Bandenspiel - Jean Moose - E-Book

Bandenspiel E-Book

Jean Moose

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Beschreibung

Im Freiburger Sternwald wird Hanno Dillenburg, der Leibwächter des Vizepräsidenten der EU-Kommission, kaltblütig erschossen. Wenig später stürzt die Direktorin Adina Verzasca vom Dach eines Kommissionsgebäudes in den Tod. Als Kommissar Lucarelli erfährt, dass die beiden heimlich ein Paar waren, beginnt er inkognito in Brüssel zu ermitteln. Was er entdeckt, lässt ihn an der Selbstmordtheorie der belgischen Polizei zweifeln. Er findet Hinweise, dass Dillenburg und Verzasca im Besitz von Informationen waren, deren Veröffentlichung einen riesigen politischen Skandal und den Rücktritt wichtiger Schlüsselfiguren der Europäischen Politik ausgelöst hätten. Hängen die Ereignisse in Freiburg und Brüssel zusammen? Ein packender Kriminalroman vor der Kulisse des Machtzentrums der europäischen Politik.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion. Alle im Buch vorkommenden Personen, Namen, Orte, Ereignisse und Dialoge sind entweder das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, lebend oder verstorben, tatsächlichen Ereignissen oder Orten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Der Autor übernimmt keine Verantwortung für die Interpretation oder den Gebrauch der in diesem Werk dargestellten Inhalte. Jegliche Meinungen oder Ansichten, die von Figuren im Roman geäußert werden, spiegeln ausschließlich deren fiktive Perspektive wider und nicht die Ansichten des Autors oder des Verlags.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

1.

An diesem Morgen verspürte er nicht einen Funken Lust auf die Runde. Der Regen, der in der Nacht pausenlos gegen das Schlafzimmerfenster geprasselt war, ließ ihn nicht schlafen, und schließlich war er müde und entnervt aufgestanden. Mürrisch schnürte er die Laufschuhe und machte sich auf den Weg. Sie hatten ihm beigebracht, wie er seine Dämonen in Schach halten konnte, und eine Weile hatte das Ganze sogar funktioniert. Irgendwann jedoch waren die Geister zurückgekehrt, mächtiger und böser noch, und er sah ein, dass er keine Kraft mehr hatte, sie zu bezwingen. Trotzdem ließ er von seinem Ritual nicht ab, warum auch immer.

In Brüssel und Straßburg wagte er sich mit der gelben Regenjacke nicht hinaus, seit die Gelbwesten in den Innenstädten ihr Unwesen trieben. In Freiburg scherte sich keiner darum, und die schenkellange Jacke war praktisch. Wenn er die Pistole unterhalb des Bauchnabels umschnallte, war sie nicht zu sehen. Er lief stets dieselbe Strecke. Dreihundert Meter auf der Straße und dann hinauf in den Wald. Unter 65 Minuten musste er bleiben, das war die Richtzeit. Schon nach der ersten Steigung spürte er, dass er es an diesem Tag nicht schaffen würde. Mitsamt dem Halfter wog die Pistole mehr als ein Kilo. Ohnehin kam es ihm vor, als atmete er schwerer als sonst. Die Jacke war in der regenschwülen Luft zu warm, er schwitzte. Während der zweiten Runde hielt er an und öffnete den Reißverschluss. Die Pistole war von vorne nun gut sichtbar, doch wie er glaubte, trieb sich um diese Uhrzeit ohnehin niemand im Wald herum. Schweren Schrittes lief er weiter. Hinter der vor ihm liegenden Rechtskurve verlief die Strecke ein gutes Stück flach. Danach würde es endlich wieder bergab gehen. Er hatte Mühe und sehnte sich nach dem Ende.

Als er sah, wie die Gestalt blitzschnell hinter dem Gebüsch hervorkam, war es zu spät. Wenn der Feind gezogen hat, ist eine Waffe im Halfter wertlos. Dillenburg erstarrte und hob die Hände. Er versuchte nicht einmal, an seine Pistole zu kommen.

2.

Wer hat ihn gefunden?«, fragte Lucarelli.

Mike Arens war vor ihm am Tatort eingetroffen. Der Kollege war erst vor wenigen Wochen nach Merzhausen umgezogen und wohnte nur ein paar Autominuten vom Sternwald entfernt. Wie der Tote trug Arens eine Regenjacke, wenngleich mit Innenfutter und in einem hässlichen Olivgrün. Hervor lugten zwei lange, dünne Beine in Bluejeans, die für einen Gutteil seiner zwei Meter Körpergröße verantwortlich waren. Dadurch unterschied er sich von dem stets elegant auftretenden Tennisspieler Roger Federer, dem er vor allem aufgrund der Gesichtsform, den dunklen, buschigen Augenbrauen und der Frisur verblüffend ähnlichsah.

»Ein Spaziergänger gegen sieben Uhr zwanzig«, antwortete der Kollege in seinem unverwechselbaren Kölner Singsang. »Ich habe ihn bereits vernommen. Es ist ihm nichts Besonderes aufgefallen. Er ging mit seinem Hund spazieren. Plötzlich sah er die Leiche.«

Sie studierten den Tatort. Der Weg verlief entlang eines mit Eichen und Büschen bewaldeten Hangs, den er mit einer Breite von gut drei Metern durchquerte. Der Mann lag im abschüssigen Gelände rücklings im Unterholz, gut zwei Meter entfernt vom Wegesrand. Hangaufwärts säumten dichte Büsche den Weg. Die Spurensicherung hatte bereits großflächig abgesperrt. Männer in weißen Schutzanzügen suchten die Umgebung ab.

»Das Opfer hatte einen Pistolenhalfter umgeschnallt. Aber eine Waffe wurde bisher nicht gefunden«, sagte Arens.

