Badener Geschichten - Hermine Villinger - E-Book

Badener Geschichten E-Book

Hermine Villinger

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Beschreibung

Hermine Villinge war eine deutsche Schriftstellerin, deren vom Realismus beeinflussten Werke zumeist in ihrer badischen Heimat spielten. In diesem Band finden sich: "Vons." Aus dem Fexenreich. Revisors. Die Bas Die Rebächle

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Ähnliche


Badener Geschichten

Hermine Villinger

Inhalt:

Hermine Villinger – Biografie und Bibliografie

»Vons.«

Aus dem Fexenreich.

Revisors.

Die Bas

Die Rebächle

I

II.

III

IV

V

VI

VII

Badener Geschichten, H. Villinger

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849638054

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Hermine Villinger – Biografie und Bibliografie

Novellistin, geb. 6. Febr. 1849 zu Freiburg i. Br. als Tochter des Geheimen Kriegsrates V., verstorben am 3. März 1917 in Karlsruhe. Kam schon im ersten Lebensjahr nach Karlsruhe, wo sie bis zu ihrem Tode lebte. Sie veröffentlichte (anfänglich unter dem Pseudonym H. Wilfried) die Romane: »Doris« (Bresl. 1880); »Die Livergnas« (das. 1882); das Lustspiel: »Verloren und Gewonnen« (1883); die Novellen und Erzählungen: »Aus dem Kleinleben« (4. Aufl., Lahr 1907); »Zenz« (Stuttg. 1887); »Sommerfrischen« (das. 1887); »Aus meiner Heimat« (das. 1887, 2. Aufl. 1896); »Auch ein Roman und andre Geschichten« (Berl. 1890); »Schwarzwaldgeschichten« (Stuttg. 1892); »Schulmädelgeschichten« (Berl. 1893); »Unter Bauern« (Stuttg. 1894); »Kleine Lebensbilder« (3. Aufl., das. 1900); »Aus unsrer Zeit« (das. 1897); »Aus dem Badener Land« (das. 1897); »Das dritte Pferd« (das. 1899); »Die Thalkönigin« (das. 1899); »Allerlei Liebe« (das. 1901); »Der neue Tag« (das. 1903); »Mutter und Tochter« (das. 1904); »Simplicitas« (das. 1906) u. a. Feiner Humor und meist knappe Form ist den Erzählungen der V. nachzurühmen. Vgl. »Zwei Landsmänninnen. Briefwechsel zwischen Luise Gräfin von Schönfeld und Hermine V.« (Wien 1906; vgl. Haizinger 2).

»Vons.«

An dem Porzellanschild einer kleinen Parterrewohnung, in einem regen Geschäftsviertel der Stadt, war das Wörtchen »von« mit schwarzer Tinte so kräftig nachgezogen, daß der Name Feldern daneben sich beinahe unansehnlich ausnahm. Dies und der Umstand, daß Frau von Feldern auch beim Sprechen ihr »von« über alles Maß zu betonen pflegte, hatte der Familie die überaus kurze, aber vollwichtige Benennung »Vons« eingetragen.

Man lächelte in der Nachbarschaft, wenn das Paar miteinander über die Straße ging; sie immer in schwarzer Seide, schlank und hager, mit Augen, die eigentlich sehr lebhaft waren, denen sie aber einen blasiert vornehmen Ausdruck zu geben bemüht war.

Auch Herr von Feldern war schlank, er ging immer in Grau, trug einen schön gepflegten Backenbart und weiße glänzende Manschetten bis vor auf die Fingerspitzen, Dies war seine Haupteigentümlichkeit; im übrigen war er die Harmlosigkeit selbst und hatte nur ein einzigesmal in seinem Leben ausgeschlagen – damals, als er mit neunzehn Jahren als junger Fähnrich urplötzlich selbständig im Leben stand.

Am ersten Tag seiner neuen Würde war er noch brav und wohlerzogen zwischen seinen Eltern nach dem Stadtpark gegangen; am zweiten Tag hatte er mit Kameraden gespielt und getrunken, auch sonstige Excesse verübt, wobei er sich in hervorragender Weise blamierte, und – nach zwei Monaten wurde er seinen Eltern heimgeschickt, mit tausend Mark Schulden und der bündigen Erklärung, daß er sich zur militärischen Laufbahn nicht eigne.

Nachdem es sich bei wiederholten Versuchen erwiesen, daß seine Fähigkeiten überhaupt nicht für einen selbständigen Beruf ausreichten, brachte ihn sein Vater schließlich zu einem Advokaten; und hier, als Schreiber und unter beständiger Aufsicht, machte der junge Feldern seine Sache brav wie ein Schulkind und gab keine Veranlassung mehr zum Klagen.

Da er nie mit seinen Kollegen sprach, noch über einen Witz lachte, hielten ihn diese für hochmütig und richteten ihrerseits auch nie das Wort an ihn.

Allein seine Zurückhaltung entsprang einzig und allein seiner schüchternen Gemütsart. Lucia Höpfer, das »Fräulein« eines gräflichen Hauses, die dem jungen Manne jeden Morgen begegnete, hatte dessen wahre Natur sehr bald durchschaut.

Erst hatte sie ihn angesehen, er sah sie wieder an; sie lächelte, er lächelte ebenfalls; sie grüßte, er zog den Hut. Darauf fingen sie an, miteinander zu reden – das heißt, sie redete, und er hörte voll Andacht zu. Das war ein Schwirren von erlauchten Namen! Seit ihrem sechzehnten Jahre verkehrte Lucia in »hohen Kreisen« und hatte deren Gewohnheiten, Manieren und Denkungsart überall angenommen; o, sie hatte einen feinen Instinkt, sofort das Richtige zu erraten, und war abwechselnd in einem Hause strenggläubig, im andern aufgeklärt, im dritten exklusiv und im vierten die Leutseligkeit selbst gewesen. Aber im Grunde, ein Dienen war es doch, und sie fühlte sich oft nicht zum sagen unglücklich, so ohne eine Menschenseele, die an ihr hing. Lucia brach in Thränen aus und ließ ihren Begleiter in großer Bestürzung mitten auf der Straße stehen.

Sie ging nun ein paar Tage stumm und steif grüßend an ihm vorbei, und erst nach einer Woche, als die junge Dame einmal eine kleine Wendung nach ihm hinmachte, faßte er Mut und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie überschüttete ihn mit einem Wortschwall von Vorwürfen; er habe kein Herz, sie habe sich ihm anvertraut, aber das rühre ihn nicht, o nein, er bleibe kalt, er sei eben auch ein Mann und wisse die feinfühligen Empfindungen eines Mädchens nicht zu schätzen.

Feldern verteidigte sich so gut er konnte, wußte absolut nicht, was er gethan haben sollte, uud bat dringend um eine nähere Erklärung, Nun, meinte sie schüchtern, als Mädchen könne sie doch nicht zuerst sprechen; ob es schön und männlich sei, dies zu verlangen?

Ein neuer Thränenstrom entstürzte ihren Augen, und Feldern fing an zu begreifen und stammelte in höchster Verlegenheit! »Sprechen Sie mit meinem Vater –«

Die Mutter war tot, und der alte Herr von Feldern, der über eine bescheidene Pension verfügte, kam trotz seiner vernünftigen Bedenken, daß er nicht ewig lebe und sein Sohn zu wenig verdiene, um ein mittelloses Mädchen zu heiraten – gegen die Beredsamkeit einer Lucia Höpfer nicht auf. Sie hätte lieber das Leben gelassen, als dieses »von«, durch das sie jenen Kreisen einverleibt zu werden glaubte, in deren Luft sie allein atmen zu können vermeinte.

