Badische Hunde - Steven D. Braidford - E-Book

Badische Hunde E-Book

Steven D. Braidford

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Beschreibung

Ein Doppelmord im nordbadischen Alsental und ein Täter, der sich ganz schnell als unschuldig herausstellt... Dadurch wird auch ein alter Fall von Wirtschaftsspionage wieder aktuell. Für Lynn Deyonge, seit einem halben Jahr Kommissarin in Mannheim, wird dies der umfangreichste Fall ihrer Laufbahn. Als während den Ermittlungen weitere Morde passieren und sich der Täter immer mehr radikalisiert, drängt die Zeit. Denn Napoleon, wie sich der Täter nennt, wird langsam nervös, als seine Auftraggeber sich weigern, die gestohlenen Firmenunterlagen zu bezahlen. Dazu muss sich Lynn in einen Aspekt der Internetsicherheit einarbeiten, der während der Völkerschlacht bei Leipzig erfunden wurde. Und Lynn und Ihre Kollegen geraten selbst in das Visier des Täters, da sie ihm immer näher kommen... Das Buch enthält eine Karte zur Schlachtsituation am 16.10.1813 bei der Völkerschlacht bei Leipzig. Der erste Band der Lynn-Deyonge-Reihe der Mordbaden-Krimis des Autors Steven D. Braidford! Im Buch enthalten: die Geschichte zur sicheren Nachrichtenübermittlung bei der Völkerschlacht. Er hatte den Plan: Schwarzenberg. Er machte den Ritt: Széchenyi. Er verlor dabei alles: Napoleon Bonaparte. Sie lernt dabei den Täter einzuschätzen: Lynn Deyonge. Nur lässt er sich nicht aufhalten! Er hat sich dafür gut gerüstet und benutzt nur mobile Prepaidkarten und einen anonymen Zugang, um an die Daten seiner Firma heranzukommen. Die er dann weiterverkauft. Um Lebensstil und Spielsucht finanzieren zu können. Um diesen Teil der Internetsicherheit zu verstehen, taucht Lynn in die Historie der sicheren Nachrichtenübermittlung ein und lernt, welche Mechanismen es für die sichere Verbindung zwischen zwei Parteien im Internet gibt. Und: es gibt auch unkomplizierte technische Erklärungen! Sie hatten den Fall: Kriminalkommissarin Lynn Deyonge und Kollegen. Er ist der Täter: der, der sich für Napoleon hält und dafür jede Grenze überschreitet. Kollegen ermordet. Die Firma ausspioniert. Ein komplexer Fall, den Lynn Deyonge in diesem Umfang noch nicht bearbeiten musste. Ein Täter, der sich immer mehr radikalisiert. Ein Motiv, das wirtschaftlich sein könnte. Tatwaffen, die der Täter wechselt wie andere Menschen die Straßenseite. Wie ermittelt man gegen einen solchen Täter? Wie kommt man als Bremerin mit dem Mannheimer Dialekt zurecht? Wie arbeitet man mit einem wortkargen Kollegen? Wie kommt Lynn gegen die immer stärker werdende Müdigkeit an, die ihr der Fall abverlangt?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis

Prolog

Ein Sonntag im Spätjahr 2018

Der darauf folgende Montag

Der darauf folgende Dienstag

Der darauf folgende Mittwoch

Der darauf folgende Donnerstag

Der darauf folgende Freitag

Der darauf folgende, nahtlos anschlieẞende Samstag

Der darauf folgende Sonntag

Die darauf folgende Woche

Der darauf folgende, aber wirklich ruhige Freitag

Lynn Deyonge ermittelt in Nordbaden in der Gegend von Mannheim und Heidelberg.

Sie hatten den Fall: Kriminalkommissarin Lynn Deyonge und Kollegen. Er ist der Täter: der, der sich für Napoleon hält und dafür jede Grenze überschreitet. Kollegen ermordet. Die Firma ausspioniert.

Ein komplexer Fall, den Lynn Deyonge in diesem Umfang noch nicht bearbeiten musste.

Ein Täter, der sich immer mehr radikalisiert.

Ein Motiv, das wirtschaftlich sein könnte.

Tatwaffen, die der Täter wechselt wie andere Menschen die Straßenseite.

Wie ermittelt man gegen einen solchen Täter? Wie kommt man als Bremerin mit dem Mannheimer Dialekt zurecht? Wie arbeitet man mit einem wortkargen Kollegen? Wie kommt man gegen die immer stärker werdende Müdigkeit an, die ihr der Fall abverlangt?

Im Buch enthalten: die Geschichte zur sicheren Nachrichtenübermittlung während der Völkerschlacht bei Leipzig.

Er hatte den Plan dazu: Karl Philip zu Schwarzenberg, Oberkommandierender der Alliierten. Er machte den Ritt: István Széchenyi, Rittmeister. Sie lernt dabei den Täter einzuschätzen: Lynn Deyonge, Kommissarin. Nur lässt er sich nicht aufhalten!

Er hat sich gut gerüstet und benutzt nur mobile Prepaidkarten und einen anonymen Zugang, um an die Daten seiner Firma heranzukommen. Die er dann weiterverkauft. Um Lebensstil und Spielsucht finanzieren zu können.

Um diesen Teil der Internetsicherheit zu verstehen, taucht Lynn in die Historie der sicheren Nachrichtenübermittlung ein und lernt, welche Mechanismen es für die sichere Verbindung zwischen zwei Parteien im Internet gibt. Und sie versteht noch etwas: es gibt auch unkomplizierte technische Erklärungen!

Steven D. Braidford, 1969 in Berlin geboren, lebt als freier Autor in Mannheim. Er absolvierte eine handwerkliche Ausbildung und studierte Informatik in Heidelberg. Sein erster Roman 'Badische Hunde' ist der Auftakt der Serie um die Mannheimer Kommissarin Lynn Deyonge.

Seine bisherigen Werke hat er unter seinem richtigen Namen verfasst und beinhalten nur Themenbeschreibungen aus der Informatik. Viel Informatik, leider nicht so spannend. Also musste es ein Krimi sein. Viel Spannung, weniger IT. So ist es jetzt besser. Und macht mehr Spaß.

Weitere Informationen zu Buch und E-Book finden Sie unter https://steven-braidford.de

Steven D. Braidford

Badische Hunde

Kriminalroman

Lynn Deyonges erster Fall

Ein Mordbaden-Krimi

Zu diesem Buch gibt es eine Karte, die Sie auf meiner Homepage unterhttps://steven-braidford.de herunterladen können:

Der Ritt des Széchenyi

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehme ich für deren Inhalte keine Haftung, da ich mir diese nicht zu eigen mache, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweise.

3. Auflage Copyright © 2023 by Steven D. Braidford

Dianekis Verlag

ISBN: 978-3-910975-04-0

Steven D. Braidford c/o Gwendolyn Wynter Autorenimpressum An der Alten Burg 5 64367 Mühltal

Hund

„… Die über die ganze Erde verstreut vorkommenden Hundearten (sind) … die eigentlichen Hunde … Zur letztern Abtheilung gehört der Haushund … der treueste Freund, den der Mensch unter den Thieren jemals auffand … Kein anderes Hausthier … überrascht in demselben Verhältnisse wie der Hund durch Spuren von Intelligenz und große Sinnesschärfe … Leicht lernt der Hund … auf eigene Faust … (zu handeln).“

Nach Brockhaus, zwölfte Auflage 1877, Band acht.

Wusste man damals etwas über Internetsicherheit?

Personenverzeichnis

Historische Persönlichkeiten

Es waren natürlich viel mehr – bekannte und uns nicht bekannte – Namen an der Völkerschlacht bei Leipzig beteiligt, von den Befehlshabern bis zu den Soldaten insgesamt etwa fünfhunderttausend Mann. Aber da ich nur eine kleine Gruppe beschreibe, mögen mir Historiker und Geschichtsinteressierte bitte nachsehen, dass ich in meinem Buch leider nicht alles vollständig abbilden konnte.

In der Französischen Armee

Napoleon Bonaparte, Kaiser und Oberbefehlshaber

Marmont, Marschall

Michel Ney, Marschall

Bertrand, Marschall

In der Armee der Alliierten

von Schwarzenberg, Feldmarschall und Oberbefehlshaber

Széchenyi, Rittmeister

als besonderer Gast: Gaia, eine Bracke, eine Hündin, deren

Existenz rein spekulativ ist

Blücher, General der Schlesischen Armee

Bernadotte, General der Schwedischen Armee

Giulay, Befehlshaber alliierter Truppen vor Lindenau

Langeron, Befehlshaber unter Blücher

Yorck, General der Alliierten

Liste der Personen, die mehr als einmal auftauchen

Mitarbeiter der Firma XFU (Extended Financial Units)

