Ballade der Gezeiten - Maya Shepherd - E-Book

Ballade der Gezeiten E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Eine Fehde zwischen Zeus und Poseidon verwickelt die Menschen und das Meeresvolk in einen Jahrzehnte überdauernden Krieg, der auf beiden Seiten Opfer fordert. Als Meerjungfrau Mariel einem Menschenprinzen das Leben rettet, bricht sie damit das oberste Gesetz des Ozeans: Hilf niemals einem Menschen! Für ihre Tat droht Mariel der Tod. Um ihrer Bestrafung zu entgehen, muss sie ihren Fehler ungeschehen machen und den Prinzen bis zum nächsten Vollmond umbringen. Ihrer Stimme beraubt und dazu verdammt unter Feinden zu leben, setzt sie alles daran dem Prinzen näher zu kommen, denn ihre einzige Waffe ist ihr Kuss.

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Seitenzahl: 569

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ballade der Gezeiten

MAYA SHEPHERD

Copyright © 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nica Stevens

Korrektorat: Anne Paulsen

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Giessel Design

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-945-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1. Sirenengesang

2. Göttlicher Hauch

3. Relikte eines Lebens

4. Die verborgene Grotte

5. Der Prinz und die Meerjungfrau

6. Eine Entscheidung zwischen Halbgöttern

7. Gott, Herrscher, Vater

8. Der Götterhain

9. Diplomatische Visite

10. Fremder Körper

11. Tanz über Scherben

12. Unendliche Weite

13. Das Weinfest

14. Fels in der Brandung

15. Bis zum Horizont

16. Fluch der Weiblichkeit

17. Ein Funke Freiheit

18. Holz, Piniennadeln und Schweiß

19. Wohlstand für Thira

20. Töchter der Meere

21. Wasser und Blut

22. Eine Frage der Loyalität

23. Eins mit dem Meer

24. Lieben ohne Morgen

25. Blind für die Wahrheit

26. Ein Silberstreif am Horizont

27. Die Krönung

28. Der Berg Parnassus

29. Die Insel Aiaia

30. Körper und Seele

31. Die Grenze zwischen Leben und Tod

32. Die Unterwelt

33. Die Elysischen Gefilde

34. Der Tartaros

35. Die Felder der Asphodelen

36. Ballade der Gezeiten

Epilog

Danksagung

Drachenpost

An mein jüngeres Ich:

Gib nicht auf!

Deine Träume sind es wert,

an ihnen festzuhalten.

1

Sirenengesang

MARIEL

Die Lichter des Segelschiffes durchbrachen die Dunkelheit der Nacht, strahlten heller als die Sterne am wolkenlosen Himmel. Ein letztes Aufbegehren, bevor sie für immer erlöschen würden.

Der Wind und die Wellen trugen das ausgelassene Gelächter der Besatzung über weite Strecken, bis hinab in die Tiefen unseres Reiches. Dort verkamen ihre Stimmen zu einem gedämpften Grollen, verzerrt und unverständlich, aber bedrohlich wie ein nahender Sturm. In ihrer menschlichen Unbekümmertheit lag ein gewisser Hohn, der unsere Gemüter erregte. Seit Jahrzehnten währte der Krieg, welcher das Land vom Meer spaltete, entfacht durch eine Fehde zwischen Zeus und Poseidon. Zu viel Blut war geflossen, zu viele Körper ruhten kalt und starr auf dem Grund des Ozeans, zu viele Seelen waren verloren. Trotzdem wagten die Menschen sich unbeirrt auf ihre Schiffe und segelten hinaus in die unendlichen Weiten der See, als gehörte ihnen die Welt. Waren ihre Verluste geringer als unsere? Maßen sie einem Leben weniger Wert bei? Oder war ihre Bereitschaft zu leiden größer?

Sie mussten an die Unbezähmbarkeit des Meeres erinnert werden. Angeführt von unserem Vater Poseidon, durchbrachen meine sechs Schwestern und ich die Wasseroberfläche. Unsere Kiemen schlossen sich augenblicklich und unsere Lungen nahmen ihre Arbeit auf. Verborgen zwischen den dunklen Wellen spähten wir zu dem großen Schiff, dessen drei Masten wie dunkle Türme in die Nacht ragten. Die weit gespannten Segel flatterten in der seichten Meeresbrise, beschienen vom silbrigen Licht des Mondes.

Feine Rauchschwaden stiegen vom Deck auf, erfüllt von dem Gestank verbrannter Fischleiber. Sobald die Menschen sich an den Fischen gütlich getan hatten, würden sie sich der Überreste unseres Volkes entledigen – ohne jede Achtung vor dem Leben, das sie genommen hatten. In ihrer vermeintlichen Überlegenheit sahen sie sich dazu berechtigt, sich zu nehmen, was immer ihnen beliebte.

Poseidons Miene war vor Zorn verzerrt, geradezu furchteinflößend, während meine älteste Schwester Pacifica ein Fauchen ausstieß.

»Ich kann es kaum erwarten, dabei zuzusehen, wie diese Monster in den Fluten ertrinken«, meinte sie grollend. In ihren violetten Augen lag ein gefährliches Funkeln.

Mein Blick glitt zu Indira, deren Aufgabe es heute war, das Schiff mit ihrem Gesang zu versenken. Es würde ihr erstes Mal sein. Anders als Pacifica wirkte sie weniger euphorisch, eher verängstigt. Ihr Gesichtsausdruck war wie erstarrt und ihre Brust hob und senkte sich im Takt mit ihrem beschleunigten Herzschlag.

Mir würde es an ihrer Stelle nicht anders ergehen. Uns trennte nur ein Lebensjahr voneinander. Schon bald würde auch ich mich beweisen müssen. Ich konnte nicht einmal sagen, was mir mehr Furcht bereitete, zu versagen oder die Aufgabe an sich.

»Manche von ihnen sind nicht unansehnlich«, flüsterte Atlantica mir mit einem frechen Lächeln zu und stupste mich mit ihrem Ellbogen an.

»Seid nicht so dumm, euch von ihrer äußeren Erscheinung blenden zu lassen«, richtete unser Vater sich sogleich mahnend an uns. Atlanticas Worte waren ihm wohl nicht entgangen. »Das Meer gehört uns! Das müssen wir ihnen so lange deutlich machen, bis sie mit ihren Schiffen fernbleiben.«

Beschämt von seiner Rüge senkte Atlantica den Kopf. Poseidons Anerkennung mussten wir uns verdienen, auch wenn sie vergänglich war. Eine falsche Frage, eine unbedachte Äußerung oder ein Kichern an unpassender Stelle genügten, um sein Wohlwollen zu verlieren. Nur wer ihm zum Gefallen handelte, erlangte seine Gunst. Niemand beherrschte das besser als Pacifica, die die Menschen genauso sehr hasste wie er.

Von unserer Position im Wasser aus konnten wir nicht alle Einzelheiten an Bord erkennen, nur das diffuse Licht von Öllampen erlaubte uns einen flüchtigen Blick auf das Geschehen. Einige Männer lehnten an der Reling. Sie trugen vornehme Kleidung aus hochwertigen Stoffen, die sie deutlich von den Fischern unterschied, die wir sonst meistens zu Gesicht bekamen. In ihren von Ringen geschmückten Händen hielten sie Becher, aus denen sie eine rote Flüssigkeit tranken, die ihren Verstand unaufmerksam und ihre Körper träge machte. Ein Gift, das sie sich bereitwillig selbst verabreichten.

Ihr ausgelassenes Gelächter wurde von Musik untermalt. Ich reckte den Kopf, um mehr sehen zu können, doch die Musikanten befanden sich zu mittig auf dem Deck, um ihre Instrumente erkennen zu können. Die Klänge waren fremd, aber deshalb nicht weniger faszinierend. Sie klangen fröhlich und regten dazu an, sich in ihrem Takt zu bewegen. Zu tanzen, wie es meine Mutter nannte.

Die anwesenden Menschen schenkten dem Spiel ihrer Kameraden kaum Beachtung – es schien für sie nicht mehr als ein Hintergrundrauschen darzustellen. Soweit ich es sehen konnte, befanden sich ausschließlich Männer an Bord. Junge Männer, alle nur wenige Jahre älter als ich. Sie sollten ihr Leben noch vor sich haben, stattdessen würden sie heute alle sterben. Ich versuchte, das nagende Gefühl in meiner Brust zu ignorieren. Sie verdienten mein Mitleid nicht.

»Ist das eine königliche Flotte?«, wandte Baltis sich an unseren Vater. Sie deutete auf ein Wappen, das in das Holz der Schiffswand geschnitzt war. Die Darstellung eines Helms mit Krone, darüber drei Sterne. Nur noch Reste der einst blauen, roten und goldenen Farbe waren zu erahnen.

Poseidon nickte Baltis zu. »Gut erkannt«, lobte er sie, was ihr ein zufriedenes Lächeln entlockte. »Je größer ihr Verlust, desto größer unser Sieg.«

Pacifica legte einen Arm um Indiras Schultern. »Du hast Glück, direkt ein solches Schiff sinken lassen zu dürfen. Bei meinem ersten Mal musste ich mit einem alten Fischkutter vorliebnehmen.« Sie lachte ungezwungen auf und löste sich wieder von Indira.