Der alte Feldern war ein einfacher Mann; er hatte es zum Rechnungsrat gebracht, sein Vater war Geometer gewesen, und man hatte von dem »von« in der Familie niemals ein Aufheben gemacht. Er hatte nichts gegen die Freude, die seine Schwiegertochter an den Tag legte, nunmehr Lucia von Feldern zu heißen, wenn sie aber mit ihren »höheren Richtungen« kam, wie er ihre Versuche nannte, die Gewohnheiten und die Lebensweise ihrer ehemaligen Herrschaften in dem kleinen Haushalte einzuführen, da legte der alte Herr sein Veto ein, und Lucia war so gescheit, sich zu fügen. Sie bewies, daß sie in der That etwas gelernt hatte, denn sie ließ sich nichts anmerken von ihrem Ärger und blieb immer freundlich, so sehr sie auch das spießbürgerliche Wesen ihres Schwiegervaters genierte; auch daß man in einem gewöhnlichen Hause wohnte, neben einem Lädchen, dem ein ewiger Heringsgeruch entströmte, war nicht nach ihrem Geschmack.

Der Schwiegervater bewohnte die beste der beiden nach vorn liegenden Stuben; das Ehepaar schlief in dem schmalen Hofzimmer neben der Küche; man hatte also nur einen Raum zum Speisen und Wohnen; daß es unter solchen Verhältnissen nicht angebracht war, Besuche zu machen, lag auf der Hand. Und gerade danach sehnte sie sich am meisten – da und dort ihre Karte abzugeben und denen, die sie bisher als Gouvernante gekannt, als gnädige Frau entgegenzutreten. Inzwischen war sie die Gnädige, Jungfer und Putzfrau alles in einer Person; kühn, wie sie war, hatte sie auch das Amt der Köchin verwalten wollen, aber der alte Herr zog die Kost aus dem Speisehaus vor, sich energisch wehrend, seine alten Tage mit einer Armensuppe zu beschließen.

Auch hier fügte sich die junge Frau, obwohl sie das viele Geld, das für das Essen draufging, entsetzlich kränkte; wie viel wichtiger war es doch in ihren Augen, schön zu wohnen und sich schön zu kleiden. Sie selber war, dank ihrer außerordentlichen Geschicklichkeit, die sie von ihrem Vater geerbt, welcher Schneider gewesen, immer aufs zierlichste geputzt, und wenn es irgend einer Ladenjungfer einfiel, sie, ihrer Vornehmthuerei wegen, Baronin zu nennen, so hatte Lucia ihr Ziel erreicht und kannte sich den ganzen Tag vor Vergnügen nicht lassen.

Aber eines Tages starb der alte Herr und mit ihm ging nicht nur die Haupteinnahme der Familie verloren, sondern auch der Halt, die Fessel, deren Lucias Natur bedurfte.

Die Felderns hatten jetzt ihren Speisesaal und ihren Salon; sie machten auch jene Besuche, nach denen Lucias Seele so lange gelechzt hatte. Es waren aber nur einige Kärtchen zurückgekommen, allerdings Kärtchen mit Kronen, die im Salon auf einem versilberten Teller ausgestellt wurden, aber die Einladungen, auf die man gehofft, waren in Jahr und Tag nicht eingetroffen.

Frau von Feldern war nicht die Natur, sich irgend eine Kränkung oder Demütigung anmerken zu lassen. Sie sagte sich, es wird schon noch anders kommen, und machte sich mutig über ihre Pflichten her. Sie waren nicht gering, denn die Familie hatte sich vergrößert, und es war unmöglich, von der bescheidenen Einnahme des Mannes zu leben. Frau von Feldern hatte sich also entschlossen, unter dem Deckmantel tiefster Verschwiegenheit ihr Talent zum Schneidern in Anwendung zu bringen. Sie war so geschickt, so rasch und erfinderisch, daß sie sich ganz vorzüglich zur Leiterin eines großen Geschäftes geeignet hätte, allein Frau von Feldern wußte, was sie ihrem Namen schuldig war. Ein paar Freundinnen verschafften ihr die Kundschaft.

Kam nun eine neue Dame, eingeschüchtert durch das fette »von« auf dem Porzellanschild, mit der bescheidenen Anfrage, ob sie recht sei, man habe ihr gesagt, hier wohne eine ausgezeichnete Kleidermacherin, so verfehlte Frau von Feldern nie, durch eine gut gespielte Scene ihrer Ehre genugzuthun. Der ahnungslose Kunde wurde in den Salon geführt, und bevor er wußte, wie ihm geschah, rang Frau von Feldern mit dem Ausdruck einer Niobe die Hände und teilte der bestürzten Dame unter mühsam unterdrücktem Schluchzen mit, sie sei nicht zum Kleidermachen geboren, sowohl ihre Natur als ihr Name hätten sie zu einem andern Leben bestimmt, allein, was könne der Mensch gegen Schicksalsschläge – einfach nichts; mit dem Falle ihres Mannes vom Pferde hätten seine geistigen Fähigkeiten gelitten und ihn zum Offizier untauglich gemacht, nun müsse sie die Sache in die Hand nehmen, wenn sie nicht anders leben wolle, als sie es gewohnt sei.

Schließlich wurde dann doch Maß genommen und das Nötige verabredet; der Kunde war unter den Reden der Frau von Feldern ganz klein geworden und empfahl sich mit der größten Hochachtung. Kunochen wurde gerufen, der in seinen enganliegenden Höschen, den kurzen Strümpfen und langen blonden Locken wie aus einem englischen Kupferstich geschnitten aussah; er gab der Dame das Geleite, küßte ihr die Hand und machte ihr unter der Thüre einen Diener bis auf die Erde. Frau von Feldern wußte recht wohl, warum sie immer Kunochen rief und nie Edu – ihren ältesten Sohn. Sie erzog beide gleich streng, mit dem festen Vorsatz, in ihnen zwei außerordentlich feine und hervorragende Menschen heranzubilden. Was sie nicht erreicht, das sollten ihre Kinder erreichen; eine Zierde sollten sie werden jener ersten Kreise, die das Ziel ihrer Sehnsucht geblieben; den Adel hatten sie ja, es bedurfte nur der Epauletten, um sie dort heimisch zu machen; und dann war es ihnen, den Söhnen, vorbehalten, sie als Matrone dort einzuführen, wo sie hingehörte!

Vor der Hand war es aber nur Kunochen, der sie zu diesen Hoffnungen berechtigte. Bei ihm war ihr es vollkommen gelungen, die wenigen Anwandlungen von Eigenwillen zu brechen, die er als kleines Kind gezeigt, und das bißchen Übermut in jene Form zu bannen, die angenehm wirkte. Er war mit fünf Jahren ein kleines Wunderchen von Wohlerzogenheit, ein Kind ohne alle Unarten, das weder Zorn noch Gefräßigkeit kannte und nie seine Kleider beschmutzte. Es war rührend, wie ihn die Roheit der Gassenjungen empörte, und mit welcher Beflissenheit er ihnen aus dem Weg ging; auch konnte er Schillers »Bürgschaft«, den »Handschuh« und den »Gang nach dem Eisenhammer« mit allerlei zierlichen Gesten hersagen. Dagegen Edu! – wie kam dieser derbe klotzige Bursch in diese ätherische, allen materiellen Genüssen abholde Familie!

Frau von Feldern hatte es dahin gebracht, daß an ihrem Tisch nie ein Wort über das Essen verloren wurde; seit der alte Herr tot war, kochte sie selbst; das »Fleisch« bestand meist nur aus heißer oder kalt aufgeschnittener Wurst; da sich Frau von Feldern zur Herstellung von Gemüse und Kartoffeln so wenig Zeit wie möglich nahm, so war auch die Zukost danach. »An das Essen sollte der Mensch nie denken,« prägte sie den Ihrigen ein, und nun – dieser Edu!