Peer Lindner, Gründer und Firmenleitung

Dorothea Kastner, seine Sekretärin

Eugen Markwort, verantwortlich für Sicherheit

Steffen Ehrhardt, verantwortlich für Sicherheit

Doris Meier-Krapp, Personalchefin

Gerald Bohm, Abteilungsleiter

Marc Stetter, sein Stellvertreter

Charlotte Schultze

Klaus Remmer

Tanja Gräbele

Silke Kremers-Brandt

Jens Sievert

Kay Falke

Hans-Erich Lamers

Michael Sempp

Nadine Rauenstein

Gerhard Lober

Jost Kant

Christian Butterbrodt

Ursula Droste, pensionierte Mitarbeiterin

Richard Kramer, pensionierter Mitarbeiter

Angehörige und Nachbarn

Hertha Bauer, Schreinerin und Freundin von Ursula Droste

Ellinor Lindner, Ehefrau von Peer Lindner

Hanna Bohm, Ehefrau von Gerald Bohm

Iris Stetter, Ehefrau von Marc Stetter

Ellen Falke, Ehefrau von Kay Falke

Annelene Kramer, Ehefrau von Richard Kramer

Robert Sievert, Vater von Jens Sievert

Mona Sievert, Ehefrau von Jens Sievert

Dorothea Gräbele, Mutter von Tanja Gräbele

Eva Klein, älteste Schwester von Tanja Gräbele

Nicole Wehremann, Freundin von Christian Butterbrodt

Biele Hertwig, Bäckereifachverkäuferin

Lara Wittek, wichtige Zeugin

Lars Wittek, ihr Ehemann

Laura Bönigheim, wichtige Zeugin

Evelyne Adam, Hausangestellte der Lindners

Fritz Lang, Nachbar der Bohms

Anke Butterbrodt, Nachbarin von Ursula Droste und Mutter

von Christian Butterbrodt

Robert Völker, Nachbar von Ursula Droste

Herr Krause, Besitzer der Autoverwertung Alsental

Mitarbeiter der Polizei

Abteilung Kapitaldelikte

Lynn Deyonge, Kriminalkommissarin

Matthias Tregnat, Kriminalhauptkommissar

Julian Hofmann, Kriminalkommissar

Hermann Weingarten, Kriminalhauptkommissar

Kai Monsert, Kriminalkommissar

Regina Serber, Kriminalkommissarin

Sven Sorge, Kriminalkommissar

Ulvi Jähn, Kriminaloberkommissar

Andreas Reitmann, Kriminalkommissar

Ralf Luber, Kommissariatsleiter

Vera Hermsen, stellvertretende Kommissariatsleiterin

Servicedienststellen

Peter Nördner, Leiter der Spurensicherung

Winfried Keller, Team Peter Nördner

Die Mitarbeiter des Kriminaldauerdienstes

Abteilung Wirtschaftskriminalität

Herbert Geisenstein, Kriminalhauptkommissar

Katja Bobart, Kriminalhauptkommissarin

Mats Uhrich, technischer IT-Mitarbeiter auf Probe

Rüdiger Gerber, Einsatzpolizei

Johannes Hübner, Einsatzpolizei

Erika Wagner, Einsatzpolizei

Timo Setzer, Einsatzpolizei Alsental

Mitarbeiter des Psychosomatik II- und Yoga-Centers

Heidelberg

Christine Hallenstein, Stationsärztin

Ricarda Henlein, Stationspsychologin

Prolog

16. Oktober 1813, nachmittags.

Napoleon Bonaparte war sich sicher, dass er die Schlacht gewinnen würde, die später als Völkerschlacht bei Leipzig in die Geschichte eingehen würde. Im Süden von Leipzig hatte er General Schwarzenberg zurückgedrängt, den Oberbefehlshaber der alliierten Truppen. Schwarzenberg musste sich unter einigen Verlusten zurückziehen. Im Westen hatten die alliierten Truppen Stellung bezogen. Im Osten gab es alliierte Verbände, die wegen des schwierigen Geländes nur schwer die französischen Truppen angreifen konnten. Im Norden waren die alliierten Generäle Yorck und Bernadotte laut Napoleons Kundschaftern zu weit weg, um heute noch in die Schlacht eingreifen zu können. Nur von seinem Heerführer Marmont hatte Napoleon noch keine Nachricht. General Blücher hatte mit seinem Heer Marmont und dessen Truppen nordöstlich von Leipzig gestellt. Napoleon erwartete die Nachricht, dass Blüchers Truppen aufgerieben worden seien und damit nicht mehr in die Schlacht eingreifen können würden. Niemand wäre in der Lage, seine Armeen zu besiegen.

Vergessen war nun dieses furchtbare Jahr 1812, in dem sich Napoleon aus Russland zurückziehen musste, obwohl er Moskau schon eingenommen hatte. Die eigenen Bewohner hatten ihre Stadt angezündet und auch alle Vorräte weggeschafft. Dann begann der russische Winter. Ausgehungert und ohne Hoffnung hatte er sich mit seinem Heer auf den Rückweg über Preußen nach Frankreich gemacht. Die meisten seiner sechshunderttausend Soldaten waren erfroren, verhungert oder, von Krankheiten erschöpft, gestorben.

Nun war das alles vergessen. Er hatte mehr als zweihundertfünfzigtausend Soldaten ausheben lassen und war bei Leipzig zu dem Entschluss gekommen, dass ein weiteres Vorrücken nach Berlin vorerst nicht möglich war und hatte sich den alliierten Truppen gestellt. Die französischen Verbände und ihre Verbündeten bildeten einen Ring um Leipzig und hielten es besetzt. Die alliierten Truppen hatten sich in einem größeren Ring darum positioniert.

Marmont hatte anscheinend Blüchers überstürztes Handeln ausgenutzt, der nicht auf die Hilfe von Bernadotte und Yorck gewartet hatte. Jetzt benötigte Napoleon nur noch die Nachricht, wie stark die Truppen von General Blücher tatsächlich dezimiert waren. Der alte Haudegen musste vollständig aufgerieben werden; zu groß waren Blüchers taktisches Geschick und Kampfgeist. Danach würde er wissen, wie viele Truppen er für die heranrückenden Armeen von Bernadotte und Yorck im Norden und für die festsitzenden Verbände im Süden aufstellen könnte und würde die alliierten Truppen vollständig aufreiben. Der Weg nach Berlin war danach frei!

Dann kam der Bote, den Napoleon erwartet hatte. Bonaparte hoffte auf die Mitteilung, dass Marmont und Ney Blüchers Heer vernichtet hatten, so dass Marmont die Stellung im Norden Leipzigs festigen konnte und ihm Ney mit seinen Soldaten bei Wachau zu Hilfe eilen würde.

Die Nachricht übertraf allerdings die schlimmsten Erwartungen. Blüchers Heer war zwar zur Hälfte vernichtet worden, aber Marmont war von Blücher vollständig aufgerieben worden. Diese Truppe bestand praktisch nicht mehr. Marschall Ney war Marmont zu Hilfe geeilt und hatte die Hälfte seiner Männer verloren. Ney, der eigentlich auf dem Weg nach Süden zur Verstärkung gegen Schwarzenberg kommen sollte.

Abends erwachte Napoleons Feldherrengeist von Neuem. Er würde einen Teil seiner Soldaten zur Verstärkung gegen das restliche Heer von Blücher schicken. Das konnte er sich leisten, da Schwarzenberg nicht in der Lage sein würde, seine weit um Leipzig verstreuten Truppen koordinieren zu können.

Napoleon Bonaparte wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie sehr er sich irren sollte.

Ein Sonntag im Spätjahr 2018

Die Grundfarbe war Gelb. Neuzeit im Spätjahr 2018. Alsental in Nordbaden. Napoleon hatte kurz seine Arbeit unterbrochen, um ins Bad zu gehen. Es war ein sehr schöner, in hellen Cremefarben und modern eingerichteter Raum. Das Handtuch mit den leuchtend gelben Mustern und der gelben Hintergrundfarbe sprang ihn geradezu an, als er die Badezimmertür hinter sich schloss. Es wollte so gar nicht zu den vielen Warmtönen passen. Aber er war nicht wegen einer Stilberatung hier. Ursula Droste bewies sonst in allen Einrichtungsfragen ein feines Händchen. Sie war eine ehemalige Mitarbeiterin der Firma XFU in Alsental. XFU bildete das Kürzel für den Namen „Extended Financial Units“ und stellte unter anderem Software für betriebliche Abrechnungen her, und Ursula Droste war seine ehemalige Kollegin und Vorgesetzte.

Sie war achtundsiebzig Jahre alt, seit acht Jahren im Ruhestand und unterhielt weiterhin Kontakt zu ihrer ehemaligen Firma. Unter den Mitarbeitern ihrer Abteilung gab es nur diejenigen, die sie mochten und die, die Ursula Droste nicht ausstehen konnten. Sie hatte einen scharfen, analytischen Verstand und ein Wesen, das Widerspruch nicht zuließ. Aber alle schätzten gleichermaßen ihre überaus technischen Fähigkeiten.

Ursula Droste liebte es, jeden Sachverhalt überaus brillant darzulegen. Sie hatte Napoleon durch ihre Arbeit sehr weit vorangebracht, wie er immer wieder feststellen musste; XFU gehörte zu den Marktführern der Branche. Ursula Droste war erst mit siebzig Jahren in Rente gegangen, da ihr die Arbeit Spaß machte und von der Firma gebraucht wurde.

Vor zwei Jahren war sie gestürzt und lag mehr als vierundzwanzig Stunden in ihrem Haus, bis eine Freundin, die zu Besuch gekommen war, den Rettungsdienst alarmieren konnte. Nach dem Schlaganfall fühlte sich Ursula Droste sehr unsicher und hatte Furcht davor, über einen längeren Zeitraum allein zu sein. So hatte die ehemalige Abteilung beschlossen, dass eine Betreuung für Ursula Droste eingerichtet werden sollte. Das Risiko zu stürzen und über einen längeren Zeitraum nicht gefunden zu werden, schien über den Sonntag am größten zu sein und so bekam sie jeden Sonntag von neun bis elf Uhr Besuch von einem Mitarbeiter ihrer ehemaligen Abteilung. Es waren vierzehn Freiwillige, die sich die Besuche, wie sie genannt wurden, unter sich aufteilten. Betreuung konnte man es nicht nennen, denn jeder, der zu ihr kam, schätzte ihren scheinbar unerschöpflichen Fundus an Wissen und hoffte auf ein Gespräch mit ihr.

Daher gab es auch so gut wie nie eine Absage für die Betreuung von Ursula Droste. Nur für diesen Sonntag musste Jens Sievert absagen, weil sich sein Vater durch einen Sturz am Bordstein beim Überqueren einer Straße verletzt hatte. Napoleon hatte Ursula Droste beim Einkaufen getroffen und sie hatte ihn gefragt, ob er am Sonntag für Jens einspringen könnte. Er hatte spontan zugesagt, da er hoffte noch etwas erledigen zu können, was ihm sehr wichtig war.

Da für die Besuche immer die Zeit von neun bis elf Uhr morgens vorgesehen war, gab es für jeden der vierzehn Mitarbeiter zwei bis vier Sonntage im Jahr, die er bei Ursula Droste verbrachte. Manche, die sie besser kannten, machten die Sonntagsbesuche auch öfter im Jahr. So blieb es bei zweimal im Jahr für Napoleon.

