Bambi und Bambis Kinder - Felix Salten - E-Book

Bambi und Bambis Kinder E-Book

Felix Salten

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Beschreibung

Das Rehkitz Bambi kommt mitten im Dickicht zur Welt, in einer jener kleinen, verborgenen Stuben des Waldes, die scheinbar nach allen Seiten offenstehen, die aber doch von allen Seiten umschirmt sind. Eine fröhliche und unbeschwerte Kindheit wartet auf ihn, mit seiner Mutter und seinen Freunden. Doch er muss auch viel lernen, über das Überleben im Walde und über Gefahren. Im zweiten Band nimmt Bambi den Platz seines Vaters ein und bekommt selbst Kinder, den zaghaften Geno und die wilde Gurri. Es ist eine Geschichte über Liebe, Freundschaft, Vertrauen, aber auch Verlust, Gewalt und Konkurrenz. Eine Geschichte, die schon viele Herzen berührt hat.

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Bambi

Eine Lebensgeschichte aus dem Wald

 

 

und

 

Bambis Kinder

Eine Lebensgeschichte aus dem Wald

 

Felix Salten

 

 

* * *

 

 

 

 

Verlag Heliakon

 

2022 © Verlag Heliakon, München

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

Titelbild: Pixabay (aalmeidah)

 

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Bambi

Bambis Kinder

 

 

 

Bambi

Eine Lebensgeschichte aus dem Wald

 

 

Er kam mitten im Dickicht zur Welt, in einer jener kleinen, verborgenen Stuben des Waldes, die scheinbar nach allen Seiten offenstehen, die aber doch von allen Seiten umschirmt sind.

Es war denn auch nur wenig Platz da, knapp genug für ihn und seine Mutter.

Hier stand er nun, schwankte bedenklich auf seinen dünnen Beinen, blickte mit trüben Augen, die nichts sahen, blöd vor sich hin, ließ den Kopf hängen, zitterte sehr und war noch ganz betäubt.

»Was für ein schönes Kind!« rief die Elster.

Sie war herbeigeflogen, angelockt durch das röchelnde Stöhnen, das die Wehen der Mutter entpresst hatten. Nun saß die Elster auf einem Ast in der Nähe. »Was für ein schönes Kind!« rief sie jetzt. Sie bekam keine Antwort und sprach eifrig weiter. »Wie erstaunlich, dass es gleich stehen und gehen kann! Wie interessant! Ich habe das noch nie in meinem Leben gesehen. Nun freilich, ich bin ja noch jung, erst seit einem Jahr aus dem Nest, wie Sie vielleicht wissen werden. Aber ich finde es wunderbar. So ein Kind … kommt in dieser Sekunde zur Welt und kann gleich auf den Beinen stehen. Ich finde es vornehm. Ich finde überhaupt, dass alles bei euch Rehen sehr vornehm ist. Kann es auch gleich laufen …?«

»Gewiss«, entgegnete die Mutter leise. »Aber Sie müssen entschuldigen, wenn ich jetzt nicht imstande bin, ein Gespräch zu führen. Ich habe jetzt sehr viel zu tun … außerdem fühle ich mich noch ein wenig matt.«

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«, sagte die Elster, »viel Zeit habe ich ja auch nicht. Aber so etwas sieht man nicht alle Tage. Ich bitte Sie, wie umständlich und wie mühsam geht es bei uns zu in diesen Dingen! Da können sich die Kinder nicht rühren, wenn sie aus dem Ei sind, liegen hilflos im Nest und brauchen eine Pflege, eine Pflege, sage ich Ihnen, von der machen Sie sich natürlich keinen Begriff. Was für eine Arbeit hat man, sie zu füttern, was für eine Angst, sie zu bewachen! Ich bitte Sie, denken Sie einmal darüber nach, wie anstrengend das ist, für die Kinder Futter holen und zugleich aufpassen müssen, dass ihnen nichts geschieht; sie können sich ja nicht helfen, wenn man nicht dabei ist. Geben Sie mir nicht recht? Und wie lange muss man warten, bis sie sich rühren können, wie lange dauert das, bis sie Federn kriegen und nach etwas Anständigem aussehen!«

»Verzeihen Sie«, erwiderte die Mutter, »ich habe nicht zugehört.«

Die Elster flog davon. »Dumme Person«, dachte sie für sich, »vornehm, aber dumm!«

Die Mutter bemerkte es kaum. Sie fuhr fort, das Neugeborene eifrig zu waschen. Sie wusch es mit ihrer Zunge und das war alles in einem, Körperpflege, wärmende Massage und Liebkosung.

Das Kleine taumelte ein wenig. Unter dem Streicheln und Schubsen, von dem es überall leise berührt wurde, knickte es ein bisschen zusammen und hielt still. Sein rotes Röckchen, das noch ein wenig zerzaust war, hatte feine, weiße Sprenkel, und in seinem dusseligen Kindergesicht war noch ein Ausdruck wie von tiefem Schlaf.

Ringsumher wuchsen Haselstauden, Hartriegel, Schlehdornbüsche und junger Holunder. Hohe Ahornbäume, Buchen und Eichen bauten ein grünes Dach über der Dickung, und dem festen, dunkelbraunen Boden entsprossen Farnwedel, Walderbsen und Salbei. Ganz niedrig schmiegten sich die Blätter von Veilchen, die schon geblüht hatten, und von Erdbeeren, die eben zu blühen begannen, an die Erde. Durch das dichte Laubwerk drang das Licht der Frühsonne als ein goldenes Gespinst. Der ganze Wald erschallte von vielerlei Stimmen, war von ihnen durchdrungen wie von einer fröhlichen Erregung.

Der Pirol jauchzte unablässig, die Tauben gurrten ohne Aufhören, die Amseln pfiffen, die Finken schlugen, die Meisen zirpten. Dazwischen riss zänkisch der Schrei, den die Häher ausstießen, lachte das Schakern der Elstern, brach metallisch das berstende Gocken der Fasanen. Manchmal drang das gellend kurze Aufjubeln eines Spechtes durch alle die Stimmen. Falkenruf schrillte hell und dringend über den Baumwipfeln, und andauernd ließ sich der heisere Chor der Krähen vernehmen.

Das Kleine verstand keinen einzigen von den vielen Gesängen und Zurufen, kein Wort von den Gesprächen. Es hörte noch gar nicht darauf. Es nahm auch noch keinen einzigen von all den Gerüchen wahr, die der Wald atmete. Es hörte nur das leise Knistern, das über sein Röckchen hinlief, während es gewaschen, gewärmt und geküsst wurde, und es roch nichts als den nahen Leib der Mutter. Eng schmiegte es sich in diese wohlig dunstende Nähe, suchte hungrig daran herum und fand den Quell des Lebens.

Während es trank, fuhr die Mutter fort, das Kleine zu liebkosen. »Bambi«, flüsterte sie.

Dabei hob sie jeden Augenblick das Haupt, ließ die Lauscher spielen und sog den Wind ein.

Dann küsste sie wieder ihr Kind, beruhigt und glücklich. »Bambi«, wiederholte sie, »mein kleiner Bambi.«

Jetzt im Frühsommer standen die Bäume still unter dem blauen Himmel, hielten die Arme ausgebreitet und empfingen die niederströmende Kraft der Sonne. An den Hecken und Sträuchern im Dickicht gingen Blüten auf, weiße, rote oder gelbe Sterne. An manchen wieder begannen schon die Fruchtknospen sichtbar zu werden, zahllos, saßen an den feinen Spitzen der Äste, zart und fest und entschlossen, und sahen aus wie kleine, geballte Fäuste. Aus dem Boden kamen die bunten Sterne vieler und vielfältiger Blumen, sodass die Erde am dämmernden Grunde des Waldes in einer stillen, inbrünstigen Farbenheiterkeit sprühte. Es roch überall nach frischem Laub, nach Blüten, nach feuchter Scholle und nach grünem Holz. Wenn der Morgen anbrach, und wenn die Sonne unterging, klang der ganze Wald von tausend Stimmen, und vom Morgen bis zum Abend sangen die Bienen, summten die Wespen, brausten die Hummeln durch die duftende Stille.

Das waren die Tage, in denen Bambi seine erste Kindheit verlebte.

Er ging hinter seiner Mutter auf einem schmalen Streifen, der mitten durch das Gebüsch lief. Wie angenehm war es, hier zu gehen! Das dichte Laubwerk streichelte ihm sanft die Flanken, bog sich gelind zur Seite. Der Weg schien überall zehnfach versperrt und verrammelt, dennoch kam man in der größten Bequemlichkeit vorwärts. Überall gab es solche Straßen, sie liefen kreuz und quer durch den ganzen Wald. Die Mutter kannte sie alle, und wenn Bambi manchmal vor einem Gestrüpp wie vor einer undurchdringlichen grünen Mauer stand, die Mutter fand immer ohne Zögern und Suchen die Stelle, wo der Weg gebahnt war.