Lucarelli stieg den Abhang hinab. Er schätzte das Opfer auf Mitte Vierzig, kantiges Gesicht, dunkles Haar und offenbar gut in Form. Die offene gelbe Regenjacke gab den Blick auf die Einschussstelle frei, ziemlich genau in der Nähe des Herzens. Der Mann hatte stark geschwitzt, was darauf hinwies, dass er schon eine Weile gelaufen war. Unter dem Ärmel seiner Jacke lugte eine Uhr hervor. Lucarelli nahm sie kurz in Augenschein.

»Irgendwelche Hinweise auf die Identität des Toten?«

»Er hatte nur einen Hausschlüssel in der Tasche. Damit können wir davon ausgehen, dass er in der Nähe wohnte. Sonst haben wir nichts. Wahrscheinlich lief er regelmäßig diese Strecke.« Lucarelli kletterte wieder nach oben.

»Die Spurensicherung soll sich die möglichen Verstecke ansehen. Auch in einigem Abstand vom vermeintlichen Tatort«, sagte Lucarelli.

»Du meinst, dass der Mann gar nicht hier erschossen wurde?«

»Es hat die ganze Nacht geregnet. Der Boden ist weich. Abseits der befestigten Wege entstehen Schuhabdrücke. Der Täter brauchte ein gutes Versteck, um das offensichtlich bewaffnete Opfer zu überwältigen. Erschossen wurde der Mann vermutlich hier, aber das beweist nicht, dass es nicht woanders war.«

»Ziemlich riskant«, entgegnete Arens. »Es hätten Spaziergänger oder andere Jogger auftauchen können.«

»Kann sein. Wir werden bald wissen, wie es gewesen ist.«

»So?«

»Der Tote trug eine moderne Sportuhr. Die meisten in dieser Kategorie haben ein GPS, einen Schrittzähler und einen Pulsmesser.«

3.

Lucarelli saß mit dem ersten Espresso des Tages hinter seinem Schreibtisch. Er warf einen kurzen Blick hinüber zu der kreisrunden Bahnhofsuhr, die Arens an der gegenüberliegenden Wand angebracht hatte. Die dicken schwarzen Zeiger liefen auf die Zwölf, in einer halben Stunde begann die erste Besprechung. Eigentlich wollte sich Lucarelli mit Carlo treffen.

Carlo war sein Cousin und die engste verbliebene Verbindung zu Italien, der Heimat seines Vaters. Sie waren gleich alt und die Eltern hatten dafür gesorgt, dass sie sich in den Schulferien stets gegenseitig besuchten. Während Lucarellis Vater Silvio nach Deutschland auswanderte, um sich in Stuttgart als Tennistrainer einen Namen zu machen, blieben die Eltern von Carlo in Apulien, wo sie in der Provinzhauptstadt Lecce ein Hotel mit einem Restaurant geführt hatten. Nach der Schule ging der Sohn jedoch nicht auf die Hotelfachschule, sondern ins ferne Mailand, wo er das Schneiderhandwerk erlernen wollte. Es dauerte nicht lange bis Carlo in der Metropole als einer der besten Maßschneider galt, und bis heute erfreute er sich bei den zahlungskräftigen Bankern der Finanzmetropole großer Beliebtheit. Carlo pflegte seinen in Stuttgart geborenen Cousin Hans neckisch »Tedesco«, den Deutschen, zu nennen. Wie er fand, sollte der germanisierte Commissario wenigstens mit italienischer Eleganz aufwarten. Er bestand darauf, Lucarelli regelmäßig mit neuen Maßanzügen zu versorgen, die er ihm zu Spottpreisen überließ. Mit seiner Garderobe aus Milano fiel Lucarelli im eher legeren Freiburg und natürlich auch bei der Polizei auf. Doch über die Jahre war sie zu einem Markenzeichen geworden.

Lucarelli hielt einen Moment inne, bevor er die Nummer wählte. Mit der Polizeipräsidentin verband ihn eine alte Geschichte, von der im Präsidium niemand etwas ahnte. Er war mit Charlotte Benzing an der Polizeihochschule im gleichen Semester und hatte von Anfang an ein Auge auf sie geworfen, doch sie blieb undurchdringlich und auf Distanz. Erst am allerletzten Tag des Studiums fiel ihre Maske. Lucarelli war verblüfft ob ihrer Leidenschaftlichkeit in jener einzigen Liebesnacht, von der Lucarelli keine Sekunde vergessen hatte. Danach hatten sie sich nie wieder gehört oder gesehen, bis Benzing vom Stuttgarter Innenministerium als Quereinsteigerin in die oberste Etage der Freiburger Polizei katapultiert wurde. Nach ihrer Ernennung schob sie jede Erinnerung an die gemeinsame Nacht weit von sich, und selbstverständlich verlor nie jemand ein einziges Wort darüber.

»Was gibt es denn am Tag des Herrn?«, begrüßte sie ihn nicht gerade freundlich.

»Ein noch nicht identifizierter Jogger wurde heute Morgen im Sternwald erschossen.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Irgendwelche Anzeichen für die Tat eines Wahnsinnigen, der wahllos Leute umbringt?«

»Bisher nicht. Es sieht danach aus, als ob das Opfer geahnt hätte, dass Gefahr drohte. Vermutlich war der Mann sogar bewaffnet.«

»Bewaffnet? Beim Joggen?«

»Er trug einen Pistolenhalfter.«

»Also wohl kein Serienmörder.«

»Nach dem ersten Anschein nicht.«

Die Möglichkeit eines frei herumlaufenden Serienmörders scheuchte die Medien auf. Das bedeutete für Benzing den einen oder anderen Fernsehauftritt. Lucarelli fragte sich, ob sie heiß darauf war, ihr Gesicht im Fernsehen zu sehen, so wie ihr Vorgänger Steinle, der dafür keine Gelegenheit ausgelassen hatte. Im Hintergrund miaute eine Katze. Durch das Telefon klang es fast wie ein Krähen, aber es war eine Katze.

»Halte mich auf dem Laufenden.«

4.

