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Die beiden Backpacker Patrick und Sofia reisen mit dem Rucksack durch Süd-Ost-Asien. In einem Antiquitätenladen im Herzen Malaysias kommt Patrick mit einer uralten Maske des indigenen Volksstammes der Dayak in Berührung und ist fasziniert von ihrer mystischen Aura. Auf der Insel Borneo verspricht ein idyllisches Dorf Ausgangspunkt für abenteuerliche Wanderungen zu werden, doch verbirgt sich hier ein düsteres Geheimnis. Die schreckliche Vergangenheit der Maske zieht eine blutige Spur durch die Geschichte dieses Dorfes. Patrick versucht die Wahrheit ans Licht zu bringen, woraufhin sich die Traumreise der beiden Österreicher schon bald in einen regelrechten Albtraum verwandelt...
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die beiden Backpacker Patrick und Sofia reisen mit dem Rucksack durch Süd-Ost-Asien. In einem Antiquitätenladen im Herzen Malaysias kommt Patrick mit einer uralten Maske des indigenen Volksstammes der Dayak in Berührung und ist fasziniert von ihrer mystischen Aura.
Auf der Insel Borneo verspricht ein idyllisches Dorf Ausgangspunkt für abenteuerliche Wanderungen zu werden, doch verbirgt sich hier ein düsteres Geheimnis. Die schreckliche Vergangenheit der Maske zieht eine blutige Spur durch die Geschichte dieses Dorfes. Patrick versucht die Wahrheit ans Licht zu bringen, woraufhin sich die Traumreise der beiden Österreicher schon bald in einen regelrechten Albtraum verwandelt…
Für Stefanie, meine wunderbare Freundin, die in jeder Krise zu mir steht und das Leben an der Seite eines Workaholics trotz zahlreicher persönlicher Entbehrungen erträgt.
VORWORT
PROLOG
JERANTUT
SOFIA
NAGOYA
KUCHING
DER RABE
HEIMKEHR
RANGA
HOSTEL
RACHE
MIRI
PHOBIE
VERDÄCHTIGT
NANCY & HARRIS
FINN & STEFFI
ZEREMONIE
VISION
VERRAT
KELABIT
SÉMAK
GEHEIMNIS
FLUCHT
VERGANGENHEIT
DIE HÖHLE
DÉJÀ-VU
PA´LUNGAN
EPILOG
Borneo ist mit einer Fläche von 751.936 km2die drittgrößte Insel der Welt und die größte Insel Asiens.
Sie liegt im Zentrum des malaiischen Archipels und wird umringt von der malaiischen Halbinsel und Sumatra im Westen, Java im Süden, Sulawesi im Osten und den Philippinen im Nordosten.
Den größten Teil ihrer Fläche nimmt der indonesische Teil Kalimantan ein. Das Sultanat Brunei Darussalam im Norden der Insel stellt mit einer Fläche von nur 5.765 km2den kleinsten Staat Borneos dar und wird vom malaysischen Bundesstaat Sarawak umschlossen.
Bekannt ist die riesige Insel vor allem aufgrund der einzigartigen Flora und Fauna. Die Wälder Borneos gelten als die ältesten tropischen Regenwälder der Erde und beherbergen neben unzähligen Orchideensorten eine solche Vielfalt endemischer Tier- und Pflanzenarten wie kein anderer Ort der Welt. Der bekannteste Vertreter der Tierwelt ist der Orang-Utan, der zu den intelligentesten Primaten zählt.
Seit 1990 wurde bereits die Hälfte dieses tropischen Paradieses durch Brandrodung zerstört, um für Monokulturen – allem voran Palmölplantagen – Platz zu schaffen. Sofern sich diese Entwicklung nicht schleunigst stoppen lässt, wird auch das letzte Fleckchen Regenwald auf Borneo in naher Zukunft verschwunden sein – und mit ihm zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.
21. Juni 1840, Nord Kalimantan
Nagoya duckte sich so tief er konnte ins hohe Gras. Er konnte das Pochen seines rasenden Herzschlages im Hals fühlen. Seine Atmung ging schnell und flach, während er sich so klein wie möglich machte und sich flach auf den feuchten Boden presste. Die dumpfen, rhythmischen Trommelschläge mischten sich zu dem Rauschen in seinen Ohren. Schatten tanzten im blassen Mondlicht über das Gestrüpp, hinter dem er sich versteckte. Das Flackern des Feuers huschte hypnotisch wie im Takt zu den Trommelschlägen über die Felswand hinter ihm und erhellte den grauen Stein in orangeroten Farben.