Bambi fragte. Er liebte es, seine Mutter zu fragen. Es war das schönste für ihn, immerfort zu fragen und dann zu hören, was die Mutter zur Antwort gab. Bambi staunte gar nicht, dass ihm beständig und mühelos Fragen über Fragen einfielen. Er fand das vollkommen natürlich; es entzückte ihn nur sehr. Es entzückte ihn auch, neugierig zu warten, bis die Antwort kam. Mochte sie nun ausfallen, wie sie wollte, er war immer damit zufrieden. Manchmal verstand er sie freilich nicht, aber auch das war schön, weil er immer weiter fragen konnte, wenn er wollte. Manchmal fragte er nicht weiter, und das war wieder schön, weil er dann damit beschäftigt war, sich das, was er nicht verstanden hatte, auf seine eigene Weise auszumalen. Manchmal fühlte er sehr deutlich, dass seine Mutter ihm keine ganze Antwort bot, ihm absichtlich nicht alles sagte, was sie wusste. Und das war erst recht schön. Denn da blieb noch eine so besondere Neugier in ihm zurück, eine Ahnung, die ihn geheimnisvoll und beglückend durchzuckte, ein Erwarten, bei dem ihm bang und heiter in einem Sinne wurde, so sehr, dass er schwieg.

Jetzt fragte er: »Wem gehört diese Straße, Mutter?«

Die Mutter antwortete: »Uns.«

Bambi fragte weiter: »Dir und mir?«

»Ja.«

»Uns beiden?«

»Ja.«

»Uns beiden allein?«

»Nein«, sagte die Mutter, »uns Rehen …«

»Was sind das, Rehe?« fragte Bambi und lachte.

Die Mutter sah sich nach ihm um und lachte auch: »Du bist ein Reh, und ich bin ein Reh. Das sind Rehe. Verstehst du das?«

Bambi sprang in die Höhe vor Lachen. »Ja, ich verstehe das. Ich bin ein kleines Reh, und du bist ein großes Reh. Nicht wahr?«

Die Mutter nickte ihm zu. »Nun, siehst du.«

Bambi wurde wieder ernst: »Gibt es noch andere Rehe als dich und mich?«

»Gewiss«, sagte die Mutter. »Viele.«

»Wo sind sie?« rief Bambi.

»Hier, überall.«

»Aber … ich sehe sie nicht.«

»Du wirst sie schon sehen.«

»Wann?« Bambi blieb stehen vor lauter Neugier.

»Bald.« Die Mutter ging ruhig weiter.

Bambi folgte ihr. Er schwieg, denn er grübelte darüber nach, was das wohl bedeuten möge: »Bald.« Er kam zu dem Ergebnis, »bald« sei gewiss nicht »gleich«. Aber er wurde sich nicht einig darüber, in welcher Zeit dieses »bald« aufhöre, »bald« zu sein, und anfange, »lange« zu werden. Plötzlich fragte er: »Wer hat diese Straße gemacht?«

»Wir«, gab die Mutter zurück.

Bambi tat erstaunt: »Wir? Du und ich?«

Die Mutter sagte: »Nun, wir … wir Rehe.«

Bambi fragte: »Welche?«

»Wir alle«, fertigte ihn die Mutter ab.

Sie gingen weiter. Bambi war vergnügt und hatte Lust, vom Wege abzuspringen, aber er hielt sich brav bei der Mutter. Vor ihnen raschelte es dicht am Boden. In heftiger Bewegung fuhr etwas daher, das die Farnwedel und Lattichblätter verdeckten. Ein fadendünnes Stimmchen pfiff erbärmlich auf, dann war es still. Nur die Blätter und Grashalme bebten an der Stelle noch ruckweise nach. Ein Iltis hatte eine Maus gejagt. Nun kam er vorbeigehuscht, duckte sich seitwärts und machte sich an seine Mahlzeit.

»Was war das?« fragte Bambi erregt.

»Nichts«, beschwichtigte die Mutter.

»Aber …« Bambi zitterte, »aber … ich habe es doch gesehen.«

»Nun ja«, sagte die Mutter, »erschrick nicht. Der Iltis hat die Maus getötet.«

Aber Bambi war furchtbar erschrocken. Ein unbekanntes, großes Entsetzen umklammerte sein Herz. Es dauerte lange, bis er wieder sprechen konnte. Dann fragte er: »Warum hat er die Maus getötet?«

»Weil …« Die Mutter zögerte. »… gehen wir schneller«, sagte sie dann, als sei ihr etwas eingefallen, und als habe sie die Frage vergessen. Sie begann zu trollen. Bambi hüpfte hinter ihr drein.

Eine lange Pause verstrich; sie schritten wieder ruhig dahin. Endlich fragte Bambi beklommen: »Werden wir auch einmal eine Maus töten?«

»Nein«, erwiderte die Mutter.

»Nie?« fragte Bambi.

»Niemals«, war die Antwort.

»Warum nicht?« fragte Bambi erleichtert.

»Weil wir niemanden töten«, sagte die Mutter einfach.

Bambi wurde wieder heiter.

Von einer jungen Esche, die nahe an ihrem Wege stand, drang ein lautes Kreischen nieder. Die Mutter ging weiter, ohne darauf zu achten. Bambi aber blieb neugierig stehen. Zwei Häher zankten sich da oben in den Zweigen um ein Nest, das sie geplündert hatten.

»Machen Sie, dass Sie weiterkommen, Sie Halunke!« rief der eine.

»Regen Sie sich doch nicht auf, Sie Narr«, antwortete der andere, »ich habe keine Angst vor Ihnen.«

Der erste tobte: »Suchen Sie sich Ihre Nester selber, Sie Dieb! Ich schlage Ihnen den Schädel ein.« Er war außer sich. »So eine Gemeinheit!« keifte er, »so eine Gemeinheit!«

Der andere hatte Bambi bemerkt, flatterte ein paar Zweige herunter und schnarrte ihn an: »Was hast du hier zu gaffen, du Fratz! Pack dich!«

Eingeschüchtert sprang Bambi davon, erreichte dann seine Mutter, ging wieder hinter ihr drein, sittsam und verschreckt, und glaubte, dass sie sein Zurückbleiben gar nicht bemerkt habe.

Nach einer Weile fragte er: »Mutter … was ist das, eine Gemeinheit?«

Die Mutter sagte: »Ich weiß es nicht.«

Bambi überlegte. Dann fing er wieder an: »Mutter, warum sind die beiden so böse zueinander gewesen?«

Die Mutter antwortete: »Sie haben sich wegen des Essens gezankt.«

Bambi fragte: »Werden wir uns auch einmal wegen des Essens zanken?«

»Nein«, sagte die Mutter.

Bambi fragte: »Warum nicht?«

Die Mutter entgegnete: »Es ist genug da für uns alle.«

Bambi wollte noch etwas wissen: »Muttern …?«

»Was denn?«

»Werden wir auch einmal böse zueinander sein?«

»Nein, mein Kind«, sagte die Mutter, »bei uns gibt es das nicht.«

Sie gingen weiter. Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen, strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu Ende, die Straße war zu Ende.

Nur ein paar Schritte noch, und sie kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete. Bambi wollte vorwärtsspringen, doch die Mutter blieb stehen.

»Was ist das?« rief er ungeduldig und schon ganz bezaubert.

»Die Wiese«, antwortete die Mutter.

»Was ist das, die Wiese?« drängte Bambi.

Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Das wirst du schon selber sehen.« Sie war ernst geworden und aufmerksam. Regungslos stand sie, hielt das Haupt hoch, lauschte angespannt, prüfte mit tiefen Atemzügen den Wind und sah ganz streng aus.

»Es ist gut«, sagte sie endlich, »wir können hinaus.« Bambi sprang los, aber sie sperrte ihm den Weg. »Du wartest, bis ich dich rufe.« Im Augenblick stand Bambi gehorsam still. »So ist es recht«, lobte die Mutter. »Und nun merke genau, was ich dir sage.« Bambi hörte, wie erregt die Mutter sprach, und geriet in große Spannung. »Es ist nicht so einfach, auf die Wiese zu gehen«, fuhr die Mutter fort, »es ist eine schwere und gefährliche Sache. Frage nicht, warum. Du wirst das schon später noch lernen. Für jetzt befolge genau, was ich dir sage. Willst du?«

»Ja«, versprach Bambi.

»Nun gut. Ich gehe also vorerst allein hinaus. Bleibe hier stehen und warte. Und schaue immer auf mich. Behalte mich unaufhörlich im Auge. Wenn du siehst, dass ich wieder zurücklaufe, hier herein, dann machst du kehrt und rennst davon, so schnell du kannst. Ich hole dich schon ein.« Sie schwieg, schien zu überlegen und fuhr dann eindringlich fort: »Jedenfalls laufe, laufe, was du kannst. Laufe … auch wenn etwas geschehen sollte … auch wenn du siehst, dass ich … dass ich zu Boden stürze … achte nicht auf mich, verstehst du? … Was immer du siehst oder hörst … nur fort, augenblicklich und so schnell wie möglich …! Versprichst du mir das?«

»Ja«, sagte Bambi leise.

»Wenn ich dich aber rufe«, sprach die Mutter weiter, »kannst du kommen. Draußen auf der Wiese darfst du spielen. Es ist schön draußen, und es wird dir gefallen. Nur … du musst mir auch das versprechen … beim ersten Ruf von mir musst du an meiner Seite sein. Unbedingt! Hörst du?«

»Ja«, sagte Bambi noch leiser. Die Mutter sprach so ernst.