Im Moment stand Napoleon unter Zeitdruck. Er hatte sich den Namen selbst gegeben, da der ursprüngliche Träger dieses Namens ein riesiges Netzwerk an Spionen aufgebaut hatte und er selbst für seine Auftraggeber die Firma XFU ausspionierte. Seine Auftraggeber waren Firmen im In- und Ausland, die von den Entwicklungsergebnissen von XFU, die Napoleon lange vor der Veröffentlichung in Form von Software an sie weitergab, einen unschätzbaren Vorteil hatten. Diese Auftraggeber konnten auf diese Weise die Funktionen in ihre eigenen Programme einbauen.

Er selbst arbeitete allerdings ohne großes Spionagenetzwerk und allein, was die Sache leichter machte. So blieb das Risiko geringer, entdeckt zu werden. Er stand am Waschbecken, wusch sich die Hände und sinnierte darüber, was in letzter Zeit bei seiner Spionagetätigkeit alles passiert und fehlgeschlagen war.

Vor drei Jahren hatte ihn sein Auftraggeber bei einem Kongress angesprochen und ihm das Angebot gemacht, die neueste Softwareversion von XFU, die noch nicht veröffentlicht worden war, an ihn zu liefern. Dazu noch die Entwicklungsergebnisse der neuen Funktionen. Zunächst hatte Napoleon entrüstet abgelehnt. Das Angebot war allerdings unschlagbar gut, so dass er den Auftrag annahm. Nach der Übergabe von Software und Daten an seine Auftraggeber wartete er in den Folgemonaten, ob sich eine Reaktion von XFU zeigen würde. Es passierte aber nichts, weder intern noch in der Presse wurde auf den Datendiebstahl reagiert. Somit zerstreuten sich seine letzten Zweifel.

Er konnte das Geld aus seiner Spionagetätigkeit gut gebrauchen, da verschiedene Bereiche in seinem Leben immer wieder eine Investition erforderten. Das viele Geld war jedoch nicht gut für seine Spielleidenschaft gewesen. Obwohl er hohe Summen verlor, schaffte er es nicht damit aufzuhören. Daher kam es gelegen, dass vor einem Monat die neueste Version von XFU fertiggestellt worden war, die er umgehend an seinen Auftraggeber geliefert hatte.

Napoleons Auftraggeber war diesmal jedoch unzufrieden und weigerte sich, die Lieferung zu bezahlen. Er behauptete, dass die neueste Version ohne Funktion sei, und forderte ihn letzten Freitag dazu auf, ihm die richtige Version zu liefern. Die Zeit bei Ursula Droste am heutigen Sonntag wollte er nutzen, um noch einmal den Server nach einer anderen Version zu durchsuchen.

Dieser Server war ein Rechner, der eigentlich geheim war, weil auf ihm die neuesten Versionen und Entwicklungsergebnisse von XFU gespeichert wurden. Bei seiner Arbeit war er zufällig auf eine elektronische Notiz von Ursula Droste gestoßen, in der die Funktion des Rechners und ein anonymer Zugang beschrieben wurden. Diesen anonymen Zugang nutzte Napoleon, um von außerhalb der Firma auf den Rechner zuzugreifen und die neuesten Versionen und Entwicklungsergebnisse für sich zu kopieren, ohne dass er bei dem Datendiebstahl entdeckt wurde. Wenn er jetzt aus dem Bad kam, wollte er sich die neue Version zur Veröffentlichung noch einmal anschauen. Er, Napoleon, war zwar gut, aber nicht unfehlbar. Wahrscheinlich hatte er beim Kopieren nur die falsche Version erwischt.

Als er aus dem Badezimmer trat, erwartete ihn eine böse Überraschung. Ursula Droste stand mit zornesrotem Gesicht vor dem kleinen Büro, in das sich die jeweilige Person, die sie betreute, zurückziehen durfte. Sie hatte beide Arme in die Hüfte gestemmt, schob das Kinn energisch vor und nahm eine kämpferische Haltung ein.

»Du bist also der Spion!«, schleuderte sie ihm mit zusammengekniffenen Augen entgegen. »Peer hat mir schon davon erzählt, dass vor drei Jahren die neueste Version von XFU lange vor der Markteinführung gestohlen wurde und die neuesten Funktionen bei der Konkurrenz aufgetaucht sind!«

Mit Peer meinte Ursula Droste den Gründer und Chef des Unternehmens XFU, Peer Lindner. Peer Lindner hatte vor zwei Jahren auch die Betreuung organisiert. Also war der Datendiebstahl zwar bekannt geworden, wurde aber von der Firma geheim gehalten! Napoleon war so überrumpelt, dass er keine Antwort fand.

»Das hat die Firma viel Geld gekostet!«, brüllte sie jetzt los. »So etwas hätte ich nicht von Dir gedacht«, fügte sie noch verächtlich hinzu.

»Ich weiß wirklich nicht, was Du meinst!«, kam von Napoleon gedehnt und sehr wenig überzeugend zurück. Er zog die Stirn kraus und drehte die Handflächen nach außen.

»So eine Unverschämtheit!«, schrie Ursula Droste weiter. »Glaubst Du, ich erkenne nicht, was Du da am Rechner machst? Du greifst auf die Entwicklungsergebnisse von XFU zu und willst sie auf Dein Notebook kopieren, um sie an die Konkurrenz weiterzugeben«.

Der Boden schien sich unter seinen Füßen zu bewegen und er schloss konsterniert die Augen. Er war zu unvorsichtig gewesen und hatte sein Notebook nicht gesperrt. Und Ursula Droste hatte natürlich die Strukturen am Bildschirm sofort erkannt, als sie ins Zimmer kam, um ihm einen Kaffee anzubieten.

»Diesen Server habe ich vor vielen Jahren persönlich eingerichtet!«, fügte Ursula Droste noch hinzu.

Mittlerweile war auch Hertha Bauer, Ursula Drostes Freundin und spontaner Besuch, aus der Küche gekommen und hatte sich neben Ursula aufgebaut. Die Abteilung hatte entschieden, dass man die vollen zwei Stunden bei Ursula Droste bleibt, auch wenn Besuch anwesend sein sollte. Man konnte sich jederzeit in das kleine Büro zurückziehen.

In Napoleon keimte Panik auf. Er war zu selbstsicher und damit unvorsichtig geworden. Wie sollte er diese Situation lösen? Er spürte die gleiche Handlungsunfähigkeit, die ihn schon sein ganzes Leben begleitete und die ihm in schwierigen Situationen seinen Kopf lahmlegte und Jähzorn in ihm aufsteigen ließ.

»Ich werde umgehend Peer anrufen«, sagte Ursula Droste verächtlich.

»Das wirst Du nicht!«, brüllte Napoleon los und stürmte auf Ursula Droste zu, die schon das Mobilteil ihres Haustelefons in der Hand hatte, um es ihr wegzunehmen. Er fühlte unbezähmbare Wut in sich aufsteigen.

Hertha Bauer stellte sich ihm in den Weg. Er versuchte sich an der kleinen Frau vorbeizudrängeln, wurde aber mühelos von ihr in die Küche geschoben. Normalerweise wäre ihr das nicht gelungen, da er ganz gut trainiert war. Aber er war völlig perplex durch das resolute Auftreten dieser Frau. Sie war zwar schon Mitte sechzig, aber noch als Schreinerin tätig, was ihr viel Kraft verlieh. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war völlig überrumpelt. Halbherzig versuchte er Hertha Bauer wegzustoßen. Sie baute sich in der Küchentür auf und ließ ihn nicht durch. Es entstand ein Gerangel, das er verlor; sie stieß ihn unbarmherzig zurück, sooft er es versuchte. Im Flur hatte Ursula Droste schon die Nummer gewählt und hielt sich das Telefon ans Ohr.

Napoleon fühlte die Wut immer stärker in sich aufsteigen. Es war diese Wut, die sich sehr oft seiner bemächtigte und die ihn schon sein ganzes Leben lang begleitete. Er war machtlos und würde gleich auffliegen. Die Situation entglitt ihm zunehmend. In seiner Hilflosigkeit breitete er die Arme aus. Seine Hand stieß dabei an den Kerzenhalter, der auf der Arbeitsplatte neben der Spüle stand. Er konnte nicht mehr klar denken. In seiner Verzweiflung nahm er den Halter am schwungvoll geformten Messing und schlug damit nach Hertha Bauer. Er traf sie mit dem schweren Marmorfuß an der Schläfe. Sie fing an zu schwanken und griff sich an den Kopf. Dann fiel sie vornüber. Für einen Moment schaute er ungläubig auf das, was er getan hatte. Dann fielen bei Napoleon alle Hemmschwellen.

Ursula Droste hatte sich mittlerweile abgewendet und sich das andere Ohr zugehalten, um besser hören zu können, wenn Peer Lindner abheben würde.

Sie hatte die furchtbare Szene noch nicht realisiert.

»Hallo Peer«, sagte Ursula Droste in den Hörer.

Napoleon zwängte sich an der am Boden liegenden Hertha Bauer vorbei. Den Kerzenständer hatte er immer noch in der Hand. Seine Wut verwandelte sich in eisige Kälte.

»Du, ich weiß jetzt, wer …«

Weiter kam Ursula Droste nicht. Napoleon schlug ein weiteres Mal zu. Innerhalb kürzester Zeit war er völlig emotionslos geworden. Ein furchtbarer Schlag traf Ursula Droste am Hinterkopf. Ihr glitt das Telefon aus der Hand, sie stürzte mit der Stirn auf die Kommode im Flur vor ihr und schlug auf dem Boden auf. Napoleon starrte wie abwesend auf die Szene. Der letzte Schlag dröhnte wie des Schmiedes Hammer auf den Amboss in seinen Ohren. Das Geräusch in seinem Kopf verstärkte sich zu einem heulenden Rauschen. In seiner Brust spürte er einen ungeheuerlichen Druck. Er konnte nichts mehr in seinem Gesichtsfeld erblicken. Alles schien in ein grässliches Hell getaucht. Er fühlte die Sekunden wie Ewigkeiten an sich vorbeiziehen.