Vorsichtig riskierte Nagoya einen weiteren Blick und lugte verhalten über die hohen Grashalme. Er durfte unter keinen Umständen entdeckt werden. Die Männer mit den Masken tanzten um das Feuer, wiegten vor und zurück, bewegten sich scheinbar in Zeitlupe zu den monotonen Trommelschlägen, wurden von einer Seite zur anderen gerissen, als seien sie von irgendeiner dunklen Macht besessen. Der Junge erschauderte bei ihrem Anblick. Nie zuvor hatte er solch entsetzliche Fratzen gesehen. Er hatte viele Geschichten gehört, wonach die Männer der Hangsón – ein Nomadenvolk, das nie lange an einem Ort verweilte – in ihren Zeremonien regelmäßig Kontakt zur Unterwelt und den bösen Mächten aufnahmen.
Um besser sehen zu können was rund um das Feuer geschah, robbte Nagoya lautlos weiter an den Rand der Böschung. Er zählte elf Trommler und vier Maskenträger, allesamt kräftige, muskelbepackte Männer, die um das lodernde Feuer versammelt waren.
Eine fünfte Figur tauchte aus dem dichten Urwald am Rande des Geschehens auf. Sie trug die schrecklichste der Masken: Eine Fratze so grausig und unheimlich, dass der Junge Dayak sicher war, sie würde ihn noch nächtelang in seinen Albträumen verfolgen. Der unheimliche Maskenträger taumelte in Trance auf die Feuerstelle zu. Er hielt einen dicken Strick in beiden Händen und winkte die anderen Maskierten zu sich heran. In rhythmischen Bewegungen gesellten sie sich zu ihrem Anführer. Gemeinsam zogen und zerrten sie mit vereinten Kräften an dem Strick.
Nagoya wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als auf seinem Lager in der Hütte seiner Eltern zu liegen und zu schlafen. Er wollte nicht hier sein, konnte nicht ertragen was gleich geschehen würde. Er ahnte, dass es etwas ganz und gar Schreckliches sein würde. Doch die Dimensionen dessen, was im nächsten Moment geschah, sprengten seine schlimmsten Befürchtungen noch um ein Tausendfaches.
Sein hämmerndes Herz setzte für einen Moment aus, als die Männer mit den Masken zwei schemenhafte Gestalten an dem langen Seil aus dem Dickicht des Dschungels zerrten. Je näher die beiden Silhouetten aus dem Dunkel des Waldes in den flackernden Feuerschein gezerrt wurden, desto eindeutiger erkannte Nagoya den Horror, der sich vor ihm abspielte: Ein Mann und eine Frau, an Armen und Beinen gefesselt, hingen an dem Seil und wurden Stück für Stück näher zu den Flammen geschleift. Je näher sie dem hellen Schein kamen, desto weiter schwanden Nagoyas Zweifel, dass es sich bei den beiden nicht um seine Eltern handelte.
Er biss sich auf die Faust, um nicht einen entsetzten Aufschrei von sich zu geben, als das Licht auf das Gesicht seiner Mutter fiel und das bloße Entsetzen in ihrem Blick enthüllte. Tränen schossen dem Dayak Jungen in die Augen und trübten ihm die Sicht. Sein Herz hämmerte nun so wild, dass er befürchtete, es könnte jeden Moment platzen. Er fühlte Übelkeit seine Kehle zuschnüren und musste sich zusammenreißen, sich nicht augenblicklich zu übergeben. In seiner schieren Verzweiflung wischte er die Tränen weg und spähte weiter über den Rand der Sträucher. Er musste eine Möglichkeit finden, seine Eltern aus den Fängen dieser Unmenschen zu befreien, denn er ahnte bereits was diese Gottlosen mit ihnen anstellen würden. Sein Blick überflog das Gelände, suchte nach einer Waffe, die er sich schnappen und die Hangsón damit in die Flucht schlagen konnte. Irgendetwas – einen schweren Ast oder einen harten Gegenstand – er musste einfach etwas finden. Neben ihm lag ein großer Stein, der schwer genug war, um einem Mann sogar durch eine Holzmaske den Schädel einzuschlagen, aber nicht so schwer, dass er ihn nicht würde aufheben und damit loslaufen können. Mit eisernem Griff umschloss er den Stein, atmete mehrmals tief durch und wollte gerade aufspringen, als ein Schrei die Nacht zerriss.
»NAGOYA! Mein Junge! Wo immer du bist, halte dich fern von den Hangsón! Das sind Wilde, die…«, schrie sein Vater, ehe ihn der Schlag eines dicken Astes mit voller Wucht im Gesicht traf und seine Stimme abrupt erstarb.
Er war gefesselt vor dem Feuer auf die Knie gefallen, hatte seinen Kopf zum Himmel erhoben und so laut er konnte geschrien, bis ihn einer der Maskenträger mit dem Stock getroffen hatte. Schlagartig war er verstummt und zu Boden gesunken, wo er nun zuckend in einer Blutlache lag, die sich pulsierend um ihn herum ausbreitete. Die Frau hinter ihm kreischte aus Leibeskräften und versuchte sich schützend über ihren Mann zu werfen, wurde aber vom Anführer der Hangsón an den Haaren gepackt und zu Boden geschleudert. Zwei der Maskierten lösten die Knoten des langen Seiles und banden ihre Opfer los. Die anderen beiden Maskenträger traten zu dem leblosen Körper des Mannes, packten ihn an Armen und Beinen und warfen ihn achtlos in das lodernde Feuer, wo er mit einem dumpfen Aufschlag landete und reglos liegen blieb.
