeboten hat, ihr zu helfen, wimmelte sie jeden von uns ab.«

»Sie war schon immer sehr eigensinnig.« Neila lächelt. »Das habe ich wohl mit ihr gemeinsam.« Plötzlich schleicht sich ein Hauch von Wehmut auf ihr Gesicht. »Ich glaube, ich werde es mir nie verzeihen, dass ich nicht auf ihrer Beerdigung war.«

»Mutter sagte, dass Lian krank war und du deshalb nicht kommen konntest?«

Sie nickt. »Er hatte schlimmen Keuchhusten und hohes Fieber. Er war sogar ein paar Tage im Krankenhaus deswegen.«

»Dann hattest du keine Wahl. Lisa hätte das verstanden, das weißt du.«

Sie schweigt. Das schlechte Gewissen scheint sie trotz allem noch immer fest im Griff zu haben.

»Ich bin mir sicher, dass du etwas Wundervolles aus alldem hier zaubern wirst«, sagt er plötzlich.

Sie schaut hinaus. »Die erste Mission wird eine Schaukel für Lian sein. Alles andere kommt später.«

Ich betrachte sie von der Seite. Die zarten Konturen ihres Kinns. Die rosigen Wangen.

Augenblicklich schleicht sich die Erinnerung an ihre Haut unter meinen Fingern in mein Bewusstsein.

Reiß dich zusammen, du Idiot! Reiß dich, verdammt nochmal, zusammen!

»Meine Mutter hat gesagt, dass du einen Job in der Förderschule gefunden hast?«, frage ich.

Sie nickt. »Ich werde dort im Schulsekretariat arbeiten. Nach den Ferien fange ich an.«

»Klingt doch super.«

Sie nippt an ihrem Kaffee und senkt den Blick in ihre Tasse. »Wir werden sehen, wie ich mich dort mache. Aber da ich in meinem Steuerbüro-Job am Ende ohnehin nicht mehr glücklich war, freue ich mich über die Veränderung.«

Ich schaue sie schweigend und vermutlich etwas zu lange an. Eine Tatsache, die ihr ein verwirrtes Lächeln abverlangt.

Ich atme tief durch, während ich mich so gelassen wie möglich zurücklehne. Wen kümmert es schon, wie es in mir aussieht? Woher soll sie auch nur die leiseste Ahnung haben, was nach all den Jahren in mir vor sich geht?

»Du wirst dich sicher gut zurechtfinden.« Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee. »Bist ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen.«

»Das hoffe ich doch.« Sie schaut mich an. »Und wie sieht’s bei dir aus? Schon wieder was Neues auf die Beine gestellt?«

Ich sehe sie fragend an. »Wie meinst du das?«

»Na ja, seitdem du damals deine Firma verkauft hast.« Sie kratzt sich am Kopf. »Wie waren noch mal die Worte deiner Mutter über die Firma? So’ne Art Singlebörse für Workaholics?«

Ich lache. »Nett, wie meine Mutter das Projekt beschreibt, mit dem ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt habe.«

Augenblicklich schäme ich mich für meine großkotzige Antwort. Will ich Neila etwas beweisen? Muss sie wirklich wissen, was ich alles erreicht habe? Sie war schließlich nie jemand, der sich fürs große Geld oder reiche Kerle interessiert hat.

»Dass du Millionen mit dem Verkauf verdient hast, weiß ich.« Sie schaut mich freundlich, aber unbeeindruckt an. »Aber das ist immerhin vier Jahre her. Du musst doch seitdem irgendetwas gemacht haben. Also beruflich.«

»Ich kaufe hin und wieder Firmenanteile.« Ich verschränke die Hände hinter meinem Nacken und lehne mich gedankenverloren zurück. »Auf die Weise treibe ich meinen Einfluss in den verschiedensten Branchen in die Höhe, verstehst du?«

Sie seufzt. »Um ehrlich zu sein, nicht. Du meinst also, du hast zur Zeit kein eigenes Projekt? Du warst doch immer mit Leib und Seele Programmierer. Fehlt dir das denn nicht?«

»Ich bin heute nicht mehr derselbe wie damals, Neila. Die Dinge haben sich geändert.«

Ich versuche, die Gedanken an die Vergangenheit auszublenden, doch die Macht der altvertrauten Schmerzen ist nach wie vor ungebrochen. Wortlos senke ich den Blick, während ich mich bemühe, mir nichts anmerken zu lassen.