Ich wusste, Pacifica meinte es gut und wollte ihr nur Mut machen, aber ihre Worte bewirkten bei Indira das Gegenteil, auch wenn diese ihre Mundwinkel zu einem Lächeln verzog, das keines war. Die Panik in ihren bernsteinfarbenen Augen war nicht zu übersehen, als sie zögerlich zu unserem Vater blickte. Vielleicht hoffte sie auf Bestärkung von ihm, doch er beachtete sie gar nicht. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Schiff vor uns.

Ein Mann torkelte an die Reling, die aus Gitterstäben bestand. Es herrschte kaum Seegang, trotzdem fiel es ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten. Zu viel der roten Flüssigkeit trübte seinen Geist. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als er direkt in unsere Richtung blickte – ohne uns zu bemerken. Die Ignoranz der Menschen verbot ihnen, all das, was außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag, wahrzunehmen. Für sie war das Meeresvolk nicht mehr als eine Legende. Erzählungen, die sie erfanden, um sich für ihren schlechten Fang zu rechtfertigen oder ihren Kindern Angst einzujagen. Sie vergaßen, dass in jeder Geschichte ein Funke Wahrheit steckte. Daran würde auch die heutige Nacht nichts ändern. Später würden sie von einem schrecklichen Unglück berichten – ein Beweis für ihre Weigerung, unsere Existenz anzuerkennen. Etwas, das es nicht gab, brauchte man nicht zu fürchten.

Der Mann löste den Lederriemen, der die Hose auf seinen Hüften hielt, und ließ sie achtlos zu Boden gleiten. Den Unterleib entblößt, urinierte er ungeniert ins Wasser.

Poseidon knurrte erzürnt. Das war mehr, als er ertragen konnte. Es war Zeit zu handeln. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt er den Dreizack umklammert. Er war willens, die Menschen in ihre Schranken zu weisen. Mithilfe seiner Macht, die er mit uns, seinen Kindern, teilte. Nur wer das zweiundzwanzigste Lebensjahr erreichte, erhielt die Chance, sich als würdig zu erweisen. »Bist du bereit, Indira?«

Entsetzt starrte sie ihn an. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Mehrere Atemzüge verstrichen, ohne das irgendetwas geschah.

Unser Vater legte verärgert seine Stirn in Falten und schwamm auf sie zu. Wie ein Felsen ragte er vor ihr auf und blickte auf sie herab. »Indira«, sprach er sie streng an. »Du bist meine Tochter und es ist deine Pflicht, das Meer zu beschützen. Wirst du deine Verantwortung annehmen?«

Seine Stimme war drohend wie das Donnern vor einem nahenden Unwetter. Nie zuvor hatte eine von uns sich ihm widersetzt. Es galt als Ehre, gegen die Menschen zu kämpfen. Ich wusste nicht, was er mit ihr machen würde, sollte sie sich wirklich weigern. Würde er sie verbannen oder gar noch Schlimmeres?

Indiras Unterlippe zitterte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Bitter schmeckte ich ihre Angst und ihre Verzweiflung auf meiner Zunge. Mir würde es nicht anders als ihr ergehen. Ihr Anblick verursachte ein Engegefühl in meiner Brust, das ich nicht länger aushalten konnte. Von der Zuneigung zu meiner Schwester überwältigt, schwamm ich an ihre Seite und ergriff ihre Hand. Ihre Finger schlossen sich fest um meine. Ein Beben ging von ihnen aus.

»Sie ist noch nicht so weit«, mischte sich Coral ein. »Gib ihr bitte noch etwas Zeit!« Flehend sah sie zu unserem Vater, dessen Miene eisern war.

»Ich kann für sie übernehmen«, bot Baltis sich an. Ich ahnte, es ging ihr weniger darum, Poseidon zu beeindrucken, als Indira zu beschützen.

Poseidon blieb unnachgiebig. »Kommst du deiner Pflicht nicht nach, wird das Folgen für dich haben«, drohte er unserer Schwester und brachte dabei sein Gesicht dicht vor ihres. Das eisige Blau seiner Augen ließ mich frösteln.

Pacifica schwamm hastig an Indiras andere Seite und legte sanft ihre Hand auf ihren Oberarm, um sie aus ihrer Starre zu reißen. »Komm schon, Schwesterchen, du kannst das!«, flüsterte sie ihr ermutigend zu. »Ich glaube an dich!« Sie gab sich stark, aber mir entging nicht die Furcht in ihrem Blick. Indira musste tun, was unser Vater von ihr verlangte, weil niemand sie vor seinem Zorn beschützen könnte.

»Wir sind alle bei dir«, stimmte Adriane zu und schwamm hinter Indira. Ermutigend legte auch sie ihre Hand auf deren Schulter.

»Du schaffst das!«, versicherte Atlantica ihr und reihte sich in den Kreis ein, den wir um unsere Schwester bildeten. Auch Coral und Baltis schlossen sich dem an. Dicht schwammen wir nebeneinander, vereint wie eh und je. Unsere Ansichten glichen sich nicht immer, doch unserer Liebe tat dies keinen Abbruch. Poseidon mochte mehr Gott als Vater sein, aber er hatte uns einander geschenkt.

Ich spürte, wie Indira ihren Griff um meine Hand lockerte. Die Starre wich aus ihrem Körper und schließlich nickte sie Poseidon zu. »Ich bin bereit, Vater.«

Wir lösten uns von ihr, um ihrer Magie den nötigen Platz zur Entfaltung zu geben. Entschlossenheit schlich sich in ihre Augen und ließ sie das Kinn nach oben recken. Mit kraftvollen Bewegungen ihrer Schwanzflosse erhob sie sich mit dem Oberkörper weiter aus dem Wasser und ließ ihre ausgestreckten Hände über die Oberfläche gleiten. Ihr langes braunes Haar, zwischen dem ihre spitzen Ohren hervorblitzten, legte sich wie ein Umhang über ihren Rücken. Die Schuppen, die ihren Brustkorb bedeckten, schimmerten golden im Mondlicht.

Sachte trommelte sie mit den Fingern auf die Wellen und versetzte sie in Wallung. Nur ein winziger Anstoß, mehr brauchte es nicht – den Rest würde das Meer erledigen. Die See brauste auf, schäumte und zürnte dem Schiff. Krachend schlugen die Wassermassen gegen den Bug, als wollten sie all das zertrümmern, was durch Menschenhand erschaffen worden war. Eine gewaltige Welle traf den Bug des Schiffes, löschte die Feuer und Lampen auf einen Schlag und trieb die Menschen auseinander. Schreie der Besatzung waren zu vernehmen.

»Das ist Musik in meinen Ohren!«, raunte Poseidon uns zufrieden zu. Mit einem Nicken gab er Indira zu verstehen, dass sie fortfahren solle.

Dichte Wolken schoben sich vor die Sterne und den Mond, verdunkelten die Nacht. Ein Blitz jagte vom Himmel herab, erhellte für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichter der Menschen an Bord. In ihnen stand blankes Entsetzen. Befehle wurden gebrüllt und Hektik brach aus.

Die kalten Wassermassen weckten die Lebensgeister der Besatzung. Alarmiert stolperten sie umher, in dem aussichtslosen Versuch zu retten, was längst verloren war. Sie versuchten, einer Kraft zu trotzen, die älter war als jedes menschliche Leben.

Tief sog Indira die salzgetränkte Luft ein, bevor sie ihre Stimme erklingen ließ. Ein hoher, durchdringender Klang, der bis in meine Seele vordrang. Verknüpft mit einem weiteren Ton entstand daraus eine Melodie, samtig und einnehmend. Sie brauchte nicht zu schreien, um gehört zu werden. Es waren die leisen Töne, die sanft wie Wellen das Innerste erreichten. Der Gesang der Meerjungfrauen war magisch, denn er berührte etwas in den Herzen der Menschen, drang an jenen dunklen Ort vor, an dem sie ihre Sehnsüchte verbargen. Unsere Stimmen bahnten sich einen Weg in ihr Bewusstsein, nahmen sie gefangen, trugen ihren Geist fort aus dem Hier und Jetzt, dorthin, wo ihre geheimsten Träume ruhten.

Durch sturmgepeitschte Wellen

singe ich mein Lied,

locke Seelen in den Abgrund,

dem keiner entflieht.

Meine Melodie,

ein Flüstern in der Nacht,

in schwarzen Gewässern,

wo die Sehnsucht in dir erwacht.

Verlockung in den Augen,

glitzernd wie das Meer,

unter der Oberfläche

lauert das Begehren schwer.

Sirenenruf bringt Todeskuss.

Tanz mit mir im Schatten,

verlass den Lebensfluss.

Meine Hände greifen wie Seetang nach dir.

In meinem Lied verblasst das Licht.

Fühlst du die Dunkelheit in mir?

Einer Vibration gleich war Indiras Gesang bis zu der Besatzung des Schiffes vorgedrungen. Sie erstarrten in ihren Bewegungen, ließen ihre Arme sinken, vergaßen, wo sie waren und was sie hergeführt hatte, standen nur noch da, um der fernen Melodie zu lauschen. Jeder Überlebenswille war gebrochen. Alles, was sie wollten, war, dem Ruf zu folgen. Nicht Indira war es, die sie begehrten, sondern das, was ihr Lied ihnen versprach: die Erfüllung ihrer geheimsten Sehnsüchte, individuell und einzigartig wie die Seele jedes Lebewesens. Sie würden mit einem Lächeln auf den Lippen sterben, unempfindlich gegen die Kälte des Ozeans und fern von der Dunkelheit der Nacht, eingelullt in einen verloren geglaubten Traum.