Nagoya wusste, dass sein Vater bereits tot sein musste, da sich sein Körper in den lodernden Flammen kein bisschen mehr bewegte. Tränen rannen ihm nun in Bächen über das Gesicht. Er tobte innerlich, wünschte sich nichts inniger, als den Stein aufzuheben und damit auf diese Gottlosen einzuschlagen, aber er respektierte seinen Vater zu sehr, um dessen Befehl zu ignorieren, sich von den Hangsón fernzuhalten.
Er wusste, dass er nichts mehr tun konnte, weder für seinen Vater noch für seine Mutter, beide waren verloren. Nagoya konnte nicht mitansehen, welche Gräueltaten seiner nackten Mutter angetan wurden. Wimmernd und zitternd kauerte er mit zusammengekniffenen Augen hinter dem Sträucherwerk und schluchzte lautlos vor sich hin. Er weinte stumm, aber bitterlich aus tiefstem Herzen und betete zu seinen Ahnen, dass er nicht selbst entdeckt werden würde.
Die Schreie seiner Mutter hielten sich noch lange in der schwarzen Nacht. Die Stunden schienen endlos lange zu verstreichen, ehe die Gottlosen endlich von ihr abließen und ihr schmerzerfülltes Wimmern mit einem Stockschlag beendeten. Der dumpfe Aufprall und das auflodernde Knistern verrieten Nagoya, dass auch ihr Körper in das Feuer geworfen worden war. Das Trommeln verstummte abrupt und die Dunkelheit legte sich wie ein alles erstickender Mantel über Nagoya, der in einer Pfütze aus Tränen, Erbrochenem und stinkendem Urin zusammengekauert in seinem Versteck lag und nun den eigenen Tod herbeisehnte…
04. Mai 2010, Jerantut
Der allmorgendliche Ruf des Muezzins drang blechern verzerrt aus den elektronischen Lautsprechern der benachbarten Moschee. Nach und nach setzten weitere Gebetsrufe von den Minaretten der umliegenden Gotteshäuser ein und hallten im Kanon durch die Morgendämmerung.
»Allāhu akbar! Ašhadu an lā ilāha illā llāh…«, erklangen die Gesänge durch die menschenleeren Straßen von Jerantut, einer kleinen Stadt im Herzen Malaysias.
Patrick schwang sich aus dem Bett und trat an das kleine Fenster des Hostelzimmers, um einen Blick nach draußen zu werfen. Dicke Nebelschwaden hingen tief über den sumpfigen Feldern am Rande des Regenwaldes, der die Stadt wie ein Zaun umringte. Erste Sonnenstrahlen brachen in schillernden Farben durch die dunstige Morgenluft und erzeugten hier und da kleine Regenbögen. Feiner Tau rann in winzigen Tröpfchen vom saftig grünen Blattwerk der Palmen, die das schmutzige Glas des Fensters streiften, wenn sie sich in der zarten Brise bewegten. Patrick stand eine ganze Weile lang nur da und betrachtete verträumt die idyllische Stimmung, die sich draußen abzeichnete.
Im Bett hinter ihm regte sich nun auch Sofia. Er drehte sich um und sah seine Freundin an, die gähnend unter dem dünnen Laken hervorlugte und sich das Kissen an die Ohren presste.
»Müssen die jeden Morgen so einen Lärm veranstalten? Hier könnte ich echt nicht leben… Nicht mal ausschlafen kann man hier…«, schimpfte sie, drehte sich um und verkroch sich noch tiefer unter ihrer Decke.
Patrick schüttelte stumm den Kopf und wandte sich wieder dem Fenster zu. Es ärgerte ihn, dass seine Freundin einfach keinen Sinn dafür hatte, die Idylle zu erkennen in der sie eben aufgewacht waren. Stattdessen war sie lieber grantig, weil sie ein paar Minuten bevor der Wecker ohnehin geklingelt hätte, von den orientalischen Gebetsgesängen geweckt worden war.
»So, raus aus den Federn, wir haben einen langen Weg vor uns!«, rief er wenige Minuten später, als der Wecker tatsächlich klingelte.
Er riss ihr die Decke weg und sprang auf dem Bett auf und ab, bis Sofia schließlich nachgab und mit zornigem Blick ins Bad schlurfte. Patrick verstaute die wenigen Habseligkeiten, mit denen sie unterwegs waren, in den großen Rucksäcken und wartete geduldig, bis seine Freundin endlich aus dem Badezimmer kam.
»Du siehst doch schon ganz fit aus, mein Schatz!«, zwinkerte er ihr schmunzelnd zu, warf sich den schweren Rucksack auf die Schultern und hob auch den von Sofia vom Boden auf, um ihr dabei zu helfen hineinzuschlüpfen.