»Dann hatte deine Mutter also recht.« Sie hebt grinsend die Augenbrauen.

»Recht? Womit?«

»Na ja.« Sie lehnt sich mit wissendem Blick zurück. »Dass du dich mittlerweile mehr auf das Vergnügen konzentrierst.«

Die Art, wie sie mich dabei anschaut, lässt mich zunehmend unruhiger werden. Sie wirkt noch immer unsicher, fast schon zurückhaltend – aber wie passt dann dieser Kommentar zu ihr?

»Ich habe hin und wieder Dates, ja.« Ich schaue sie unberührt an. »Warum auch nicht?«

Sie sieht mich ohne ein Wort an. In ihren Augen kann ich genau sehen, welche Formulierungen meine Mutter in ihrer Gegenwart verwendet hat. Anstelle von Dates fielen sicher Worte wie sexuelle Abenteuer oder unverbindliche Affären.

»Sie macht sich einfach nur Sorgen, dass es all diese Frauen nur auf dein Geld abgesehen haben«, sagt sie nach kurzem Zögern. »Das ist alles.«

»Selbst, wenn es so wäre«, ich straffe meinen Rücken und schaue sie direkt an, »ich bin alt genug, um selbst zu merken, wer welche Absichten hat. Und solange meine Absichten auch zu denen der Frauen passen, ist doch alles im grünen Bereich.«

Noch während ich diese Worte ausspreche, ärgere ich mich über meine unzensierte Antwort. Was will ich ihr beweisen? Dass ich über sie hinweg bin? Dass ich tun und lassen kann, was ich will? Dass keine Frau der Welt die Macht hat, etwas von mir verlangen zu können? Dass ich entscheide, zu welchen Bedingungen ich mich vergnüge?

»Schon okay, Rafael«, sie hebt verteidigend die Hand, »das geht mich ja auch überhaupt nichts an. Solange du glücklich mit deinem Leben bist, ist alles andere egal.«

Ich möchte etwas antworten, doch ihr Blick bringt mich für den Moment aus dem Konzept.

Irre ich mich oder scheint sie verwirrt? Und wie kommt meine Mutter überhaupt darauf, ihr solche Dinge zu erzählen?

»Nicht jeder passt in das Konzept Ehe«, sage ich schließlich. »Und das, was du mit Tobin hattest, ist eben nicht jedem vergönnt.«

Kaum ausgesprochen klingen die Worte vollkommen anders, als ich sie gemeint habe. Ich atme tief ein, möchte meine Aussage richtigstellen, merke aber im selben Augenblick, dass ich gar nicht weiß, was ich eigentlich richtigstellen soll.

Ohne ein Wort steht sie auf und öffnet den Karton auf dem Tisch, als müsste sie sich dringend von den eigenen Gedanken ablenken. Nach und nach holt sie in Zeitungspapier verpackte Tassen und Teller heraus und stellt sie auf die Anrichte.

»Neila, ich ...« Ich erhebe mich von meinem Stuhl. »Das, was ich eben gesagt habe ...«

»Schon okay, Rafael. Du hast ja recht.« Sie wickelt einen der Teller aus. »Das, was ich mit Tobin hatte, war ziemliches Glück. Wenn auch nur für kurze Zeit.«

Sie senkt den Blick auf den Karton, doch eigentlich schaut sie ins Leere.

Ob sie die Sehnsucht nach ihm überkommt? Die Trauer, die sicher selbst nach sechs Jahren noch ausreichend Macht besitzt, um sie zum Weinen zu bringen?

Oder dachte sie vielleicht sogar an uns? An das, was hätte sein können, wenn ...

Sie packt gerade eine Tasse aus, als ihr im selben Moment einer der Teller beinahe vom Tisch rutscht. Reflexartig springe ich herbei und greife danach. Als sich unsere Finger für den Bruchteil einer Sekunde berühren, treffen sich unsere Blicke.

Es ist nur ein kurzer Moment, so flüchtig, dass er kaum der Rede wert ist. Doch in ihren Augen kann ich sehen, dass sie ihn ebenso wahrnimmt wie ich.