Dann kam er wieder zu sich, schwer atmend, leicht vornübergebeugt, die Arme leicht abgewinkelt gestreckt. Das Quäken der Stimme aus dem Telefon rüttelte ihn auf. Ein Gefühl von Leben kehrte in Brust und Arme zurück. Das Blickfeld war wieder da und bot das ganze Grauen dieser Szenerie. Seine Haltung wurde wieder aufrecht. Die Zeit meldete sich als gnadenloser Fortlauf und ließ ihn noch einmal frösteln. Die überschrittene Grenze ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Er trat mit dem Schuhabsatz auf das Telefon. Die Beleuchtung der Tastatur erlosch und die Stimme brach ab. Von nun an gab es kein Zurück mehr. Er schaute auf die beiden Frauen. Hertha Bauer lag auf der Seite, die Augen waren halb geöffnet. Sie war tot. Ursula Droste lag auf dem Bauch, aus ihrer Nase strömte Blut. Sie atmete noch ein paar Mal schwer, dann stoppte die Atmung. Der Blutstrom hörte auf. Ursula Droste war ebenfalls tot.

Napoleon bekam ein letztes Mal einen Anflug von Reue. Er verwarf sie allerdings auf der Stelle wieder. Hier würde ihn niemand mehr verraten. Aber er musste weg.

»Fang endlich wieder an zu denken«, sagte er zu sich selbst. »Du musst raus hier. So schnell wie möglich«, flüsterte er, als könnte ihn jemand hören.

Den Kerzenständer stellte er auf die Arbeitsplatte und wollte ins Büro gehen. Seine Gedanken wurden immer klarer. Peer würde vorbeikommen oder jemanden dafür beauftragen. Also musste er seine Sachen schnappen und schnell das Haus verlassen. Er hielt kurz inne, nahm dann das Küchenhandtuch und wischte um die schwungvolle Riffelung herum den Kerzenständer ab, wo er ihn berührt hatte. Die Fingerabdrücke müssten damit beseitigt sein.

»Das müsste eigentlich reichen«, sagte er zu sich selbst.

Er klappte sein Notebook zu und zog seine Jacke an. Was musste er noch erledigen? Egal! Erst einmal raus hier. Auf dem Weg zur Haustür achtete er darauf, dass er nicht in die Blutlache an Ursula Drostes Kopf trat. Er schaute durch das kleine Seitenfenster im Windfang auf die Straße. Es war neblig. Ein Austräger von Werbung ging gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Haus zu Haus. Es erschien ihm quälend langsam. Der Austräger war weg. Napoleon zog die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht und trat aus dem Haus. Grau und dunkel hing das Vordach über dem Eingang in dem nebligen Morgen.

In normalem Tempo ging er durch das niedrige Gartentor und zog es hinter sich zu. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und der Pulsschlag dröhnte in seinen Ohren. Er wandte sich nach links den Gehweg entlang bis zu seinem Auto. Seine Schritte wurden schneller, bis er am Fahrzeug angekommen war. Die Entriegelung über den Schlüssel ließ die Blinker zweimal aufleuchten, was ihn zusammenfahren ließ und einen Schauer über den Rücken jagte. Das Grauen, das er zu spüren begann, breitete sich als betäubendes Kribbeln in seinem Bauch aus.

»Weiteratmen! Ruhig bleiben«, flüsterte er sich selbst zu.

Beim Einsteigen sah er sich verstohlen um, ob er jemanden am Fenster sehen würde. Das Starten des Motors kam ihm für diese Situation viel zu laut vor und er erschrak abermals. Das Herz schlug noch stärker. Er fuhr los. Es kam ihm kein anderes Fahrzeug entgegen und es folgte ihm auch keines. Jetzt nach links abbiegen und an XFU vorbei. Danach erst einmal auf die Ortsumgehung. Als er an XFU vorbeifuhr, waren die Fenster vor Nebel kaum zu erkennen. Er würde nie an seinen Arbeitsplatz zurückkehren können, stellte er voller Panik fest. Der Gedanke daran ließ ihn abermals erschaudern. Er fuhr einfach weiter.

Richard Kramer stand in der Küche und bereitete sich und seiner Frau den Kaffee für das Frühstück vor. Er genoss seinen Ruhestand mit seiner Frau Annelene. Seit einunddreißig Jahren wohnte er nun schon in Alsental. Beim Gedanken an die Zeit, in der er von Hannover nach Alsental gezogen war, kam ihm die Erkenntnis, dass er seit über dreißig Jahren enorm viel Glück in seinem Leben gehabt hatte. Davor hatte er als Elektroinstallateur gearbeitet und war bei einem Auftrag in einer Industriehalle fünf Meter in die Tiefe gestürzt. Koma, Knochenbrüche und Organverletzungen waren die Folge.

Nach mehreren erfolgreichen Operationen in Hannover, wo er so weit stabilisiert wurde, dass er transportiert werden konnte, wurde er nach Heidelberg verlegt, wo man ihm in weiteren Operationen Knochen, Gelenke und Lunge wiederherstellte. Durch die Kopfverletzungen war die Koordination seiner Bewegungen verloren gegangen, so dass er erneut Essen und Laufen lernen musste.

Während der Reha lernte er Peer Lindner kennen, einen Informatiker, der für seine damals noch junge Firma einen zuverlässigen Hausmeister suchte, vorzugsweise einen ausgebildeten Elektriker. Er musste unwillkürlich lächeln. Hausmeister wurde das damals noch genannt! Richard und Peer hatten sich als Leidensgenossen auf derselben Station während der Reha kennengelernt, nur dass Peer seine Verletzungen beim Skifahren davongetragen hatte. Das Angebot, das Peer ihm machte, war für Richards Verhältnisse unschlagbar gut, so dass er es annahm und mit Annelene ein halbes Jahr später von Hannover nach Alsental in eine Mietwohnung zog.

Ein älterer Herr in der Nachbarschaft bat ihn damals hin und wieder um Hilfe beim Einkaufen. Daraus entwickelte sich ein gutes Verhältnis, fast schon eine Freundschaft, so dass Robert Sievert, so hieß der ältere Herr, ihm sein Haus kurze Zeit später zum Kauf anbot, das Familie Kramer damals gerne annahm. Sieverts eigene Kinder, Lena, Claudia und Jens, wollten es nicht übernehmen, denn seine Töchter hatten schon ihren Lebensmittelpunkt in einer anderen Gegend aufgebaut und Jens fühlte sich noch zu jung, um sich alleine um das Haus zu kümmern.

Robert Sievert zog damals zu seiner ältesten Tochter in die Einliegerwohnung ihres Hauses in Süddeutschland. Die Kinder von Robert waren Richard immer schon sehr sympathisch gewesen und mit Jens pflegte er bis heute noch immer Kontakt. Jens Sievert hatte mittlerweile eine eigene Familie gegründet und ein Haus in der Neubausiedlung am Stadtrand von Alsental bezogen. Damals, nachdem Richard und Annelene Kramer das Haus von Robert Sievert gekauft hatten, waren sie auch Eltern geworden. Sie hatten einen Sohn und eine Tochter im Abstand von drei Jahren bekommen. Aber nun waren auch sie beide schon lange ausgezogen.

Gedankenverloren schweifte sein Blick aus dem Fenster in den nebelverhangenen Sonntagmorgen. Er sah Jens Sievert am Haus vorbeigehen. Sein Gang war etwas fremd, fast schon unsicher. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Kurze Zeit später sah er ihn mit seinem dunkelblauen Kombi vorbeifahren. Jens gehörte zu dem Team, das Ursula Droste jeden Sonntag von neun bis elf Uhr betreute. Ein Schlüssel zu Ursulas Haus war bei Richard deponiert, seit sie damals gestürzt war. Als ehemaliger Kollege und Nachbar machte er das gerne für sie.

Jens schien es eilig zu haben, denn normalerweise schaute er kurz auf ein kleines Schwätzchen in seinem ehemaligen Elternhaus vorbei. Außerdem war es noch nicht einmal zehn Uhr. Gab es etwa ein Problem mit der Schwangerschaft seiner Frau? Oder war sein Vater krank? Richard würde es sicher in naher Zukunft erfahren.

Richard Kramer legte die Eier in das kochende Wasser. Jens hatte eine noch junge Familie. Das dritte Kind sollte im März auf die Welt kommen. Er hatte ihn schon immer gemocht und kannte ihn, seit er siebzehn Jahre alt war. Jens war jetzt siebenundvierzig, seine Frau Ende dreißig. Er war der Jüngste der drei Kinder von Robert Sievert und hatte seinen Vater gerne unterstützt. Robert musste bereits Mitte neunzig sein. Aber als Jens damals auszog und zum Studieren nach Karlsruhe ging, wollte der Vater nicht mehr alleine das Haus versorgen und hatte es an Familie Kramer verkauft. Jens fing nach seinem Studium bei XFU als Entwickler an.

Als die Eier fertig waren, kam auch Annelene zum Frühstück.

»Guten Morgen«, flötete sie und gab ihm einen Kuss. »Das ist aber schön, dass Du Frühstück gemacht hast.«

»Den Kuss habe ich mir verdient«, grinste er.

Sie musste lachen und sie setzten sich zum Frühstück.

»Jens ist gerade vorbeigegangen, ohne auch nur Richtung Fenster zu schauen«, sagte Richard. »Das war wirklich eigenartig. Sein Gang war ganz komisch.«

»Sicher nur der neblige Morgen«, entgegnete Annelene. »Aber ist es für den Abbruch bei Ursula nicht eine Stunde zu früh?«

»Das ist es ja, was mich so wundert«, sinnierte Richard. »Vielleicht ist etwas mit seiner schwangeren Frau oder seinem Vater!«

»Oh, ich hatte es ganz vergessen, dir zu sagen! Sein Vater ist gestern gestürzt und Jens wollte so schnell wie möglich hinfahren«, gab Annelene schuldbewusst zurück. »Gestern war doch etwas viel los! Sonst hätte ich es nicht vergessen, es dir zu sagen. Mona hatte angerufen.«

Mona war die Frau von Jens Sievert.