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und trottete wortlos hinter ihm her aus dem Zimmer. Der dunkle Gang des heruntergekommenen Hostels wirkte zu der frühen Stunde düster und unheimlich. Außer ihren Schritten, die durch den leeren Korridor hallten, war kein Laut zu hören. Sie schienen die einzigen beiden Gäste zu sein, die bereits wach waren. Auch der Rezeptionist schlief quer über drei Stühle ausgebreitet hinter seiner Theke versteckt und zeigte auch keine Regung, als Patrick den Zimmerschlüssel klimpernd auf den Tresen legte. Leise, um den Rezeptionisten nicht zu wecken, schlichen die beiden hinaus und machten sich auf die Suche nach dem Busbahnhof.
Es war erst kurz nach 6:00 Uhr, als sie die menschenleeren Straßen hinab marschierten, aber die tropische Hitze lag bereits so drückend schwer in der Luft, dass ihnen das Atmen schwerfiel und der Schweiß aus allen Poren gepresst wurde. Sie waren nun schon eine Weile in Malaysia, aber an die Hitze hatten sie sich immer noch nicht richtig gewöhnt, zumal es hier im Landesinneren noch schwüler zu sein schien als am Strand, wo immer eine kühlende Brise wehte. Hier stand die Luft jedoch regelrecht still und die ungeheuren Wassermengen, die vom tropischen Regenwald ‚ausgeschwitzt‘ wurden, machten einen Aufenthalt im Freien unerträglich.
»Gott sei Dank sind wir bald wieder weg von hier!«, gab Sofia plötzlich von sich.
Sie spuckte die Worte geradezu aus, so angewidert schien sie von Jerantut zu sein.
»Ach komm, so schlimm ist es nun auch wieder nicht, dass dich der Muezzin heute geweckt hat…«, erwiderte Patrick beschwichtigend.
»Der Muezzin ist mir doch scheiß egal! Ich spreche von gestern Abend! Scheiß Rassisten sind das hier! Alle miteinander…«, fluchte sie weiter.
In der Tat musste ihr Patrick zugestehen, dass sie in diesem Punkt leider Recht hatte. Sie waren gestern spät abends mit dem Bus aus Kuala Besut angekommen und im erstbesten Hostel eingecheckt, das sie in der Nähe des Busbahnhofes gefunden hatten. Nicht nur, dass das Zimmer überaus heruntergekommen gewesen war, auch der Rezeptionist war ihnen alles andere als offenherzig begegnet.
»Naja, ich habe dir gleich gesagt du solltest dir lieber ein Kopftuch aufsetzen«, gab Patrick nun selbst etwas ärgerlich zurück.
Ihre schlechte Laune schien allmählich auf ihn abzufärben. Er hasste es, wenn seine Freundin unausgeschlafen war und sich wie ein kleines Kind verhielt. Aber noch mehr hasste er es, wenn sie dann auch noch recht hatte. Sie waren tatsächlich in dem verschlafenen kleinen Nest Jerantut wie Aussätzige behandelt worden.
»Sonst noch was! Beim Besuch religiöser Stätten oder anderen respektablen Sehenswürdigkeiten bin ich da sofort dabei, aber in diesem Bauerndorf hier verschleiert rumzulaufen kommt ja gar nicht in Frage! Ich habe auch kein Problem damit, wenn in Wien oder sonst wo bei uns in Österreich jemand seine Religion ausüben will und sich verschleiert, aber so wenig wie ich von denen verlange das Kopftuch abzunehmen, können sie von mir verlangen es zu tragen! Punkt!«, redete sie sich nun selbst in Rage.
»Naja, die fühlen sich hier halt nicht respektiert, wenn du mit Spaghetti-Top im Restaurant auftauchst…«, setzte Patrick an, wurde aber von Sofia unterbrochen: »Restaurant?! Das war eine verkackte Straßenküche, wenn ich mich recht erinnere! Wir sind scheiß Touristen hier, die Kohle bringen und keine Einheimischen, die sich an den Koran halten müssen!«
Er wusste, dass es zwecklos war, weiter mit ihr zu diskutieren und ließ die Sache auf sich beruhen. Die Erinnerungen an den Vorabend waren auch für ihn sehr ärgerlich.
Zusammen mit ein paar anderen hungrigen Backpackern aus ihrem Hostel waren sie auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit zu einem Streetfood-Corner spaziert. Die Gruppe war so groß gewesen, dass sie einen ganzen Tisch besetzt hatten. Trotz der späten Stunde waren die kleinen Straßenküchen gut besucht gewesen. Rund herum wurden köstlich duftende Speisen serviert, aber sie hatten vergeblich darauf gewartet, bedient zu werden. Die Kellnerinnen, die ausnahmslos alle Burkas und Hijabs getragen hatten, ignorierten die Reisenden vehement, was wahrscheinlich daran gelegen hatte, dass die meisten Mädels in ihrer Gruppe zu leicht bekleidet gewesen waren. Sie hatten mehrmals die Küche aufgesucht und etwas bestellt und letztendlich wurden auch vereinzelte Speisen serviert, wobei die Männer zuerst bedient wurden. Ein nettes Abendessen war es aber nicht gewesen, da sich die Prozedur über knapp zwei Stunden gezogen hatte und das nächste Gericht erst serviert wurde, nachdem ein Teller leer war.