In diesem Augenblick sind es keine neun Jahre, die die Gefühle der Vergangenheit von der Gegenwart trennen. In diesem Moment ist all das, was uns damals zueinander zog, wieder da. Fast so, als wäre kein einziger Tag vergangen. Als hätte niemand von uns jemals eine falsche Entscheidung getroffen.

Mein Blick fällt erneut auf ihre sinnlichen Lippen. Nur ein winziger Wimpernschlag, und doch hat allein die Erinnerung noch immer dieselbe Macht wie früher.

»Ich ... ich sollte jetzt gehen.« Ich lasse den Teller los und trete einen Schritt zurück. »Du kannst sicher ein bisschen Ruhe gebrauchen.«

»Danke, dass du da warst.« Sie atmet tief durch, während sie sich ein kleines Lächeln abringt. »Es war schön, dich mal wiederzusehen.«

Ich weiß, dass ich aus reiner Höflichkeit etwas erwidern müsste. Dass ich ihr die Hand reichen oder sie zum Abschied umarmen sollte. Stattdessen wende ich mich schweigend von ihr ab und eile zur Haustür, die noch immer offensteht.

Kapitel 5

Neun Jahre zuvor

Neila

»Und es ist wirklich okay, wenn ich bei euch esse?« Ich setze mich auf Tobins Bett und greife nach dem aufgeschlagenen Buch.

»Klar ist das okay.« Er setzt sich neben mich und lehnt sich gegen die Wand, die direkt an sein Bett grenzt. »Meine Mutter kocht eh immer so viel, als würde eine ganze Fußballmannschaft zum Abendessen kommen.«

»Und es ist nicht aufdringlich, wenn ich bleibe?«

»Wenn ich es dir doch sage.« Er schlägt seinen Ordner auf. »Dann haben wir wenigstens keinen Zeitdruck und können in Ruhe lernen.«

Ich senke den Blick in das Buch. »Manchmal würde ich trotzdem gern alles hinschmeißen. Wenn ich nur an Frau Passioneit denke, die nichts anderes tut, als uns das Lehrbuch vorzulesen, frage ich mich, wie viel unsere Ausbildung am Ende wirklich wert sein wird.«

»Das Wichtigste lernen wir doch eh in den Praxis-Wochen.« Er presst sich die Faust gegen die Brust. »Und ehe wir uns versehen, dürfen wir uns offizielle Bürokaufleute nennen.«

Ich muss über seine Worte lachen. »Du hast recht. Und dann suchen wir uns coole Jobs in einem noch cooleren Unternehmen.«

»Wer weiß, vielleicht landen wir ja sogar in derselben Firma.«

»Ist schon möglich.«

Er blättert eine Seite um und liest die letzten Zeilen seiner Notizen, als es plötzlich an der Tür klopft.

»Ja?« Er schaut genervt auf.

»Tobin?« Seine Mutter schaut durch den Türspalt. »Ich störe euch ja nur ungern beim Lernen, aber Leon ist da. Er will mit dir irgendwas wegen einer«, sie denkt kurz nach, »Geburtstagsparty bequatschen? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ach ja.« Tobin legt den Ordner zur Seite. »Ich hatte ihm ja versprochen, ihm bei den Einkäufen für seine Party zu helfen, solange er noch keinen Führerschein hat.« Er schaut mich an. »Tut mir leid, ich muss das kurz mit ihm klären. Bin gleich wieder da, okay?«

»Nur keine Eile. Ich kann warten.«

Seine Mutter nickt mir freundlich zu, dann geht sie mit Tobin die Treppe hinunter.

Für einen Moment lehne ich mich gedankenverloren zurück.

Ich liebe es, mit Tobin zu lernen. Er ist einfach ein Schatz und ständig darum bemüht, dass ich genauso viel von unseren Lern-Nachmittagen habe wie er. Und dass er mich mindestens genauso oft abfragt wie ich ihn, wenn nicht sogar noch öfter.

Aber was ist mit den etwas zu tiefen Blicken, die er mir manchmal heimlich von der Seite zuwirft, wenn er glaubt, dass ich es nicht merke? Was ist mit dem verlegenen Lächeln, das sich immer wieder auf seine Lippen schleicht, wenn ich etwas Nettes zu ihm sage oder ihn zum Abschied freundschaftlich umarme?