Er verlangte nichts, aber unablässig glotzten seine großen gierigen Augen die Platten an, so lang noch das Geringste darauf war. Er war ein Jahr älter als sein Bruder und konnte nicht ein einziges Gedicht auswendig; weder Schelte noch Schläge hatten ihn je dazu vermocht, jemand einen tiefen Diener zu machen oder einer Dame die Hand zu küssen. Wie sah er neben dem reizenden Kunochen aus; alle Bemühungen, ihn zu einer eleganten Erscheinung herauszuputzen, waren erfolglos; er haßte gute Kleider, ging mit dem Ausdruck tiefsten Verdrusses hinter den Seinen her und rieb die Ellbogen an allen Häusern ab. Er fühlte, daß er in seinen engen Sammettkleidern und dem Sammetbarett auf seinem dicken Kopf eine lächerliche Figur spielte, und war daher beflissen, den Sachen wenigstens den Anstrich der Neuheit zu rauben, in der Einbildung, daß man dann weniger nach ihm sehen würde.

Frau von Feldern hielt das Gebaren ihres Sohnes für Auswüchse eines schlechten Charakters und ging ernstlich ins Zeug, diesen dem kleinen Gesellen auszutreiben. Er hingegen glaubte, seine Mutter mache sich ein besonderes Vergnügen daraus, ihn in Kleider zu stecken, darin er sich zu schämen habe, und wenn sie auf seine Bitte um Brot ihn mit der Bemerkung abspeiste: »Ich will keinen fetten Jungen zum Sohn haben« – so hielt er das für eine ihm unbegreifliche Grausamkeit, gegen die er murrte.

Er begriff freilich nicht, daß seine Mutter ihre triftigen Gründe hatte, den Zuschnitt ihres Haushaltes für bescheidene Magen einzurichten; er begriff nur, daß er Hunger hatte, einen ewig nagenden, ihn bis zur Raserei quälenden Hunger. Daß er unter solchen Umständen kein liebenswürdiges Kind war, sondern mit finstern Blicken umher ging, jeden Augenblick bereit, über sein ihm stets als Muster vorgehaltenes Brüderchen herzufallen, war weiter kein Wunder. Herr von Feldern fuhr zwar manchmal heimlich seinem Ältesten liebevoll über das schwarze Haar, aber der Knabe hatte es bald weg, daß er an dem Vater keine Stütze hatte, denn es war noch nie geschehen, daß Herr von Feldern seiner Frau widersprochen ober Einsprache gethan hätte, wenn sie eine Abstrafung für nötig fand.

Eines Tages zog Frau von Feldern ihre Knaben mit besonderer Feierlichkeit an, nahm sie bei der Hand und führte sie zum erstenmal den Weg zur Schule. Eduard war sieben, Kunochen noch nicht sechs Jahre alt; aber bei der außerordentlichen Begabung des Kindes wäre ein Zuwarten nur schade gewesen; nein, um den sorgte sie sich nicht; sie sah ihn schon steigen von Klasse zu Klasse; anders stand's leider mit dem Ältesten!

So legte sie unter einem ungeheuren Wortschwall dem Lehrer ihr begabtes und ihr unbegabtes Kind ans Herz, und die Knaben rückten nach ihrem Weggehen in die Schulbank. Als an Kunochen die Frage erging, wer er sei, gab er die Antwort: »ich bin von«. Da ertönte ein großes schallendes Gelächter, und Kunochen hatte von Stunde an seinen Spitznamen weg und wurde von der ganzen Klasse »'s Vonle« genannt.

Eduards erste That in der Schule war, daß er sich den großen weißen Spitzenkragen vom Hals riß und zerknäult in die Tasche steckte. Zu Hause erklärte er seiner Mutter, sie seien affig angezogen und er wolle nicht anders aussehen wie die andern Kinder, denn das wäre eine Schande. Frau von Feldern ließ sich von ihrem Jungen nicht belehren, und so nahmen die Kämpfe kein Ende.

Im Hause des Kaufmanns Schneider, wo sie wohnten, befand sich ein großer, nicht eben wohlgehaltener Hof, in dessen Mitte eine herrliche Linde zum Himmel ragte. Eduard hatte die Weisung, im Frühjahr die Blüten zu sammeln und der Mutter zu bringen. Wer nämlich um die Sechsuhrstunde des Nachmittags bei Felderns eintrat, dem mußte der Anblick der um den Thee versammelten Familie den angenehmsten Eindruck machen; der Tisch war äußerst sauber und nett gedeckt; Frau von Feldern hatte den blank gescheuerten Theekessel neben sich und bereitete den Thee mit einer Würde und Sorgfalt, daß der feinste Souchong oder Pecco bei dieser Behandlung hätte zufrieden sein können; es waren aber nur Lindenblüten, die das strudelnde Wasser übergoß. Nach Genuß des Getränkes saß dann die ganze Familie in Schweiß gebadet da, und Frau von Feldern stellte noch außerdem die Anforderung an die Ihrigen, daß jedes diesen Prozeß so gut als thunlich zu verbergen habe; denn sparen sei keine Schande, nur dürfe man sich's nicht merken lassen.

Herr von Feldern dachte zuweilen ein wenig anders als seine Gattin, aber er hatte schon lange aufgehört, dies zu äußern. Er war nie glücklich gewesen, weder in seinen Entschlüssen, noch in seinen Ratschlägen, so daß er es vorzog, sich nicht länger den Kopf zu zerbrechen, sondern das Schalten und Walten seiner um so viel klügeren und praktischeren Frau zu überlassen. Nur manchmal, wenn sie sich so gar unbillig über das Äußere ihres Ältesten ausließ und nicht begreifen wollte, wie sie zu einem so häßlichen Kinde komme, da konnte sich der Gatte nicht enthalten, ihr mit einer gewissen Schadenfreude vorzuhalten: »Er ist dir ja wie aus dem Gesichte geschnitten.«

Beleidigenderes konnte es für Frau von Feldern nicht geben, denn sie hielt etwas auf ihr Äußeres: ihre Nase war freilich etwas zu stark und ihr Kinn zu spitz, aber ihr volles schwarzes Haar umrahmte ein schön geschnittenes Gesicht und ihr dunkles Auge hatte einen gebietenden Blick.

Vielleicht wenn sie ihren Jungen oben in der Linde gesehen hätte, würde er ihr auch besser gefallen haben als am Mittagstisch, in ihrer beständig maßregelnden Nähe, vor dem nie nach Wunsch angefüllten Teller. Denn schließlich wußte sie den trotzigen Sinn des Buben doch zu bändigen, eben mit dem Mehr oder Weniger, das sie ihm zum Essen verabreichte, und der Ausdruck des innerlich gekränkten und gedemütigten Kindes wurde dadurch nicht schöner.