An den Nachbartischen hatte es so gemütlich gewirkt, wie ganze Großfamilien zusammengesessen und gemeinsam die Berge von Köstlichkeiten geteilt hatten. Am Touristentisch zog man hingegen lange Gesichter und die von der langen Anreise ausgehungerten Mädels quengelten mit knurrenden Mägen über den schrecklichen Service. Keine Frage – man hatte sie in ihren Hotpants und schulterfreien Tops nicht geduldet und das hatte man sie auch spüren lassen.
»Eines sage ich dir, wenn das auf Borneo nicht besser wird, dann verlassen wir Malaysia schnurstracks und fliegen nach Laos oder Vietnam oder sonst wohin! Hauptsache weg aus diesem Islam-Wahn!«, endete Sofia ihre Hasstirade.
»Ich glaube nicht, dass es dort so krass sein wird wie hier. In Kuala Lumpur war es ja auch kein Problem und auf den Perhentians auch nicht, also entspann dich jetzt mal wieder, sonst weiß ich nicht, ob ich im Bus neben dir sitzen kann, wenn das jetzt den ganzen Weg so weitergeht«, seufzte Patrick und versuchte ein Lächeln aufzusetzen.
Er sog die dampfend schwüle Morgenluft ein und versuchte die mürrischen Blicke seiner Freundin zu ignorieren. Die morgendliche Stimmung mit den tiefhängenden Nebelschwaden war einfach überwältigend. Zu schön, um sich dieses zauberhafte Bild von den üblen Launen seiner Freundin vermiesen zu lassen.
»Die Perhentians waren tatsächlich wundervoll…«, schwärmte Sofia nach einer Weile.
Sie waren stumm nebeneinander hergegangen, jeder in seine Gedanken vertieft.
»Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder einen so perfekten Strand zu finden wie unseren ‚RBC‘«, sagte sie verträumt.
‚RCB‘ stand für ‚Robinson-Crusoe-Beach‘. So hatten sie den Strand getauft, den sie entdeckt hatten, als sie auf Pulau Perhentian Kecil vom D’Lagoon Chalet aus mit einem kleinen Motorboot die beiden Inseln Kecil und Besar umrundet hatten. Zwischen dem ‚Adam and Eve Beach‘ und dem ‚Isabelle Beach‘ hatten sie eine kleine Bucht entdeckt, die nur mit dem Boot erreichbar und auf der Karte nicht eingezeichnet war. Der strahlend weiße Sandstrand war von kristallklarem türkisfarbenem Wasser zur einen Seite und felsigen Klippen, auf denen der mächtige Regenwald thronte zur Inselseite hin, vollkommen vom Rest der Welt abgeschottet gewesen. Prachtvolle Korallenriffe, in denen sich bunte Fische tummelten, lagen dicht unter der Wasseroberfläche und verliehen der paradiesischen Idylle ein Postkarten-Flair, wie es die beiden bisher nur aus überzeichneten Werbereklamen gekannt hatten. Mit ihrer Schnorchelausrüstung waren sie stundenlang in den warmen Fluten getaucht, hatten Papageifische und Meeresschildkröten beobachtet und sogar einen Schwarzspitzen-Riffhai gesehen, der majestätisch seine Bahnen um das Korallenriff zog.
Der Strand hatte keinen eigenen Namen auf der Landkarte, weshalb sie ihn kurzerhand selbst benannt hatten. Sie hätten sich keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen können, wenn sie nach einem Boots-Unglück auf einer einsamen Insel gestrandet wären. Und dazu wäre es beinahe auch gekommen. Die Fahrt hatte nämlich ebenso abenteuerlich geendet, wie sie begonnen hatte. Auf der Rückfahrt von Besar nach Kecil war ihnen etwa auf halbem Weg der Sprit ausgegangen und die kleine Nussschale lief ernsthaft Gefahr, aufs offene Meer hinaus geschwemmt zu werden. Patrick hatte Blut geschwitzt, angesichts der Tatsache, dass das wahrscheinlich ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Panisch hatte er jeden Tropfen aus den vier Benzinkanistern, die ihnen der Vermieter mit auf den Weg gegeben hatte, mit penibler Sorgfalt in den Tank geträufelt und erleichtert festgestellt, dass der Motor wieder angesprungen war. Mit Ach und Krach hatte er es geschafft, das kleine Boot zurück zum D’Lagoon Chalet zu steuern und sich nach seiner Ankunft nichts sehnlicher gewünscht als ein kühles Bier zu trinken. Aber leider war das in dem streng muslimischen Land gar nicht so einfach aufzutreiben gewesen, also hatte er sich mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft zufriedengeben müssen.