Sie redete weiter: »Da draußen … wenn ich rufe … da darf es kein Umhergaffen geben und kein Fragen, sondern wie der Wind hinter mir drein! Merke dir das. Ohne Besinnen, ohne Zögern … sofort, wenn ich zu laufen anfange, heißt es auf und davon und nicht stillstehen, bis wir wieder hier drinnen sind. Wirst du das nicht vergessen?«

»Nein«, sagte Bambi beklommen.

»So will ich jetzt gehen«, meinte die Mutter und schien nun etwas ruhiger.

Sie trat hinaus. Bambi, der kein Auge von ihr ließ, sah, wie sie mit langsam hohen Schritten vorwärtsging. Voll Erwartung, voll Furcht und Neugier stand er da.

Er sah, wie die Mutter nach allen Seiten lauschte, er sah sie zusammenfahren und fuhr selbst zusammen, bereit, ins Dickicht zurückzuspringen. Da wurde die Mutter wieder ruhig, und als eine Minute verging, wurde sie fröhlich. Sie duckte den Hals, streckte ihn lange vor, schaute vergnügt herüber und rief: »Komm!«

Bambi sprang hinaus. Eine ungeheure Freude ergriff ihn so zauberhaft stark, dass er sein Bangen im Nu vergaß. Er hatte im Dickicht nur die grünen Baumwipfel über sich gesehen, und darüber nur manchmal, nur in kleinen Durchblicken, verstreute blaue Sprenkel. Jetzt sah er das ganze Himmelsblau hoch und weit, und das beglückte ihn, ohne dass er wusste, weshalb. Von der Sonne hatte er im Walde nur einzelne, breite Strahlen gekannt oder das zarte Gerinnsel von Licht, das golden durch die Zweige spielt. Jetzt stand er plötzlich in der heißen blendenden Macht, deren unbedingtes Herrschen auf ihn eindrang, stand mitten in dem Glutsegen, der ihm die Augen schloss und das Herz öffnete. Bambi war berauscht; er war vollständig außer sich, er war einfach toll. Unbeholfen sprang er in die Höhe, dreimal, viermal, fünfmal auf dem Fleck, auf dem er stand. Er konnte nicht anders; er musste. Es riss ihn, in die Höhe zu springen. Seine jungen Glieder spannten sich so kräftig, sein Atem ging so tief und leicht, und er trank mit dem Atem, trank mit allem Duft der Wiese so viel übermütige Heiterkeit, dass er eben springen musste.

Bambi war ein Kind. Wäre er ein Menschenkind gewesen, so hätte er gejauchzt. Aber er war ein junges Reh, und Rehe können nicht jauchzen, wenigstens nicht auf jene Art, in der die Menschenkinder es tun. Er jauchzte also auf seine Weise. Mit den Beinen, mit dem ganzen Körper, der sich in die Luft schleuderte. Seine Mutter stand dabei und freute sich. Sie sah, dass Bambi toll war. Sie sah, dass er sich in die Höhe warf, unbeholfen wieder auf demselben Fleck niederfiel, verdutzt und berauscht vor sich hin starrte und sich im nächsten Augenblick wieder in die Höhe warf, wieder und wieder.

Sie begriff, dass Bambi nur die schmalen Rehstraßen des Waldes kannte, in den kurzen Tagen seines Daseins nur an die Beengtheit des Dickichts gewöhnt war, und dass er sich deshalb nicht vom Fleck rührte, weil er es noch nicht verstand, auf der offenen Wiese frei umherzulaufen. Sie duckte sich in die ausgestreckten Vorderläufe, lachte Bambi eine Sekunde an, war mit einem Schneller weg und sauste im Kreise umher, dass die hohen Grashalme nur so rauschten. Bambi erschrak und blieb regungslos. War das nun ein Zeichen, dass er zurück ins Dickicht sollte? Kümmere dich nicht um mich, hatte die Mutter gesagt, was du auch siehst und hörst; nur fort, so schnell wie möglich! Er wollte kehrtmachen und flüchten, wie es befohlen war.

Da kam die Mutter plötzlich angaloppiert; in einem wunderbaren Rauschen fuhr sie daher, ruckte zwei Schritte vor ihm zusammen, duckte sich wie das erste Mal, lachte ihn an und rief: »Fang mich doch!« Und im Hui stob sie davon. Bambi war verblüfft. Was sollte das heißen? Was war denn auf einmal mit der Mutter? Aber da kam sie schon wieder, so rasend schnell, dass man schwindlig werden konnte, stieß ihn mit der Nase in die Flanke, sagte eilig: »Fang mich doch!« und fegte davon. Bambi stürzte ihr nach. Ein paar Schritte. Aber gleich wurden die Schritte zu leichten Sprüngen. Es trug ihn, er glaubte zu fliegen; es trug ihn von selbst. Raum war da unter seinen Schritten, Raum unter seinen Sprüngen, Raum, Raum. Bambi geriet außer sich. Das Gras rauschte ihm herrlich in die Ohren. Es war köstlich weich, seidig zart, wie es an ihm vorbeistrich. Er jagte im Bogen, warf sich herum und pfeilte in einem neuen Kreis, warf sich wieder herum und flitzte weiter. Die Mutter stand schon eine Weile still, holte Atem und wendete sich nur immer nach der Seite, wo Bambi vorüberflog. Bambi raste.

Plötzlich ging es nicht mehr. Er hielt inne, kam mit zierlich gehobenen Läufen zur Mutter und sah sie glückselig an. Dann spazierten sie wohlgelaunt nebeneinander. Seit er hier draußen war, hatte Bambi den Himmel, die Sonne und die grüne Weite nur mit dem Körper gesehen, nur mit einem geblendeten, trunkenen Blick den Himmel; mit dem wohlig durchwärmten Rücken und den stärkenden Atemzügen die Sonne. Nun erst genoss er mit Augen, die Schritt vor Schritt von neuen Wundern überrumpelt wurden, die Pracht der Wiese. Da war kein Fleckchen Boden sichtbar wie drinnen im Walde. Da drängte sich Halm bei Halm um jedes Pünktchen Platz, schmiegte sich und schwoll in üppiger Pracht, bog sich unter jedem Tritt sanft zur Seite und richtete sich gleich wieder versöhnt empor. Der weite grüne Plan war besternt mit weißen Margeriten, mit den violetten und rot angelaufenen dicken Köpfen des blühenden Klees und mit den prunkvoll leuchtenden Goldknäufen, die der Löwenzahn in die Höhe hielt.

»Sieh nur, Mutter«, rief Bambi, »da fliegt eine Blume davon.«

»Das ist keine Blume«, sagte die Mutter, »das ist ein Schmetterling.«

Bambi sah entzückt dem Falter nach, der sich unendlich zart von einem Halm gelöst hatte und in taumelndem Flug dahinschwebte. Jetzt sah Bambi, dass viele solcher Schmetterlinge in der Luft über die Wiese hinflogen, scheinbar eilig und doch langsam, auf und nieder taumelnd, ein Spiel, das ihn begeisterte. Es sah wirklich aus, als ob es wandernde Blumen wären, lustige Blumen, die auf ihrem Stängel nicht stillhalten wollten und sich aufgemacht hatten, um ein wenig zu tanzen. Oder Blumen, die mit der Sonne herniederkamen, noch keinen Platz hatten und wählerisch umher suchten, sich herabsenkten, verschwanden, als seien sie schon irgendwo untergekommen, aber gleich wieder emporstiegen, bald nur ein wenig, bald höher, um weiter zu suchen, immer weiter, weil die besten Plätze eben schon besetzt waren.

Bambi blickte ihnen allen nach. Er hätte so gerne einen von ihnen in der Nähe gesehen, hätte so gerne einen einzelnen genauer ins Auge gefasst, aber das gelang ihm nicht. Sie glitten unaufhörlich ineinander. Er wurde ganz wirr davon. Wie er dann wieder vor sich zu Boden sah, ergötzte ihn all das tausendfache, behände Leben, das da unter seinen Schritten aufstob. Das sprang und sprühte nach allen Seiten, kam als ein Tumult und Gewimmel zum Vorschein und versank in der nächsten Sekunde wieder in den grünen Grund; aus dem es aufgestiegen war.

»Was ist das, Mutter?« fragte er.

»Das sind die Kleinen«, antwortete die Mutter.

»Sieh nur«, rief Bambi, »hier springt ein Stückchen Gras. Nein … wie hoch es springt!«

»Das ist kein Gras«, erklärte die Mutter, »das ist ein gutes Heupferdchen.«

»Warum springt es so?« fragte Bambi.

»Weil wir da gehen«, antwortete die Mutter, »… es fürchtet sich.«

»Oh!« Bambi wandte sich zu dem Heupferdchen, das mitten auf dem weißen Teller einer Margerite saß.