»Macht ja nichts. Wir können diesmal sowieso nicht helfen. Dafür wohnt Robert zu weit weg. Und wir sind auch nicht mehr die Jüngsten!«

Sie mussten beide lachen.

Draußen hörte man Reifen quietschen. Wer bremste so heftig an einem Sonntagmorgen?

»Ich hoffe, das hat nichts mit Ursula zu tun«, sagte Annelene.

Die Antwort darauf bekamen sie beide sehr rasch. Eine Minute später klingelte jemand Sturm. Gerald Bohm, auch Mitarbeiter bei XFU, stand vor der Tür.

»Ursula macht nicht auf!«, presste Gerald ohne Gruß und keuchend heraus. »Peer hat mich gerade angerufen, ob ich nachsehen könnte. Jens macht eigentlich den Besuch heute, aber es macht keiner auf. Komm schnell.«

Richard nahm den Schlüssel aus dem Kästchen und folgte Gerald. Sie hasteten nach rechts zum Haus von Ursula Droste.

Gerald hatte die Abteilung vor acht Jahren nach dem Ausscheiden von Ursula übernommen und leitete ein Team von fünfundzwanzig Leuten. Die Besuche bei Ursula machte er aber immer noch.

Als sie die Tür öffneten, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Ursula Droste lag auf dem Bauch, mit dem Kopf neben der Kommode. Um ihr Gesicht hatte sich eine Blutlache gebildet. Man sah die Beine einer zweiten Frau, die im Durchgang zur Küche lag. Gerald fasste sich zuerst wieder und eilte zu der Frau. Er erkannte Hertha Bauer, die Freundin von Ursula Droste. Sie lag auf der rechten Seite. Ihre Augen waren halb geöffnet. Der Arm war schlaff und sie hatte keinen Puls mehr. Er drehte sich zu Ursula um. Ihr Kopf war von ihm weggedreht. Sie atmete nicht mehr und hatte ebenfalls keinen Puls mehr. Gerald setzte sich zwischen beide Frauen, winkelte die Beine an und nahm die Hände vor sein Gesicht. Richard wurde übel, er drehte sich um und wollte nach draußen gehen, sank aber nur zu Boden.

»Jens, was hast Du getan!«, flüsterte er entsetzt. »So etwas hätte ich ihm nie zugetraut«, fügte er hinzu und starrte auf den zusammengesunkenen Gerald.

Gerald fasste sich langsam wieder. Er rieb sich die Stirn.

»Wir müssen die Polizei rufen.«

Lynn Deyonge betrat die Kriminalpolizeidirektion Heidelberg. Sie gehörte seit einem halben Jahr zum K1, der Abteilung für Kapitaldelikte. Vera Hermsen, die stellvertretende Chefin des K1, hatte sie kurz zuvor angerufen und zu einer Einsatzbesprechung gebeten. Lynn arbeitete hauptsächlich im Kriminalkommissariat Mannheim. Am heutigen Sonntag waren natürlich nicht alle Kollegen anwesend, so dass die Besprechung nur in Heidelberg stattfand.

Vor einigen Jahren wurden die Kriminalpolizeidirektionen Mannheim und Heidelberg zu einer Organisationseinheit zusammengefasst. Übrig blieb die Kriminalpolizeidirektion Heidelberg und aus der Kriminalpolizeidirektion Mannheim wurde das Kriminalkommissariat Mannheim als örtlich zuständige Stelle.

Seit Lynn vor einem halben Jahr in Mannheim angefangen hatte, gab es noch keinen Einsatz für sie an einem Sonntag. Heute war sie froh über die Abwechslung, denn seit ihrer Trennung von Luka vor drei Wochen empfand sie die Tage und vor allem die Wochenenden als öd und leer. Der neblige Dunst an diesem wolkenverhangenen Sonntag half auch nicht, um ihrer Stimmung Auftrieb zu geben, auch wenn der gestrige Abend mit ihrer Nachbarin Daja und deren Tochter sehr schön gewesen war.

Treffpunkt war in Lubers Büro. Wenn der Chef der Abteilung selbst anwesend sein sollte, dann musste es ein außergewöhnlicher Fall sein. Lynn hatte noch keinen festen Partner und so arbeitete sie abwechselnd mit ihren Kollegen zusammen. Mit Ralf Luber, dem Chef der Abteilung, hatte sie noch keinen Einsatz gehabt.

Ihr Einstand in Mannheim war damals leichter als erwartet. Lynn hatte durch ihre Erfahrung in Bremen mit mehr Widerstand gerechnet. Aber außer ein paar Sticheleien, die jeder Neuling über sich ergehen lassen musste, gab es keine verbalen Angriffe.

Das war zum Beginn als Kriminalkommissarin in Bremen ganz anders. Damals vor sechs Jahren wurde sie argwöhnisch betrachtet und man prophezeite ihr, dass sie es als Frau wegen der Schwere der Verbrechen nicht schaffen würde. Lynn fand, das war ein vorgeschobenes Argument, um sie nicht in die männerdominierte Welt vordringen zu lassen. So hatte man sie anfangs versucht ins Büro abzuschieben.

Direkt nach ihrem Einstand kam dann eine Phase, in der mehrere Morde innerhalb kurzer Zeit begangen wurden, und so war sie von Anfang an mit an der Verbrechenslösung beteiligt. Mit ihrer Kampfsporterfahrung hatte Lynn einen der Hauptverdächtigen in einem Bandenkrieg ausschalten und festnehmen können, während ihre beiden Kollegen den zweiten Hauptverdächtigen festnahmen. Danach wurde es leichter für sie.

Nach zwei Jahren hatte sie dann über eine Freundin diesen Typen aus Mannheim kennengelernt und in den folgenden Wochen öfter gesehen. So entwickelte sich eine lockere Freundschaft, in der Luka oft in der Freundesgruppe dabei war, bis ihre Freundin Ella einmal verlauten ließ, dass Luka im Moment auffallend oft in Bremen sei.

In diesem Moment fingen bei Lynn Bauchkribbeln und Herzklopfen an, wenn sie nur an Luka dachte. Bis zu jenem Abend, als sie allein ins Kino gingen, weil alle anderen abgesagt hatten. Dort hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Lynn konnte sich noch nicht einmal mehr an den Film erinnern.

In den folgenden Jahren besuchten sich Lynn und Luka sooft es ging. Bis zu jenem Freitag in Mannheim, als Luka fragte, ob sie nicht nach Mannheim ziehen wollte. Erst war sie skeptisch, aber es ließ ihre Beziehung noch einmal stärker werden. Und sie mochte Lukas Freundeskreis und seine Freunde mochten sie. Es war kein übereilter Beschluss. Lynn hatte mit ihren Freunden in Bremen darüber gesprochen und die merkten, wie ernst es Lynn damit war. So zog sie vor etwa einem halben Jahr nach Mannheim in eine hübsche kleine Wohnung an den Lauergärten. Ihre Bewerbung war in Mannheim erfolgreich, da zwei Stellen frei wurden und sie aufgrund ihrer Beurteilung und Qualifikation sofort übernommen worden war.

Lynn hatte erwartet, dass in Mannheim wegen der Größe der Stadt viel weniger für die Kriminalpolizei zu tun wäre und außerdem die Nähe zu Luka die Beziehung noch tiefer werden lassen würde. Leider begann sich Luka aber immer stärker von ihr zu entfernen, da er sich eingeschränkt fühlte, wie er sagte. Sein Freundeskreis reagierte auch komisch, als sie auf einmal in der Nähe wohnte und öfter bei Luka war und auch an den Unternehmungen teilnahm. So gerieten sie schon nach wenigen Monaten in eine Phase voll Streitereien. Der Versuch mit mehr Abstand zwischen ihnen wollte das alte Gefühl der Liebe und Verbundenheit nicht wieder herstellen und so hatten sie sich vor drei Wochen getrennt.

In der Zeit danach fühlte Lynn sich elend. Die viele Arbeit half ihr über die schwere Zeit der Trennung hinweg. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass der Großraum Mannheim den Verbrechen in Bremen um nichts nachstand, obwohl Mannheim nur etwa die Hälfte der Einwohnerzahl von Bremen hatte. Lediglich die Verbrechen im Zusammenhang mit den Seeleuten fielen weg.

Vera Hermsen hatte eine überaus gute Menschenkenntnis. Kurz nach jenem schrecklichen Wochenende, an dem sie und Luka sich getrennt hatten, wurde sie von Vera direkt auf ihren Liebeskummer angesprochen. Sie hatte Lynn in einen Teamraum gebeten und Lynn nahm an, dass es sich um eine Dienstbesprechung handeln würde. Umso überraschter war sie, als Vera ihr mitteilte, dass sie sich einige Zeit zuvor genauso gefühlt hatte, als ihre Lebensgefährtin sich von ihr getrennt hatte.

Lynn fand es zuerst merkwürdig, dass Vera ihr so unverblümt von ihrem Privatleben erzählt hatte.

»Vertrautheit schafft Abgrenzung«, hatte Vera dazu gesagt.

Was sie damit meinte, begriff Lynn erst so langsam in den folgenden beiden Wochen. Sie lernte ihre Kollegen besser einzuschätzen, wenn sie Dinge über sie wusste, mit denen sie deren Stimmungslage besser beurteilen konnte. Darin war Lynn bisher noch nie gut gewesen.

»Sei mal ein bisschen offener und geh’ auf die Leute zu«, hatte ihre Mutter öfter zu ihr gesagt.

Sie und Vera unterhielten sich sehr lange an jenem Dienstag vor fast drei Wochen und anschließend hatte Lynn das Gefühl, dass sie eine Vertrauensperson gefunden hatte. Doch nach Dienstschluss blieb ihr Kummer grenzenlos. Lynn empfand ihr Inneres als ein alle Emotionen aufsaugendes Universum, so leer meldeten sich Körper und Kopf.

Nach Abschluss des letzten Mordfalls war noch eine Menge Büroarbeit zu erledigen, die sich durch die vielen Einsätze aufgestaut hatte. So vergrub sie sich hinter Rechner und Akten und fühlte sich wenig lebendig.