Aber dort oben in der Linde, ob es Blüten zu sammeln gab oder nicht, da war der kleine Bursche ein anderer, sobald er seine Wanderungen unternahm in sein Hochgebirge, die Krone; da saß er wie in einem Urwald zwischen dem dichten Blätterwerk, kein menschliches Auge konnte zu ihm dringen, kein »das schickt sich nicht« und »das gehört sich nicht« ihn ereilen; er streckte die Zunge heraus, bloß aus Vergnügen, weil es sich nicht schickte; er ließ sein frisches, lautes Kinderlachen ertönen, bloß weil seine Mama ihm gesagt hatte: »So lacht man nicht, das ist ordinär!« –

Und was hatte er für Fernsichten; über welch eine Unmasse von Dächern sah er hinweg, weit, weit in die Ebene, in deren blaue Ferne die Sonne ihren feurigen Untergang hielt! Lichtete sich die Linde, indem sich ihr Blätterwerk färbte und sich allmählich zu ihren Füßen versammelte, da gab's für den kleinen Burschen Einblicke in die nähere Umgebung, Köchinnenkämpfe von Küchenfenster zu Küchenfenster, Kinderabstrafungen, die in den Hofzimmern abgehalten wurden – kurz, es fehlte nie an unterhaltlichen und anregenden Szenen; indes, des Knaben höchstes Interesse war stets den Wohnräumen des Kaufmanns Schneider im Erdgeschosse zugewendet. Die Fenster der niedrigen Hofzimmer standen zur guten Jahreszeit stets offen, sowie die Thüre des kleinen Speisezimmers, zu welchem ein paar Stufen führten. Das ganze Leben und Treiben der Leute spielte sich auf diese Weise ebensogut im Hof wie in den Stuben ab. Zur Sommerszeit wurde an dem Tisch unter der Linde zu Mittag gespeist, gevespert und Abendbrot gegessen, und Herr Schneider wurde in den heißen Zeiten nicht müde, seiner geliebten Linde Gießkanne um Gießkanne erfrischenden Wassers zuzutragen. Für Eduard aber war dieser Mann mit dem zerknitterten Hemdenkragen und dem mit Flecken aller Art übersäten Rock das Höchste, was es auf der Welt gab. Immer kam er mit einer Zeitung daher geschossen und war außer sich über irgend einen Hagelschlag, eine Überschwemmung oder über sonst ein Unglück, das in der Welt geschehen war. Aber nur was das Volk anging, interessierte ihn, dessen Freuden und Leiden waren die seinen; gleich nahm er seinen Hut und lief davon, um da und dort sein Scherflein an eine Sammelstelle zu tragen. Anders war's, wenn in der »haute vollée», wie sich Herr Schneider ausdrückte, etwas vorgekommen war; da rieb er sich die Hände und freute sich, ob sich's um ein Unglück oder einen Skandal handelte, und hielt seine Rede, immer dieselbe, ob er am Wirtstisch oder an seinem eigenen saß.

»Ganz recht, freut mich, wenn der Herr Baron einen Lumpenstreich gemacht und der Graf ein Schwindler ist – sollen sehen, daß sie auch nur Menschen sind, Menschen wie wir, gut und schlecht. Beneid' sie nicht, bin kein Sozialdemokrat und will sie nicht zu Grund' richten, mögen ihren Namen behalten und ihre Grafenkronen und seidenen Betten dazu, aber sie sollen mir nicht in meinen Laden kommen wie die Pfauen. Ich bin der friedfertigste Mensch auf der Welt, aber sowie ich den Hochmut wittere, krieg' ich ein Gallenfieber, ich könnt' dann alles krumm und klein schlagen und so einen ›Nas'-in-die-Luft‹ an den Beinen aufhängen. Aber ich nehm' mich zusammen, denn ich sag' mir – so lang' die Welt steht, kommt der Hochmut vor dem Fall, nur werden die Menschen nie gescheiter.«

Mehr als diese Reden machte auf Eduard das »Nimm dir – nimm dir!« Eindruck, womit Herr Schneider seine zwei Lehrlinge zum Essen aufforderte, während er selbst alle paar Augenblicke vom Tisch aufsprang und einem entsetzlich unruhigen kleinen Mädchen nachlief, das nicht am Tisch still sitzen kannte; unter den heißesten Bitten und Versprechungen nötigte er dem Kind bald eine Gabel voll Fleisch, bald einen Löffel mit Gemüse auf und war immer vergnügt, wenn er mit seiner Fütterung nicht unverrichteter Sache abziehen mußte.

Eduard malte sich's aus, wie wunderschön das wäre, wenn am elterlichen Tisch auch solches »Nimm dir – nimm dir!« an der Tagesordnung wäre, und man so nach Herzenslust drauf los essen dürfte wie bei Schneiders. Aber welch ein Unterschied zwischen dem vollständigen Sichgehenlassen an diesem wohlversorgten Tisch und den Mahlzeiten im elterlichen Hause!

Und als sich eines Sonntags Eduard, im Hinblick auf die paar dünnen Wursträdchen auf seinem Teller, nicht enthalten konnte, mit einem Seufzer zu bemerken: »Heute haben Schneiders Gansbraten –« da wurde der unbescheidene Sprecher mit ein paar Ohrfeigen zurechtgewiesen, daß ihm zu der kargen Mahlzeit auch noch der Kopf brummte.

Es gab nämlich nicht leicht zwei Menschen auf Gottes Erdboden, die sich mehr haßten als Frau von Feldern und der Kaufmann Schneider. Sie war für ihn der leibhaftige Inbegriff jenes Hochmuts, den er mit seinem Ingrimm verfolgte, während sie ihn nie anders als den bethranten Mann mit dem Heringsduft nannte. Sie bekriegten einander und lebten sich zu Leid, wo sie nur konnten, und alle paar Quartale flogen die Wohnungskündigungen zwischen dem Hausherrn und Frau von Feldern nur so hin und her, wurden aber immer wieder durch den demütig und freundlich bei Herrn Schneider vorsprechenden Gatten rückgängig gemacht. Denn hier blieb der sonst so nachgiebige und willensschwache Mann fest – er wollte das Haus nicht verlassen, in dem seine Eltern gestorben waren. Alles Reden und Drohen von seiten seiner Frau glitt an ihm ab; so oft sie gekündigt hatte, legte er sich ins Bett und stand nicht eher auf, bis sie ihm erlaubte, mit dem Hausherrn zu reden.

Frau von Feldern aber wäre aus mehr als einem Grunde gern gezogen; vor allem schämte sie sich, ihre spärlichen, kargen Einkäufe bei Herrn Schneider zu machen, und holte deshalb ihren Bedarf Gott weiß wo des Abends zusammen; allein sie näherte sich nie dem Hause, ohne daß Herr Schneider sie händereibend unter der Thür erwartete.

»Einkäufe gemacht, Frau von Feldern, recht billige Einkäufe?« lautete seine stete Frage, und sie vergalt ihm die Bosheit mit Entgegnungen wie: »Man wird ja ohnmächtig in Ihrem Lädchen, Herr Schneider, wenn man nicht Ihre gottgesegneten Geruchsnerven besitzt.«

So sehr sie nun übertrieb – im Schneiderschen Geschäft ging's in der That nicht übermäßig reinlich zu; er ließ so ziemlich fünfe gerade sein, und es genierte ihn nicht, daß seine halbe Wohnung voll Kisten und Kistchen stand bis heraus in den ebenfalls vollgekramten Hof. So oft nun aber Frau von Feldern ein bissiges Wörtlein über diese Angelegenheit fallen ließ, überkam Herrn Schneider ein plötzliches Grausen vor seiner Unordnung, und es war in solchen Zeiten nicht gut Kirschen essen mit ihm. In dieser Stimmung stürmte er denn auch eines Tages, wie er ging und stand, in die Feldernsche Wohnung und teilte der Dame des Hauses mit nicht zu verkennender Genugthuung mit, ihr wohlerzogenes Söhnlein Eduard habe ihm eine feine Göttingerwurst aus einer seiner Kisten im Hofe gestohlen.

Frau von Feldern rief ihren Ältesten herbei, dem noch verräterische Spuren an den Fingern klebten, und nun wurde vor den Augen des Klägers die Strafe an dem kleinen Verbrecher vollzogen. Sie fiel aber so aus, daß es dem im Grund höchst gutmütigen Manne himmelangst wurde und er, sich selber verwünschend, der unbarmherzigen Frau ein Halt ums andere zurief. Aber sie hörte erst mit Zuschlagen auf, als ihr der Atem ausging.