Lucarelli hatte das Team im Besprechungsraum versammelt. Die jungen Kriminalkommissare Benny Liebig und Pia Sperber rührten in dem Kaffee aus dem Automaten, der an einem Sonntag einzigen verbliebenen Bezugsquelle. Pia war letzte Woche Dreißig geworden. Sie war blond, schlank, ehrgeizig und, wenn sie es darauf anlegte, ziemlich attraktiv. Liebig war ein Jahr jünger. Mit seinem runden, gutmütigen Gesicht wirkte er unauffällig, kein Typ, der mit den anderen wetteiferte oder sich um jeden Preis hervortun musste. Arens war bereits in der Abteilung, als Lucarelli vor sechs Jahren das Mord-Dezernat bei der Freiburger Kripo übernommen hatte. Die beiden teilten sich das Büro und während der Jahre waren sie weit mehr als nur gute Kollegen geworden.

»Am frühen Morgen wurde im Sternwald ein noch unbekannter Jogger erschossen«, eröffnete Arens schnörkellos. »Der Tatort befindet sich oberhalb des Trimm-Dich-Pfads in Richtung Kybfelsen. Gezielter Schuss aus nächster Nähe. Das Opfer war ungefähr Mitte Vierzig, in guter körperlicher Verfassung und, vom durchschwitzten Hemd her zu urteilen, bereits eine Zeitlang im Wald unterwegs. Er hatte einen Hausschlüssel, doch weder Geld noch einen Autoschlüssel bei sich.«

»Dann wohnte das Opfer in der Nähe?«, fragte Liebig.

»Möglich« antwortete Arens. »Es gibt eine wichtige Besonderheit. Der erschossene Mann hatte einen Pistolenhalfter umgeschnallt. Wir können daraus folgern, dass er mit einem Angriff gerechnet hatte.«

Pia schüttelte den Kopf.

»Im Ernstfall eine ziemlich schwache Verteidigung, wenn sich der Täter im Wald hinter jedem Busch verstecken kann.«

»Das Opfer trug auch eine Sportuhr«, setzte Arens fort. »Es ist möglich, dass wir aus den gespeicherten Daten Informationen über die letzten Stunden des Opfers, den Zeitpunkt des Todes und vielleicht den Tathergang bekommen. Ich habe die Uhr heute Morgen noch zu Dr. Stamer in die Gerichtsmedizin gebracht. Wir sollten uns anhören, was er zu sagen hat.«

Arens griff nach dem grauen Festnetztelefon, das in der Mitte des Konferenztischs stand. Er las eine Nummer aus dem Adressbuch seines Handys ab und tippte sie ein. Als es klingelte, aktivierte er die Sprechanlage. Stamer meldete sich sofort. Er galt als kauzig und kurz angebunden. Auch heute hielt er sich nicht lange mit Begrüßungsformeln auf.

»Die Uhr hat ein GPS, sowie einen Puls- und Schrittzähler. Das GPS wurde allerdings nicht aktiviert.«

Arens und Lucarelli warfen sich einen Blick zu. Ein Mann, der sich bedroht fühlt und zum Joggen eine Pistole mitnimmt, war nicht scharf darauf, Ortungssignale zu senden.

»Aus den gespeicherten Daten lassen sich einige Information ableiten«, fuhr der Mediziner fort. »Der Mann hatte regelmäßig trainiert. Wochentags unterschied sich das Trainingsprogramm hinsichtlich von Zeit und Belastung teilweise erheblich. Am Wochenende lief jedoch oft dasselbe Programm. Jogging, etwas mehr als eine Stunde. Meistens Samstag und Sonntag.«

Stamer sprach mit einer sonoren Baritonstimme, die seinen Worten Autorität verlieh. Pia Sperber machte sich Notizen.

»Der Mann war insgesamt 41 Minuten bei einer durchschnittlichen Pulsfrequenz von 151 Schlägen die Minute unterwegs. Dabei gab es nach oben drei Ausreißer. In den Minuten 15 bis 18 oszillierte der Puls um 178 Schläge, von Minute 31 bis Minute 34 schwankte er um den Bereich von 180 herum. Danach pendelte sich der Herzschlag im Bereich von etwas unter 150 ein. Das Profil deutet darauf hin, dass der Mann zeitweise das Tempo angezogen hatte oder, was wahrscheinlich ist, in ansteigendem Gelände unterwegs war. Zwischen den beiden Ereignissen hatte er sich schnell erholt, also war die Strecke dazwischen flach oder es ging sogar bergab. Damit zur dritten Besonderheit. Drei Minuten vor dem Herzstillstand stieg der Puls von 148 auf 203. Der genaue Todeszeitpunkt war um 7 Uhr 03.«

»Gibt es dafür eine Erklärung?«, fragte Arens.

»Es könnte sein, dass der Mann versucht hat zu fliehen und während eines längeren Sprints maximal belastet hat. Ein starker Anstieg der Herzfrequenz kann allerdings auch psychosomatische Ursachen haben. Der Vergleich mit dem Trainingsdaten aus der Vergangenheit zeigt, dass das Opfer zur Tatzeit über die Strecke gesehen weniger schnell unterwegs war als üblich. Das kann auf eine Anspannung durch Stress deuten. Den zweiten Anstieg bewältigte er mit mehr als einer Minute Rückstand verglichen mit seiner üblichen Zeit.«

»Lassen Sie mich umgekehrt fragen«, schaltete sich Lucarelli ein. »Wenn der Mann stets dieselbe Strecke lief, können Sie uns sagen, ob er normalerweise zwischen Minute 35 und 40 einen Anstieg mit hoher Belastung gelaufen war? Außerdem wäre wichtig, wie weit der Mann bereits unterwegs war, bevor er erschossen wurde.«

»Die Uhr hat zwar ein GPS, aber es war wie gesagt nicht aktiviert. Wie groß war der Mann?«

»Ungefähr ein Meter achtzig«, antwortete Arens.