»Ich befürchte, ich werde nie wieder einen Strand schön finden können, egal wie malerisch er auch sein mag, nachdem ich jetzt auf dem ‚RCB‘ war…«, riss ihn Sofias Stimme aus seinen Erinnerungen.
»Ich fürchte da hast du leider recht«, gab er zurück.
»Ach, wir hätten viel länger auf den Perhentian Inseln bleiben sollen. Hier ist es echt scheiße dagegen!«, quengelte sie weiter.
»Also manchmal bist du wie ein kleines Kind, weißt du das?«, gab Patrick wütend zurück. »Reiß dich jetzt mal ein bisschen zusammen mit deiner ständigen Jammerei! Ich habe echt schön langsam das Gefühl, mit einem Kleinkind unterwegs zu sein.«
Sofia zog einen Schmollmund und stapfte wortlos weiter neben ihm her. Patrick wusste, dass sie einfach nur müde war. Sie war immer mürrisch, wenn sie zu wenig Schlaf bekam, also versuchte er sie zu beschwichtigen: »Morgen um diese Zeit sind wir schon in Kuching auf Borneo. Ich kann’s kaum erwarten die Orang-Utans zu sehen.«
Er wusste, dass sie Tiere liebte und wollte sie auf andere Gedanken bringen.
»Ohjaaaa!«, entgegnete sie freudig.
Zum ersten Mal seit den unangenehmen Begebenheiten am Vorabend zierte wieder ein Lächeln ihr hübsches Gesicht.
Die Sonne brannte auf die beiden herab, als sie ihre schweren Rucksäcke die staubige Straße hinunterschleppten. Der Geruch nach verdunstendem Tau wich zunehmend dem Gestank einer asiatischen Kleinstadt, je näher sie dem Busbahnhof kamen. Abgase unzähliger Mopeds und Kleinlaster, die sich im Zentrum schon zu dieser frühen Stunde durch die schmutzigen Straßen schoben und der kratzige Rauch kleiner Müllhäufchen, die achtlos in den Vorgärten verbrannt wurden, dominierten das Geruchsbild Jerantuts. Die letzten Gläubigen drängten aus den unzähligen Moscheen und wuselten eifrig durch die engen Gassen zwischen den heruntergekommenen Häusern.
Patrick wunderte sich, wie zu so früher Stunde bereits so hektisches Treiben herrschen konnte. Er ging voran und lotste Sofia durch die Menschenmassen, die sich vor den zahllosen Straßenküchen und kleinen Geschäften tummelten. Ganz im Gegensatz zu seiner Freundin hatte er ein ungeheures geografisches Gespür und wurde scherzhaft von seinen Freunden oft als ‚wandelnder Kompass‘ bezeichnet. Er wusste, dass Sofia in den vielen kleinen Gässchen verloren gehen würde, wenn sie ihn aus den Augen verlor. Also achtete er tunlichst darauf, dass sie dicht hinter ihm blieb und musste sie im dichten Gedränge oftmals an der Hand nehmen und hinter sich herziehen. Sie liebte es zu shoppen und Patrick wusste, dass sie nur allzu gerne an einem kleinen Marktstand anhielt, um Ohrringe oder sonstigen Plunder zu bewundern, wenn er sie nicht mit sich zog.
»Schau mal, was die für schöne Lampen haben!«, rief sie plötzlich, riss sich von seinem Griff los und verschwand in einem der kleinen Läden.
Patrick seufzte ungeduldig, machte jedoch kehrt und folgte ihr in das Geschäft.
»Wunderschön! Einfach zauberhaft!«, rief sie entzückt und drehte eine kleine Öllampe aus Messing zwischen ihren Fingern, um sie von allen Seiten zu betrachten.
Das bunte Mosaikglas glitzerte in allen Farben im Sonnenlicht, das flach durch einen Spalt in der Türe in den schmuddeligen kleinen Laden fiel.
»Wie willst du das Ding denn die restliche Reise über mitschleppen, ohne dass sie zerbricht?«
»Ach, ich wickle sie in ein paar T-Shirts. Das geht schon«, gab sie immer noch entzückt zurück, ohne den Blick von der kleinen Lampe zu nehmen.
Patrick schüttelte den Kopf und sah demonstrativ auf die Uhr.
»Wäre es denn nicht wundervoll, wenn wir am Abend vor unserer Hütte auf Borneo sitzen und uns dieses süße Ding hier Licht spendet? Und so romantisch…«, schwärmte sie.
»Wenn sie bis dahin nicht bereits in 1.000 Teile zerschlagen ist. Du hast doch gesehen, wie die Busfahrer mit den Gepäckstücken umgehen«, gab er nun etwas ungeduldig zurück.