Ist es wirklich klug, die Vermutung auszublenden, dass er in mich verliebt ist? Und was wäre so schlimm daran, ihn darauf anzusprechen? Jedes Mädchen könnte sich glücklich schätzen, einen so lieben Kerl an ihrer Seite zu haben.

Erst jetzt bemerke ich, wie sich der Türspalt vergrößert.

Irritiert schaue ich auf.

Der fensterlose Flur wirft Schatten auf sein Gesicht, trotzdem kann ich seine durchdringenden Augen selbst im Halbdunkel erkennen.

»Hey«, nun tritt er ins Zimmer hinein, »du musst Neila sein. Tobin hat mir schon viel von dir erzählt.«

Er schiebt die Hände in die Hosentaschen und bleibt in der Mitte des Raumes stehen.

Ich versuche, mich zu erinnern, ob ich ihn vorher schon mal bewusst gesehen habe. Zweimal ist er mir flüchtig vor dem Haus begegnet, aber bisher habe ich ihn nie sonderlich beachtet, geschweige denn mit ihm gesprochen.

In diesem Moment, als er mit seinem wuscheligen Haar und dem geheimnisvollen Blick vor mir steht, ertappe ich mich allerdings bei einem sehr seltsamen Gefühl der Nervosität.

»Du musst Rafael sein«, ist alles, was ich herausbekomme. »Tobins älterer Bruder, oder?«

Er verschiebt die Mundwinkel, vermutlich seine Art zu lächeln.

»Bin nur ein Jahr älter«, erklärt er.

Ich nicke schweigend, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Seine Anwesenheit fühlt sich irgendwie verwirrend an.

»Bin nur auf dem Sprung hier«, sagt er. »Ein paar Sachen für meine Wohnung abholen.«

»Du hast schon eine eigene Wohnung?« Ich schaue ihn neugierig an.

»Wenn man ein kleines Wohnzimmer mit offener Küche als Wohnung bezeichnen will ...«

Ich lächele leicht, senke dabei aber den Blick, als könnte mich allein die Farbe meiner Wangen verraten.

Warum macht mich seine Gegenwart denn überhaupt so nervös? Ich kenne ihn doch gar nicht.

Plötzlich setzt er sich auf die Bettkante neben mir und betrachtet den Deckel meines Lehrbuchs.

»Allgemeine Wirtschaftslehre?« Er hebt die Augenbrauen. »Klingt aber nicht sehr spannend.«

»Ist es auch nicht.« Ich grinse. »Aber ist halt notwendig, um die Ausbildung irgendwann abschließen zu können.« Ich betrachte ihn neugierig. »Tobin hat erzählt, dass du Programmierer bist?«

»Ich studiere Informatik.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Mal schauen, wohin mich das Ganze bringt. Hab gerade erst angefangen.« Er sieht mich neugierig an. »Ich habe dich noch nie hier in Rerik gesehen. Bist du von hier?«

Ich nicke. »Ich bin in einem Nachbardorf aufgewachsen. In Bastorf. Aber letztes Jahr sind meine Eltern nach Rostock gezogen. Für mich war trotzdem immer klar, dass meine Heimat hier ist. Deshalb wohne ich mit einer Freundin in einer kleinen WG in Wismar und freue mich immer, wenn ich mit Tobin hier in Rerik lernen kann.« Ich atme tief durch. »Das fühlt sich einfach wie Heimat an, weißt du?«

»Heimat«, wiederholt er gedankenverloren, während er mir einen Blick zu wirft, der mich bis ins Innere berührt.

Was hat dieser Ausdruck in seinen Augen zu bedeuten? Und gilt diese Aufmerksamkeit mir – oder schaut er jeden anderen auf dieselbe Weise an?

Ich spüre, wie mein Puls zu rasen beginnt.

Diese Augen. Dieses rätselhafte Lächeln.

In genau diesem Moment kommt Tobin zurück ins Zimmer. »So, das mit der Party wäre auch geklärt.« Als er Rafael entdeckt, bleibt er irritiert stehen. »Hey ... du bist auch hier? Habe dich gar nicht kommen hören. Bleibst du zum Essen?«

»Ich hole nur ein paar Sachen ab.« Rafael steht auf. »Bin schon so gut wie weg.«

Etwas an der Situation irritiert mich. Bilde ich es mir nur ein oder ist Tobin die Anwesenheit seines Bruders unangenehm? Und warum ist Rafael überhaupt in sein Zimmer gekommen? Begrüßt er jeden von Tobins Gästen?