»Moment bitte.«

Stamer schaltete auf »remote« und aus dem Lautsprecher erklang ein Menuett von Wolfgang Amadeus Mozart. Pia setzte sich hinter den PC des Sitzungszimmers und ließ eine Leinwand hinunter. Alsbald erschien darauf ein Kartenausschnitt des Sternwalds mitsamt der umliegenden Stadtteile Waldsee, Vauban und Wiehre.

»Ich habe die von der Uhr gezählten Schritte berücksichtigt«, meldete sich Stamer zurück. »Die Schrittlänge hängt vom Laufstil und der Länge der Beine ab. Berücksichtigen muss man ebenfalls den Fitnesszustand und die Schwierigkeit des Geländes. Nach meiner Schätzung könnte der offenbar austrainierte Mann im Flachen mit ungefähr 12 bis 13 km pro Stunde unterwegs gewesen sein. Wenn ich aufgrund der Pulsmessung davon ausgehe, dass die Anstiege zum Teil steil waren und er dort langsamer vorwärtskam, könnte er bis zur Minute 38 zwischen 7,5 und 8 km unterwegs gewesen sein. In einem Szenario, in dem der Mann von Minute 38 bis zum Exitus in Minute 41 während eines Fluchtversuchs noch gesprintet wäre, kommt jedenfalls weniger als ein Kilometer hinzu. «

»Haben Sie den Verlauf der letzten Aufzeichnung mit der Wochenend-Historie verglichen?«, fragte Lucarelli.

»Selbstverständlich. Die drei Minuten nach Minute 38 waren völlig anormal. In der Vergangenheit gab es in diesem Zeitrahmen nie eine derart hohe Pulsfrequenz. Außerdem passt der Anstieg auf über 200 Schläge nicht ins Zeitschema. Die nächste Höherbelastung wäre erst später fällig gewesen. Im Durchschnitt der 82 Aufzeichnungen, die wir auf der Uhr haben, etwa zwischen Minute 46 und 50.«

»Was darauf hindeuten könnte, dass der rapide Anstieg der Pulsfrequenz nach Minute 38 bis zum Exodus auf psychischen Stress zurückzuführen ist?«

»So sehe ich das«, sagte Stamer.

»Danke, Doktor«, sagte Lucarelli. »Ich lasse die Uhr von einer Streife abholen.« Stamer legte auf. Arens verortete den Tatort auf der Karte.

»Wir können nach der Spurenlage einen Fernschuss ausschließen«, sagte er. »Der Mann wurde aus nächster Nähe erschossen. Wir müssen den Weg also ungefähr acht Kilometer zurückverfolgen. So finden wir heraus, von wo der Unbekannte losgelaufen sein könnte.«

Arens folgte mit dem Laserpointer einem Waldweg, der vom Tatort nach Südwesten führte. Am östlichen Rand von Merzhausen brachte er den kleinen roten Punkt zum Stehen. Pia schüttelte energisch den Kopf.

»Es kann genauso gut sein, dass der Mann eine gewisse Strecke zwei- oder mehrmals gelaufen ist.«

Sie streckte die Hand aus. Arens überreichte ihr den Pointer.

»Die höhere Belastung in den Pulsbereich von über 175 gab es nach der Historie in ziemlich regelmäßigen Abständen.«

Pia warf noch einmal einen kurzen Blick auf ihre Notizen. »Sie begannen um die Minuten 15, 32 und 48 und dauerten ungefähr vier Minuten. Das sieht nach drei Runden auf der gleichen Stecke aus.«

Pia zeigte mit dem Pointer vom Tatort in Richtung Norden und umkreiste die Gegend des Wiehrebahnhofs.

»Dieser Rundweg hier liegt oberhalb der Sternwaldwiese. Das Opfer könnte in der Nähe das Bahnhofs losgelaufen sein und die Strecke über die Waldseestraße und entlang des Fitnessparcours genommen haben. Genau hier könnte er dann in die Runde eingebogen sein.«

Sie zeigte auf eine Abzweigung und zeichnete den Verlauf der von ihr vermuteten Laufstrecke nach.

»Der Tatort befände sich dann etwa auf halber Distanz der dritten Runde. Ich schaue mir noch das Höhenprofil der Strecke an. Dann kann ich es mit der Merzhausen-Variante vergleichen.«

Lucarelli nickte Pia anerkennend zu.

»Warum würde ein Mörder sein Opfer erst umständlich entwaffnen und dann umbringen?«, wunderte sich Liebig.

»Damit hinterlässt er weniger Spuren«, sagte Pia.

»Die Kugel wurde im Unterholz gefunden«, sagte Arens. »Ziemlich glatter Durchschuss. Weist auf großes Kaliber.«

5.

Peter Mitzler leitete die KTU seit mehr als 25 Jahren. Über die Jahre hatte er es geschafft, sich ein weitreichendes Netz von Beziehungen aufzubauen. Sie reichten bis ins LKA, und wie Lucarelli mutmaßte, sogar noch weiter. Mit Unbehagen dachte Lucarelli an den Tag, an dem er in Pension gehen würde. Mitzler wurde letzten Monat 63, es war also absehbar. Als der Kommissar das Labor betrat, sah der Alte allerdings nicht im Mindesten arbeitsmüde aus. Im Radio lief »The lion sleeps tonight« und Mitzler trällerte, wenn auch mit eher bescheidenem musikalischem Mehrwert, ein schiefes »Wimoweh«.

»Was freut dich so, Peter?«, begrüßte ihn Lucarelli.

»Die Welt wird nicht schöner, wenn ich jeden Tag genau hinsehen muss, was die kriminelle Kundschaft so treibt. Also setze ich dem etwas entgegen. Wenn keiner da ist, stört es ja niemanden, dass ich nicht singen kann.«

Das genaue Hinsehen wurde durch eine riesige Brille verkörpert, durch die Mitzler die Welt des Verbrechens durchleuchtete.