»Erziehung ist alles,« sagte sie zu Herrn Schneider, »wissen Sie, wir erziehen unsre Kinder; was kostet die Wurst?«

Herr Schneider bückte sich zu dem dumpfschluchzenden Buben nieder und suchte ihn aufzuheben.

»Was kostet die Wurst?« wiederholte Frau von Feldern.

»Ach Gott, was wird sie gekostet haben,« stammelte Herr Schneider. »Schweiß hat sie gekostet – wie kann man ein Kind so schlagen!«

»Kümmern Sie sich nicht um meine Kinder; wenn Sie mich aber wieder beehren sollten, so bitte ich mir aus, daß sie in einem anständigen Rock erscheinen; Sie nehmen diese zwei Mark!«

Er war so verlegen und geniert, daß er that, was sie wollte, und sich schleunigst zur Thür hinaus drückte. Drüben knirschte er freilich, daß er sich von der hochnäsigen Person so hatte drankriegen lassen; im tiefsten Innern aber quälte er sich um den geprügelten Jungen und konnte sich nicht genug schämen, ihn angezeigt zu haben.

Der folgende Tag war ein Sonntag; Eduard stand unter der halbgeöffneten Hofthür mit einem Ausdruck dumpfer Wut und nagte an der Unterlippe; er war noch immer in der Strafe für seine That, hatte bei Tisch nur Kartoffeln bekommen und sollte nicht zum Sechsuhrthee erscheinen. Der Sonntag war aber Mamas »Jour«, da ging's ihm immer am besten, denn da war die Aufsicht keine so strenge. Er stand und starrte die Linde an, die, schmuck und jungbelaubt, ihre Zweige zum Himmel streckte. Aber dem bestraften Sünder war's heute nicht ums Klettern zu thun; aus Verdruß und Langerweile sah er der kleinen Gustel zu, die im Hofe mit ihren Puppen spielte uud ein gar geschäftiges und lebhaftes Wesen an den Tag legte. Sie war ein kleines kraushaariges Dingelchen mit den treuherzigsten Augen der Welt, und ihr Vater hatte keinen Augenblick Ruhe vor ihr. Er saß auf der Treppe des Eßstübchens, in seine Zeitung vertieft; kam dann die Kleine und klagte: »Vaterle, mein Pupple ist krank« und legte er – dabei aber immer weiterlesend – sein Gesicht in tausend Verzweiflungsfalten, so war das Kind zufrieden und lief wieder fort. Zuweilen aber weinte er, wenn er lachen sollte, oder umgekehrt, und dann wurde er gehörig gescholten, war gar kein »liebs Vaterle« und hatte alle Mühe, sich wieder in Gunst zu setzen. Schließlich stellte er den Frieden durch ein großes Butterbrot her, auf das er noch außerdem Zucker streute. Nun war die Kleine zufrieden, stellte sich mitten in den Hof und machte Anstalten, in ihr Vesperbrot zu beißen, als Eduard unter seiner Hofthür entdeckte, dessen Augen mit unverhohlener Gier an ihrem Butterbrot hingen; schnurstracks ging sie auf ihn zu und forderte ihn auf: »Beiß auch –«

Er ließ es sich nicht zweimal sagen und verschlang gleich das halbe Butterbrot. Des freute sich die Kleine und befahl, ihm die andere Hälfte hinhaltend:

»Das auch!«

Es war im Nu weg.

»Bist jetzt satt?» fragte sie.

Eduard schüttelte den Kopf.

»Ich bin nie satt.«

Da lief sie zu ihrem Vater. »Schnell noch ein Butterbrot, 's pressiert, Vaterle!«

Herr Schneider, der dem Beginnen der Kinder zugeschaut, beeilte sich, was er konnte, den Wunsch seines Kindes zu erfüllen, und sah dann mit innerer Genugthuung zu, wie die Kleine den dicktöpfigen Jungen fütterte, der mit fabelhafter Geschwindigkeit auch dies zweite Butterbrot vertilgte. Aber auf die Frage der Kleinen, ob er jetzt satt sei, schüttelte er wiederum den Kopf, und erst nach dem fünften Butterbrot kam's zögernd über seine Lippen:

»Ich glaub', jetzt bin ich beinah' satt.«

Da rief Herr Schneider den Jungen zu sich; es war ihm ein wahres Bedürfnis, sich in dessen Augen zu rechtfertigen.

»So oft du Hunger hast, komme nur und halte mit uns; nur, weißt du, nehmen darf man nichts, da muß Strafe sein; ich war auch einmal so ein kleiner Knirps wie du und hab' tüchtig Schläg' gekriegt – ja was hab' ich denn nur genommen? – ich glaube, meines Vaters Taschenmesser; das ist so der Welt Lauf; nun spielt miteinander und laßt mich meine Zeitung lesen!«

Eduard wurde alsbald zum willigen Pferdchen, ließ sich von Gustl vor den Puppenwagen spannen und fuhr mit einem solchen Ungestüm um die Linde herum, daß es ein lustiges Unglück ums andere gab, und die Unterhaltung an Abwechslung nichts zu wünschen übrig ließ.

Herr Schneider sah zwar in seine Zeitung hinein, aber seine Gedanken gingen ihren eignen Weg. Natürlich war's ein Unrecht, den Buben hinter dem Rücken seiner Mutter herauszufüttern, aber wie verlockend, der hochmütigen Person das zuleib zu thun! Für Eduard konnte die Sache zwar ungünstige Folgen haben; entweder es kam heraus und er erhielt schreckliche Schläge, oder er wurde zum Lügner, um sein Geheimnis festzuhalten, und das war noch schlimmer.

»Nein,« sagte sich Herr Schneider, »es darf nicht sein, es thut mir sehr leid, aber es darf nicht sein.«

Indes Eduard stellte sich am andern Tag mit so rührender Pünktlichkeit um die Butterbrotzeit ein, daß Herr Schneider seine guten Vorsätze vergaß und den Knaben nach Herzenslust zugreifen hieß.

Am nächsten Sonntag war Edu wieder in der Strafe und sprang seelenvergnügt mit Gustel im Hof umher; er hatte mit Absicht sein sammetnes Barett in die Gosse geworfen, um vom sonntäglichen Thee ausgeschlossen zu werden, der allen Reiz für ihn verloren hatte, seit er am Tische des Herrn Schneider dessen nimmer müdes »Nimm dir – nimm dir!« befolgen durfte.

Frau von Feldern aber saß in ihrem schwarzen Seidenkleid, mit einer Tüllrüsche bis an die Ohren, in einem Fauteuil ihres Salons und wartete auf ihre Gäste. Dies war die einzige Zeit, in der sie ihren Händen einmal Ruhe gönnte, denn kaum waren die Gäste gegangen, so waren diese fleischlosen langen Finger schon wieder in Thätigkeit.

Herr von Feldern im grauen Anzug, die Hände mit den langen Manschetten auf dem Rücken, ging unablässig auf und ab, vom Salon in den Speisesaal und umgekehrt. Seine Frau wurde manchmal ganz nervös von dieser »ewigen Pendelei«, wie sie die Promenaden des Gatten nannte, allein sie ließ sich von dem, was in ihr vorging, nichts anmerken; sie sagte sich: etwas muß der Mensch haben, und alles andre wäre teurer als dies Vergnügen!