Wassermassen schlugen auf das Schiff ein, zerbrachen einen der Masten mit ihrer brachialen Gewalt und erinnerten die Menschen an ihre Bedeutungslosigkeit. Die schneeweißen Segel sanken auf das Deck herab, begruben die Besatzung unter sich. Blitze zischten über den grollenden Himmel und entluden sich in den Wassermassen. Sie konnten dem Meeresvolk nichts anhaben, lösten nicht mehr als ein sanftes Kribbeln in unseren Fingerspitzen aus. Wir waren eins mit dem Ozean.

»Du machst das gut«, lobte Pacifica unsere Schwester. »Mach nur weiter so.«

»Gib ihnen keine Chance mit dem Leben davonzukommen!« forderte Poseidon. »Lass ihre Herzen verstummen!«

Indira schien kaum Notiz von ihnen zu nehmen. Ihre Aufmerksamkeit galt allein den Menschen. Ihre Augen glühten, erfüllt von Magie. Das Meer warf das Schiff hin und her, schleuderten die anwesenden Personen nacheinander wie Muscheln von Deck. Sie wehrten sich nicht einmal. Betäubt von Indiras Gesang, trieben sie im Meer und ließen sich von den Fluten mitreißen. Es war nicht ihr Wille, der um ihr Leben kämpfte, sondern ihr Körper. Instinktiv strampelten sie mit Armen und Beinen. Sie rangen röchelnd nach Atem. Doch salziges Meerwasser füllte ihre Lungen, ließ ihre Herzen verstummen. Indiras Stimme war das Letzte, was sie hörten. Ihre Stimme war es, die ihnen den Tod brachte.

Eine mächtige Welle brach den Bug entzwei, spaltete das Schiff, flutete es mit Wasser und zog es in den Ozean hinab. Und mit ihm alle, die sich noch an Bord befanden.

»Gut gemacht«, kommentierte Poseidon zufrieden das sinkende Schiff. Indira hatte sich in seinen Augen als würdig erwiesen.

Erst jetzt, wo ihr Werk vollbracht war, konnte sie aufhören, zu singen. Atemlos verklang der letzte Ton und verlor sich im Rauschen der brausenden See. Unser Gesang war der Grund, warum die Sagen der Menschen nicht nur von schönen Meerjungfrauen handelten, sondern auch von seelenlosen Meerhexen und mörderischen Sirenen. Gut und Böse ließ sich nicht klar trennen. Jede Geschichte war eine Frage der Perspektive.

Nun, wo das Schiff versenkt und Vergeltung geübt worden war, kam das Meer wieder zur Ruhe. Der Sturm schwoll ab und ein dichter Nebel zog auf, der die ersten schwachen Strahlen der Sonne verbarg. Am Morgen würde es keine Spur mehr von dem Schiff und seiner Besatzung geben. Sie waren nur weitere von vielen unglücklichen Opfern, die den Tod auf rauer See gefunden hatten. Trotzdem würde das die Menschen nicht davon abhalten, sich Tag für Tag erneut auf das Meer hinauszuwagen. Es war ein ewiger Kreislauf aus vergossenem Blut und verlorenem Leben. Mich erfüllte keine Genugtuung, als ich der Oberfläche den Rücken kehrte und Poseidon und meinen Schwestern in unser Reich folgte – nur Wehmut. Ganz gleich, wie viele Menschenleben wir auslöschten, sie würden den Krieg nicht beenden, nur fortführen. Ein ständiger Kampf aus Tod und Verderben.

2

Göttlicher Hauch

THERON

Die Wellen warfen mich gleich einem riesigen, unerbittlichen Monster hin und her, machten mich zu ihrem Spielball. Benommen kämpfte ich gegen die brutale Kälte des Meeres an. Mein Kopf war wie leergefegt. Ich sah das entzweigebrochene, sinkende Schiff und hörte wie aus weiter Ferne die Schreie meiner Kameraden, ohne zu begreifen, wie es dazu hatte kommen können.

Mein Verstand war gefesselt, unfähig, eins und eins zusammenzuzählen. Es war mein Körper, der reagierte und unermüdlich gegen die Strömung ankämpfte, die mich wieder und wieder in die Tiefe zog. Die Dunkelheit um mich herum war undurchdringlich. Mit jedem gestohlenen Atemzug schien sie in mich zu dringen, mich auszufüllen und meine Gedanken zu betäuben.

Meine Lunge brannte vor Anstrengung. Wasser schlug mir ins Gesicht und ich verschluckte mich an dem salzigen Nass, das mich würgen ließ. Meine Arme und Beine schmerzten vor Erschöpfung, während der Sturm tobte, als wäre er erst bereit zu ruhen, wenn er mich besiegt hatte. Wellen türmten sich über mir auf, brachen und drückten mich unter Wasser. Irgendwie schaffte ich es zurück an die Oberfläche. Jeder Atemzug war ein Überlebenskampf. Die Zeit verlor ihre Bedeutung – es gab nur noch den Moment, das ständige Ringen mit den schwarzen Wassermassen.

Die Kälte bahnte sich einen Weg in meine Gliedmaßen und ließ mich unkontrolliert zittern. Meine Zähne schlugen aufeinander und meine Finger waren wie taub. Inmitten dieses Chaos’ entdeckte ich eine dunkle Gestalt zwischen den Wassermassen und kraulte mit letzter Kraft zu ihr. Als ich näherkam, erkannte ich die rote Jacke, die Zenon getragen hatte. Nass klebte sie an dem Leib, der sich nicht mehr rührte und mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Sein Anblick legte sich wie eine eiskalte Hand um mein Herz.

Bitte nicht, schoss es mir durch den Kopf und ich beschleunigte meine Arm- und Beinbewegungen, um zu ihm zu gelangen. Keuchend griff ich nach ihm, zog ihn näher und drehte ihn zu mir herum. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um meine schlimmste Befürchtung zu einer unerträglichen Wahrheit werden zu lassen: Zenon war tot.

Mein bester Freund war tot.

Die Realität des Verlustes traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Erinnerungen an unsere gemeinsamen Jahre strömten über mich hinweg. Seitdem ich denken konnte, war Zenon mein Freund gewesen. Unzählige Tage hatten wir uns als Kinder zwischen den Weinreben seines Vaters Stavros versteckt und uns die Leben ausgemalt, die wir eines Tages führen würden. Entgegen der Vorstellung seines Vaters hatte er nie vorgehabt, dessen Weingut zu übernehmen, genauso wenig wie ich die Krone wollte, die noch das Haupt meiner Mutter zierte. Wir hatten von Abenteuern auf hoher See geträumt, davon, fremde Länder zu bereisen und neue Welten zu entdecken. Die Beschaulichkeit unserer Heimatinsel war uns zu klein, wir hatten mehr für uns gewollt. Ein Leben ohne den anderen war uns unvorstellbar erschienen. Wir waren wie Brüder – gewesen.

Jetzt trieb Zenon leblos im Wasser, und all unsere gemeinsamen Ziele sanken mit ihm in die Tiefe. Die Abenteuer, die wir erleben, die Erfolge, die wir feiern wollten – nichts davon das würde nie geschehen. Der Gedanke daran schnürte mir die Kehle zu und ich drückte ihn fester an mich, unfähig ihn loszulassen.

Tränen füllten meine Augen und raubten mir die Sicht. Das Engegefühl in meiner Kehle wurde unerträglich und ein Schluchzen brach sich über meine Lippen Bahn. Daraus wurde ein lautes Wehklagen, das in einem Schrei gipfelte. Ich schrie mir den Schmerz aus der Brust. Schrie und schrie, bis ich heiser war. Bebend presste ich Zenon an mich, als wäre er nicht der Stein, der mich in die Tiefe zog, sondern das Treibholz, das mich oben hielt.

Von Erschöpfung überwältigt akzeptierte ich auch mein Ende, als ich plötzlich eine Veränderung im Wasser bemerkte. Ein leuchtender Schein durchdrang die Dunkelheit und bewegte sich schnell auf mich zu. Selbst in meinem vernebelten Verstand war mir klar, dass es sich dabei um nichts Natürliches handeln konnte. Aber was war es dann?

Unmittelbar vor mir tauchte ein Delfin auf, den ein flimmerndes Strahlen umgab. Er war blendend weiß und seine Haut glitzerte wie von Diamanten bestäubt. Seine Augen waren erfüllt von Güte und wirkten geradezu menschlich. Eine beruhigende Präsenz ging von ihm aus, die mein trauerndes Herz besänftigte.

Prinz Theron, erklang eine sanfte, doch eindringliche Stimme in meinem Geist, du musst Zenon loslassen. Sein Kampf ist vorbei, aber deiner steht dir erst noch bevor.

Ermutigend blickte das Tier mir entgegen, das anscheinend keines war. Ich kannte Geschichten über Götter, die den Menschen in Gestalt von Tieren begegneten. Doch ich hatte nicht geglaubt, dass sie wahr sein könnten, und noch weniger erwartet, je selbst so eine Erfahrung zu machen. Nicht, nachdem mein Vater seit jeher all meine Gebete an ihn ignorierte. Nicht nur deshalb bezweifelte ich, dass es sich bei dem Delfin um Zeus handelte, seine Stimme klang weiblich.