»Und wo sind deine Leute?«

»Noch im Wald. Es hatte die Nacht über geregnet. Da gibt es vielleicht verwertbare Spuren.«

»Und warum bist du nicht im Wald?«

»Weil ich annahm, dass du wissen willst, was ich über die Mordwaffe herausfinde.«

»Erraten, Peter.«

Mitzler deutete auf den einzigen Stuhl, ein stabiles, einfaches Modell aus weiß gestrichenem Holz, das aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammte. Lucarelli setzte sich.

»Bei der Tatwaffe handelt es sich um eine Sig Sauer. PK 226, wenn du es genau haben willst. Wird unter anderem von der britischen Armee, dem amerikanischen Secret Service und den Israelis verwendet.«

Lucarelli hob die Augenbrauen.

»Und von unserer Bundespolizei«, schob Mitzler nach.

Sofort gingen Lucarelli verschiedene Szenarien durch den Kopf. Sie verhießen alle nichts Gutes. Politische Verwicklungen, Einmischung von oben und so weiter.

»Ich versuche herauszufinden, ob die Waffe irgendwo verzeichnet ist. Ich habe einen guten Kollegen beim BKA in Wiesbaden. Wenn du mal kurz um den Block gehst?«

6.

Charlotte Benzing hatte zwar das pompöse Mobiliar ihres Vorgängers übernommen, doch waren Steinles ehemalige Vorzimmerdamen nicht lange geblieben. Margit Reiser, die es ganze 15 Jahre mit Steinle ausgehalten hatte, beantragte bereits nach vier Wochen ihre Frühpensionierung, während die jüngere Kollegin wenig später ins Regierungspräsidium wechselte. Keine Frage, Benzing war unbeliebt. Als sie mit gerade Anfang Vierzig zur Polizeipräsidentin aufstieg, hatte man von einem Husarenstück des Innenministeriums gesprochen, was sich einige Neider sofort zunutze machten, sie als politikverbandelte Karrieristin zu stigmatisieren. Das Image breitete sich aus, und Benzing machte keinerlei Anstalten, etwas dagegen zu tun. Kühl blieb sie mit allen auf Distanz und ließ sich von niemandem in die Karten schauen. So vergaben ihr die Vorzimmer-Damen ihre gelegentlichen Grobheiten nicht, obwohl sie von Benzings Vorgänger Steinle an dessen dunklen Tagen vielleicht sogar noch mehr auszuhalten hatten.

Seit zwei Wochen versuchte es die Präsidentin in ihrem Sekretariat mit einem Mann, einem blonden Jüngling namens Sven. Der Neue war jedoch nicht an seinem Platz. Lucarelli durchquerte das leere Vorzimmer und trat ein. Charlotte Benzing saß hinter ihrem Schreibtisch und sah widerwillig über die Ränder einer Lesebrille von einer Aktenmappe hoch.

»Es gibt Neues von unserem Mordfall«, sagte Lucarelli nach spärlich ausgefallener Begrüßung.

»Ich bin gerade beschäftigt.«

»Das Mordopfer war Beamter des BKA. Wir konnten ihn anhand der gefundenen Pistolenkugel identifizieren.«

Benzing setzte die Brille ab.

»Der Name ist Hanno Dillenburg, 48. Seit fünfzehn Jahren beim Bundeskriminalamt. Zuletzt war er dort im Personenschutz für Bundesminister Helmuth Raab in Berlin eingesetzt. Als Raab zum Vizepräsidenten der EU-Kommission ernannt wurde, hat er Dillenburg als seinen Leibwächter nach Brüssel mitgenommen. Seither ist er beurlaubt und arbeitet dort als Beamter auf Zeit. Aber er ist immer noch Beamter des BKA.«

»Was treibt ein Leibwächter aus Brüssel im Freiburger Sternwald?«

»Hanno Dillenburg ist in Freiburg aufgewachsen und hatte vor einigen Jahren von seinem Vater eine Wohnung in der Maria-Theresien-Straße geerbt. Vorige Woche begleitete er seinen Chef zur Sitzung des Europäischen Parlaments nach Straßburg und hatte dieses Wochenende in Freiburg verbracht. Obwohl die Sitzung des Parlaments nur einmal im Monat in Straßburg stattfindet, war Dillenburg laut Zeugenaussagen häufig am Wochenende hier.«

Die letzte Bundestagswahl, für die Helmuth Raab kandidiert hatte, lag schon ein paar Jahre zurück. Lucarelli erinnerte sich, wie dessen Konterfei hundertfach von den Plakaten herunterlächelte. Das lieferte die Erklärung. Raab war unter der Woche in Brüssel, wohnte aber noch in seinem früheren Wahlkreis. Natürlich wurde er zu Hause ebenfalls von Sicherheitsbeamten beschützt. Dillenburg war daher öfter in der Gegend.

»Willst du das BKA informieren?«, fragte Lucarelli. »Die werden sicher wissen wollen, dass hier einer ihrer Beamten ermordet wurde.«

Charlotte Benzing lehnte sich zurück und sah nachdenklich auf die mannshohe Zimmerpflanze, die Sven kürzlich unter verhohlenem Gelächter der Umstehenden in den sechsten Stock geschafft hatte. Wenn sie die Angelegenheit hoch genug aufhängte, war die Bundespolizei schneller hier als der tapfere Sven gebraucht hatte, um den Hibiskus vom Parkplatz in ihr Büro zu schleppen. Lucarelli schielte auf das Dossier, in das sich Benzing vertieft hatte. Offensichtlich handelte es sich um die Budgetplanung, eine ebenso wichtige wie aufwendige Prozedur, die sie zum ersten Mal nach ihrer Ernennung als Amtschefin verantworten musste. Lucarelli schöpfte daraus Hoffnung, dass sie weder Zeit noch Lust hatte, beim BKA am großen Rad zu drehen.

»Mach du das«, entschied Benzing.

7.