»Oh«, sagte Bambi höflich, »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wir tun Ihnen gewiss nichts.«

»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte das Heupferdchen mit einer rasselnden Stimme. »Ich bin nur im ersten Augenblick erschrocken, denn ich sprach gerade mit meiner Frau.«

»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Bambi bescheiden. »Wir haben Sie gestört.«

»Das macht nichts«, rasselte das Heupferdchen. »Weil Sie es sind, macht es nichts. Aber man weiß ja nie, wer es ist, der kommt, und man muss sich in acht nehmen.«

»Ich bin nämlich heute zum ersten Mal in meinem Leben auf der Wiese«, erzählte Bambi. »Die Mutter hat mir …«

Das Heupferdchen stand mit bockig vorgeducktem Kopf da, machte ein ernstes Gesicht und murrte: »Das interessiert mich nicht. Ich habe gar keine Zeit, mit Ihnen zu schwatzen, ich muss jetzt meine Frau suchen. Hopp!« Und weg war es.

»Hopp«, sagte Bambi verdutzt und bestaunte den hohen Sprung, mit dem es verschwand.

Bambi lief zur Mutter: »Du … ich habe mit ihm gesprochen!«

»Mit wem?« fragte die Mutter.

»Nun, mit dem Heupferdchen«, erzählte Bambi, »ich habe mit ihm gesprochen. Es war so freundlich mit mir. Und es gefällt mir so gut. Es ist so wunderbar grün, und am Ende ist es so durchsichtig, wie kein Blatt es sein kann, auch das feinste nicht.«

»Das sind die Flügel.«

»So?« Bambi sprach weiter. »Und es hat solch ein ernstes Gesicht, voll Nachdenklichkeit. Aber trotzdem ist es freundlich zu mir gewesen. Und wie es springen kann! Das muss fabelhaft schwer sein. Hopp!, sagt es und springt so hoch, dass du es nicht mehr sehen kannst.«

Sie gingen weiter. Die Unterredung mit dem Heupferdchen hatte Bambi erregt und ein wenig ermüdet, denn es war doch das erste Mal, dass er mit jemandem Fremden sprach. Er fühlte Hunger und drängte sich an seine Mutter, um sich zu erfrischen.

Als er dann wieder ruhig dastand und eine kurze Weile vor sich hin träumte, in der kleinen, süßen Trunkenheit, die ihn jedes Mal umfing, nachdem er sich von seiner Mutter gesättigt hatte, gewahrte er in dem Gewirr der Grashalme eine helle Blume, die sich bewegte. Bambi sah schärfer hin. Nein, das war keine Blume, das war ja ein Schmetterling. Bambi schlich näher. Der Schmetterling hing träge an einem Halme und bewegte leise seine Flügel.

»Bitte, bleiben Sie sitzen!« rief ihn Bambi an.

»Warum soll ich denn sitzen bleiben? Ich bin doch ein Schmetterling«, antwortete der Falter erstaunt.

»Ach, bleiben Sie nur ein ganz kleines bisschen sitzen!«, bat Bambi, »ich habe mir schon lange gewünscht, Sie in der Nähe zu sehen. Seien Sie doch so gut.«

»Meinetwegen«, sagte der Weißling, »aber nicht lange.«

Bambi stand vor ihm. »Wie schön Sie sind«, rief er entzückt, »wie wunderschön! Wie eine Blume!«

»Was?« Der Schmetterling klappte mit den Flügeln. »Wie eine Blume? Nun, in meinen Kreisen herrscht allgemein die Ansicht, dass wir schöner sind als die Blumen.«

Bambi war verwirrt. »Gewiss«, stotterte er, »viel schöner … verzeihen Sie … ich wollte nur sagen …«

»Es ist mir ziemlich gleichgültig, was Sie sagen wollten«, entgegnete der Schmetterling. Er bog affektiert seinen schmalen Leib und spielte eitel mit den zarten Fühlern.

Bambi betrachtete ihn hingerissen. »Wie zierlich Sie sind«, sagte er, »wie fein und zierlich! Und was für eine Pracht, diese weißen Schwingen!«

Der Schmetterling legte die Flügel breit auseinander, dann stellte er sie hoch, dass sie ganz beisammen waren und einem steilen Segel glichen.

»Oh«, rief Bambi, »ich verstehe jetzt, dass Sie schöner sind als die Blumen. Außerdem können Sie ja fliegen, und das können die Blumen nicht. Weil sie festgewachsen sind; daran liegt es.«

Der Schmetterling erhob sich. »Genug«, sagte er. »Ich kann fliegen!« So leicht erhob er sich, dass es gar nicht zu merken und nicht zu begreifen war. Seine weißen Flügel bewegten sich sanft, voll Anmut, da schwebte er schon in der sonnigen Luft. »Nur Ihnen zuliebe bin ich so lange sitzen geblieben«, sagte er und gaukelte vor Bambi auf und nieder, »aber jetzt fliege ich fort.«

Das war die Wiese.

* * *

Tief im Dickicht gab es ein Plätzchen, das Bambis Mutter gehörte. Es lag nur ein paar Schritte abseits von der schmalen Straße der Rehe, die hier den Wald durchlief, aber es war kaum zu finden, wenn man den kleinen Einschlupf im dichten Buschwerk nicht kannte.

Eine ganze enge Kammer war es, so eng, dass nur die Mutter und Bambi darin ein wenig Raum hatten, und so niedrig, dass Bambis Mutter, wenn sie stand, das Haupt schon mitten in den Zweigen barg. Haselstrauch, Stechginster und Hartriegel wuchsen hier ineinander und fingen das wenige Sonnenlichte, das durch die Baumwipfel kam, so dass es niemals bis zum Boden dringen konnte. Hier in dieser Kammer war Bambi zur Welt gekommen und hier war seine und seiner Mutter Wohnung.

Die Mutter lag jetzt an die Erde gedrückt und schlief. Auch Bambi hatte ein wenig geschlummert. Nun war er plötzlich ganz munter geworden. Er stand auf und blickte umher.

Hier innen dämmerten die Schatten, dass es beinahe dunkelte. Man hörte den Wald leise rauschen. Hin und wieder zirpten die Meisen, hier und da klang das helle Auflachen eines Spechtes oder der freudlose Ruf einer Krähe. Sonst war alles still, weit und breit. Nur die Luft kochte in der Hitze des Mittags, und das konnte man vernehmen, wenn man aufmerksam lauschte. Hier innen war es dunstig zum Verschmachten.

Bambi sah zur Mutter nieder: »Schläfst du?«

Nein, die Mutter schlief nicht. Sie war sofort erwacht, als Bambi sich erhoben hatte.

»Was tun wir jetzt?« fragte Bambi.

»Nichts«, antwortete die Mutter, »wir bleiben, wo wir sind. Lege dich schön hin und schlafe.«

Aber Bambi hatte keine Lust zu schlafen. »Komm«, bat er, »komm auf die Wiese.«

Die Mutter hob das Haupt: »Auf die Wiese? Jetzt … auf die Wiese …?« Sie sprach so erstaunt und so voll Schrecken, dass Bambi ganz ängstlich wurde.

»Kann man denn jetzt nicht auf die Wiese?« fragte er schüchtern.

»Nein«, gab die Mutter zur Antwort, und es klang sehr entschieden. »Nein, das ist jetzt nicht möglich.«

»Warum?« Bambi merkte, dass hier etwas Unheimliches im Spiele sei. Er wurde noch ängstlicher, zugleich aber reizte es ihn, alles zu erfahren. »Warum kann man jetzt nicht auf die Wiese?«

»Du wirst das später alles kennenlernen, wenn du etwas älter bist …«, beschwichtigte die Mutter.

Bambi drängte: »Sage mir es doch lieber jetzt.«

»Später«, wiederholte die Mutter. »Jetzt bist du noch ein kleines Kind«, fuhr sie zärtlich fort, »und mit Kindern redet man nicht von solchen Dingen.« Sie war ganz ernst geworden. »Jetzt … auf die Wiese … ich mag nicht einmal daran denken. Am helllichten Tag …!«

»Aber«, wendete Bambi ein, »als wir auf die Wiese gingen, war es ja auch heller Tag.«

»Das ist etwas anderes«, erklärte die Mutter, »es war am frühen Morgen.«

»Darf man nur am frühen Morgen hin?« Bambi war zu neugierig.

Die Mutter hatte Geduld. »Nur am frühen Morgen oder am späten Abend … oder des Nachts …«

»Und nie bei Tag? Niemals …?«

Die Mutter zögerte. »Doch«, sagte sie endlich, »manchmal … einige von uns gehen manchmal auch bei Tag hinaus. Aber das sind besondere Umstände … ich kann dir das nicht so erklären … du bist noch zu klein … manche gehen … aber sie sind dabei in der größten Gefahr …«

»Wieso sind sie in Gefahr?« Bambi war nun ganz voll Spannung.

Die Mutter jedoch wollte nicht recht mit der Sprache heraus. »Sie sind eben in Gefahr … du hörst ja, mein Kind, dass du diese Dinge jetzt noch nicht begreifen kannst …«

Bambi dachte, dass er alles begreifen könne, nur nicht, warum ihm die Mutter keine genaue Auskunft geben wollte. Aber er schwieg.

»Wir müssen so leben«, sprach die Mutter weiter, »wir alle. Wenn wir auch den Tag lieben … und wir lieben den Tag, besonders in unserer Kindheit … wir müssen doch so leben, dass wir uns bei Tag stillhalten. Erst vom Abend bis zum Morgen dürfen wir umhergehen. Verstehst du das?«

»Ja.«

»Nun, mein Kind, deshalb müssen wir jetzt hier bleiben, wo wir sind. Hier sind wir sicher. So! Und nun lege dich wieder hin und schlafe.«

Doch Bambi wollte sich jetzt nicht hinlegen. »Warum sind wir hier sicher?« fragte er.