Am letzten Freitag kam Lynn zu dem Entschluss, dass sie ihre Tage wieder mehr gestalten wollte anstatt nur herumzusitzen und Trübsal zu blasen. So ging sie am gestrigen Samstagmorgen auf den Mannheimer Markt und kaufte für ein Abendessen ein, das sie und ihre Nachbarin Daja Rohin spontan beschlossen hatten.

An einem Stand deckte sie sich mit Zucchini, Tomaten, Kartoffeln, Möhren und frischen Pilzen sowie einigen Kräutern für einen Gemüseauflauf ein. Als die Verkäuferin den Preis nannte, machte Lynn ein so erstauntes Gesicht, dass die Verkäuferin laut loslachte. Den Preis hatte sie nämlich im Mannheimer Dialekt genannt, den Lynn noch nicht verstand, da sie mit ihren Arbeitskollegen hochdeutsch sprach. Die Marktfrau nahm grinsend einen Zettel und schrieb den Preis darauf, den Lynn bezahlte und sich verabschiedete.

Daja Rohin und ihre zwölfjährige Tochter Paula blieben bis zum Abend bei Lynn. Mit einem Kartenspiel wurde der Nachmittag eröffnet, bei dem sehr viel gelacht wurde. Beim Kochen war die Stimmung schon sehr gelöst. Nach dem Essen legten sie noch eine Spielrunde ein, bevor sich Daja und Paula verabschiedeten und in ihre Wohnung auf dem gleichen Gang direkt gegenüber zurückkehrten.

Danach fühlte sich Lynn schon wieder etwas kompletter und sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr Inneres wie ein verschlossener, rumorender Tresor war. Bis zum Einschlafen hatten ihre Gedanken die Erlaubnis sich frei zu entfalten und sie stellte fest, dass sie über Mannheim und seine Umgebung fast noch nichts wusste. Nur einen Besuch im Mannheimer Schloss und den für alle Fremden verpflichtenden Besuch in Heidelberg und seiner berühmten Schlossanlage hatten sie und Luka bisher gemacht.

Etwas wenig für ein halbes Jahr in Mannheim, wie Lynn fand. Vom Dialekt verstand sie ebenso wenig wie von der Stadt. Das würde sie in nächster Zeit schleunigst ändern. Monnemerisch, wie die Sprache hier genannt wurde, bestand für sie noch aus vielen unverständlichen Lauten. Immerhin hatte sie herausgefunden, dass die ch-Laute wie in „ich“ oder „herrlich“ durch sch-Laute ersetzt wurden. Die Sprache sei unter dem Einfluss der vielen Zuwanderer aus früheren Jahrhunderten entstanden, hatte ihr einer von Lukas Freunden erklärt.

Was Monnemerisch allerdings mit Hugenotten und deren Französisch zu tun haben sollte, hatte sich für Lynn noch nicht erschlossen. Bei den Fällen, an denen sie bisher gearbeitet hatte, war auch noch keine Person dabei gewesen, die nur Mannheimer Dialekt sprach, oder es gaben sich zumindest alle Mühe deutlich zu sprechen.

Vera Hermsen kam ihr auf der Treppe zu ihrer Büroetage mit Matthias Tregnat und Ulvi Jähn entgegen.

»Hallo Lynn«, grüßte sie und blieb stehen. Die beiden anderen Kollegen nickten nur kurz und eilten die Treppe hoch.

»Wir sollen sofort zu Ralf ins Büro kommen. Es gibt heute offenbar drei Fälle, bei denen wir ermitteln werden.«

»Das wird dann wohl nichts mit Stadterkundung«, erwiderte Lynn. »Was für Fälle haben wir denn?«

»Ich weiß es selbst noch nicht. Neben Euch dreien sind noch Regina, Andreas und Sven anwesend. Sie sind schon in Ralfs Büro.«

Ulvi Jähn war ihr Empfangskomitee, als Lynn vor einem halben Jahr in Mannheim anfing. An diesem Montag waren fast alle unterwegs gewesen. Ulvi war sehr aufgeschlossen und sie hatten sich von Anfang an gut verstanden.

Matthias Tregnat war für Lynn undurchschaubar. Seine Kleidung konnte man fast schon nachlässig nennen. Er trug am liebsten Pullover, am besten denselben wochenlang. Dazu war immer eine Lederjacke dabei, die angeblich fünfundzwanzig Jahre alt war. Lynn hatte Matthias bisher nur bei Vorbesprechungen gesehen, von denen er dann wie ein Geist wieder verschwunden war, noch ehe sie endeten. Seine äußere Erscheinung unterschied sich extrem von seinem Wesen. Seine Kommentare in den Besprechungen waren schnell, klar und scharfsinnig, fast schon beißend. Sie wusste nie, ob Matthias Tregnat gerade nachdachte oder schlechte Laune hatte. Auch nicht, ob er seine Kollegen bewusst oder unbewusst ignorierte.

Also hatte Lynn beschlossen, eine Gelegenheit abzuwarten, um mal mit ihm zu sprechen. Bisher wollte keine Situation für ein paar Worte herhalten. Wahrscheinlich wäre Mannheim eher verbrechensfrei, bevor es zu einer Unterhaltung kommen würde. Er nahm zudem kein Blatt vor den Mund, auch nicht bei seinem Chef Ralf Luber.

Regina Serber war die dritte Frau im Team und ebenso wie Lynn begeisterte Kampfsportlerin.

Andreas Reitmann und Sven Sorge arbeiteten am liebsten zusammen, was ihnen den Spitznamen „die Zwillinge“ einbrachte. Wann immer von einem Zwilling die Rede war, war der andere nicht weit.

Vera Hermsen ging voraus und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Schon von Weitem konnten sie die erregten Stimmen aus Lubers Büro hören.

»Ich brauche Ulvi heute in Heidelberg«, sagte Ralf laut und bestimmt. »Es gibt einige Zeugen türkischer Herkunft und wir benötigen dort einen Muttersprachler.«

Ulvi hatte Lynn einmal erzählt, dass er zweisprachig aufgewachsen war. Sein Vater war Deutscher, seine Mutter türkischer Herkunft. Als Lynn ihn fragte, wie es denn war, mit Eltern unterschiedlicher Herkunft aufgewachsen zu sein, gab es eine kurze Pause im Gespräch. Lynn dachte schon, sie hätte einen wunden Punkt bei Ulvi berührt. Aber er grinste nur und sagte, dass es überhaupt kein Problem gegeben hatte, weil seine Mutter eh die Hosen anhätte.

»Bei Gefahr jegliche Diskussion überflüssig«, hatte er gesagt und sie brachen beide in Gelächter aus.

»Sven kennt sich vor Ort am besten aus«, fuhr Ralf fort. »Deshalb wird er diesen Fall mit Ulvi bearbeiten. Beide sind heute in Heidelberg. Regina und Andreas gehen nach Waldhof. Dort wurde eine tote Person am Carl-Benz-Bad aufgefunden. Vermutlich ein Obdachloser. Todesursache für die Kollegen vom Einsatz vor Ort unklar.«

Eine Pause entstand. Demnach würde Lynn heute mit Matthias Tregnat einen weiteren Fall bearbeiten. Sie erwartete einen spröden Tag voller Sinnesschärfe, Genauigkeit und Stille. Matthias Tregnat setzte zum Sprechen an.

»Keine Alleingänge heute«, kam ihm Luber zuvor, der diese Reaktion voraussah. Und daraufhin vermittelnd: »Es ist ein Doppelmord im Umfeld von XFU passiert. Möglicherweise durch einen Mitarbeiter an Mitarbeitern. Fahrt hin und macht Euch ein Bild von der Situation vor Ort. Rechnet mit Presse. Ein Verdächtiger befindet sich auf dem Polizeirevier Alsental in Gewahrsam. Wir sprechen auf jeden Fall noch heute über eure Ermittlungen.«

Das war richtig ungewöhnlich, dass dies noch einmal betont wurde. Der Fall musste öffentlichen Sprengstoff bergen, wenn dies noch einmal Erwähnung fand. XFU musste ein wichtiger Arbeitgeber in der Region sein. Lynn hatte bisher nur von der Firma als Softwareschmiede gehört, aber keine Ahnung von der Größe von XFU noch vom Anwendungsbereich der Software.

»Gibt es noch Fragen?« Ralf Luber blickte in die Runde.

»Was macht ein Obdachloser so weit draußen? Da sind noch nicht einmal Geschäfte in der Nähe«, fragte Regina.

»Es liegen keine Personendaten vor. Ermittelt das vor Ort«, erläuterte Ralf. »Der äußere Zustand des Mannes gibt keine Hinweise auf eine Erkrankung oder ein Gewaltverbrechen.«

Also war die Spurensicherung schon vor Ort, fuhr es Lynn durch den Kopf. Regina Serber und Andreas Reitmann verließen das Büro, Ulvi und Sven besprachen sich noch flüsternd am Fenster.

»Welcher Art war denn die Tat bei XFU? Raub? Beziehungstat?«, fragte Lynn. Luber zog die Stirn kraus. »Na ja, wenn es eventuell von Mitarbeitern an Mitarbeitern war und XFU anscheinend sehr wichtig und damit heikel ist, wäre es gut, möglichst viel darüber zu erfahren, wie die Tat begangen wurde«, ergänzte Lynn.

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte Ralf. »Wir wissen, dass eine Person kurz nach der Tat den Tatort verlassen hat. Sie wurde beim Verlassen des Tatortes gesehen und erkannt und in Gewahrsam genommen, als die Kollegen zum Wohnort der Person kamen. Die Person wollte gerade wegfahren. Den Rest von den Kollegen vor Ort. Die Spurensicherung ist schon unterwegs, auch wenn es hier ein klarer Fall zu sein scheint.«

»Wenn es so klar ist, wieso zwei Leute?«, startete Matthias Tregnat den nächsten Versuch.

»Keine Alleingänge. Klares Vorgehen. Ihr stimmt euch ab!«, gab Luber zurück. Er unterstrich seine Entscheidung, indem er die Handkante seiner rechten Hand von oben nach unten schlug.