Ich zögerte, meine Finger fest um Zenons Körper geklammert. Die Tränen, die sich mit dem salzigen Meerwasser mischten, brannten in meinen Augen. »Wer bist du, dass du unsere Namen kennst?«

Der Delfin gab ein schnatterndes Geräusch von sich, als würde er mich auslachen. Wir kennen nur die Namen jener, die für uns von Belang sind.

Das war nicht direkt eine Antwort, aber bestätigte mich in der Vermutung, dass es sich bei ihm nur um eine Gottheit oder einen Abgesandten jener handeln konnte. Warum jedoch sollten sich die Götter auf einmal für mich interessieren?

»Schickt dich mein Vater?« Mich störte das Zittern, welches sich in meine Stimme schlich. Es sollte mir nicht mehr wichtig sein. Er sollte mir nicht mehr wichtig sein.

Ich folge nicht den Befehlen anderer, sondern gehe meinen eigenen Weg, entgegnete der Delfin. Ich glaubte eine Spur von Stolz aus der Stimme herauszuhören. Lass mich dir helfen.

Um uns herum war nichts als die tosende See. Kein Land in Sicht. Der Delfin, wer immer er auch sein mochte, war meine einzige Chance. Trotzdem schaffte ich es nicht, mich von Zenon zu lösen. Er hatte es nicht verdient, auf den Meeresgrund zu sinken. Genauso wenig wie all die anderen Kameraden, die in dieser Nacht wahrscheinlich den Tod gefunden hatten.

»Ich kann ihn nicht loslassen«, flüsterte ich. »Er war mein bester Freund, mein Bruder im Geiste.«

Der Delfin näherte sich weiter, eine Aura aus Wärme und Trost ausstrahlend. Zenon und die anderen haben ihren Frieden gefunden. Sie werden immer ein Teil von dir sein, aber jetzt musst du dich retten. Sie würden wollen, dass du für sie weiterlebst. Vertraue mir.

Sie waren alle tot? Kälte legte sich um mein bebendes Herz. Ich war es gewesen, der einen Ausflug aufs Meer hatte machen wollen, um den Verpflichtungen der Krone und dem Genörgel meiner Mutter zu entfliehen. Es war nicht fair, dass sie starben und ich noch lebte. Doch selbst wenn ich die göttliche Hilfe ausschlug, würde sie das nicht wieder lebendig machen. Sei kein Narr, geisterte Zenons Stimme durch meinen Verstand. Ich konnte ihn kopfschüttelnd vor mir sehen, seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen verzogen.

Ein letztes Mal lehnte ich meine Stirn gegen seine und nahm innerlich für alle Zeit von ihm Abschied. Mit zitternden Händen löste ich schließlich meinen Griff von seinem leblosen Körper. Einen irreparablen Teil von mir würde Zenon mit sich in die Tiefe ziehen.

Kaum dass ich meinen besten Freund freigab, schob der Delfin sich unter meinen Arm und stützte mich.

Halt dich gut an meiner Rückenflosse fest, sagte die weibliche Stimme des Delfins in meinem Kopf. Er musste der Bote einer Göttin, wenn nicht sogar sie selbst in Tiergestalt sein. Atme tief die Luft aus meinem Blasloch ein. Wir müssen untertauchen, um dich in Sicherheit zu bringen.

Ich zögerte kurz, verstand nicht, warum sie mich nicht einfach zur nächsten Küste brachte. Sie hatte mich gebeten, ihr zu vertrauen. Vielleicht war das Wasser unter der Oberfläche ruhiger. Es stand mir nicht zu, die Beweggründe einer Göttin infrage zu stellen, deshalb tat ich wie mir geheißen. Ich legte mein Gesicht über das Blasloch auf dem Kopf des Delfins.

Bereit?

»Ja«, antwortete ich schwach, und mit einem kräftigen Flossenschlag tauchten wir unter die Oberfläche. Ich klammerte mich fest an sie, als wir in die Tiefe des Ozeans vordrangen. Mit jedem ihrer Atemstöße füllte Luft meine Lunge. Das Licht, welches von ihr ausging, erhellte unseren Weg durch die Dunkelheit. Nur undeutlich nahm ich die Unterwasserlandschaften wahr, an denen wir vorbeiglitten. Da waren wogende Seegräser, Korallengärten und bunt schimmernde Fische. Bei Tag, wenn die Sonne bis in die Tiefen des Ozeans vordrang, musste es ein atemberaubender Anblick sein. Der Druck auf meine Ohren nahm zu, doch ich vertraute der Göttin und versuchte, ruhig zu bleiben.

Nach einer Weile steuerten wir auf eine große Felsformation zu und ehe ich mich versah, verschwanden wir in einem schmalen Tunnel, der gewunden durch den Stein führte. Es ging nach rechts, nach links, kreuz und quer, sodass ich jede Orientierung verlor, bis wir plötzlich aus dem Wasser auftauchten und uns in einer Grotte wiederfanden, deren Wände im Schein des Delfins glitzerten.

Ein einzelner Felsen ragte aus dem Wasser, auf dem sie mich absetzte. Erschöpft und zitternd vor Kälte sank ich darauf zusammen und atmete tief durch.

Erlaube deinem Körper, sich zu erholen, sagte die sanfte Stimme der Göttin.

»Warum hast du mich hierhergebracht und nicht ans Ufer?«, fragte ich sie verständnislos, weil ich meine Zweifel nicht länger für mich behalten konnte.

Du musst mir vertrauen. Alles wird sich zum Guten fügen, beschwor sie mich in Rätseln sprechend.

Als ich bemerkte, dass sie sich abwandte, überkam mich Panik. »Bitte geh nicht!«, flehte ich. »Warum hast du mich aus dem Sturm gerettet, wenn du mich jetzt hier allein zurücklässt? Ohne dich finde ich aus dieser Höhle nicht mehr hinaus!«

Sie hielt in ihrer Bewegung inne. Hab Geduld, Theron. Ich bin es nicht, die dich retten wird!

Ohne auf eine Erwiderung von mir zu warten, tauchte sie in ihrer Delfingestalt unter und verschwand in den Tiefen des Meeres, das leuchtende Licht langsam verblassend.

»Komm zurück!«, schrie ich, wohl wissend, dass sie nicht auf mich hören würde. Ich verstand einfach nicht, warum sie mich in diese Grotte gebracht hatte. Ohne Trinkwasser würde ich hier sterben, abgesehen davon, dass es entsetzlich kalt war.

Die Göttin hatte mich betrogen! Sie hatte mir ihre Hilfe versprochen und mich stattdessen an einen Ort gebracht, der einem Gefängnis glich. Warum hatte sie mir das angetan? Wofür bestrafte sie mich?

3

Relikte eines Lebens

MARIEL

Die versunkene Stadt war den Landbewohnern nicht unbekannt, Sagen und Legenden rankten sich um sie, war sie doch der Auslöser für den Krieg zwischen Zeus und Poseidon. Atlantis.

Einst war sie eine Insel der Menschen gewesen, an Pracht und Fortschritt kaum zu überbieten. Beeindruckende Paläste hatten sich neben Tempel, in denen den Göttern gehuldigt wurde, gereiht. Sie war Zeus’ ganzer Stolz gewesen.

Poseidon hatte hingegen weniger an den architektonischen Wundern der Stadt als an einer seiner Bewohnerinnen Gefallen gefunden: Kleito. Sie war die Prinzessin von Atlantis gewesen und hatte eines Tages über dieses atemberaubende Reich herrschen sollen. In gewisser Weise wurde sie ihrer Bestimmung auch gerecht, jedoch anders als von Zeus beabsichtigt. Sie wurde meine Mutter.

Nachdem sie sich in meinen Vater verliebt hatte, suchte er nach einem Weg, sie für immer bei sich haben zu können und sandte schließlich eine riesige Welle, die Atlantis samt seinen Bewohnern unter sich begrub und für immer im Ozean versenkte. Er ließ die Menschen nicht ertrinken, sondern nutzte seinen Dreizack und verwandelte sie in Meermänner und Meerjungfrauen – die ersten unserer Art. Sie fühlten sich geehrt, von einem Gott auserwählt worden zu sein, und unterwarfen sich seinem Willen.

Zeus hingegen warf Poseidon vor, ihn der Pracht Atlantis’ beraubt zu haben, und erklärte ihm den Krieg. Ein Krieg, der bereits seit fünfzig Jahren währte. Was waren allerdings schon Jahrzehnte für unsterbliche Götter? Nicht mehr als ein Wimpernschlag.

Ich kannte keine anderen Städte der Menschen, aber im Ozean gab es keinen prächtigeren Ort als Atlantis. Korallenüberwucherte Türme streckten sich der Oberfläche entgegen, gespickt von länglichen, spitz zulaufenden Fenstern, bestehend aus funkelndem Bernstein. Selbst in den Tiefen des Meeres fingen sie das Licht ein und reflektierten es tausendfach. Muscheln bildeten die Dächer, die faustgroße Perlen in sich bewahrten.

Unzählige Meeresbewohner tummelten sich rund um die Bauwerke. Sie krochen über den sandigen Boden, tauchten in kunstvoll verzierte Brunnen hinab oder schwammen um die gewaltigen Säulen. Verfallene Statuen, stumme Zeugen einer glorreichen Vergangenheit, zierten die Plätze.