Kunochen öffnete die Thüre, als es klingelte, und der erste Gast, Frau Müller, eine Dame reifen Alters, kam hereingerauscht – sehr wohlbeleibt, äußerst elegant, mit Schmuck überladen und einer Stimme wie eine Trompete. Frau Müller war die beste Kundin der Frau von Feldern, gab dieser durch ihre Putzsucht reichlich zu verdienen und konnte sie im Grunde ihres Herzens nicht ausstehen; aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Der zweite und letzte Gast des Hauses, Fräulein Malchen, spielte die Vermittlerin der beiden stets auf dem Kriegsfuß verkehrenden Damen, indem sie es verstand, jeder recht zu geben, und sich selber nie anmaßte, eine Meinung zu haben. Frau von Feldern protegierte in ihr eine Künstlerin; »Malchen», wie sie im ganzen Theater, vom Intendanten bis zum letzten Choristen, genannt wurde, Malchen war seit ihrem zehnten Jahre ein Mitglied der Hofbühne und all die Zeit her nicht um eines Haares Breite von jenem damals eingelernten papageiartigen Ton abgewichen, mit dem sie von den Kinderrollen in die der jugendlichen Zofen und dann allgemach in das Fach der reiferen Vertrauten vorgerückt war.

Und wie sie auf der Bühne nie eine Hauptrolle spielte, so geschah es ihr auch im Leben; nie verließ eine Primadonna oder eine Tragödin das Theater, ohne sich von dem schluchzenden, sie an die Bahn begleitenden Malchen mit Gewalt losreißen zu müssen. Und immer geschah es wieder, daß all die Versprechungen, all die Schwüre ewiger Freundschaft von der Scheidenden vergessen wurden, und weder eine Einladung noch ein Brieflein das trostlose Malchen in ihrem Schmerze tröstete. In gerechter Wut über die erbärmliche Undankbarkeit des menschlichen Geschlechtes, hing sie dann flugs ihr Herz an den nächsten »Stern« der Hofbühne, sich für die erlittene Kränkung und Zurücksetzung dadurch schadlos haltend, daß sie der neuen Freundin alle Toilettengeheimnisse, Liebesabenteuer und Familienverhältnisse der Treulosen preisgab. Hierauf war sie wieder ganz Aufopferung und Beflissenheit, nahm alle Unannehmlichkeiten, die der Künstlerin widerfuhren, für persönliche Beleidigungen und wußte noch im allerletzten Moment Rats für eine verunglückte Toilette, mit der sie zu Frau von Feldern rannte. Diese hatte, seit sie Malchen protegierte, zwei Nähmädchen in ihrer Schlafstube sitzen und immer vollauf zu thun. Aber auch Malchen fand ihre Rechnung bei dem Verkehr; im ganzen Theater wußte man: Malchen ist Sonntags bei »Vons«; Malchen hatte ihren Familienanschluß, mochten ihr noch so viele Freundinnen untreu werden, Malchen ist niemals verlassen!

Auf dem Theetisch der Frau von Feldern befand sich am Empfangstag eine zweite Theekanne mit wirklichem Thee und ein silbernes Brotkörbchen mit wirklich belegten Butterbrötchen.

Frau Müller saß kaum an ihrem Platz, so erkundigte sie sich auch schon nach dem fehlenden Eduard, dem sie aus purem Widerspruch und Frau von Feldern zum Trotz ihre Vorliebe geschenkt hatte.

Als ihr die Antwort wurde, Edu sei wieder in der Strafe wegen seiner entsetzlichen Ungebärdigkeit, verschluckte sich Frau Müller fast – sie hatte immer den Mund zu voll – mit solchem Eifer nahm sie sich des Abwesenden an.

»Immer ist der arme Bub' in der Straf' – warum denn? Weil er einen eigenen Kopf hat – nun ja, Sie werden noch an mich denken – aus dem wird was, das sag' ich, die Müllern – Buben müssen Buben sein und keine Affen, ich für meine Person kann diese geschniegelten kleinen Affen nicht ausstehen!«

Frau von Feldern wechselte einen Blick mit Malchen; man verstand die Anspielung, aber man schwieg; Frau Müller war es nämlich einmal begegnet, ihr Butterbrot mit der Butterseite auf das Tischtuch fallen zu lassen. Nun gab es im Feldernschen Hause kein größeres Verbrechen als das Beschmutzen eines Tischtuches. Kunochen war deshalb über diese Unthat so entsetzt gewesen, daß er in die Worte ausbrach: »O du Schweinchen, du Schweinchen!«

Seither konnte Frau Müller den kleinen, flachshaarigen Buben nicht mehr ausstehen, um so mehr, als sie bemerkte, daß er ihr fortwährend auf die Finger sah und sie auf diese Art zwang, auf sich acht zu haben.

Frau von Feldern, immer beflissen, erziehlich zu wirken, suchte der Unterhaltung eine geistreiche Wendung zu geben.

»Ich bin doch sehr glücklich, daß sich endlich der Zeitgeist der Frau bemächtigt, und wir in unserer geistigen Bedeutung nunmehr gewürdigt werden.«

»Ja,« sagte Malchen, »Gott sei Dank, daß es jetzt nicht mehr Mode ist, sich zu schämen, wenn man ledig ist, sondern im Gegenteil!«

Frau Müller lachte laut auf.

»Ich thät mich doch schämen, nein, das macht mir niemand weis, daß ledig sein keine Schand' sei – ich war zweimal verheiratet und hätt' zum drittenmal geheiratet, wenn mir nicht gerade noch schnell mein erster Mann mit der Zipfelkapp' erschienen wär'! ›Frau‹, hat er gesagt und hat mir mit dem Finger gedroht; Jesses Gott, Hab' ich gedacht, am End' holt er dich – und hab's Heiraten bleiben lassen.«

Frau von Feldern rümpfte die Nase, »Wie mag ein gebildeter Mensch an Spuk glauben.«

»Glauben Sie vielleicht, ich thu's; 's fällt mir nicht ein, ereiferte sich Frau Müller, »ich glaub' ganz gewiß an keine Gespenster, aber das einemal hab' ich eins gesehen, und da beißt keine Maus den Faden ab.«

»Aber nicht wahr,« wandte sich Malchen an Frau von Feldern, »wenn auch Fran Müller in der Hauptsache recht hat, ein lediges, tugendhaftes Mädchen ist trotzdem eine ehrenhafte Person?«

»Das ist sie,« unterbrach sie Frau van Federn, »den Wert der Frau bestimmt weder das viele Heiraten noch das Ledigsein; unsere Auszeichnung liegt in uns selbst, und es giebt tausend Ehen, in denen der Mann gar nichts ist und die Frau alles –«

Malchen fiel Frau von Feldern um den Hals. »Sie sind immer so geistvoll!«

Herr von Feldern betrachtete angelegentlich seine Manschetten, und Kunochen, der von der ganzen Unterhaltung nichts verstanden hatte, rief vergnügt aus:

»Die Mama hat doch immer recht!«

Er wurde von Malchen abgeküßt und ein geniales Kind genannt, und schon im nächsten Augenblick stand er mitten im Zimmer und deklamierte den »Handschuh«.

»Jesses Gott, wenn ich doch nur die Viecher nimmer aufspazieren hören müßt',« murmelte Frau Müller, und ihre verzweifelten Blicke flogen von einem Gegenstand des Zimmers zum andern. Sie sprang auf, als Kunochen eben Atem schöpfte, um die »Bürgschaft« anzufangen, allein Frau von Feldern drückte den Gast mit Gewalt auf seinen Stuhl nieder:

»Ich bitte Sie, Schillers Gedichte, Frau Müller – sollten Sie für das Höchste auf Erden, für die Poesie, kein Interesse haben?«

So etwas konnte man doch nicht auf sich sitzen lassen: Frau Müller hörte mit innerlichem Knirschen die »Bürgschaft« an und dann noch den »Gang nach dem Eisenhammer«. Herr von Feldern schnarchte dazu, und allmählich wirkte das sanfte Geräusch auch beruhigend auf das erregte Gemüt der Witwe.