»Weil alle Sträucher uns bewachen, weil die Zweige an den Büschen knistern, weil das dürre Reisig am Boden knackt und uns warnt, weil das welke Laub vom vorigen Jahre auf der Erde liegt und raschelt, um uns ein Zeichen zu geben … weil der Häher da ist und die Elster ebenso, die Wache halten, und weil wir dadurch schon von Weitem wissen, wenn jemand kommt …«

»Was ist das«, erkundigte sich Bambi, »das Laub vom vorigen Jahre?«

»Komm, setze dich zu mir«, sagte die Mutter, »ich will es dir erzählen.« Da setzte sich Bambi willig hin, schmiegte sich dicht an die Mutter, und sie erzählte ihm, dass die Bäume nicht immer grün bleiben, dass die Sonne und die schöne Wärme verschwinden. Dann wird es kalt, die Blätter werden gelb vor Frost, braun und rot, und sie fallen langsam ab, so dass die Bäume wie die Sträucher die kahlen Äste zum Himmel strecken und vollständig verarmt aussehen. Die welken Blätter aber liegen am Boden, und wenn ein Fuß sie berührt, so rascheln sie: Es kommt jemand! Oh, sie sind gut, diese dürren Blätter vom vorigen Jahre. Sie leisten treffliche Dienste, so eifrig und so wachsam wie sie sind. Jetzt noch, mitten im Sommer, halten sich viele von ihnen unter dem jungen Bodenwuchs versteckt und warnen schon von Weitem vor jeder Gefahr.

Bambi drückte sich eng an die Mutter. Er vergaß die Wiese. Es war so behaglich, hier zu sitzen und zuzuhören, wenn die Mutter erzählte.

Als dann die Mutter schwieg, dachte er nach. Er fand es zu lieb von den guten, alten Blättern, dass sie so fleißig aufpassten, obwohl sie doch welk und erfroren waren und schon so viel durchgemacht hatten.

Er überlegte, was das wohl eigentlich sein könnte, die Gefahr, von der die Mutter immer redete. Aber das viele Nachdenken strengte ihn an; es war still ringsumher, man hörte nur, wie die Luft kochte vor Hitze. Und er schlief ein.

* * *

Als er eines Abends mit seiner Mutter wieder hinaus auf die Wiese trat, glaubte er, dass er nun alles kenne, was es da zu sehen und zu hören gab. Allein es zeigte sich, dass er im Leben doch nicht so gut Bescheid wusste, wie er gemeint hatte.

Zunächst war es ja wie beim ersten Mal. Bambi durfte mit der Mutter Fangen spielen. Er fuhr im Kreise umher, und der weite Raum, der hohe Himmel, die freie Luft erfüllten ihn wieder mit einem Rausch, dass er ganz rasend wurde. Nach einer Weile merkte er, dass die Mutter stillstand. Er hielt mitten in einem Bogen inne, so plötzlich, dass seine vier Beine weit auseinander grätschten.

Um sich einen anständigeren Halt zu geben, tat er einen hohen Luftsprung, und nun stand er richtig. Die Mutter drüben schien mit jemandem zu sprechen, aber es ließ sich im hohen Grase nicht ausnehmen, wer das sei. Neugierig trollte Bambi näher. Da bewegten sich im Gewirr der Halme dicht vor der Mutter zwei lange Ohren. Graubraun waren sie und mit schwarzen Streifen hübsch gezeichnet. Bambi stutzte, aber die Mutter sagte: »Komm nur her, das ist unser Freund Hase … komm nur ruhig her und lass dich anschauen.«

Bambi ging sogleich ganz heran. Da saß nun der Hase und war sehr honett anzuschauen. Seine langen Löffelohren stiegen mächtig hoch empor und fielen dann wieder ganz schlapp herunter, wie von einer plötzlichen Schwäche angewandelt. Bambi wurde ein bisschen bedenklich, als er den Schnauzbart erblickte, der dem Hasen so stramm und gerade nach allen Seiten den Mund umstarrte. Aber er bemerkte, dass der Hase ein sehr sanftes Gesicht hatte, überaus gutmütige Züge, und dass er aus seinen großen, runden Augen bescheidene Blicke auf die Welt richtete. Er sah wirklich aus wie ein Freund, der Hase. Bambis flüchtige Bedenken verschwanden sofort. Merkwürdigerweise verlor sich sogar der Respekt, den er anfänglich empfunden hatte, alsbald vollständig.

»Guten Abend, junger Herr«, grüßte der Hase mit ausgesuchter Höflichkeit.

Bambi nickte nur »guten Abend«. Er wusste nicht, warum, aber er nickte nur. Sehr freundlich, sehr artig, doch ein wenig herablassend. Er konnte nicht anders. Vielleicht war es ihm angeboren.

»Was für ein hübscher junger Prinz!« sagte der Hase zur Mutter. Er betrachtete Bambi aufmerksam, stellte dabei bald das eine Löffelohr hoch, bald das andere, bald wieder alle beide, und manchmal ließ er sie schnell und schlapp herunterfallen, was aber Bambi nicht gefiel. Diese Gebärde schien zu sagen: es lohnt nicht.

Indessen fuhr der Hase fort, Bambi mit großen, runden Augen sanft zu betrachten. Seine Nase und sein Mund mit dem prächtigen Schnauzbart bewegten sich dabei unaufhörlich, wie jemand mit Nase und Lippen zuckt, der gegen das Niesen kämpfen will. Bambi musste lachen. Sogleich lachte auch der Hase bereitwillig, nur seine Augen wurden nachdenklicher. »Ich beglückwünsche Sie«, sagte er zur Mutter, »aufrichtig beglückwünsche ich Sie zu diesem Sohn. Ja, ja, ja … das wird einmal ein prächtiger Prinz … ja, ja, ja, so was sieht man gleich.«

Er richtete sich in die Höhe und saß nun in den Hinterbeinen aufrecht da, worüber Bambi maßlos erstaunte. Nachdem er mit steilen Ohren und großartig bewegter Nase überall umhergespäht hatte, saß er wieder manierlich auf allen vieren. »Ja, nun empfehle ich mich den verehrten Herrschaften«, sagte er, »ich habe noch allerlei zu tun heute Abend … untertänig empfehle ich mich.« Er machte kehrt und hoppelte davon, mit angedrückten Ohren, die ihm bis zur Schulter reichten.

»Guten Abend«, rief ihm Bambi nach.

Die Mutter lächelte: »Der gute Hase … so schlicht und so bescheiden. Er hat es auch nicht leicht auf der Welt.« Es war Sympathie in ihren Worten.

Bambi spazierte ein wenig umher und überließ seine Mutter ihrer Mahlzeit. Er hoffte seinen Bekannten vom ersten Mal wieder zu begegnen und war auch gerne bereit, neue Bekanntschaften zu machen. Denn, ohne dass es ihm recht deutlich wurde, was ihm eigentlich fehle, war doch beständig ein Erwarten in ihm. Plötzlich hörte er von ferne ein feines Rauschen auf der Wiese, spürte ein leises rasches Klopfen, das den Boden berührte. Er sah auf. Dort drüben, am anderen Säume des Waldes, huschte etwas durchs Gras. Ein Wesen … nein … zwei! Bambi warf einen schnellen Blick auf seine Mutter, doch die kümmerte sich um nichts, sondern hatte den Kopf tief im Grase stecken. Dort drüben jedoch ging es in jagenden Kreisen rundum, genau so, wie er selbst vorhin im Kreise umhergetobt hatte. Bambi war so verblüfft, dass er einen Satz nach rückwärts machte, als wollte er entfliehen. Dadurch wurde die Mutter aufmerksam und hob das Haupt.

»Was ist dir denn?« rief sie.

Aber Bambi war sprachlos, er fand keine Worte und stammelte nur: »Dort … dort …«

Die Mutter schaute hinüber. »Ach so«, sagte sie, »das ist meine Base, und, richtig, auch sie hat jetzt ein Kindchen … nein, sie hat zwei.« Die Mutter hatte voll Heiterkeit gesprochen, nun wurde sie ernst: »Nein … dass Ena zwei Kinder hat … wirklich zwei …«

Bambi stand und gaffte. Dort drüben sah er jetzt eine Gestalt, die genau seiner Mutter glich. Er hatte sie früher gar nicht bemerkt. Er sah, wie es dort drüben weiter in Doppelkreisen durchs Gras dahinfuhr, aber nur die roten Rücken waren sichtbar, dünne rote Streifen.

»Komm«, sagte die Mutter, »wir wollen hingehen, da ist einmal Gesellschaft für dich.«

Bambi wollte laufen, weil aber die Mutter ganz langsam ging und bei jedem Schritt nach allen Seiten umherspähte, hielt auch er sich zurück. Doch er war in der heftigsten Aufregung und sehr ungeduldig.