Rafael presst die Lippen zusammen und pufft mit der Faust leicht gegen Tobins Wange. »Bleib anständig, Kumpel.«

Dann verlässt er das Zimmer ohne ein weiteres Wort.

Für einen Moment schaue ich ihm verwundert hinterher. Wenn er ein Jahr älter als Tobin ist, müsste er neunzehn sein – genauso alt wie ich. Warum wirkt er dann so viel reifer? Und erwachsener?

»Alles okay?« Tobin betrachtet mich überrascht.

»Ja«, antworte ich schnell, »was soll nicht okay sein?«

»Keine Ahnung.« Er setzt sich neben mich und greift nach seinem Ordner. »Rafael hat das Talent, seine Mitmenschen ziemlich schnell aus dem Konzept zu bringen.«

Ich lasse seine Worte eine Weile auf mich wirken.

Er hat das Talent, seine Mitmenschen aus dem Konzept zu bringen.

Heißt das, dass ich mir nur eingebildet habe, seine Aufmerksamkeit würde mir gelten? Warum verschwende ich überhaupt einen Gedanken daran? Vermutlich sehe ich ihn ohnehin nie wieder.

»Aus dem Konzept?«, wiederhole ich mit verlegenem Lachen. »Na ja, bei mir schafft er das sicher nicht.«

Eine kleine Falte schiebt sich zwischen Tobins Augen, dann senkt er den Blick erneut in seinen Ordner. »Also? Wo waren wir stehengeblieben?«

»Ähm ...« Nervös beginne ich, in meinem Buch zu blättern. »Ich glaube, wir hatten noch gar nicht richtig angefangen.«

»Na dann wird es aber höchste Zeit.«

Kapitel 6

Gegenwart

Rafael

Ich schiebe die Mappe über den Schreibtisch und lasse mich auf den Besucherstuhl fallen.

Seufzend schlägt Rouven den Hefter auf und lehnt sich damit in seinem Ledersessel zurück. »Ist ja wieder mal das totale Chaos.«

»Wieso Chaos? Das sind alle Belege aus dem letzten Quartal – so wie immer.«

»Und so wie immer hast du mir keinen einzigen per Mail geschickt, sondern bringst mir eine Lose-Blatt-Ablage.« Rouven kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, während er die Mappe wieder zuschlägt. »Aber keine Sorge, ich kriege das schon hin. Dauert dann halt nur ein bisschen länger.«

»Da bin ich mir sicher.« Ich lehne mich zurück. »Ich vertraue dir nicht nur als Freund, sondern auch als Steuerberater blind.« Ich zwinkere ihm zu. »Du bist einfach der Beste auf deinem Gebiet.«

»Womit habe ich denn so viel Lob verdient?« Rouven beugt sich über den Schreibtisch, während er die Hände ineinander verschränkt. »Sag schon, Alter, was ist los? So gefühlsduselig kenne ich dich ja gar nicht.«

Ich betrachte ihn irritiert. »Gefühlsduselig? Echt? Das bildest du dir ein.«

Rouven hebt die Augenbrauen. »Komm schon, Rafael, ich kenne dich. Schon allein die Tatsache, dass du mir die Belege nicht auf den letzten Drücker wie sonst bringst, hat doch irgendetwas zu bedeuten.«

Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, seine Vermutung herunterzuspielen, doch je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass er recht hat.

Nachdenklich verschiebe ich die Mundwinkel, während ich nach den richtigen Worten suche.

»Ich war vorhin bei Neila«, sage ich schließlich.