Als sie, nachdem sie sich so schnell als möglich nach den stattgehabten Genüssen verabschiedet hatte, vor das Haus trat, sah sie den Herrn Schneider vor seiner Ladenthür stehen und rauschte mit einem »Hol Sie der Teufel, grüß Sie Gott, Herr Schneider!« auf den Mann zu.

»Warum soll mich denn der Teufel holen?« fragte er.

»'s muß halt wo 'naus,« gab sie zur Antwort, »denn wenn ich von da drin komm', ist mir's zu Mut wie einer Lokomotiv', und ich möcht' schnaufen und fauchen und alles in Grund und Boden 'nein rennen; o Herrgott, ist das alle Sonntag' eine Tortur!«

»Ja, warum gehen Sie denn immer wieder hin?« fragte Herr Schneider.

»Aber ich bitt' Sie, was soll ich denn,sonst mit meinem Sonntagnachmittag anfangen, daheim bleiben kann man doch nicht! und dann, schauen Sie, hat's auch sein Guts – jetzt freu' ich mich wieder die ganze Woch' über meine Natürlichkeit, und daß ich mich nimmer anzustrengen brauch' wie eine Prinzeß. Ach Gott, wenn ich's ihr doch einmal sagen könnt', wie mir's auf der Seel' sitzt – wenn ich sie einmal niederdonnern könnt' –!«

»Aber wer hält Sie denn davon ab,« unterbrach sie Herr Schneider, »so thun Sie's doch ins Kuckucks Namen!«

»So, ja hopsa, daß sie mich beim nächsten Kleid in allen Ecken und Enden einpreßt und mir am End' die neueste Mode unterschlägt! So 'was ist schon dagewesen, und wenn ich alles vertrag', das vertrag' ich nicht! Leben Sie wohl, Herr Schneider, und das ist gewiß, wir zwei verstehen uns, und dabei soll's bleiben!« –

Kunochen hatte eines Tages den Bruder dabei entdeckt, wie er sich zur Vesperzeit bei Herrn Schneider gütlich that. Erst drohte er damit, Eduard bei der Mutter zu verklagen, dann aber gingen die Brüder einen Handel miteinander ein, indem Eduard versprach, dem Bruder die Schulaufgaben als Entgelt für die Wahrung des Geheimnisses zu machen.

Kunochen mußte nämlich die Eigenschaften, welche die Mutter so sehr an ihm rühmte – daß er wie ein Vogel aß und all seine freie Zeit bei ihr in der Stube verbrachte, mit einem vollkommenen Mangel an Kräften büßen; daher, welch willkommene Gelegenheit, dem Bruder seine Aufgaben zuschieben zu können! Er brachte seitdem bessere Noten mit nach Hause, nur für das Mündliche blieben sie schlecht; allein Frau von Feldern lief immer wieder in die Schule, um den Lehrern, deren Schrecken sie war, begreiflich zu machen, daß, wenn Kunochen schlecht antworte, dies nur an seiner Schüchternheit liege. Er habe das von ihr, auch sie habe in der Schule, sobald eine Frage an sie gestellt wurde, den Kopf verloren, obwohl sie mehr gewußt habe als die ganze Klasse.

Kunochen machte sich das unglückliche mütterliche Erbteil sofort zu nutze und spielte so trefflich den Bestürzten und Fassungslosen, daß er die Lehrer wirklich damit täuschte und sie ihn für befähigter hielten als seinen Bruder.

Eduard gab nie unverständige Antworten, aber er lernte schwer auswendig und seine Aufgaben waren hudelig und schlecht gemacht. Daran war außer dem Umstand, daß er zu viel Zeit an die Aufgaben seines Bruders verwenden mußte, noch etwas anderes schuld: Eduard wollte aus dem Gymnasium heraus.

Er war durch und durch angesteckt von den Gesinnungen des Herrn Schneider, der den Bürgerstand als den einzig richtigen in der Welt pries, in dem allein wirklich freie und unabhängige Männer zu gedeihen vermöchten.

»Ich kann thun, was ich will,« sagte er zu dem begierig an seinen Lippen hängenden Knaben, »ich habe keinen Vorgesetzten, nach dem ich meine Meinung, meine Gesinnung zu richten brauche; der Beamten- oder Offiziersstand aber, was ist das anderes als Schulzwang bis ins graue Alter!«

Nicht auf einmal, so nach und nach hatte Herr Schneider des Knaben Sinn mit dergleichen Redensarten gefangen genommen; allemal wenn Frau von Felderns Hochmut den hitzigen Mann wieder in Harnisch gebracht, schwiegen dessen Gewissensbisse; er sprach von neuem in den Knaben hinein und freute sich, mit anzusehen, wie so ganz anders sich der kleine Mann entwickelte, als es seiner Mutter lieb sein mochte. Edu war ein gesunder kräftiger Bursche geworden, der nicht mehr von seinem knurrenden Magen abhing, sondern schon sein Lebensziel im Auge hatte. Er wollte Kaufmann werden: sein Ideal war die ungezwungene, Fröhlichkeit und Behagen atmende Häuslichkeit des Kaufmanns Schneider; er gehörte längst dazu und saß vergnügt bei der Abendmahlzeit, wenn seine Mutter ihn im Bett vermutete.

Bei Schneiders standen Teller und Schüsseln, alle mehr oder weniger zerstoßen oder zersprungen, auf einem blau und gelb karrierten Wachstuch; es fielen keine Bemerkungen über die wenig schöne Art, wie jeder Messer und Gabel handhabte; man schmatzte lustig drauf los, sprach mit vollem Munde, und der Herr Schneider oben am Tisch gab kein besseres Beispiel. Eduard hatte es anders gelernt, allein wie er sich einstens seiner neuen Mützen und Kleider geschämt hatte, so schämte er sich jetzt seiner besseren Manieren und gab sich die erdenklichste Mühe, es den anderen gleich zu thun. Mitten aus diesem Beginnen riß ihn eines Tages die kleine Gustl:

»Du mußt nicht meinen, daß du auch so wüst thun mußt, es ist viel schöner anders.«

Eduard wurde dunkelrot und merkwürdigerweise erfaßte diese Scham wie eine ansteckende Krankheit auch sämtliche Anwesende, Herrn Schneider an der Spitze, und alle sahen stumm und betreten nach der kleinen Sprecherin hin, die fein zierlich ihre Gabel in der Hand hielt, kerzengerade da saß und mit geschlossenen Lippen kaute.

Niemand wußte, wie es kam, aber die vielen sich bisher auf dem Tisch stoßenden Ellbogen waren plötzlich von der Oberfläche verschwunden, man hörte kein Schmatzen, man sah keine schmutzigen Hände mehr. Nur Herr Schneider schlürfte nach wie vor seine Suppe hinunter und gab sich die erdenklichste Mühe, gegen die neue Ordnung der Dinge stand zu halten, indem er verdrossen in sich hinein fluchte: »Will ich die Feldernschen Manieren an meinem Tisch? Hol' sie der Teufel!«

Aber er holte sie nicht, sondern der gute Herr Schneider mußte eine Erfahrung machen, auf die er nicht gefaßt gewesen war – nämlich, daß in gleichem Maße, wie er der Mutter den Sohn abspenstig machte, ihm sein Kind abspenstig gemacht wurde – und zwar durch eben diesen Eduard. Er, der Vater, war nicht länger das Ideal seines Augapfels und hatte aufgehört, für sein Kind im Glanze der Unfehlbarkeit zu wandeln – den ganzen Tag mußte er hören:

»Vaterle, so macht man das nicht, der Eduard macht's ganz anders –«

»Vaterle, warum hast du nur immer so viele Flecken an deinem Rock, siehst du nicht, wie sauber der Eduard ist?«

Der hatte in der That aufgehört, länger seine gute Erziehung verleugnen zu wollen; sah er sich doch unausgesetzt von Gustls großen Augen beobachtet, und er hatte nicht Lust, sich einer zweiten Rüge aus dem Munde des Kindes auszusetzen.