Das Haus von Helmuth Raab lag in Glottertal, einem idyllischen Schwarzwalddorf am Fuß des Kandels, knapp fünfzehn Kilometer nördlich von Freiburg. Als Lucarelli eintraf, befand sich Raab bereits in einem Flugzeug in Richtung Washington. Sein Fahrer, ein hagerer Belgier namens Emil Henin, hatte ihn am Morgen zum Flughafen Zürich gefahren. Als Lucarelli eintraf, stand er auf der Garageneinfahrt und war damit beschäftigt, einen Stapel frisch gebügelter Hemden im Kofferraum eines silbergrauen, dick gepanzerten BMW zu verstauen.

Lucarelli zeigte seinen Ausweis und erklärte Henin, warum er hier war. Nach dem ersten, ungläubigen Entsetzen informierte Raabs Chauffeur den Sicherheitschef der EU-Kommission. Als er das Telefongespräch beendet hatte, ging er voran in Raabs von hohen Steinmauern umgebenes Anwesen. Der schroffe, abweisende Eindruck wandelte sich, sobald man die eiserne Sicherheitstür passiert und den Garten erreicht hatte. Der Hausherr besaß unübersehbar ein Faible für Rosen, die in verschiedenen Arten und Farben, verteilt über gut ein Dutzend Beete, die mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Gartens einnahmen. Auf der geräumigen, mit blühenden Topfpflanzen dekorierten Terrasse befand sich ein großer Esstisch mit dazu passenden Stühlen. Emil Henin machte eine einladende Handbewegung und die beiden Männer setzten sich unter den aufgespannten, grauen Sonnenschirm. Selbst hier vernahm man das laute Summen der Bienen, die sich über die Rosen hermachten. Sonst war alles still.

Der Belgier sprach ausgezeichnet Deutsch. Wie er meinte, sei Dillenburgs Ausbleiben nicht aufgefallen, da er sich bis Mitte der Woche freigenommen hatte. Durch die Dienstreisen des Chefs sammle sich bei den Leibwächtern regelmäßig eine hohe Anzahl von Überstunden an, die durch freie Tage ausgeglichen würden. Bis vergangenen Freitag habe Dillenburg Dienst gehabt. Nach seiner Ablösung um achtzehn Uhr war Henin selbst mit dem Dienstwagen vom Wohnhaus in Glottertal zum Bahnhof Denzlingen gefahren, um den Leibwächter zum Zug zu bringen.

»Wo wollte Dillenburg hin?«, wollte Lucarelli wissen.

»Nach Freiburg. Er hat in der Stadt eine Wohnung.«

»Wissen Sie, was er am Abend vorhatte?«

»Nein. Dillenburg war in letzter Zeit nicht sehr gesprächig. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass er ins Spielcasino gefahren ist. Darüber sprach er nicht.«

Henin hob die Hand und entschuldigte sich. Der Belgier schob die einen Spalt geöffnete Terassentür auf und ging ins Haus. Er wirkte auf Lucarelli ruhig und ausgeglichen, was für einen Mann, der viele Stunden täglich in unmittelbarer Umgebung eines gestressten Politikers arbeiten musste, sicher kein Nachteil war. Darüber hinaus schien er sportlich, ein Asket mit länglichem Gesicht, spitzem Kinn und tiefen Sonnenfalten um die Augen. Lucarelli stellte sich vor, wie er sich auf einem Rennrad mit zusammengebissenen Zähnen einen Alpenpass hinaufquälte, ohne der grandiosen Bergwelt oder den entlang der Straße weidenden Kühen auch nur einen Blick zu schenken. Henin stellte zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Tisch.

»War Dillenburg spielsüchtig?«, fragte Lucarelli.

»Er erzählte ab und zu, dass er gerne wettete. Vor allem Fußball hatte es ihm angetan, aber er setzte auch bei Pferderennen und Tennisturnieren. Irgendwann hatte er damit angefangen, Leute anzupumpen, und spätestens da habe ich gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmt.«

»Gab es noch weitere Hinweise?«

Henin zögerte.

»Herausgekommen ist Dillenburgs Spielsucht, als mein Fahrer-Kollege eines Abends während eines Termins in Brüssel einen Kreislaufkollaps hatte und ausfiel. Dillenburg hatte Dienst, sprang ein und setzte den Chef nach Ende des Events in seinem Brüsseler Apartment ab. Doch anstatt den Dienstwagen in die Garage zu stellen, jagte er mit ihm über die Autobahn ins Spielcasino von Namur. Dabei wurde er mit 210 Stundenkilometern geblitzt, wo in Belgien gerade mal 120 erlaubt sind. Zu allem Überfluss schrammte er auf dem Casinoparkplatz noch ein anderes Auto.«

»Und was passierte dann?«

»Die Kommissionsverwaltung wollte Dillenburg feuern, aber Raab hatte ihn beschützt. Dillenburg legte ein Attest vor, dass ihm Spielsucht bescheinigte, was sicher auch den Tatsachen entsprach. Der Deal mit der Verwaltung sah so aus, dass er bleiben durfte, doch seinen gesamten Jahresurlaub dafür verwenden musste, sich in einer Spezialklinik für Suchtkrankheiten behandeln zu lassen.«

»Wann war das?«

»Vor etwas mehr als zwei Jahren. Raabs neue Amtszeit hatte gerade angefangen. Da hatte er noch sehr viele Muskeln.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Die Mitglieder der Kommission werden von den Regierungschefs ihres Mitgliedstaates vorgeschlagen, bevor sie vom Kommissionspräsidenten und dem Parlament bestätigt werden. Gerade am Anfang der Amtszeit muss sich die Verwaltung gut mit ihm stellen, da sie noch ein paar Jahre auf ihn angewiesen ist. Gegen Ende des Mandats sieht es anders aus. Wenn etwa die Partei des Kommissars im Heimatland nicht mehr an der Regierung ist, wird er nicht mehr nominiert. Dann wird er zu einer lame duck. Niemand rührt dann für irgendwelche Sonderwünsche noch einen Finger.«

»Wenn ein Politiker Muskeln hat, bedeutet das aber noch lange nicht, dass er sie für einen unbedeutenden Sicherheitsbeamten einsetzt.«

Die Bienen wurden vom Geräusch eines Sportflugzeugs übertönt, das über das Tal in Richtung Kandel flog. Lucarelli wartete, doch Henin strich sich nur über seinen rabenschwarzen Bart.