Tatsächlich hatten sie auf ihrer Reise durch Süd-Ost-Asien bereits mehrfach beobachtet, wie ihre Rucksäcke beim Be- und Entladen der überfüllten Busse und Minivans achtlos von den Gepäckträgern auf den Dächern der klapprigen Vehikel auf die Straße geworfen wurden. Patrick bezweifelte ernsthaft, dass das dünne Glas eine solche Landung überleben würde, ganz gleich wie gut sie es in ihre Kleidungsstücke einwickelte.
»Die 40 Ringgit riskiere ich«, sagte sie trotzig und streckte dem Verkäufer die Geldscheine hin.
»No no! 80 Ringgit!«, sagte der Verkäufer.
»45!«, handelte Sofia mit steinerner Miene.
Im Feilschen war Sofia ein Ass. Sie schaffte es oftmals sogar noch bessere Preise zu erzielen, als die Einheimischen selbst und brachte so manchen gewitzten Geschäftsmann damit zur Weißglut. Der kleine Malaysier nahm ihr die Lampe aus der Hand, drehte sie um und deutete auf das Etikett, auf dem tatsächlich ‚80 RM‘ geschrieben stand.
»OK, 50! Letztes Angebot!«, hörte Patrick seine Freundin noch sagen, ehe er sich abwandte und durch den Laden schlenderte, während sie munter weiterverhandelte.
Das kleine Geschäftslokal war zum Bersten vollgestopft mit allem nur erdenklichen Ramsch und Kram. Handgeschmiedete und mit Liebe zum Detail gravierte Leuchter und Kerzenständer zierten die Regale, in denen sich alte Bücher, Schatullen und geflochtene Wandteppiche aneinanderreihten. In einer Ecke stand ein präpariertes Elefantenbein, welches mit einem Ziegenfell überspannt und offensichtlich zu einem Hocker umfunktioniert worden war. Es roch muffig nach abgestandener Luft in dem kleinen Laden. Der beißende Gestank von Mottenkugeln war allgegenwärtig und reizte Patricks Nasenschleimhaut. Staunend betrachtete er die unzähligen, teilweise kurios oder gar verrückt anmutenden Dinge, die es hier sonst noch zu kaufen gab. Einige der Gerätschaften konnte er keinem eindeutigen Verwendungszweck zuordnen. Fragend musterte er ein Metallgestell, an dessen Enden hakenförmige Spitzen hingen.
Das Rascheln einer riesigen Schabe riss Patrick aus seinen Gedanken. Aufgeschreckt flitzte das beinahe handflächengroße Insekt hinter dem Metallkonstrukt hervor, eilte quer über den dreckigen Boden und huschte an der gegenüberliegenden Wand hoch. Patrick folgte ihr mit seinem Blick. Geschnitzte Holzmasken grinsten mit verzogenen Grimassen von der Wand auf ihn herab. Die Schabe hatte hinter einer der Masken Zuflucht gesucht. Ihre raschelnden Laute drangen dumpf hinter der Fratze hervor. Ab und an huschte ihr Schatten zwischen den leeren Augenhöhlen umher, was dem verzerrten Gesicht etwas unheimlich Lebendiges einhauchte.
Gebannt trat Patrick näher an die Masken heran und betrachtete sie genauer. Es war, als würde ein leises Flüstern von ihnen ausgehen, das ihn in seinen Bann zog und mit jedem Schritt, den er näher kam, lauter zu werden schien. Er streckte die Hand aus und berührte die Maske, um sie von der Wand zu nehmen und das Insekt zu verscheuchen. Ein Stich durchzuckte ihn, als seine Fingerspitzen das schwarz bemalte Holz berührten. Plötzlich packte eine Hand seine Schulter und drehte ihn unvermittelt auf der Stelle herum.
»Wir müssen los! Der Bus wartet nicht«, sagte Sofia und wedelte freudig mit einem Päckchen in der Hand.
»Wir haben uns auf 50,- Ringit geeinigt«, strahlte sie und verstaute es sorgfältig in ihrem Rucksack.
»Einen Augenblick noch«, bat Patrick und wandte sich an den Verkäufer.
»Was hat es mit diesen Masken auf sich?«, fragte er den Verkäufer auf Englisch.
»Oh!«, gab der Händler zurück und senkte seine Stimme.
»Das sind uralte, traditionelle Masken der Lun Bawang. Dieser indigene Volksstamm auf Kalimatan, dem indonesischen Teil Borneos, steht in enger Verbindung mit den Kelabit. Vor hunderten von Jahren wurden diese Masken durch die Hangsón, einem kriegerischen Nomadenstamm, von den friedliebenden Lun Bawang gestohlen. Ursprünglich hatten die Masken die Aufgabe, Schamanen und Medizinmänner mit den tiefen des Universums und ihren Ahnen zu verbinden. Die Hangsón aber trugen sie während der Anrufung böser Geister. Sie galten als äußerst blutrünstig und brutal und so färbte das Böse nach und nach auf die Masken ab. Man spricht auch heute noch den Fratzen eine direkte Verbindung zur Unterwelt zu. Heutzutage gibt es kaum noch Schamanen, die den Geister- und Totenkult betreiben. Diese Masken sind seit Generationen im Besitz meiner Familie. Mein Ur-Urgroßvater war ein Kelabit Häuptling, der sie seinerseits von einem anderen Dayak Häuptling erhalten hatte. Mit der eindringlichen Bitte sie zu vernichten, um den bösen Geistern der Unterwelt keine Möglichkeit mehr zu bieten, in diese Welt zu gelangen oder mit ihr Verbindung aufnehmen zu können«, erzählte er mit mystisch flüsternder Stimme.