Die Mutter redete weiter. »Ich habe mir schon gedacht, dass wir Ena doch einmal treffen müssten. Wo steckt sie nur? habe ich mir gedacht. Ich wusste doch, dass sie auch ein Kind hat. Nun, das war leicht zu erraten. Aber dass es zwei Kinder sind …«

Sie waren längst bemerkt worden, und die anderen kamen ihnen entgegen. Bambi musste die Tante begrüßen, aber er hatte nur Augen für ihre Kinder.

Die Tante war sehr freundlich. »Ja«, sprach sie zu ihm, »das ist nun Gobo, und das ist Faline. Ihr könnt immer miteinander spielen.«

Die Kinder standen steif und still und starrten sich an. Gobo eng bei Faline, Bambi ihnen gegenüber. Keines rührte sich. Sie standen und gafften.

»Lass nur«, sagte die Mutter, »sie werden sich schon befreunden.«

»Was für ein hübsches Kind«, erwiderte Tante Ena, »wahrhaftig, ganz besonders hübsch. So kräftig und so gut in der Haltung …«

»Nun, es geht«, meinte die Mutter bescheiden. »Man muss zufrieden sein. Aber dass du zwei Kinder hast, Ena …«

»Ja, das ist mal so, mal so«, erklärte Ena. »Du weißt ja, meine Liebe, ich habe schon öfters Kinder gehabt …«

Die Mutter sagte: »Bambi ist mein erstes …«

»Siehst du«, tröstete Ena, »vielleicht kommt es nächstens auch bei dir einmal anders …«

Die Kinder standen noch immer und betrachteten einander. Keines sagte ein Wort. Plötzlich machte Faline einen Sprung und fegte davon. Die Sache war ihr zu langweilig geworden.

Augenblicklich stürzte sich Bambi hinter ihr her. Gobo folgte sogleich. Sie flogen in halben Kreisen, sie machten blitzschnell kehrt, purzelten übereinander, jagten kreuz und quer. Es ging prächtig. Als sie dann unvermittelt und ein wenig atemlos stehen blieben, waren sie schon ganz vertraut miteinander. Sie begannen zu schwatzen. Bambi erzählte, dass er mit dem guten Heupferdchen und mit dem Weißling gesprochen habe.

»Hast du auch mit dem Goldkäfer geredet?« fragte Faline.

Nein, mit dem Goldkäfer hatte Bambi nicht gesprochen. Er kannte ihn gar nicht, wusste nicht, wer das sei.

»Ich rede oft mit ihm«, erklärte Faline ein wenig patzig.

»Mich hat der Häher geschimpft«, sagte Bambi.

»Wirklich?« staunte Gobo. »Ist der Häher so frech zu dir gewesen?« Gobo war sehr leicht verwundert, und er war außerordentlich bescheiden.

»Nun«, bemerkte er, »mich hat der Igel in die Nase gestochen.« Aber er erwähnte das gleichsam nur nebenbei.

»Wer ist der Igel?« erkundigte sich Bambi glücklich. Es schien ihm wunderbar, so dazustehen, Freunde zu haben und so viele spannende Dinge zu hören.

»Der Igel ist ein fürchterliches Geschöpf«, rief Faline. »Voll großer Stacheln am ganzen Körper … und dazu noch sehr böse!«

»Glaubst du wirklich, dass er böse ist?« fragte Gobo. »Er tut doch niemandem etwas zuleide.«

»So?« erwiderte Faline schnell, »hat er dich vielleicht nicht gestochen?«

»Ach, das war nur, weil ich mit ihm reden wollte«, wendete Gobo ein, »und nur ein kleines bisschen. Es hat nicht sehr weh getan.«

Bambi wandte sich an Gobo: »Warum wollte er denn nicht, dass du mit ihm redest?«

»Er will mit niemandem reden«, mengte sich Faline ein. »Sowie man nur in seine Nähe kommt, rollt er sich zusammen, und dann siehst du von allen Seiten nur seine Stacheln. Unsere Mutter sagt, er ist so einer, der mit der Welt nichts zu tun haben will.«

Gobo meinte: »Vielleicht fürchtet er sich nur.«

Aber Faline verstand das besser: »Die Mutter sagt, mit so jemandem soll man sich gar nicht einlassen.«

Bambi begann auf einmal leise zu Gobo: »Weißt du, was das ist … die Gefahr?«

Jetzt wurden auch die beiden anderen ernst, und alle drei steckten die Köpfe zusammen.

Gobo dachte nach. Er gab sich aufrichtig Mühe, es zu wissen, denn er sah wohl, wie neugierig Bambi auf die Antwort wartete. »Die Gefahr …«, flüsterte er, »die Gefahr …das ist etwas sehr Schlimmes …«

»Ja«, drängte Bambi erregt, »etwas sehr Schlimmes … aber was?«

Sie bebten alle drei vor Grauen.

Plötzlich rief Faline laut und fröhlich: »Die Gefahr ist … wenn man davonlaufen muss …« Sie sprang fort; sie mochte nicht dastehen und Angst haben. Bambi und Gobo sprangen ihr sogleich nach. Sie fingen wieder an zu spielen, tummelten sich in der grünen, rauschenden Seide der Wiese und hatten die ernste Frage im Nu vergessen. Nach einer Weile hielten sie inne und standen wie vorhin beisammen, um zu plaudern. Sie blickten zu ihren Müttern hinüber. Die waren ebenso nett beieinander, aßen ein wenig und unterhielten sich in einem ruhigen Gespräch.

Tante Ena hob das Haupt und rief zu ihren Kindern her: »Gobo! Faline! Nun müssen wir bald gehen …«

Auch die Mutter mahnte Bambi: »Komm jetzt …es ist Zeit.«

»Noch eine Weile«, bat Faline stürmisch, »noch eine kleine Weile.«

Bambi flehte: »Bleiben wir noch! Bitte! Es ist so schön!«

Und Gobo wiederholte bescheiden: »Es ist so schön … noch eine Weile.«

Sie sprachen alle drei zugleich.

Ena sah die Mutter an: »Nun, habe ich es nicht gesagt? Jetzt wollen sie sich nicht voneinander trennen.«

Da geschah noch etwas, und es war viel größer als all das viele andere, das Bambi heute schon erlebt hatte.

Vom Walde her drang klopfendes Stampfen den Erdboden entlang. Äste knackten, Zweige rauschten, und bevor man noch die Ohren spitzen konnte, brach es aus dem Dickicht hervor. Der eine in Rauschen und Prasseln, der andere im Saus hintendrein. Wie der Sturmwind rasten sie hervor, vollführten einen weiten Bogen auf der Wiese, tauchten in den Wald zurück, wo man sie galoppieren hörte, kamen noch einmal aus dem Dickicht gebraust und standen plötzlich still, an zwanzig Schritte voneinander entfernt.

Bambi schaute sie an und regte sich nicht. Sie sahen wohl aus wie Mutter und Tante Ena. Doch auf ihren Häuptern blitzte die Krone des Gehörns, in braunen Perlen und hellen weißen Zinken. Bambi war ganz betäubt; er blickte von einem zum anderen. Der eine war kleiner, und auch seine Krone war geringer. Aber der andere war gebieterisch schön. Er trug das Haupt hoch, und hochragte darauf die Krone. Die funkelte vom Dunkeln ins Helle, war verziert mit der Pracht vieler schwarzer und brauner Perlen und mit weit gestreckten, schimmernd weißen Enden.

»Oh!« rief Faline in Bewunderung. Gobo wiederholte leise: »Oh!« Bambi aber sagte gar nichts. Er war hingerissen und stumm.

Jetzt bewegten sich die beiden, wandten sich voneinander ab, jeder nach einer anderen Seite, und gingen langsam in den Wald zurück. Der Gebietende kam ganz nahe an die Kinder, die Mutter und Tante Ena heran. In stiller Pracht schritt er vorüber, trug das geadelte Haupt königlich ernst erhoben und würdigte niemanden eines Blickes. Die Kinder wagten nicht zu atmen, bis er im Dickicht verschwunden war. Sie schauten sich nach dem anderen um, aber gerade in diesem Augenblick schlossen sich die grünen Türen des Waldes hinter ihm.

Faline war die erste, die das Schweigen brach. »Wer war das?« rief sie. Aber ihre kleine, kecke Stimme bebte.

Kaum hörbar wiederholte Gobo: »Wer war das?«

Bambi schwieg.

Tante Ena sagte feierlich: »Das waren die Väter.«

Sonst wurde nichts mehr gesprochen, und man trennte sich.

Tante Ena zog mit ihren Kindern gleich hier ins nächste Gebüsch. Es war ihr Weg. Bambi musste mit der Mutter über die ganze Wiese zur Eiche, um die gewohnte Straße zu gewinnen. Er schwieg lange. Endlich fragte er: »Haben sie uns nicht gesehen?«

Die Mutter verstand, was er meinte, und erwiderte: »Gewiss. Sie sehen alles.«

Bambi fühlte sich beklommen; er scheute sich, Fragen zu stellen, aber es drängte ihn zu gewaltig. Er setzte an: » … Warum …« und schwieg.