»Ich will einen Zwischenstand vor sechzehn Uhr. Der Fall wird sicher in den Medien auftauchen. Wir werden noch heute Abend eine Pressekonferenz geben müssen.«

Das war es also. Für die Herausgabe an die Presse musste alles hieb- und stichfest sein. Keine Alleingänge, hatte Luber gesagt. Es würde leichter sein, Lynns sechsundachtzigjährigen Großvater zu überreden, Skispringen zu lernen, als Matthias von einem Alleingang abzuhalten. Jedenfalls erwartete sie so etwas in der Art.

Sie traten auf den Gang und ließen einen sichtlich angespannten Ralf Luber in seinem Büro zurück. Vera Hermsen trat zu Lynn und Matthias.

»Ihr werdet mit viel Presse vor Ort rechnen müssen«, wiederholte sie Lubers Worte. »Wir brauchen die Ergebnisse so schnell wie möglich.«

»Dann bis später am Telefon«, erwiderte Matthias Tregnat. Lynn musste grinsen. Das war schon der dritte vollständige Satz von Matthias heute.

»Wir fahren sofort los«, bestimmte Matthias. »Wir nehmen gemeinsam ein Fahrzeug und können uns auf der Fahrt nach Alsental abstimmen.«

Oh ja, abstimmen heißt reden, dachte Lynn bei sich. Immerhin hatte Matthias gerade den Beweis erbracht, dass er auch Nebensätze bilden konnte.

Napoleon lief in seinem Arbeitszimmer hin und her. Die Schreibtischlampe weigerte sich, auf dem Weg Richtung Fenster von seinen Augen fixiert zu werden, ebenso die Stiftebox im Regal auf dem Rückweg Richtung Wand. Die Gedanken wollten sich in keine Form pressen lassen. Alles schien wild und verstörend. Seine Frau klopfte an die Tür.

»Was ist denn heute Morgen los?«, fragte sie. »Ich höre dich die ganze Zeit hin- und herlaufen.«

Sie stand gerne spät auf, wenn die Kinder bei den Großeltern übernachteten. Abenteuerwochenende wurde es genannt. Eigentlich hatten sie sich gestern Abend aussprechen wollen. Ihre Beziehung kriselte. Aber er war unzugänglich und abweisend gewesen. So war sie früh ins Bett gegangen.

»Mach mal die Nachrichten an. Da ist irgendwas mit der Firma«, gähnte sie. »Mord oder so.«

Sie ging aus dem Raum und Napoleon schaltete den Fernseher ein. Die Nachricht lief schon durch den Nachrichtensender.

»… geschah ein Doppelmord in Alsental. Die Umstände sind laut Polizei noch unklar. Ein Tatverdächtiger wurde in seinem Haus festgenommen.«

Ja natürlich. Die Polizei musste Jens Sievert verhaftet haben. Der heutige Besuch wäre eigentlich dessen Aufgabe gewesen. Und Jens Sievert fuhr einen ähnlichen dunkelblauen Kombi wie er heute Morgen. Napoleon schaltete den Fernseher wieder ab. Sein Gelächter war böse und lief nur leise in ihn herein.

Ich muss den Kombi loswerden und den Van wieder holen. Aber jetzt habe ich Zeit. Ha, Jens, du Saubermann! Immer korrekt und fleißig. Endlich hat es dich erwischt. Du wolltest ja nicht auf meinen Kurs einschwenken. Etwas Schlimmeres als dich gibt es nicht. Ich verachte deine ganze ehrliche, integre Art. Wie willst du es jemals zu etwas bringen? Du bist ein Nichts, so wie die ganze Abteilung! Was ich in der Firma nicht geschafft habe, mache ich einfach jetzt. Mich werden alle kennenlernen. Keiner kann mich mehr an meinem Vorhaben hindern. Endlich kann ich wieder klar denken. Und niemand wird mich erwischen. Schließlich bin ich Napoleon.

Die Fahrt nach Alsental war wie erwartet fast gesprächslos verlaufen. Viel gab es über den Fall ja noch nicht zu sagen. Der Nebel nahm stetig zu. Die nordbadische Ebene gab an diesem Morgen keine landschaftlichen Geheimnisse preis, und in Alsental war die Sichtweite unter einhundert Meter. Sie ließen sich vom Navi zum Einsatzort lotsen. Schon eine Querstraße vorher war klar, dass es den erwarteten großen Presseauflauf geben würde. Die Wagen verschiedener Sender parkten teilweise auf der Fahrbahn. So stellten Lynn Deyonge und Matthias Tregnat ihren Dienstwagen eine Straße weiter ab und gingen den Rest zu Fuß. Eine große Menschenmenge stand schon um den von Einsatzwagen und Bändern freigehaltenen Bereich herum. Lynn und Matthias bahnten sich ihren Weg hindurch. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurden sie durch die Absperrungen zum Haus gelassen. Die Blaulichter von Polizeiautos und Rettungswagen zogen lange Bahnen durch den Nebel.

Matthias Tregnat wandte sich an einen Polizisten am rot-weißen Plastikband.

»Die Absperrung wird erweitert. Ich will kein Publikum in dieser Nähe. Je ein Wagen an beide Enden der Straße.«

Der so Angesprochene gab die Anweisung über das Funkgerät am Revers an die Kollegen weiter. Das Band wurde von Einsatzkräften an je einem Ende vom Zaun auf jeder Straßenseite gelöst und langsam vom Haus von Ursula Droste weggeführt. In der Mitte lief ein Polizist mit Megafon und wies die Leute an sich zurückzuziehen. Die Menge murrte, wich aber langsam zurück. Lynn ahnte durch den Dunst, dass es auf der anderen Seite des Hauses genauso ablief. Im Hauseingang stand ein weiterer Uniformierter und grüßte. Die Spurensicherung war schon im Haus und beschrieb die grauenvolle Szenerie in das Diktiergerät.

»Guten Morgen, Peter«, sagte Lynn zu dem einen.

»Guten Morgen Lynn, guten Morgen Matthias«, gab der knapp zurück.

Lynn sah auf dem Boden lang ausgestreckt eine Frau mit grauem Haar. Sie lag auf dem Bauch, der Kopf war leicht nach rechts gedreht. Um das Gesicht hatte sich eine Blutlache gebildet. Am Hinterkopf war halb rechts in Stirnhöhe eine starke Deformierung. Lynn empfand die Sinnlosigkeit der Tat plötzlich als ungerecht. Sie spürte Wut und Trauer gleichzeitig in sich aufsteigen. Das Alter der Toten schätzte sie auf siebzig bis achtzig Jahre. Selbst im Tod merkte man ihr eine aufrechte Haltung an, das Gesicht sah von der Seite entspannt aus. Beim Schlag musste sie augenblicklich das Bewusstsein verloren haben, denn der linke Arm lag unter ihrer linken Hüfte und der rechte Arm rechts am Körper mit leicht aufgestütztem Handgelenk.

Zeit zum Abfangen des Sturzes hatte sie keine mehr gehabt. Lynn atmete einmal tief durch. Sie glaubte hinter Matthias Tregnats kraus gezogener Stirn Nachdenken und tiefe Abscheu zu erkennen.

Die andere Frau lag auf der rechten Körperseite im Durchgang zur Küche. Die Augen waren leicht geöffnet. Über der linken Schläfe war eine grauenhaft tiefe Wunde zu sehen. Ihre rechte Hand lag unter ihrem Gesicht. Sie musste sich noch an den Kopf gegriffen haben. Ihre Unterarme ließen auf eine enorme Körperkraft schließen. Zudem hatte sie breite Schultern. Die ganze Statur hatte etwas von einer Handwerkerin.

Lynn überfiel eine tiefe Traurigkeit. Niemand sollte so sterben müssen. Ihr Unbehagen versuchte sie mit leichten Bewegungen der Schultern in den Griff zu bekommen. Auch nach den Jahren bei der Mordkommission berührte ein solches Verbrechen sie immer noch zutiefst.

»Was habt ihr bisher untersucht?« Der barsche Ton von Matthias Tregnat riss sie aus ihren Gedanken.

»Noch nichts«, antwortete Peter Nördner. »Wir haben auf euch gewartet und erst einmal dokumentiert.« Er drehte die Hand mit dem Diktiergerät leicht nach außen.

Matthias setzte zum Sprechen an, sagte aber kein Wort, sondern blickte zu Lynn. Sie sah, dass ihn die abscheuliche Tat völlig einnahm. Er atmete tief durch und versuchte es wieder.

»Ist etwas über die Tatwaffe bekannt?«

»Es war wohl der Kerzenständer auf der Arbeitsplatte. Unten am Rand sieht man Blut und Haare. Der Täter hat ihn auf der Arbeitsplatte um die eigene Achse gedreht. Die Spuren sind um den Marmorfuß des Ständers herum auf der Oberfläche verteilt.« Peter Nördner beendete dann seine Ausführung. »Möglicherweise hat er die Riffelung mit irgendetwas abgewischt.«

Matthias machte eine Pause und atmete tief durch.

»Was sagst du zu dem Fundort hier, Lynn?«

Lynn weitete leicht die Augen. Das war bisher jetzt mehr Kommunikation als im ganzen letzten halben Jahr. Matthias rieb sich die Stirn. Dies hier machte ihm sichtlich zu schaffen und er versuchte wohl etwas Zeit zu bekommen, um seine Fassung zurückzugewinnen.

»Ich vermute, es war keine geplante Tat. Der Täter hat den Kerzenständer nicht abgewaschen, obwohl die Spüle direkt daneben ist. Es würde mich nicht wundern, wenn wir mehr Spuren von ihm finden«, führte sie aus. Sie nahm den Ständer in beide behandschuhte Hände, darauf achtend, dass sie weder die Riffelung im Messing noch den Marmorfuß berührte, und prüfte sein Gewicht. »Ziemlich schwer.« Dann blickte sie auf den Boden. »Das Telefon hat er anscheinend zertreten. Beim Herunterfallen entstehen nicht solche Schäden.«

Der Deckel und das Display des Gerätes waren herausgesprungen. Zwei der Tasten hingen heraus. Ein Riss zog sich diagonal über das Gehäuse. Lynn war froh um diese Frage, das Antworten brachte ihre Fassung zurück. Sie blickte auf die sehr gepflegten Möbel und zog die Stirn kraus.