»Neila?« Er schaut mich überrascht an. »Dann hat sie es also wirklich durchgezogen?«

Ich nicke. »Sie zieht heute mit ihrem kleinen Sohn Lian ein. Sie hat sogar schon einen Job. Nach den Ferien fängt sie als Schulsekretärin an.«

»Nicht zu fassen.« Er fasst sich an die Stirn. »Dann kommt sie also tatsächlich hierher zurück.«

Ich atme tief durch. »Sieht ganz so aus.«

Rouven lehnt sich fassungslos zurück. »Und du warst bei ihr? Einfach so?«

»Na ja, sie ist immerhin meine Schwägerin. Und Lian ist mein Neffe. Ich dachte, je eher ich unser erstes Treffen hinter uns bringe, desto besser. Sonst wird es einfach zu ... na ja ... zu verkrampft.« Ich denke kurz nach. »Obwohl es auch so schon ziemlich verkrampft war.«

Rouven verschränkt die Hände im Nacken und mustert mich skeptisch. Sein sonst so markantes Kinn ist mittlerweile etwas weicher geworden, ebenso wie der Ansatz seines Bauchs. Das kurze weizenblonde Haar ist das einzige Detail, das sich seit unserer Jugend kaum verändert hat.

»Und wie kommst du damit klar, sie wieder in deiner Nähe zu haben?«, fragt er nach kurzem Zögern.

Eine Weile denke ich über seine Frage nach. Eine Frage, die ich mir selbst schon seit Tagen stelle und auf die sich einfach keine Antwort finden lässt.

»Na ja, als ich erfahren habe, dass sie zurückkommt, habe ich das irgendwie von mir weggeschoben, in der Hoffnung, dass es dadurch weniger wahr ist.« Ich halte den Atem an. »Aber insgeheim habe ich auch irgendwie gehofft, sie wiederzusehen. Ach, es ist alles so ... ich weiß auch nicht.«

»Habt ihr je über damals gesprochen?« Er neigt den Kopf zur Seite. »Ich meine, so richtig?«

Ich schweige.

»Rafael?« Er schaut mich fragend an.

»Eigentlich nicht«, antworte ich schließlich.

»Dann weiß sie auch nichts von ...« Er gerät ins Stocken. »Na, du weißt schon.«

Ich senke den Blick auf meinen Schoß, während ich schon allein die Vorstellung verdränge, jemals mit ihr darüber zu reden.

»Nein, sie weiß nichts davon. Und es spielt jetzt auch ohnehin keine Rolle mehr«, sage ich schließlich. »Das alles ist Ewigkeiten her.«

»Du weißt, dass Neila dich geliebt hat. Und wenn du nicht ... ich meine ...« Er atmet tief ein. »Tatsache ist, dass es ihr nicht entgehen wird, wie sehr du dich seit damals verändert hast. Sie wird sich sicher wundern.«

»Verändert? Ich?« Ich schaue auf. »Was soll das heißen?«

»Ach komm schon, Rafael, du weißt genau, was ich meine.«

»Ich fürchte nicht ...«

»Du bist einfach unfähig, dich fest zu binden oder einfach irgendwem zu vertrauen. Für dich ist alles nur ein reines Abenteuer, vor allem, was Frauen angeht.«

Seine Feststellung nervt. Trotzdem weiß ich, dass er recht hat.

»Und wenn schon. Ich glaube nicht, dass mich die Vergangenheit verändert hat. Ich denke eher, dass ich einfach das Leben genieße. Die Freiheit – alles, was zum Jungsein dazugehört.«

»Du bist 28.«

»Ach, und das ist nicht jung?«

»Klar, aber ... na ja ... es passt einfach nicht zu dir. Ich kenne dich schon fast mein ganzes Leben. Und ich weiß, dass du dir nur selbst etwas vormachst, wenn du dir einredest, dass dir Sex allein genügt. Und dass du diese Unverbindlichkeit in Kauf nimmst, nur um ja nicht auf dünnes Eis zu geraten.«

»Ich gerate niemals auf dünnes Eis«, antworte ich mit fester Stimme. »Weder beruflich noch privat.«

»Und genau das meine ich.« Er stützt das Kinn auf seinen Handrücken und betrachtet mich mit wissendem Blick. »Du gehst jedem Risiko aus dem Weg, aber dabei machst du es dir selbst auch ziemlich schwer, irgendwann mal wirklich glücklich zu werden.«

»Hast du dich neben den Steuern jetzt auch auf Psychologie spezialisiert?« Ich lege die Stirn in Falten.