Umgeben von einem bunten Korallengarten erhob sich der Herrscherpalast, dessen Fassade aus schimmerndem Perlmutt bestand. Muränen hielten vor dem Eingang Wache und wichen demütig zur Seite, als Poseidon sich in Begleitung meiner Schwestern und mir näherte.

Glühende Quallen erleuchteten die Hallen, die sich hinter dem Tor erstreckten. Während Poseidon auf den Thronsaal zusteuerte, zog es uns in die entgegengesetzte Richtung. Wir folgten dem leisen Klang von Muschelhörnern, die den Weg zu den königlichen Gemächern wiesen. Am Ende eines langen Korridors erwartete uns eine offene Tür. Kaum, dass wir jene passiert hatten, wendete unsere Mutter sich zu uns um. Ihre Augen, so tief und weise wie der Ozean selbst, leuchteten auf, als sie uns erblickte.

»Da seid ihr ja endlich«, verkündete sie mit einem Lächeln und breitete ihre Arme aus. Sie beteiligte sich nicht an den Angriffen gegen die Menschen. Jedes Mal, wenn wir an die Oberfläche schwammen, um ein Schiff zu versenken, blieb sie im Palast und erwartete sehnsuchtsvoll unsere Rückkehr.

Wir umringten sie liebevoll, ehe sie ihre Hände um Indiras Wangen legte und sie prüfend in Augenschein nahm. »Geht es dir gut?«

Meine Schwester nickte, Pacifica kam ihr jedoch mit einer Antwort zuvor.

»Zuerst hat sie sich etwas geziert, aber dann hat sie es großartig gemacht.« Anerkennend zwinkerte sie Indira zu, die ihr die Zunge rausstreckte.

»Es war nicht so schlimm, wie ich dachte«, räumte sie ein. »Ich brauchte mich nur auf meinen Gesang zu konzentrieren, dann habe ich die Menschen gar nicht mehr gesehen.«

»Ich sah sie dafür umso deutlicher«, prahlte Baltis und ließ sich in einen der kleinen Strudel sinken, die durch das Zimmer wirbelten. Sie thronte darauf wie auf einem Herrschersitz. »Es ist jedes Mal aufs Neue eine Freude, sie röcheln zu sehen.« Sie fasste sich an den Hals und ahmte es nach.

Die Mehrheit meiner Schwestern lachte, während unsere Mutter missbilligend die Miene verzog. Sie bemerkte meinen unwilligen Ausdruck und streichelte mir tröstend über die Wange. Anders als Poseidon verurteilte sie uns nicht für andere Ansichten, solange sie uns nicht zu Handlungen verleiteten, die gegen das Gesetz verstießen.

Ihr Gemach war einer der wohl beeindruckendsten Orte in ganz Atlantis. Regale säumten die Wände, in denen sich ein Sammelsurium aus ländlichen Gegenständen befand. Besteck, das Menschen zum Essen brauchten, reihte sich neben Porzellanfiguren, Puppen, Schmuck, Uhren, Kleidungsstücke und Werkzeuge. Bei vielem erschloss sich mir nicht der Verwendungszweck und ich kannte auch nicht die Namen.

Sie besaß sogar ein Gemälde, dessen Farben so verlaufen waren, dass man kaum noch etwas darauf erkennen konnte. Trotzdem war sie nicht bereit, sich davon zu trennen, genauso wenig wie von den anderen Dingen, die Erinnerungsstücke aus ihrem alten Leben waren – ihrem menschlichen Leben. Auch andere Bewohner von Atlantis, die einst als Menschen geboren worden waren, besaßen solche Andenken. Kleitos Sammlung war allerdings bei Weitem die Größte – zum Groll unseres Vaters. Er ließ sich lediglich davon besänftigen, dass sie ihn all diesen Dingen vorgezogen hatte. Ihm gehörte ihre Zukunft.

»Nicht alles Menschliche ist schlecht«, betonte sie wie so oft, schwamm zu einem ihrer Regale und zog einen länglichen Gegenstand aus Holz heraus, in dem mehrere Löcher eingelassen waren. »Hierbei handelt es sich um eine Flöte«, erklärte sie und setzte das spitz zulaufende Ende an ihre Lippen. »Wenn man dort hineinbläst, erzeugt sie Musik. Mit den Fingern«, sie legte ihre auf die Löcher, »lassen sich die Töne verändern. Ihr Klang ist zauberhaft.« Ein sehnsüchtiger Ausdruck zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

»Die Männer an Bord des Schiffes haben auch musiziert«, erzählte Atlantica. »Ihr Spiel hätte dir gefallen.«

»Gewiss«, stimmte unsere Mutter ihr zu, ehe sie uns den Rücken zuwendete und die Flöte zurück auf ihren Platz legte. »Nicht so sehr ihr Tod«, murmelte sie und drehte sich zu uns um. »Ich verabscheue diese Grausamkeit.«

»Sie ist nötig, um die Menschen in ihre Schranken zu weisen«, beteuerte Pacifica und klang dabei ganz wie Poseidon. »Sie sind es doch, die unseren Ozean vergiften und überall ihre Netze auswerfen. Sollen wir dabei etwa tatenlos zusehen?«

Kleito winkte ab. »Ich verstehe dich doch, Liebling«, beteuerte sie versöhnlich und ließ ihre Finger durch Pacificas langes dunkles Haar gleiten. »Ich wünschte nur, dieser Krieg fände endlich ein Ende. Zu viele haben schon ihr Leben gelassen, ganz gleich ob Meeresvolk oder Menschen.«

In dem Punkt widersprach ihr keine von uns. Wir sehnten uns alle danach, uns nicht um unsere Angehörigen sorgen zu müssen. Auch Meermänner und Meerjungfrauen waren schon bei Kämpfen mit Menschen getötet worden, wenn sie sich versehentlich in ihren Netzen verfangen hatten oder an der Oberfläche entdeckt worden waren. Die meisten Landbewohner hielten uns für einen Mythos, aber wenn sie uns sahen, eröffneten sie die Jagd mit Harpunen. Feindseligkeit lag den Menschen im Blut, umso schwerer fiel es mir manchmal zu verstehen, warum unsere Mutter und andere Ältere ihr altes Leben zu vermissen schienen.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, kehrte sie zu ihrem Regal zurück und zog einen kleinen Teller hervor. »Wisst ihr, was das ist?«, fragte sie mit einem verschwörerischen Grinsen.

»Ein Dessertteller«, antwortete Adriane seufzend und rollte demonstrativ mit den Augen. Es war nicht das erste Mal, dass Mutter uns diesen präsentierte. Er zählte zu ihren Lieblingsstücken.

Zufrieden strahlte sie uns an. »Ganz genau! Ihr habt keine Vorstellung davon, welche Köstlichkeiten die Menschen erschaffen können. Baiser, Grießpudding, Törtchen, Kuchen und …«

»Honigbällchen!«, fielen wir ihr einstimmig ins Wort, da wir ihre Antwort schon so gut kannten. Sie nahm uns diese Dreistigkeit nicht übel, lachte nur mit uns.

Pacifica küsste sie versöhnlich auf die Wange. »Schwelge nicht zu lange in der Vergangenheit, erfreue dich lieber an den Wundern des Ozeans«, neckte sie Mutter, bevor sie davonschwamm. Baltis, Adriane, Coral und Atlantica schlossen sich ihr an, sodass nur Indira und ich bei unserer Mutter zurückblieben.

»Algen sind eine vorzügliche Nahrungsquelle, manchmal würde ich mir nur etwas mehr Abwechslung auf unserem Speiseplan wünschen«, gestand sie schmunzelnd, ehe sie uns an den Händen nahm und zu dem Strudel zog, in dem sich zuvor Baltis niedergelassen hatte. Zu dritt ließen wir uns nun von dem Wasser tragen.

»Bereust du manchmal, dich für Poseidon entschieden zu haben?«, fragte Indira leise. Anders als bei unserem Vater gab es bei unserer Mutter keine falschen Fragen. Wir konnten ehrlich zu ihr sein, nie würde sie uns für bloße Gedanken verurteilen.

»Wie könnte ich, wenn ich doch euch habe?«, meinte sie lächelnd, streckte ihre Arme aus und drückte uns beide an sich. »Ihr seid mir das Wichtigste auf der Welt! Daran dürft ihr niemals zweifeln. Aber ich liebe auch euren Vater. Er hat eine sanfte Seite.« Als sie die ungläubigen Blicke bemerkte, die Indira und ich uns zuwarfen, lachte sie. »Die er leider viel zu selten zeigt«, räumte sie ein. »Es ist nur dieser ewige Konkurrenzkampf mit Zeus, der mich stört. Der Krieg dient einzig und allein ihrer Unterhaltung. Die Leben der Sterblichen sind für sie unbedeutend, da sie selbst ewig existieren. Sie wissen nicht, wie es ist, nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung zu haben. Tage fühlen sich für sie wie Sekunden an.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Die Heirat mit Poseidon und die damit verbundene Verwandlung in eine Meerjungfrau hatte auch sie unsterblich gemacht, aber sie hatte nicht vergessen, wie es war, ein Mensch zu sein.