Er war am Ende des Schuljahres aus dem Gymnasium geschickt worden; seine Mutter hatte zwar etliche Anstürme versucht und es bei den Lehrern durchsetzen wollen, daß man den Sohn im Gymnasium behalte, allein Eduard hatte den alten Sprachen gegenüber so gründlich den Verstockten gespielt, daß von einer Wiederaufnahme keine Rede sein konnte.

Obgleich er nun im Realgymnasium ein vortrefflicher Schüler wurde und die besten Zeugnisse nach Hause brachte, so hatte er doch durch seinen Austritt aus dem Gymnasium die Liebe seiner Mutter völlig verscherzt. Er war in ihren Augen gesunken, hatte sich für immer um sein Anrecht auf den Umgang mit Hochstehenden gebracht. Sie sagte: »Ich kann mich für ein Kind mit gewöhnlichen Instinkten nicht interessieren; ich sehe mich um die Ernte gebracht, die du mir schuldig warst!«

Eduard kränkten diese Worte mehr, als er sich's selbst gestand; er beschloß in seinem Innern: »Ich werd's der Mutter zeigen, ich werd's ihr schon noch eines Tages zeigen, daß man sich meiner nicht zu schämen braucht!«

Darauf kam er immer wieder zurück, wenn er sich gegen Herrn Schneider aussprach. Mochte der Bruder ein feiner Herr werden und nur mit Adeligen umgehen, er wollte inzwischen tüchtig werden und reich uud angesehen, und hoffentlich war's dann ihm, nur ihm und nicht dem Bruder, vorbehalten, der Mutter ein sorgenloses Alter zu bereiten!

Das war immer das Endziel seiner Wünsche, uud zum großen Ärger des Herrn Schneider war auch Gustls Phantasie fortwährend mit dieser Frau beschäftigt. Es drängte sie immer wieder, eine Gelegenheit zu suchen, Frau von Feldern entweder unter dem Thorweg des Hauses oder auf der Gasse zu begegnen, und eines Tages plagte sie die Neugier so stark, daß sie dem Gespielen ins Ohr sagte: »Du, ich möcht' gar so gern einmal sehen, wie's bei euch ist –«

Eduard nahm sie bei der Hand. »Komm mit!«

Er hatte zwar die feste Überzeugung, daß die Sache nicht gut ausfallen würde, aber warum sollte er nicht ebensogut ein Recht haben, sein Kamerädchen mit in die Stube zu bringen, wie Kuno, der jetzt sehr oft Besuch bekam, welchen die Mutter nicht genug auszeichnen konnte.

So trat er, Gustl, der das Herz bis an den Hals schlug, am Händchen nach sich ziehend, in die Eßstube; Frau von Feldern saß wie immer am Nähtisch; Kunochen hatte einen Kameraden bei sich; die beiden Knaben waren dabei, Bleisoldaten aufzustellen und gegeneinander marschieren zu lassen.

Dies geschah, nachdem Kuno über zwei Stunden mit dem Hilfslehrer gearbeitet hatte, den Frau von Feldern für ihren Jüngsten nun zu halten gezwungen war; er war in seiner Klasse sitzen geblieben, da sein Bruder ihm nicht länger die Aufgaben hatte machen können.

Eduard und die Kleine hatten sich draußen in der frischen Herbstluft getummelt und traten nun mit hochroten Wangen und zerzausten Haaren in den friedlichen Kreis, einen vollen Gegensatz bildend zu dem abgearbeiteten Kunochen, das schweigend seine Bleisoldaten hin und her schob.

Frau von Feldern blickte erstaunt auf; es war ihr unbegreiflich, wie Eduard es wagen durfte, die kleine unerzogene Tochter des Herrn Schneider mit hereinzubringen. Sie reichte nichts destoweniger dem kleinen Gast die Hand, freilich mit einiger Vorsicht, indem sie hinzufügte:

»Man muß sich immer hübsch waschen und sauber kleiden, bevor man Besuche macht ... Kunochen,« setzte sie hinzu, »warte der Kleinen von dem Zwieback auf –«

Dies geschah. Allein Kunochen stand schon eine ganze Weile mit seinem Teller vor Gustl, sie nahm nichts; der kalte, strenge Blick der Frau von Feldern lähmte das Kind vollständig; es hatte seine sonnenverbrannten, allerdings nicht ganz saubern Händchen unter der Schürze versteckt, atmete hörbar und war dem Weinen nahe. Eduard stand an ihrer Seite mit einem Gesicht, als wartete er nur auf den Augenblick, um seine kleine Freundin gegen die feindlichen Mächte zu verteidigen, die sie beängstigten. Da kam auch schon die Gelegenheit.

»Ist die aber dumm!« rief Kunochens Freund vom Tisch her.

Im nächsten Augenblick hatte er seine Ohrfeige weg und lag brüllend mit dem Gesicht auf den Bleisoldaten.

»So ist es immer,« sagte Frau von Feldern, streckte die Hand aus und zog Eduard kräftig am Ohr. »Du brauchst nur zu kommen, so geht der Unfriede los. Wenn du denn schon ein Gassenjunge bist, so bleibe auch auf der Gasse, wenn man dich nicht ruft.«

Eduard, der keine Miene verzog, obwohl sich sein Ohr unter den harten Fingern seiner Mutter blaurot gefärbt hatte, Eduard nahm seine kleine Gefährtin bei der Hand und zog sie zur Thür hinaus. Im Hofe riß sich Gustl von ihm los und flog, kaum die Erde mit den Füßchen berührend, ein paarmal wie besessen um die Linde herum; dann kehrte sie atemlos zu dem Knaben zurück.

»Hast du deine Mutter lieb?«

»Heut' nicht,« gab er zur Antwort.

Aber es lag ihm daran, das Unliebsame dieses Erlebnisses bei der Kleinen in Vergessenheit zu bringen, denn welchen Eindruck es auf sie gemacht, zeigte sich deutlich in der noch größeren Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres verwendete. Die Köchin sollte ihr alle Tage eine frische Schürze geben; Gustl bürstete und kämmte ihr lockiges Haar zum Erbarmen, und bei jeder Gelegenheit wurde der Kamerad gefragt: »Hab' ich jetzt so saubere Hände wie deine Mutter?«

»Ach was,« sagte er eines Tages, »laß mich in Ruh', jetzt sollst du einmal etwas erleben, das Schönste auf der Welt – ein wenig Mut mußt du freilich haben – hast du?«

»O ja!« versicherte Gustl.

Eduard holte eine Leiter aus dem Holzstall und legte sie an die Linde.

»Jetzt mir nach!« befahl er, stieg hinauf, wartete auf dem untersten Zweig und nahm das Kind, das ihm willig gefolgt war, in Empfang.

»So,« sagte er, »nur schön sachte von Ast zu Ast mir nach – es ist wie eine Treppe, man kann's ordentlich merken, daß ich schon hundert Jahr' da herauf komm' – da oben ist's überhaupt am schönsten auf der Welt – paß auf, wie dir's gefallen wird, Gustl, man meint auf einmal, man wär' ein Vogel, und kein Mensch hätt' einem mehr 'was zu sagen!«