Rouven grinst. »Nichts für ungut, Kumpel. Ich wollte nur ehrlich sein.«

Ich stehe auf und gehe zum Fenster, das einen unverstellten Blick auf die Strandpromenade bietet. »Schon nachvollziehbar, dass sie zurückgekommen ist. Irgendwann zieht es jeden zurück an die Ostsee.«

Ich schiebe die Hände in meine Hosentaschen und schaue über das lebhafte Treiben auf der Promenade hinüber zur Seebrücke. Das Wasser glitzert silbern in der Nachmittagssonne. Kinder hüpfen fröhlich mit Eistüten in der Hand ihren Eltern davon. Ob Lian und Mutter immer noch am Strand sind?

»Alles okay?«, hakt Rouven nach.

»Klar. Was soll nicht okay sein?«

Er zögert eine Weile.

»Wann siehst du sie wieder?«, fragt er schließlich.

»Keine Ahnung«, antworte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. »Unser Wiedersehen hat sich irgendwie merkwürdig angefühlt. Trotzdem muss ich immer wieder daran denken. Sie scheint noch immer dieselbe wie damals zu sein – und doch ist alles anders.«

»Das war keine Antwort auf meine Frage.«

»Frage? Welche Frage?«

»Na, wann du sie wiedersehen wirst.« Er lacht.

Ich schaue gedankenverloren aufs Wasser. »Früher oder später wird sich das nicht vermeiden lassen. Wir sind jetzt immerhin wieder so was wie Nachbarn. Außerdem wird es Zeit, dass ich meinen Neffen endlich besser kennenlerne.«

»Und was, wenn die alten Gefühle wieder ...«

»Was damals war, spielt keine Rolle«, falle ich ihm ins Wort, bevor er weiterreden kann. »Sie ist meine Schwägerin. Trotz allem.«

Rouven seufzt, antwortet aber nicht.

Ich drehe mich zu ihm. »Tut mir leid, Kumpel, aber ich glaube, wir sollten besser nicht mehr über Neila reden. Das sorgt wieder nur für Chaos in meinem Kopf. Und Chaos ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.«

Rouven grinst. Ein Grinsen, das mehr als deutlich macht, dass er ohnehin weiß, was in mir vor sich geht. Schon immer waren lange Erklärungen zwischen uns überflüssig.

»Ich werde mich jetzt wohl am besten um deine Belege kümmern«, sagt er schließlich. »Wenn schon in deinem Kopf Chaos herrscht, muss das ja nicht unbedingt auch auf deine Steuern zutreffen.«

»Du hast recht.« Lachend klopfe ich ihm auf die Schulter. »Ich lasse dich jetzt besser mal allein. Du hast sicher auch ohne mich eine Menge zu tun.«

Ich wende mich von ihm ab und gehe zur Tür. Mit der Hand auf dem Türgriff drehe ich mich noch einmal um.

»Ich werde das schon irgendwie schaffen«, sage ich.

»Was meinst du?«, fragt er.

»Na ja, halbwegs normal mit Neila umzugehen. Trotz allem.«

»Das glaube ich auch«, antwortet er, doch in seinen Augen kann ich sehen, dass er an diesem Plan genauso zweifelt wie ich selbst.

Kapitel 7

Neila

Als ich den Fuß über die Türschwelle setze, ist es wie eine Reise in die Vergangenheit.

Wann war ich das letzte Mal hier? Zur feierlichen Eröffnung vor vier Jahren? Augenblicklich überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Kim hat sich ihren Traum erfüllt, als Tagesmutter in einer eigenen Einrichtung zu arbeiten – und ich? War erst ein einziges Mal hier. Was für eine Freundin bin ich eigentlich? Doch als ich die offene Tür des ersten Betreuungsraumes erreicht habe, schaut sie direkt aus der Kindermenge auf und strahlt mich so fröhlich an, dass ich meine Gewissensbisse sofort ausblende.

»Hallo Kim«, rufe ich ihr zu. »Störe ich dich gerade?«

»Neila!«, jubelt sie. »Du bist heute schon da???«

Mit breitem Grinsen steht sie auf und dreht sich zu ihrer Kollegin um. »Kann ich dich eine Weile allein lassen?«

»Klar«, sie macht eine flüchtige Handbewegung, »lass dir ruhig Zeit. Die Kleinen und ich kommen schon klar.«

Dann stürmt sie mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. »Ich kann echt nicht glauben, dass du wirklich da bist.« Sie greift nach meiner Hand und zieht mich durch den Flur nach draußen in den Vorgarten. »Lass dich mal anschauen, damit ich auch wirklich begreife, dass du zurück bist.«

Draußen angekommen legt sie ihre Hände in meine und betrachtet mich mit wachem Blick, und auch ich kann es mir nicht verkneifen, sie aufmerksam zu mustern. Ihr kurzes schwarzes Haar trägt sie in einem frechen Pixie-Cut, der perfekt zu ihren knallroten Lippen und dem dunkelblauen Sommerkleid passt.