Indira blickte auf ihre Hände und knetete sie nervös. »Hältst du mich für schlecht, weil ich das Schiff habe sinken lassen?«

Erst jetzt, als unsere anderen Schwestern weg waren, gab sie ihr schlechtes Gewissen zu. Ich hatte es ihr angesehen, doch noch nicht die Gelegenheit gefunden, sie darauf anzusprechen.

»Aber nein«, rief Kleito bestürzt aus und nahm Indiras Hände in ihre. »Nicht doch. Du hast nur getan, was von dir erwartet wurde und ich bin froh darum! Ihr wisst, dass euer Vater keine Weigerung duldet. Stell dir vor, er hätte dich in den Norden verbannt! Dann wärst du jetzt nicht mehr bei uns.«

»Wenn du das Schiff nicht hättest sinken lassen, hätte es eine andere übernommen«, warf ich ein, behielt dabei jedoch für mich, dass ich es hätte sein können. Vielleicht wäre Poseidon auf die Idee gekommen, meine Prüfung vorzuziehen. »Die Menschen sind des Todes, sobald sie mit ihrem Lärm Vaters Aufmerksamkeit erregen. Es gibt nichts, was wir hätten tun können, um sie zu verschonen.«

Nachdenklich nickte Indira. »Ich nehme an, sie würden uns auch nicht verschonen, oder?«

Wahrscheinlich dachte sie wie ich an den Gestank des gegrillten Fischs. Der Geschmack von Galle erfüllte meinen Rachen und ich schüttelte bestimmt den Kopf. »Sie haben sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben und es geradezu heraufprovoziert. Du hast nichts falsch gemacht!«

Kleito nickte bekräftigend. »Das stimmt, jedoch solltet ihr nie den Fehler machen, ein Volk als Ganzes zu betrachten und nicht den Einzelnen zu sehen.« Verschwörerisch senkte sie die Stimme. »Menschen werden nicht böse geboren, sondern vom Leben verdorben.« Nachdrücklich blickte sie von Indira zu mir. Ich verstand, was sie uns damit sagen wollte, gleichzeitig fragte ich mich, wie wir den Einzelnen sehen sollten, wenn uns der Kontakt mit Menschen verboten war?

4

Die verborgene Grotte

MARIEL

In den Weiten des Ozeans gab es viele wundersame Orte. Hoch oben im Norden, wo das Wasser so kalt war, dass es beinahe das Blut der Menschen gefror, gab es ganze Städte aus Eis. Ihre Spitzen lagen über der Oberfläche, doch ihre wahre Pracht entfaltete sich erst darunter. Im tiefsten Süden lebten Fische bunt wie ein Regenbogen. Dort waren die Korallen so zahlreich wie nirgendwo sonst auf der Welt. Es gab keinen farbenprächtigeren Ort.

All diese Wunder hatte ich selbst nie gesehen, doch in meinen Träumen waren sie mir vertrauter als die Wirklichkeit. Träume gediehen nicht in absoluter Dunkelheit, sondern an einem Platz, der ihrer Fantasie würdig war und ihren Ideenreichtum mehrte. Inmitten des Meeres hatte ich solch eine Oase für mich gefunden. Verborgen vor den neugierigen Augen meiner Schwestern und nicht weit von der Küste der Menschen entfernt, gab es eine Aneinanderreihung von unscheinbaren grauen Felsen. Viele kleine Meeresbewohner hatten dieses Riff zu ihrem Zuhause erklärt. Muscheln, Anemonen und Seesterne reihten sich auf dem rauen Stein aneinander. Algen wuchsen vor den Öffnungen, aus denen hin und wieder ein Tintenfisch seine langen Tentakel hervorstreckte. Schnecken und Krebse bewegten sich über das Gestein. Sie alle lebten dort friedlich miteinander.

Mich hatte dieser lebendige Ort vom ersten Augenblick an fasziniert. Wochenlang hatte ich die vielen kleinen Höhlen erkundet, die so schmal waren, dass ich ihr Innerstes nur mit der Hand ertasten konnte. Bis ich eines Tages beobachtet hatte, wie ein Teufelsrochen in einer der zahlreichen Öffnungen verschwand. Dort, wo ein gewaltiges Tier wie ein Rochen hineinschwimmen konnte, passte auch ich hindurch. Seiner Spur folgend, war ich auf einen breiten Durchbruch gestoßen, der von Algen so zugewachsen war, dass man ihn von außen kaum erkannte. Ein Tunnel führte tief in den Felsen hinein. Immer wieder gab es Abzweigungen, die im Nichts endeten. Bei Einbruch der Nacht hatte ich befürchtet, mich verirrt zu haben. Doch je dunkler es geworden war, umso deutlicher hatte ich einen schwachen Lichtschein wahrnehmen können und war diesem gefolgt. Ich hatte mich durch die tiefen Tunnel des Riffs bis zu dem zauberhaftesten Ort vorgetastet, den ich je entdeckt hatte – eine Grotte.

Durch die hohe Decke zogen sich winzige Risse, die seichtes Mondlicht in das Innere warfen. Einzelne Strahlen tanzten über die dunkle Wasseroberfläche, in deren Mitte ein Felsen thronte. Überwältigt von der Schönheit dieses Ortes, hatte ich ihn zu meinem Eigen erklärt. Seit jener Nacht suchte ich die Grotte auf, wenn ich allein sein wollte. Auf der Erhebung liegend, schloss ich die Augen, lauschte dem Plätschern des Wassers, dem fernen Ruf der Möwen und dem Wind, der pfeifend gegen die Felsen hallte. Hier fiel es mir leicht, mich in meinen Gedanken zu verlieren und den Geist für eine andere Welt zu öffnen. Eine bessere Welt.

Als ich an diesem Morgen den Eingang des Riffs passierte, nahm ich instinktiv eine Veränderung wahr. Der Sand am Boden der Gänge war aufgewühlt. Algen waren von den Wänden gerissen worden. Etwas Unheilvolles erfüllte das Wasser. Eine innere Eingebung riet mir, umzukehren. Doch meine Neugier war stärker. Dieser Ort gehörte mir und ich wollte wissen, wer oder was sich womöglich Zugang verschafft hatte.

Vorsichtig tastete ich mich bis zu der Grotte vor. Als ich den Kopf aus dem Wasser streckte, entdeckte ich den reglosen Körper eines Menschen auf dem mittleren Felsen. Ein junger Mann lag auf meinem Felsen.

Sein Anblick erfüllte mich mit Wut. Ich war hierhergekommen, um für mich zu sein und Klarheit in meine aufgewühlten Gedanken zu bringen. Stattdessen erwartete mich ein Mensch und veränderte diesen Ort durch seine bloße Anwesenheit.

Wie war er nur hierhergelangt? War er tot? Aus der Entfernung ließ sich das nicht feststellen. Zögerlich schwamm ich näher und wartete auf eine Regung von ihm. Da er sich nicht rührte, zog ich mich schließlich langsam an dem Felsen empor.

Golden drangen die Strahlen der Morgensonne durch die Ritze in der Decke und hüllten den fremden Körper vor mir in einen unwirklichen Glanz. Zögernd beugte ich mich über das Gesicht des Mannes. Er erschien mir recht jung, nur wenige Sommer älter als ich. Seine Augen waren geschlossen. Wie tot lag er da, doch das verräterische Klopfen seines Herzens verriet ihn. Kraftvoll schlug es in seiner Brust und kämpfte um sein unnützes Leben.

Bum, bum!

Bum, bum!

Bumb bum!

Ich war mir sicher, dass dieser Mensch nicht besser war als andere seiner Art, trotzdem musste ich mir eingestehen, dass er mir jetzt, wo er bewusstlos vor mir lag, nicht mehr ganz so verachtenswert erschien. Im Schlaf waren seine Gesichtszüge entspannt und er wirkte friedlich, geradezu unschuldig, nicht aggressiv oder grausam. Sein Anblick rief mir die Worte meiner Mutter in Erinnerung: Menschen werden nicht böse geboren, sondern vom Leben verdorben.

Der junge Mann hatte helles Haar, das im eindringenden Sonnenschein beinahe golden schimmerte. Einzelne Strähnen klebten ihm an der Stirn. Sein markantes Kinn war von feinen Bartstoppeln bedeckt, die vollen Lippen rissig. Kratzspuren zogen sich über seine gebräunte Haut. Sein zerrissenes weißes Hemd gab einen Blick auf seinen wohlgeformten Oberkörper frei, der nicht so gestählt wie der eines Wassermannes war. Die Andeutung seiner Muskeln empfand ich jedoch nicht unansehnlich – und nicht so fremd, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Ähnlichkeit zwischen unseren Völkern ließ sich nicht leugnen.

Er musste einer der Seemänner des gesunkenen Schiffes sein. Es grenzte an ein Wunder, dass er dieses Riff gefunden und es lebend in die Grotte geschafft hatte. Tage hatte ich gebraucht, sie zu entdecken, während es ihn nur wenige Minuten gekostet haben konnte, sonst wäre er ertrunken. Es wäre besser für ihn gewesen – hätte ihm weiteres Leid erspart.

Ich wusste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Er lag hier in meiner Grotte und selbst wenn er wieder zu Bewusstsein käme, würde es für ihn keine Rettung geben. Er war von Wasser umgeben, ohne etwas davon trinken zu können, war es für ihn doch zu salzig. Ein qualvoller Tod stand ihm bevor. Obwohl ich die Menschen verachtete, erregte diese Vorstellung wieder Mitleid in mir.