Die Mutter half ihm: »Was willst du sagen, mein Kind?«

»Warum sind sie nicht bei uns geblieben?«

»Sie bleiben nicht bei uns«, antwortete die Mutter, »nur zuzeiten …«

Bambi fuhr fort: »Warum haben sie nicht mit uns gesprochen?«

Die Mutter sagte: »Jetzt sprechen sie nicht mit uns … nur zuzeiten … Man muss warten, bis sie kommen, und man muss warten, bis sie zu uns reden … wie es ihnen gefällt.«

Mit bestürmtem Gemüt fragte Bambi: »Wird mein Vater mit mir sprechen?«

»Gewiss, mein Kind«, verhieß ihm die Mutter, »wenn du erwachsen bist, wird er mit dir sprechen, und du wirst manchmal bei ihm sein dürfen.«

Bambi ging schweigend neben der Mutter, sein ganzes Sinnen erfüllt von der Erscheinung des Vaters. »Wie schön er ist!« dachte er und immer wieder: »Wie schön er ist!«

Als ob die Mutter seine Gedanken hören könnte, sagte sie: »Wenn du am Leben bleibst, mein Kind, wenn du klug bist, die Gefahr vermeidest, dann wirst du auch einmal so stark und schön sein wie der Vater und wirst auch eine solche Krone tragen wie er.«

Bambi atmete tief. Das Herz wurde ihm weit vor Glück und Ahnung.

* * *

Die Zeit verstreicht, und Bambi macht viele Erfahrungen, hat hundert Erlebnisse. Manchmal wird ihm ganz wirbelig, weil er so unglaublich viel zu lernen hat.

Er kann jetzt schon lauschen. Nicht bloß hören, was so nahe geschieht, dass es einem von selbst in die Ohren knallt. Nein, dabei ist wahrhaftig keine Kunst. Sondern er kann richtig, mit Vernunft lauschen auf alles, was sich noch so leise regt, auf jedes feine Knistern, das der Wind herbeiträgt. Er weiß zum Beispiel, dass dort ein Fasan durchs Gebüsch läuft; er kennt das zarte Trippeln, das immer wieder innehält, ganz genau. Auch die Waldmäuse erkennt er nach dem Gehör, wenn sie hin und her rennen, an den kurzen Wegen, die sie machen. Dann die Maulwürfe, wenn sie gut gelaunt sind und sich unter einem Holunderstrauch im Kreise jagen, dass es nur so raschelt. Er kennt den kühnen, hellen Ruf der Falken, und er hört an ihrem zornig veränderten Ton, wenn ein Habicht oder ein Adler daherkommt, dass sie nun zürnen, weil sie fürchten, ihr Gebiet soll ihnen genommen werden. Er kennt das Flügelklatschen der Waldtauben, das schöne, ferne Schwingenbrausen der Enten und noch vieles andere.

Er versteht es jetzt auch allmählich, zu wittern. Bald wird er es so gut verstehen wie seine Mutter. Er kann die Luft einziehen und sie gleichsam mit dem Verstande zerlegen. Oh, das ist Klee und Rispe, denkt er, wenn der Wind von der Wiese her weht; ja, und dort ist jetzt auch Freund Hase draußen; ich merke es wohl. Dann wieder erkennt er mitten in den Gerüchen von Laub, Erde, Lauch und Waldmeister, dass irgendwo der Iltis vorübergeht, erkennt, wenn er die Nase zu Boden senkt und gründlich prüft, dass da der Fuchs unterwegs gewesen ist, oder er merkt: hier irgendwo sind die Verwandten in der Nähe, Tante Ena mit den Kindern.

Er ist nun völlig vertraut mit der Nacht, und er hat jetzt nicht mehr so großes Verlangen danach, am helllichten Tage umherzurennen. Ganz gerne liegt er jetzt untertags in der kleinen, dämmerigen Laubkammer bei seiner Mutter. Er hört die Luft kochen vor Hitze, und er schläft. Gelegentlich wacht er auf, lauscht und wittert, wie es sich gehört. Alles ist in Ordnung. Nur die kleinen Meisen schwatzen ein wenig miteinander, die Grasmücken, die beinahe niemals schweigen können, unterhalten sich, und die Holztauben hören nicht auf, ihre enthusiastischen Zärtlichkeiten zu deklamieren. Was geht ihn das an? Er schläft wieder ein.

Die Nacht gefällt ihm jetzt sehr. Alles ist munter, alles in Bewegung. Natürlich muss man auch des Nachts achtgeben, aber man ist doch argloser und geht überallhin, wo man will. Und man trifft überall Bekannte, die gleichfalls alle sorgloser sind als sonst. In der Nacht ist der Wald feierlich und still. Es gibt nur ein paar Stimmen, die laut werden in dieser Stille, aber sie klingen anders als die Stimmen des Tages, und sie machen mehr Eindruck. Bambi mag die Eule gerne leiden. Sie hat einen so vornehmen Flug, ganz lautlos, ganz leicht.

Ein Schmetterling macht ebenso wenig Geräusch wie sie, und dabei ist sie so mächtig groß. Sie hat auch ein so bedeutendes Gesicht, so bestimmt, so überaus gedankenvoll, und sie hat herrliche Augen. Bambi bewundert ihren festen, ruhig tapferen Blick. Er hört gerne zu, wenn sie einmal mit der Mutter oder mit sonst jemandem spricht. Er steht ein wenig abseits, fürchtet sich ein wenig vor dem gebieterischen Blick, den er so sehr bewundert, begreift auch nicht viel von den klugen Dingen, die sie sagt, aber er weiß, dass es kluge Dinge sind, und das entzückt ihn, erfüllt ihn mit Verehrung für die Eule.

Dann beginnt die Eule ihren Gesang. Haa-ah – – hahaha – – haa-ah! singt sie. Es klingt anders als das Lied der Drossel oder des Pirols, anders als der freundliche Wahlspruch des Kuckucks, aber Bambi liebt den Gesang der Eule, denn er fühlt einen geheimnisvollen Ernst darin, eine unsagbare Klugheit und eine rätselhafte Wehmut. Dann ist noch der Waldkauz da, ein reizender kleiner Bursche. Pfiffig, fidel und über die Maßen neugierig. Er ist darauf versessen, Aufsehen zu erregen. Uj–iik! Uj–iik! ruft er mit einer ganz zerpressten, fürchterlich gellenden Stimme. Es hört sich an, als sei er in Todesnot. Aber er ist in glänzender Laune und freut sich rasend, wenn jemand erschrickt. Uj–iik! schreit er so fürchterlich laut, dass man es im Walde eine halbe Stunde weit hört. Hinterdrein aber lacht er ein leises Gurren in sich hinein, und das hört man nur, wenn man dicht in seiner Nähe steht. Bambi ist dahintergekommen, dass der Waldkauz sich freut, wenn man erschrickt, oder wenn man glaubt, es sei ihm etwas Schlimmes passiert. Seither versäumt Bambi niemals, wenn er gerade in der Nähe ist, herbeizustürzen und zu fragen: »Ist Ihnen etwas zugestoßen?«, oder er sagt mit einem Seufzer: »Ach, wie bin ich jetzt erschrocken!« Dann wird der Waldkauz vergnügt. »Ja, ja«, sagt er lachend, »es klingt ganz jammervoll.« Er plustert die Federn auf, sieht aus wie eine graue, weiche Kugel und ist bezaubernd hübsch.

Auch Gewitter hat es ein paarmal gegeben. Bei Tage und bei Nacht. Das erste Mal war es bei Tage, und Bambi fühlte, wie ihm ängstlich zumute wurde, als es in seiner Laubkammer tiefer und tiefer dämmerte. Ihm war, als sei die Nacht mitten am Tage vom Himmel heruntergefallen. Als dann der Sturm brüllend den Wald durchwühlte, dass die stummen Bäume laut zu ächzen begannen, zitterte Bambi vor Angst. Und als die Blitze aufleuchteten, als der Donner krachte, war Bambi besinnungslos vor Entsetzen und glaubte, nun werde die Welt in Stücke gerissen.

Er lief hinter seiner Mutter drein, die ein wenig verwirrt aufgesprungen war und im Dickicht hin und her ging. Er konnte nicht denken, konnte sich nicht fassen. Dann stürzte der Regen in wütenden Güssen nieder. Alles hatte sich verkrochen, der Wald war wie leer, und es gab kein Entrinnen. Selbst im dichtesten Buschwerk wurde man vom herabsausenden Wasser gepeitscht. Aber die Blitze hörten auf, ihr feuriger Strahl flammte nicht mehr durch die Baumwipfel; der Donner entfernte sich, man hörte ihn nur noch von Weitem murren, und bald schwieg er gänzlich. Nun wurde der Regen sanfter. Sein breites Rauschen tönte gleichmäßig und kräftig noch eine Stunde, der Wald stand tief atmend in der Windstille und ließ sich übergießen, und niemand mehr hatte Angst auszustehen. Dieses Gefühl war vorbei, der Regen wusch es hinweg.

Noch nie war die Mutter mit Bambi so zeitig auf die Wiese gegangen wie an diesem Abend. Eigentlich war es noch gar nicht Abend. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, die Luft war kraftvoll frisch, sie duftete stärker als sonst, und der Wald sang mit tausend Stimmen, denn alle waren aus ihren Verstecken hervorgekommen und eilten umher und ereiferten sich, um einander zu erzählen, was sie erlebt hatten.