»Das ganze Haus wirkt sehr gepflegt. Ich hoffe, die Reinigung war nicht zu gründlich«, erriet Matthias ihre Gedanken. Und zu Peter Nördner: »Ist die Identität der beiden Toten schon geklärt?«

»Die Frau im Flur ist Ursula Droste. Ihr gehört das Haus. Bei der Leiche in der Küche handelt es sich um Hertha Bauer, eine Freundin von Frau Droste und Schreinerin mit eigenem Betrieb in Alsental. Der Nachbar hat einen Schlüssel und fand die beiden so vor. Mehr konnte er nicht herausbringen, der Schock sitzt zu tief. Ein weiterer Zeuge war dabei. Beide sind im Haus des Nachbarn ein paar Häuser weiter.« Peter Nördner war fertig.

»Hat eine der Toten ein Auto?«, fragte Matthias.

»Ja, beide. Sie stehen draußen in der Einfahrt und vor dem Gelände.«

»Nehmt euch anschließend beide Fahrzeuge vor. Vielleicht wurden sie aufgebrochen.«

Lynn und Matthias wandten sich ab Richtung Ausgang.

»Lass uns erst mal dem Nachbarn einen Besuch abstatten.« Matthias ließ sich das Wohnhaus von dem Beamten vor der Tür beschreiben. Vor dem Haus des Zeugen stand ein weiterer Polizist. Sie grüßten und betraten das Haus. Ein Sanitäter war anwesend und bot seine Hilfe an. Die drei Anwesenden lehnten ab, obwohl die Frau weinend und völlig aufgelöst am Esstisch saß. Ein Mann saß neben ihr und versuchte, sie zu beruhigen.

Beide wurden halb von Matthias verdeckt, der vor Lynn die Küche betreten hatte und nun schräg vor ihr stand. Ein weiterer Mann lehnte an der Arbeitsplatte. Mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen und immer noch um Fassung ringend sah er Lynn und Matthias entgegen. Seine nach oben gezogene Stirn ließ die Augen fragend und abwesend erscheinen. Lynn schätzte dessen Alter um die fünfzig. Seine Statur war schlank und erinnerte sie an ihre eigenen sportlichen Aktivitäten. Allen stand der Schreck noch ins Gesicht geschrieben.

»Tregnat, Mordkommission«, hörte sie Matthias sagen.

Der Mann an der Küchenzeile stellte sich als Gerald Bohm vor.

»Wir sind die Kramers«, antwortete der Mann am Tisch. »Wir wohnen hier.«

Ich muss mich ja nicht vorstellen, dachte Lynn bei sich und wusste im gleichen Moment, dass Matthias gar nicht daran dachte es für sie zu tun. Also hielt sie sich zurück. An seiner Haltung erkannte sie, dass er eine neue Eingebung hatte.

»Darf ich Sie bitte draußen sprechen«, sagte er zu Gerald Bohm und warf ihr im Vorbeigehen einen Blick mit fast unmerklichem Nicken Richtung den Kramers zu. Die Zeugen zu trennen war wirklich keine schlechte Idee.

Als beide draußen waren, trat Lynn an den Tisch zu den Kramers und holte es nach sich vorzustellen. Sie schätzte beide auf Ende sechzig, war sich aber nicht ganz sicher. Herr Kramer hatte graues, schütteres Haar. Sein leicht nach vorne gebeugter Oberkörper gab einen leichten Haltungsfehler preis und sein Gesicht war fahl, was aber nicht die Grundfarbe zu sein schien. Vielmehr wirkte er wie jemand, der sehr gerne in der Natur unterwegs war. Die Augen waren hell und wach, aber sehr traurig.

Der Tränenstrom bei Frau Kramer versiegte allmählich. Neben den an die Nase und vor den Mund gefalteten Händen erschienen rot geweinte Augen. Ihr Gesicht war völlig aufgelöst. Auch ihre Haut wirkte unter dem Kummer so wie bei jemandem, der täglich draußen war. Die Betrachtung des Dienstausweises schien beide abzulenken, so dass Lynn sich langsam gegenüber setzte und den beiden in die Augen sah. Wenn die beiden genauso viel redeten wie ihr werter Kollege, dann würde das Gespräch ungefähr so erfolgreich verlaufen wie Konzentrationsübungen nach einem ungeplant zwölfstündigen Arbeitstag.

Als hätten die Kramers ihre Gedanken gelesen, fingen beide gleichzeitig an zu sprechen.

»Wenn mir das einer …«

»Wir hätten …« Annelene Kramer hielt inne.

»Wenn mir das gestern einer gesagt hätte, was heute passiert, hätte ich ihn für verrückt erklärt.« Mit einem nach Worten suchenden Blick tastete Richard Kramer den Tisch ab. Seine Hände blieben an den Oberarmen seiner Frau, was sie sichtlich ruhiger werden ließ. »Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Jens zu so etwas fähig ist.«

Die entstehende Pause nutzte Lynn zu einer Frage. »Sie meinen den Mann, den Sie gesehen haben?«

»Ja, Jens Sievert«, fuhr Kramer tief ausatmend fort. »Ich habe gerade das Frühstück vorbereitet, als er am Fenster vorbeieilte.«

Fassungslos und nach weiteren Gedanken suchend entstand eine Pause, die Lynn nutzte, um die Stimmung zu heben. »Frühstück am Sonntag finde ich einen tollen Service«, lächelte sie Annelene Kramer an.

Dies entlockte ihr eine kleine Mundbewegung. Die sich zu einem Lächeln formenden Lippen froren jedoch gleich wieder ein. Aber auch bei ihr löste sich damit ein Gedankenstau.

»Wissen Sie«, startete Annelene erfolglos und wischte sich unter den Augen die Haut glatt. »Wissen Sie, wir kennen Jens schon so lange, wie wir hier wohnen. Er ist in diesem Haus aufgewachsen. Immer noch ist ihm von Zeit zu Zeit ein Besuch bei uns wichtig.«

Na bitte. Geht doch. Sie möchten erzählen. Also ließ Lynn das Paar fortfahren.

»Ich habe mich gewundert, dass Jens heute nicht kurz vorbeigeschaut hat. Nicht einmal zum Haus hat er geschaut. Dabei lässt er normal keine Gelegenheit aus …«

»Er erzählt doch so gerne mit uns und wir hören am liebsten Geschichten von seinen Kindern«, ergänzte Annelene sein Stocken. »Manchmal bringt er die Kinder sogar mit. Die beiden sind wirklich süß. Wissen Sie, unsere Enkel sehen wir nicht so oft. Die Kinder wohnen weit weg.« Ihr Blick wurde wieder dunkel. »Aber was er heute getan hat …«

»Können Sie sich vorstellen, was Herr Sievert bei Frau Droste wollte?«, überbrückte Lynn.

»Er gehört doch zu der Truppe, die Ursula betreut.«

Pause. »Betreute.«

»Beruflich betreute?«

»Wie man es nimmt.« Bisher hatte Richard teilnahmslos vor sich hingestarrt. Doch jetzt kam Leben in sein Gesicht. »Beide haben in der gleichen Firma gearbeitet. Bei XFU.«

»Ein ehemaliger Mitarbeiter, der eine ehemalige Mitarbeiterin betreut?« Lynn war erstaunt.

»Betreuung kann man das eigentlich nicht nennen. Eher Besuche. Das hat Peer organisiert. Nachdem Ursula vor Jahren gestürzt war und mehr als einen Tag hilflos in ihrem Haus lag.«

»Peer?«

»Peer Lindner. Der Gründer von XFU. Ursula war lange Zeit seine wichtigste Mitarbeiterin.«

»Und seine schwierigste«, ergänzte Annelene. »Jens arbeitet übrigens noch dort.«

»Wie oft hat Herr Sievert denn Frau Droste betreut?« Und korrigierte sich gleich. »… besucht?« Von so etwas hatte Lynn noch nie gehört.

»Oh, das war eine ganze Truppe. Immer Sonntagmorgen und immer abwechselnd.« Richard schaute überlegend nach oben. »Das war der Zeitraum, an dem Ursula am längsten allein war. Ich meine, Samstagabend Karten spielen. Sonntag Ruhe. Montag weiter. Die Leute kamen immer sonntags von neun bis elf.«

»Frau Droste wurde immer von mehreren Personen betreut … besucht?«

»Nein. Die haben sich das aufgeteilt. Jeder war mal dran. Manche wollten das einfach öfter machen. Wissen Sie, Ursula war etwas schwierig.«

Lynn legte den Kopf ein wenig schief und zog die Augenbrauen zusammen. Also erklärte Richard.

»Wissenschaftlerin. Eine der ersten Physikerinnen im Land. Diskussion gerne, aber Entscheidungen nur bei ihr.«

»Oh ja, Jens kann ein Lied davon singen.« Annelene presste die Lippen zusammen. »Sie war auch keine angenehme Nachbarin. Wir wohnen zum Glück drei Häuser weiter.«

»Wie unangenehm war sie denn?«

»Alles musste immer picobello sein. Fast schon steril. Auch bei den Nachbarn. Das hat sie notfalls mit einer Klage durchgesetzt. Der Garten war eigentlich nutzlos. Betreten verboten. Auch für Eichhörnchen und Vögel. Kein Grashalm wächst ungeplant.«

»Und Herr Sievert hat sie trotzdem besucht.«

Zwei fragende Blicke.

»Sie sagten, er kam nicht mit ihr aus.« In diesem Moment ärgerte sich Lynn, dass sie das Gespräch in diese Richtung lenkte. Es wäre besser gewesen, die Kramers einfach erzählen zu lassen. Richard bügelte den Fehler sofort wieder aus.

»Niemand kam mit ihr aus. Auch ihre Kollegen nicht. Aber alle suchen das Gespräch mit ihr. Mit dem Kopf ist sie immer noch bei den Projekten. Und sie ist ein Fundus schier unerschöpflichen Wissens, hat Peer immer gesagt.«

»Mit achtundsiebzig Jahren?«