Es wäre ein Akt der Gnade, wenn ich das Ganze beschleunigen würde. Ich sollte es jetzt tun, während er wehrlos war. Doch es war das eine, den Menschen aus der Ferne beim Sterben zuzusehen, und etwas vollkommen anderes, selbst Hand an sie zu legen. Ich könnte ihn vom Felsen stoßen und das Meer würde den Rest erledigen, indem es seine Lunge mit Wasser flutete und ihm den Tod brachte, der ihm schon in der Nacht bestimmt gewesen war.

Langsam streckte ich meine Hände nach ihm aus. Ein Sonnenstrahl traf direkt auf seine Brust. Als ich ihn dort berührte, war seine Haut nicht nur trocken, sondern auch ungewohnt warm und weich. Feine, kaum sichtbare Härchen bedeckten seinen Körper wie ein zarter Flaum. Länger als nötig ließ ich meine Hand an der Stelle verweilen. Ich spürte seinen Herzschlag gegen meine Finger pochen, als flehte er mich um Erbarmen an. Dieser Mensch hatte es auf wundersame Weise geschafft, einen Schiffbruch zu überleben und sich in eine Grotte mitten im Meer zu retten. Was, wenn er leben sollte? Was, wenn es ein Zeichen des Schicksals war? Die Moiren, die Schicksalsgöttinnen, spannen ihre Fäden, wie es ihnen beliebte, selten zu unserem Wohlgefallen.

Mein Zögern währte zu lange, ein Zittern erfasste plötzlich den Körper des Mannes. Er riss seine Augen auf, bevor er erst keuchend nach Luft rang und sich dann erbrach. Erschrocken wich ich vor ihm zurück und floh in das rettende Wasser. Nun, wo der Mensch bei Bewusstsein war, ging mich sein Schicksal nichts mehr an. Ich würde das Riff samt der Grotte in den nächsten Tagen meiden und sollte ich irgendwann zurückkehren, würde ich nur noch den Leichnam des Mannes vorfinden. Es war bedauerlich, aber die einzige Lösung.

Ich zog mich jedoch nicht so schnell zurück, wie ich es hätte tun sollen. Vielleicht war es meine Neugier, die mich zurückhielt, oder irgendetwas anderes. Bevor ich abtauchen konnte, entdeckte er mich.

»Warte«, krächzte er heiser.

In diesem einen Wort lag so viel Angst und Verzweiflung, dass ich weiter verharrte. Nie zuvor war ich einem Menschen so nah gewesen, stets hatte ich sie nur aus der Ferne und in Gruppen beobachtet. Sie erschienen mir ungehobelt, laut und ignorant, aber dieser junge Mann wirkte schwach und verletzlich. Er konnte mir in seiner Situation nichts anhaben.

Sein Gesicht war mir zugewendet und seine Augen geöffnet. Sie waren rot geädert und ein fiebriger Glanz lag in ihnen. Die Iriden hatten eine braune Färbung, die mich an das Holz der Schiffe erinnerte. Er musterte mich, erst ungläubig, dann staunend. Sein Blick wanderte von meinem bläulich schimmernden Gesicht zu den spitzen Ohren, über den schuppenverzierten Hals mit den Kiemen bis zu meinen Brüsten, deren Wölbung durch die seichte Wasseroberfläche zu erkennen war. Ich musste fremd auf ihn wirken, aber er schien weder Abscheu noch Furcht zu empfinden.

»Wer bist du?«, brachte er stockend hervor. Eigentlich meinte er: Was bist du? Auch wenn er meine Schwanzflosse nicht sehen konnte, bestand kein Zweifel daran, dass wir nicht demselben Volk angehörten.

Ich sollte zusehen, dass ich mich endlich davonmachte. Diese Unterhaltung war sinnlos. Der junge Mann war dem Tod geweiht und je länger ich blieb, umso mehr verschlimmerte ich sein Leid und auch das meine. Schon jetzt würde ich diese Begegnung nicht mehr vergessen können. Seine Stimme hatte sich in meinen Geist gebrannt und ihre Wurzeln in meine Erinnerung geschlagen. Ich wollte mehr über ihn erfahren. Wer er war, was er dachte … Bisher kannte ich nur die Grausamkeit der Menschen. Nun hatte ich die Chance, vielleicht eine andere Seite an ihnen zu entdecken.

»Mein Name ist Mariel.«

Die Menschen hatten viele verschiedene Sprachen, je nachdem wo sie lebten. In unseren Ohren waren es nur Akzente. Für sie waren diese feinen Nuancen aber so gravierend, dass sie oft einander nicht verstanden. Die Landbewohner neigten dazu, sich mehr auf Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu konzentrieren – das lag in ihrer kriegerischen Natur. Die Sprache des Meeresvolkes war universell – alle Menschen konnten sie verstehen, wenn sie bereit waren, zuzuhören.

Beim Klang meiner Stimme weiteten sich seine Augen. Ich sah die Faszination in seinem Blick. Er spürte, dass ich anders war. Alles an mir.

»Ein seltener Name«, murmelte er, ohne den Blick von mir zu lösen. Seine Stimme war rau und weich zugleich. Ein Schmunzeln glitt über seine rissigen Lippen. »Er passt zu dir.«

Obwohl ich nicht verstand, was er mir damit sagen wollte, breitete sich ein warmes Gefühl in meiner Brust aus. Es war sein Lächeln, so unbeholfen und frei von jedem Kalkül, das etwas in meinem Inneren berührte. Dieses fremde Geschöpf, über das ich bereits alles zu wissen geglaubt hatte, imponierte mir.

Er fasste sich an die Stirn. »Verzeih mir meine Manieren«, sagte er. »Ich habe mich dir gar nicht vorgestellt. Ich bin Theron, Sohn des Zeus’ und Prinz von Thira.«

Mein Feind! Er war nicht irgendein Mensch, sondern ein Nachkomme des Gottes, der meinem Vater einst den Krieg erklärte. Göttliches wie königliches Blut floss durch seine Adern. Ein Thron wartete auf ihn. Sein Tod würde nicht ungesühnt bleiben.

Therons Blick glitt von mir zu der hohen Decke. Er sah sich in der Grotte um und schien sich erst jetzt daran zu erinnern, wie er hierhergekommen war. Ruckartig setzte er sich auf, wobei er erneut ein Stöhnen ausstieß und seine Augen zusammenkniff. Vermutlich war ihm schwindelig. Er atmete ein paar Mal tief durch, bevor er mich wieder anschaute.

»Wo sind wir hier?«, fragte er, als wäre auch ich nur eine Gestrandete wie er. Was sah er, wenn er mich betrachtete? Seine Freundlichkeit erschien mir plötzlich unangebracht, geradezu falsch. Er, der in unser Reich eingedrungen war, sollte mich fürchten. Ich durfte nicht zulassen, dass er sich einredete, wir könnten Verbündete sein.

Langsam schwamm ich auf ihn zu, ließ ihn aus der Nähe erkennen, wie verschieden wir waren. Stück für Stück zog ich mich an dem Felsen empor, auf dem er saß. Meine Gegenwart beschleunigte nun hörbar seinen Herzschlag. Er wollte vor mir zurückweichen, doch seine Insel bot keinen Raum, um vor mir zu flüchten, stattdessen krallte er seine Finger haltsuchend an den groben Stein. Einen Atemzug lang streifte sein Blick meine Brust, die nur von meinem roten Haar bedeckt wurde. Beschämt drehte er den Kopf weg.

»Du … du bist nackt«, stotterte er und sah an sich hinab. »Ich würde dir ja mein Hemd anbieten, aber ich befürchte, so zerrissen wie es ist, würde es kaum mehr bedecken.« Er redete hastig und stolperte dabei über seine eigenen Worte. Die Menschen waren ein seltsames Volk. Einerseits waren sie für ihre Wollust bekannt, anderseits wirkten sie geradezu verklemmt, ohne den Einfluss des roten Getränks, das sie ihrer Sinne beraubte.

Ich robbte weiter auf den Prinzen zu. Die Schuppen meiner Schwanzflosse reflektierten das einfallende Sonnenlicht und erfüllten die Grotte mit ihrem Glanz. Prächtig schillerten sie in den verschiedensten Farbtönen des Meeres.

»Schau mich an«, forderte ich ihn auf, als uns nur noch eine Armlänge trennte. Der fremde Geruch seiner Haut stieg mir in die Nase und die Erinnerung an das Gefühl ihrer Wärme weckte eine flattrige Nervosität in meinem Inneren. Das Verlangen, ihn erneut zu berühren, traf mich unerwartet.

Ich fühlte mich seltsam entblößt, als er den Kopf hob und mir in die Augen sah, nicht wegen meiner Nacktheit, sondern wegen dem, was meine Iriden ihm über mich verraten könnten. Etwas, das ich nicht bereit war auszusprechen, noch mir einzugestehen. Die Augen boten einen Blick in die Seele. Sah er, wie verletzlich ich mich in seiner Gegenwart fühlte? Wie unsicher?

Er löste den Blick von meinem Gesicht und betrachtete erneut die bunten Lichtpunkte, die über die Decke und Wände der Grotte tanzten. Staunen spiegelte sich in seiner Miene wider, ehe er den Mut fand, der Quelle der Reflexion zu folgen, und meine Schwanzflosse zu mustern. Demonstrativ wedelte ich mit der Flosse.