»Hatte Dillenburg vielleicht etwas gegen Raab in der Hand? Ein persönlicher Leibwächter ist Tag und Nacht mit seiner Schutzperson zusammen. Da bekommt man einiges mit.«

»Wie ein Chauffeur auch, Herr Kommissar. Daraus ergibt sich ein Loyalitätsverhältnis.«

»Wenn er bei seiner Spielsucht rückfällig wurde, brauchte er Geld. Und der Täter kannte sich mit Dillenburgs Lauf-Gewohnheiten ziemlich gut aus.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen«, schüttelte Henin den Kopf.

»Wo waren Sie am Sonntagmorgen zwischen sechs und acht?«

»Vor dem Dienst fuhr ich mit dem Rad über Sankt Peter auf den Kandel und über Waldkirch zurück. Ich übernachte seit Jahren in der Pension Roseneck. Die Chefin hat mir erlaubt, bei ihr ein Fahrrad unterzustellen.«

»Zeugen?«

»Leider nein. Normalerweise gehe ich nebenan im Freibad noch schwimmen, aber das Wetter war nicht danach. Ungefähr um acht saß ich beim Frühstück. Fragen Sie Carola, die Wirtin.«

8.

Die Suchtklinik befand sich am Waldrand oberhalb des Kurorts Badenweiler. Lucarelli bekam einen Termin mit Dr. Christine Ganz, die während Dillenburgs Aufenthalt dessen Therapeutin gewesen war. Die ernst blickende Psychologin, nach Lucarellis Schätzung Anfang Fünfzig, beschrieb Dillenburg als gespaltene Persönlichkeit. Einerseits konnte er charmant und verbindlich auftreten und wirkte, je länger die Therapie dauerte, auf die anderen Patienten vertrauenserweckend. Andererseits litt er unter Angstzuständen und Panikattacken, deren Ursachen bis in die Kindheit zurückreichten. Hanno Dillenburg hatte ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern, die ihm Wertschätzung und Anerkennung versagten. Laut Dr. Ganz litt er besonders darunter, dass ihm sein jüngerer Halbbruder vorgezogen wurde. Während dieser in den Augen der Eltern als besonders begabt galt, stand Dillenburg in der Schule und auch im Sport immer im Schatten des Jüngeren. Der Mangel an Erfolgserlebnissen in der Kindheit, so erklärte die Psychologin, führte bei Dillenburg zu einem geringen Selbstwertgefühl. Er empfand daraus resultierend ständig den Zwang, sich Glücksmomente zu verschaffen, um sein Selbstwertgefühl zu steigern. Im Anfangsstadium seiner Spielsucht erlebte er durch einige erzielte Gewinne tatsächlich positive Erlebnisse. Doch wurde dadurch das Belohnungszentrum im Gehirn konditioniert. Er litt unter permanenter Angst und Nervosität über ein mögliches Schwinden seines Glücks, da es über seinen Erfolg entschied und auch für sein Selbstwertgefühl verantwortlich gewesen war. Typischerweise suchte Dillenburg im Verlauf der Krankheit nach neuen Reizen, die über ständig wachsende Geldeinsätze in eine Abwärtsspirale mündeten. Spielsucht, so meinte Dr. Ganz, sei nicht vollständig heilbar. Ein einmal erkrankter Patient sei nie mehr in der Lage, irgendwann wieder kontrolliert zu spielen. Wurde er ein einziges Mal rückfällig, liefen wieder genau die gleichen Prozesse ab.

»Wir haben in der Therapie versucht, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Herr Dillenburg sollte lernen, seine Impulse zu verstehen und teilweise auch mit Hilfe von Erfahrungsgruppen Bewältigungsstrategien zu entwickeln«, erklärte die Psychologin.

»Und war ihm das nach Ihrer Einschätzung gelungen?«, wollte Lucarelli wissen.

»Wir bieten nach der stationären Entlassung noch eine ambulante Nachbehandlung an. Bei Dillenburg war das schwierig, weil er beruflich viel unterwegs war. Nach der dritten Sitzung brach er ab. Bis dahin hatte ich den Eindruck, dass er stabil war. Er versuchte durch regelmäßige Waldläufe seine Selbstkontrolle zu stärken. Außerdem hatte sich Herr Dillenburg mit ein paar Patienten während der sechswöchigen Therapie angefreundet. Es hilft, wenn man bei der Suchtbekämpfung nicht allein ist. Ich hatte die Hoffnung, dass er es schaffen würde.«

»Erinnern Sie sich an die Personen, mit denen er sich hier angefreundet hatte?«

»Da müssen Sie mit der Leitung sprechen. Ich selbst darf die Namen unserer Patienten nicht herausgeben.«

9.

Im Büro angekommen, begann Lucarelli seine Espressomaschine in Gang zu setzen. Es handelte sich um eine alte Faema E-61, die noch mit Handhebeln betrieben wurde. Nur mit einiger List hatte sie Lucarelli vor dem Zugriff eines pedantischen Oberamtsrats retten können, der den Betrieb auf dem Polizeigelände zum Sicherheitsproblem erklärt hatte. Freilich, die dreigruppige Maschine wirkte ein wenig überdimensioniert, zumal Bürokollege Arens nichts von Lucarellis Kunst wissen wollte und eisern beim Tee blieb. Auch die Prozedur, die sich am Tag mehrmals wiederholte, hätte man für umständlich und zeitraubend halten können. Doch Lucarelli fühlte sich immer noch zur Hälfte als Italiener, und die Espressi aus der gut sechzig Jahre alten Maschine gehörten zu ihm, genau wie die Anzüge des berühmten Vetters aus Milano. Arens blickte vom Bildschirm seines Computers auf, als er die vertrauten Geräusche vernahm.