Ehe sie auf die Wiese traten, kamen sie an der großen Eiche vorbei, die knapp am Waldrand stand, dicht an ihrer Straße. Sie mussten immer an diesem schönen, großen Baum vorüber, wenn sie auf die Wiese gingen. Jetzt saß das Eichhörnchen auf einem Ast und begrüßte sie. Bambi lebte mit dem Eichhörnchen in heiterer Freundschaft. Er hatte es wegen seines roten Röckchens bei der ersten Begegnung für ein ganz kleines Reh gehalten und es verblüfft angestarrt.

Aber Bambi war damals wirklich noch zu kindisch und verstand sich einfach auf gar nichts. Gleich von Anfang hatte ihm das Eichhörnchen ausnehmend gefallen. Es war so überaus manierlich, so angenehm gesprächig, und Bambi ergötzte sich daran, wie wunderbar es zu turnen, zu klettern, zu springen und zu balancieren verstand. Da lief es mitten im Gespräch den glatten Baumstamm auf und nieder, als ob das gar nichts wäre. Da saß es aufrecht auf einem schwankenden Ast, lehnte sich bequem an seine buschige Fahne, die hinter ihm anmutig in die Höhe ragte, zeigte seine weiße Brust, agierte zierlich mit den kleinen Vorderpfoten, drehte das Köpfchen hin und her, lachte mit den fröhlichen Augen und sagte im Nu eine Menge scherzhafte oder interessante Dinge. Jetzt eben kam es wieder herab, so schnell und in solchen Sprüngen, dass man denken musste, es werde einem auf den Kopf purzeln. Heftig schwenkte es seine lange rote Fahne und grüßte schon von hoch oben: »Guten Tag! Guten Tag! Das ist aber nett, dass Sie vorüberkommen!«

Die Mutter und Bambi blieben stehen.

Das Eichhörnchen lief den glatten Stamm herunter. »Nun«, plauderte es, »… haben Sie die Sache gut überstanden? Natürlich, ich sehe ja, dass alles in schönster Ordnung ist. Das bleibt schließlich die Hauptsache.« Es rannte blitzschnell wieder am Stamm empor und sagte dabei: »Nein, da unten ist es mir doch zu nass. Warten Sie, ich suche mir einen Platz, wo es besser ist. Das stört Sie doch hoffentlich nicht? Vielen Dank! Ich dachte, dass es Sie nicht stört. Und man kann ja auch von hier aus miteinander sprechen.«

Es lief auf einem geraden Zweig hin und her. »Eine Wirtschaft war das«, fuhr es fort, »ein Lärm und ein Skandal ist das gewesen! Na, Sie können sich denken, wie ich erschrocken bin. Man drückt sich ganz still in eine Ecke und wagt kaum, sich zu rühren. Das ist das allerschlimmste, so dasitzen und sich nicht rühren. Man hofft ja, dass nichts passieren wird, na, und mein Baum ist ja für solche Fälle vortrefflich, nein, da gibt es nichts, mein Baum ist vortrefflich … das muss ich sagen. Ich bin zufrieden. Wie weit ich auch herumkomme, ich wünsche mir keinen anderen. Aber wenn es so losgeht wie heute, regt man sich doch immer wieder ganz entsetzlich auf.«

Das Eichhörnchen saß da, an seine schöne aufragende Fahne gelehnt, zeigte die weiße Brust und drückte beide Vorderpfötchen gefühlvoll ans Herz. Man glaubte ihm ohne Weiteres, dass es sich aufgeregt habe.

»Wir wollen jetzt auf die Wiese«, sagte die Mutter, »um uns in der Sonne zu trocknen.«

»Oh, das ist ein guter Einfall«, rief das Eichhörnchen. »Sie sind so klug, wirklich, ich sage immer, dass Sie so klug sind!« Mit einem Satz war es auf einen höheren Zweig gesprungen. »Sie können gar nichts Besseres tun, als jetzt auf die Wiese gehen«, rief es von dort herab. Dann sauste es in leichten Sprüngen kreuz und quer durch die Baumkrone empor. »Ich will auch hinauf, wo ich Sonne habe«, plauderte es vergnügt, »man ist ja völlig durchnässt! Ganz hinauf will ich!« Es kümmerte sich nicht darum, ob man ihm noch zuhörte.

Die Wiese war schon recht belebt. Freund Hase saß da und hatte seine Familie bei sich. Tante Ena stand dort mit ihren Kindern und einigen anderen Bekannten. Heute sah Bambi auch die Väter wieder. Sie kamen langsam aus dem Walde, der eine von dort, der andere von da, sogar ein dritter erschien. Langsam gingen sie nahe am Waldsaum in der Wiese hin und her, jeder an seiner Stelle. Sie beachteten niemanden, ja sie sprachen gar nicht einmal miteinander. Bambi schaute oft zu ihnen hinüber, ehrerbietig und voll Neugier.

Dann unterhielt er sich mit Faline, mit Gobo und mit ein paar anderen Kindern. Er meinte, man könne wohl ein wenig spielen. Alle erklärten sich einverstanden, und das Kreisen begann. Faline zeigte sich als die Fröhlichste von allen. Sie war so frisch und behend und sprudelte von plötzlichen Einfällen. Aber Gobo fühlte sich bald ermüdet. Er hatte sich vor dem Gewitter furchtbar geängstigt, hatte Herzklopfen davon bekommen, und das dauerte jetzt immer noch an. Gobo war wohl überhaupt etwas schwächlich, aber Bambi liebte ihn, weil er so gut und so bereitwillig und immer ein wenig traurig war, ohne es merken zu lassen.

Die Zeit verstreicht, und Bambi lernt, wie fein die Grasrispen schmecken, wie zart die Blätterknospen sind, und wie süß der Klee ist. Wenn er sich an seine Mutter drängt, um sich zu erquicken, so geschieht es oft, dass sie ihn abweist. »Du bist doch kein kleines Kind mehr«, sagt sie. Manchmal sagt sie sogar geradezu: »Geh, lass mich in Ruhe.« Es kann geschehen, dass die Mutter in der kleinen Waldkammer aufsteht, mitten am Tage aufsteht und fortgeht, ohne darauf zu achten, ob Bambi ihr folgt oder nicht. Manchmal scheint es auch, wenn sie die gewohnten Wege wandern, als ob die Mutter gar nicht merken würde, dass Bambi hinter ihr ist und brav hinter ihr her läuft. Eines Tages ist die Mutter weg. Bambi weiß nicht, wie das möglich war, er kann sich's gar nicht erklären. Aber die Mutter ist fort und Bambi zum ersten Mal allein.

Er wundert sich, er wird unruhig, es wird ihm angst und bang, und er beginnt sich erbärmlich zu sehnen. Ganz traurig steht er da und ruft. Niemand antwortet, niemand kommt.

Er lauscht, er wittert. Nichts. Er ruft wieder. Ganz leise, innig, flehend ruft er: »Mutter … Mutter …« Umsonst.

Nun fast ihn die Verzweiflung, er hält es nicht aus und beginnt zu gehen.

Er wandert die Straßen entlang, die er kennt, bleibt stehen und ruft, wandert wieder weiter mit zögernden Schritten, furchtsam und ratlos. Er ist sehr traurig.

Immer weiter geht er und kommt zu Straßen, auf denen er noch nicht gegangen ist, er kommt zu Gegenden, die ihm fremd sind. Er kennt sich nicht mehr aus.

Da hört er zwei Kinderstimmen, die rufen wie er:

»Mutter … Mutter …!«

Er steht und horcht.

Wahrhaftig, das sind Gobo und Faline. Das müssen sie sein.

Rasch läuft er den Stimmen nach, und bald sieht er die roten Röckchen durch die Blätter schimmern. Gobo und Faline. Dort stehen sie unter einem Hartriegel trübselig nebeneinander und rufen: »Mutter … Mutter …!«

Sie freuen sich, da sie es im Gebüsch rauschen hören. Wie sie aber Bambi erkennen, sind sie enttäuscht. Dennoch freuen sie sich auch mit ihm ein wenig. Und Bambi ist froh, nicht mehr so ganz allein zu sein.

»Meine Mutter ist fort«, sagt Bambi.

»Unsere ist auch fort«, antwortet Gobo kläglich.

Sie sehen einander an und sind ganz bestürzt.

»Wo können sie nur sein?« fragt Bambi. Er schluchzt beinahe.

»Ich weiß es nicht«, seufzt Gobo. Er hat Herzklopfen und fühlt sich elend.

Plötzlich sagt Faline: »Ich glaube … sie sind bei den Vätern …«

Gobo und Bambi sehen sich verblüfft an. Sie werden sofort von Ehrfurcht ergriffen. »Meinst du … bei den Vätern?« fragt Bambi und zittert.

Faline zittert gleichfalls, aber sie macht ein vielsagendes Gesicht. Sie tut wie jemand, der mehr weiß, als er verraten will. Natürlich weiß sie gar nichts; sie weiß nicht einmal, woher ihr der Einfall kam. Doch wie nun Gobo wiederholt: »Meinst du das wirklich?«, macht sie eine kluge Miene und wiederholt geheimnisvoll: »Ja, ich glaube es.«