Nun wirkte er wie erstarrt. Ich wartete nur darauf, die Abscheu in seinen Augen zu entdecken, die ich dort von Beginn an zu finden erwartet hatte. Doch sie blieb fern. Ein Ruck ging durch seinen Körper und ich machte mich darauf gefasst, dass er mich angreifen würde, stattdessen begann er zu lachen. Es war ein kehliger Laut, der tief aus seiner Brust kam. Ein Glucksen, ähnlich dem Wasser, wenn es gegen die Felsen prallte. Irritiert neigte ich den Kopf und lauschte seinem Klang. Es entfachte ein Kitzeln in meiner Mitte.

Sein Lachen wurde ungehaltener und er schüttelte sein Haupt. »Eine Meerjungfrau«, japste er. Tränen traten in seine Augen und bald war ich mir nicht mehr sicher, ob er wirklich noch lachte oder angefangen hatte zu weinen. Er schien den Verstand verloren zu haben.

Auf einmal hob er den Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Du bist nicht echt! Nur eine Halluzination.«

Ich starrte ihn an. Die Ignoranz der Menschen war mir bereits bekannt, aber ich hatte nicht erwartet, dass sie solche Ausmaße annehmen könnte. Ich saß direkt vor ihm, trotzdem traute er seinen Augen nicht, verleugnete meine Existenz. Er hielt mich für einen Traum. Spätestens jetzt sollte ich ihn allein zum Sterben zurücklassen.

»Kein Wunder, dass du nackt bist«, brabbelte er. »Ich muss mir den Kopf gestoßen haben. Erst der Delfin und jetzt du.« Er tastete über sein zerzaustes Haar, um eine Beule zu finden, die nicht da war. Ich wusste nicht, von welchem Delfin er sprach. In seiner Verzweiflung tat er mir leid.

Die Menschen waren grausam, aber niemand sollte die letzten Tage seines Lebens in Einsamkeit verbringen müssen. Vielleicht könnte ich seinem verwirrten Geist Linderung verschaffen, indem ich ihn in den Schlaf sang. Bis er wieder aufwachte, könnte ich mir überlegen, wie ich mit ihm verfahren sollte.

In seinen dunklen Augen sah ich die Erwartung, ich würde mich in Luft auflösen, je länger er mich anstarrte. Die Vorstellungskraft der Menschen war beschränkt. Ich begann zu singen und beobachtete zufrieden, wie sich seine Anspannung löste. Nach dem ersten Ton war er meinem Bann verfallen. Er sah und hörte nichts mehr außer mir, seine wirren Gedanken verflogen und seine Angst verblasste.

Langsam ließ er sich wieder auf den Felsen sinken, ohne den Blick von mir abzuwenden. Seine Augenlider fielen zu und die Melodie trug ihn in einen traumlosen Schlaf. Das sanfte Heben und Senken seiner Brust erfüllte mich mit einer Zufriedenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Die Stimmen der Meerjungfrauen sollten Waffen sein, die Menschen den Tod brachten, stattdessen vermochte ich diesem jungen Mann Frieden schenken.

5

Der Prinz und die Meerjungfrau

THERON

Eine Kälte, die bis in meine Knochen vordrang, erfasste mich, als ich aus der tröstenden Umarmung des Schlafes erwachte. Zitternd zog ich die Beine an den Oberkörper und rollte mich zusammen, den unebenen, harten Untergrund ignorierend. Das Klappern meiner Zähne gab mir ein Gefühl von verlorener Kontrolle. Gnadenlos kehrte die Erinnerung zurück wie eine Welle, die über mir brach und mich unter die Wasseroberfläche schleuderte: der Schiffbruch, Zenon in meinen Armen, der Delfin, die Meerjungfrau. Die Enge in meiner Brust schnürte mir die Luft ab. Schemenhaft zeichneten sich die Umrisse der Grotte vor mir ab. Einfallende Lichtstrahlen waren der Dunkelheit der Nacht gewichen. Mein suchender Blick stieß überall nur auf Stein und Wasser. Die Ritze in den Wänden, durch die der Wind unbarmherzig ins Innere drang, waren zu schmal, um mich hindurchzuzwängen. Sie lockten mich mit einer Freiheit, die nur einen Felsen entfernt, aber dennoch unerreichbar war.

Du wirst sterben, schrie die Panik meinem erschöpften Verstand zu.

Das schien mein unausweichliches Schicksal zu sein – ebenso, wie es meine Kameraden erfasst hatte. Zenon, Lazaros, Iason, Georgios, Linos, Aristides – ihre Namen geisterten durch meinen Kopf wie ein Echo der Vergangenheit. Ihr Lachen hallte in meinen Ohren nach – unbegreiflich, dass sie kein Teil dieser Welt mehr waren. Starr ruhten ihre leblosen Leiber auf dem Grund des Ozeans – einsam und fern ihrer Heimat. Ich sollte bei ihnen sein. Mein Körper führte einen zum Scheitern verdammten Kampf.

Der Wille der Götter war unergründlich. Warum hatte die Göttin mich aus dem Sturm gerettet, wenn sie mich dann hier allein zum Sterben zurückließ? Hatte sie gewusst, dass die Meerjungfrau diesen Ort aufsuchen würde? Einem Gebet gleich hatte sich ihr Name in mein Gedächtnis gebrannt: Mariel.

Ihr Anblick hatte mich mit Hoffnung erfüllt, aber genau wie die Göttin hatte sie mich verlassen.

Ein ganzer Tag musste vergangen sein und ich saß immer noch hier fest. Ich brauchte Wasser! Schon jetzt fühlte sich meine Kehle ausgetrocknet an, als würde Sandpapier über meine Zunge streichen. Das Schlucken brannte. Meine Lippen waren rissig und spröde, als hätte die Sonne sie verbrannt. Der Durst schien jede Energie aus mir herauszusaugen und die pochenden Schmerzen in meinem Schädel wurden immer schlimmer. Am qualvollsten war es jedoch, von Wasser umgeben zu sein, das Plätschern zu hören, und es nicht trinken zu können.

Ich durfte mein Überleben nicht von der Güte anderer abhängig machen. Es musste möglich sein, diese Grotte auf demselben Weg zu verlassen, wie ich hereingelangt war – auch ohne göttliche Hilfe. Der Tunnel war mir lang und gewunden vorgekommen, oder hatte mich mein erschöpfter Geist getäuscht? Ich war es nicht nur mir selbst schuldig, bis zu meinem letzten Atemzug nach einem Ausweg zu suchen, sondern auch Zenon und meinen anderen Kameraden, denen diese Chance verwehrt worden war.

In Thira wartete ein Thron auf mich. Es gab Menschen, die sich auf mich verließen. Dieser Gedanke erfüllte mich und entzündete eine wärmende Flamme der Hoffnung in meinem starren Körper. Vielleicht war die Lage nicht so aussichtslos, wie sie mir gerade erschien. Es wäre dumm, sich bei Nacht in das Wasser zu wagen. Zu dunkel. Zu kalt.

Hab Geduld. Bei Tag sieht alles anders aus, versuchte ich mich zu trösten. Wenn die ersten Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Grotte fluteten, würde die Finsternis weichen und es mir erleichtern, einen Weg in die Freiheit zu finden. Noch war es zu früh, aufzugeben. Zuversicht lullte mich ein und ließ mich in einen unruhigen Schlaf gleiten, der immer wieder von dem Frösteln meines Körpers unterbrochen wurde. Nie hatte ich den Sonnenaufgang sehnlicher erwartet.

* * *

Der Tag kam und mit ihm die Ernüchterung. Die gebündelten goldenen Lichtstrahlen erhellten zwar das Innere, aber drangen nicht bis ins Wasser vor. Das Blau unter mir blieb ein dunkler Schlund – nicht zu erahnen, wie tief er reichte.

Es gibt einen Ausweg, rief ich mir in Erinnerung, auch wenn ich ihn noch nicht sehen kann – er ist da.

Verzweifelt klammerte ich mich an den Funken Hoffnung, der in meiner Mitte pulsierte. Ich verbot mir, an die schier unüberwindbare Länge des Tunnels zu denken und länger zu zögern. Allgegenwärtig war die Kälte der Fluten, stach wie Eis in meine Haut, lähmte meine Muskeln und bahnte sich einen Weg in mein Inneres. Die schwache Flamme der Zuversicht flackerte bedrohlich, aber erlosch nicht. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, aufzugeben. Hektisch bewegte ich meine Arme und Beine, gegen die Gnadenlosigkeit des Wassers ankämpfend. Das Gefühl des Erfrierens wollte nicht weichen, schien nur immer weiter in mich vorzudringen. Gierig sog ich Luft ein und tauchte mit einem letzten tiefen Atemzug unter die Wasseroberfläche.

Meine Augen brannten, als ich mich zwang, sie zu öffnen. Die Sicht war verschwommen. Im ersten Moment sah ich nichts außer Felsen, Algen und aufgewirbelten Sandkörnern, doch dann glaubte ich, tief unter mir einen schwachen Schein zu erahnen. Vielleicht eine Öffnung, die hinausführte und mich zurück in die Freiheit entließ – ungewiss, wie es danach weitergehen sollte. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich in dieser Grotte den sicheren Tod finden würde.