»Die KTU hat an der Terrassentür von Dillenburgs Wohnung in der Maria-Theresia-Straße Einbruchspuren gefunden«, sagte er. »Laut Peter Mitzler war es ein Kinderspiel gewesen, dort einzubrechen. Komisch, oder? Da nimmt Dillenburg eine Waffe mit in den Wald, aber in seine Wohnung kam man quasi mit einem Zahnstocher rein.«

»Das könnte zwei Dinge bedeuten. Die Bedrohung für Dillenburg war entweder neu oder er hatte kein Geld für eine Sicherheitstür.«

»Das letztere könnte in jedem Fall sein. Wir haben Belege gefunden, dass er auf die geerbte Wohnung vor ungefähr drei Jahren eine Hypothek aufgenommen hatte. Zweihunderttausend.«

»Dillenburg war spielsüchtig«, sagte Lucarelli. »Das kann irgendwann zu einem Fass ohne Boden werden.«

Er berichtete von seinem Gespräch mit Raabs Fahrer, das ihn in die Suchtklinik zu Dr. Ganz geführt hatte.

»Die KTU hat in der Wohnung von Dillenburg außer seinen eigenen noch Fingerabdrücke von zwei weiteren Personen gesichert«, sagte Arens. »Der Abgleich mit unserer Datenbank war negativ. Da Dillenburg viel in Belgien und Frankreich unterwegs war, checke ich das noch mit den Kollegen vor Ort. Außerdem haben wir ein offenes Handy gefunden, offenbar ein Diensthandy. Es waren sechs Kontakte eingespeichert. Eine Nummer davon gehört seinem Chef, Helmuth Raab. Pia überprüft, wann und wo die Telefone im deutschen Netz eingeloggt waren.«

Arens Handy klingelte. Er sah kurz aufs Display, dann stellte er es ab.

»Kollege Liebig ist dabei, mit der EU-Kommission über Dillenburgs Kontaktspeicher ein »who is who« zu veranstalten. Leider hat er angefangen, es auf Französisch zu versuchen. Une grande salade, kann ich nur sagen. Grauenhaft. Man muss sich die Ohren zuhalten.«

»Dillenburg hatte neben dem Diensthandy sicher noch ein privates Telefon, Mike. Das dürfte vermutlich das Spannendere sein. Wenn Liebig schon dabei ist, sein Französisch aufzufrischen, kann er gleich noch die belgischen Telefongesellschaften abklappern.«

Lucarelli streute Zucker in den Espresso, rührte einmal um und trank die Tasse aus. Im Gegensatz zum aufwändigen Prozedere der Produktion dauerte der Trinkvorgang unwirklich kurz.

»Außerdem müssen wir die Überwachungskameras auswerten. Viele gibt es nicht in der Gegend, aber vielleicht haben wir Glück.«

»Pia ist bereits dran«, sagte Arens.

10.

Lucarelli fiel auf, dass er noch nichts gegessen hatte. Gutes Essen brauchte Zeit. Ohnehin war er beim Kochen kein Experte, obwohl es anders hätte kommen können. Seine Mutter kochte fast täglich für die Familie, und weil sein Vater gutes Essen schätzte, hatte sich Helga über ihre schwäbische Hausmannskost hinaus weit in die französische und italienische Küche hinausgewagt. Doch hatten die Künste seiner Mutter nicht dazu geführt, dass er ihr über die Schulter schauen wollte. Umso mehr hatte Lucarelli versucht, seinem Vater nachzueifern, der in seiner besten Zeit in Italien einer der besten Tennisspieler war. Das gelang ihm zwar nicht, doch reichte das Niveau allemal aus, um jeden Hobbyspieler zu beeindrucken. So fügten sich die Dinge. Zu seinen Bewunderern gehörte der tennisverrückte, inzwischen sechzigjährige Restaurantbesitzer Pino, der nach zwei überstandenen Hüftoperationen ähnlich einer frisch aufgezogenen Uhr wieder sein vormaliges Pensum von täglich zwei Stunden Tennis herunterspulte.

Vor einiger Zeit überraschte Pino Lucarelli in der Umkleide mit der Frage, ob er Lust habe, mit ihm bei den Vereinsmeisterschaften im Doppel anzutreten. Lucarelli hatte seit dem Ende seiner Tenniskarriere nicht einmal im Traum daran gedacht, bei einem derartigen Turnier mitzumachen, doch hatte er Pinos flammender Bitte nichts entgegenzusetzen. Mit dem Sieg im Endspiel verbuchte der emotionale Gastwirt seinen größten sportlichen Erfolg und betrachtete seinen Doppelpartner fortan als eine Art VIP. Pino bestand darauf, dass der »Campione« mindestes zwei Mal die Woche in seinem Restaurant einkehrte. Dabei ließ er Lucarelli nicht von der Karte bestellen, sondern überraschte ihn oft mit etwas Neuem. Auf diese Weise erlebte Lucarelli eine Art Zeitreise zurück ins Elternhaus nach Stuttgart, wo Helga ebenfalls nie ein Wort über den Speisezettel verloren hatte. Nach dem gemeinsamen Grappa pflegte der Wirt einen Zettel auf die andere Seite des Tisches zu schieben, auf dem, mit dem Geschriebenen nach unten, eine einzige, dem Gehalt des Kommissars angepasste Zahl stand.

Doch gab es weitere Gründe, warum Lucarelli dem Restaurant gerne einen Besuch abstattete. Pino überließ ihm seine italienische Zeitung, im Hintergrund lief stimmungsvoller Jazz von Nina Simone oder Paulo Conte, und vor dem Grappa stellte der Chef einen Espresso auf den Tisch, der es mit seinen Eigenproduktionen aufnehmen konnte. Die Hauptattraktion war jedoch die rassige Brünette Francesca, die seit neustem drei Mal die Woche im Restaurant bediente. Ein paar Mal schon hatte sie mit Lucarelli verstohlen geflirtet, doch zu einer längeren Unterhaltung war es nie gekommen.