»Du siehst einfach toll aus, Süße.« Wieder fällt sie mir in die Arme. »Ach, es ist so schön, dass du wieder da bist. Live und in Farbe ist eben doch was anderes als ständig nur WhatsApp und Skype. Am liebsten würde ich sofort wieder eine WG mit dir gründen und die Nächte mit dir durchquatschen. Nur du und ich, was sagst du?«

»Und Lian?« Ich löse mich lachend aus der Umarmung.

»Lian darf natürlich auch WG-Mitglied werden. Immerhin ist er der süßeste Kerl auf diesem Planeten.«

»Und dein Mann? Was machen wir mit dem?«

»Du hast recht.« Sie kratzt sich am Kopf. »Wir sollten den Plan wohl noch mal ganz genau durchdenken.«

Lachend lassen wir uns auf eine der kleinen Holzbänke fallen, die direkt vor dem Spielplatz der Tagesstätte stehen.

»Erzähl schon«, sie legt ihre Hand auf mein Knie, »wann bist du angekommen?«

»Vorhin erst.« Ich lasse mich gegen die Rückenlehne fallen. »Die Kartons stehen fast noch genauso unberührt da wie vor drei Stunden.«

»Und Lian? Wo hast du ihn gelassen?«

»Er ist mit meiner Schwiegermutter am Strand.« Ich seufze. »Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen, um im Haus ein bisschen Klarschiff zu machen, aber dann war die Vorfreude, dich zu sehen, einfach größer. Und als dann auch noch Rafael aufgetaucht ist, habe ich ...«

»Moment mal.« Sie schaut mich entgeistert an. »Rafael war da? In deinem Haus?« Ihre Augen weiten sich. »Gleich am ersten Tag?«

»Ähm ... ja, war er.« Ich lächele verunsichert. »Was ist so ungewöhnlich daran? Immerhin ist er mein Schwager. Klar, dass er mich und seinen kleinen Neffen nach so langer Zeit auch begrüßen will.«

Doch sie scheint meinen kläglichen Versuch, unsere Begegnung herunterzuspielen, sofort zu durchschauen.

»Ach komm schon, Neila, wem machst du etwas vor?« Sie pufft mit dem Ellenbogen gegen meinen Arm. »Rafael wird niemals nur dein Schwager oder der Onkel von Lian sein – und das weißt du auch.«

Ich presse die Lippen aufeinander und schaue schweigend zu Boden.

»Sag schon, was ist passiert?« Sie legt den Finger unter mein Kinn und hebt es sanft an. »Hat er irgendwas gesagt? Hast du irgendwas gesagt? Es muss doch ewig her sein, dass ihr euch das letzte Mal gesehen habt.«

»Es war alles ziemlich krampfig«, sage ich schließlich. »Vermutlich wollte er die Begegnung einfach nur hinter sich bringen, weil er genau wusste, dass wir uns so verhalten würden.«

»Na, ist das ein Wunder?« Sie tätschelt meine Hand. »Das zwischen euch vergisst man nicht so einfach. Auch nicht nach all den Jahren. Dafür war das alles viel zu ... viel zu ...« Sie verstummt. »War es denn sehr schlimm, ihn wiederzusehen?«

Ich versuche, meinen Rücken zu straffen und ein halbwegs tapferes Lächeln aufzusetzen. »Es war okay.« Ich räuspere mich. »Alles in allem war es in Ordnung. Wirklich.«

Doch ihr mitfühlender Blick macht nur allzu deutlich, dass sie nach all den Jahren noch immer bis in mein Innerstes schauen kann.

»Das muss alles ziemlich verwirrend für dich sein«, sagt sie. »Einerseits die Trauer um Tobin, andererseits das Wiedersehen mit Rafael.« Sie holt tief Luft. »Kein Wunder, dass du die Kartons erst mal stehenlässt und an die frische Luft flüchtest.«