Seine Augen wurden trübe und nachdenklich, als er fortfuhr: »Als mein Ur-Urgroßvater sie im Feuer verbrennen wollte, passierte ein schrecklicher Unfall. Keiner weiß genau was passiert ist. Er wurde von meinem Urgroßvater am nächsten Morgen tot aufgefunden. Verbrannt! Vollkommen verbrannt und kaum noch zu identifizieren war er gewesen, aber die Masken waren heil und unversehrt. Mein Urgroßvater wusste, dass es zu gefährlich war, die Bande zur Unterwelt auf derartige Weise zu sprengen, also wickelte er die Masken in Leinentücher und versperrte sie in einer Kiste. So wurden sie von Generation zu Generation weitergereicht. Als mein Vater starb und ich die Kiste erbte, habe ich mir gedacht, die Masken könnten für gutes Geld an Touristen oder Forscher verkauft werden. Aber bis heute kam nie ein Verkauf zustande. Im letzten Moment ist jeder Interessent abgesprungen. Ein skandinavischer Anthropologe erlitt sogar einen Herzinfarkt, in dem Moment, in dem er mir das Geld reichen wollte. Er starb an genau dieser Stelle, wo du gerade stehst.«
Patrick sah zu Boden und erschauderte. Der Händler lachte schallend auf.
»Das war selbstverständlich nur ein blöder Zufall, wenn du mich fragst! Der Preis, den ich dafür haben wollte, war sehr hoch. Wahrscheinlich ist ihm das einfach zu viel geworden. Der Mann war auch alt. Er hat stark geschwitzt und war schon bleich, als er den Laden betreten hatte. Ich glaube nicht an Flüche und die Unterwelt, also kann ich sie ruhigen Gewissens verkaufen. Für 1.000,- Ringit gehört eine der Masken dir. Na, was sagst du?«, setzte er nach und streckte die Hand aus, um zu verdeutlichen, dass er tatsächlich nichts von den Geschichten hielt.
»Vielen Dank, aber ich wüsste nicht, wie ich das Ding die nächsten Wochen mit mir rumschleppen sollte«, erwiderte Patrick, dessen Nackenhaare sich vor Schauer aufgestellt hatten.
Er spürte, dass er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen hatte und fröstelte, trotz der erdrückend heißen Temperatur in dem kleinen Laden. Die Miene des Verkäufers verdüsterte sich für einen Moment, ehe ein fieses Lächeln über sein Gesicht huschte und den Blick auf einen glänzenden Goldzahn in der oberen Zahnreihe freigab.
»Ich kann sie dir auch nach Hause senden. Die Versandkosten würde ich sogar für dich übernehmen«, sagte er und streckte erneut die Hand aus, um das Geschäft abzuschließen.
Das Flüstern, das immer noch von der Maske auszugehen schien, hallte in Patricks Ohren wider. Er fühlte, wie kalter Schweiß aus allen Poren sickerte. Schwindel breitete sich in seinem Kopf aus.
»Kommst du endlich!«, rief Sofia ungeduldig zu ihm herüber.
Sie stand bereits im Türrahmen und sah demonstrativ auf ihre Uhr.
»Vielen Dank, ich muss jetzt los. Auf Wiedersehen!«, verabschiedete sich Patrick und hastete seiner Freundin nach zur Türe hinaus.
Das grelle Sonnenlicht auf der Straße blendete ihn. Erst jetzt fiel ihm auf, wie düster es tatsächlich in dem kleinen Geschäft gewesen war. Obwohl es drückend schwül in den Straßen war, kam es ihm deutlich kühler vor als in dem Ramschladen. Er schüttelte den letzten Rest der gruseligen Gedanken ab, die ihm der Händler in den Kopf gesetzt hatte und eilte Sofia nach. Schnurstracks marschierte sie in die Richtung, in der sie den Busbahnhof vermutete. Selbstverständlich war es die falsche Richtung und so übernahm Patrick wieder die Führung und lotste sie weiter durch die engen Gassen und Zwischenhöfe.
Sie erreichten den Ticketschalter eine halbe Stunde vor der Abfahrt. Eine lange Schlange hatte sich davor gebildet. Aus der Menschenmasse, die sich vor dem kleinen Kiosk drängte, ragten vereinzelte Hände mit Geldscheinen in die Höhe, mit denen wild gewedelt und dazu lauthals geschrien wurde.
»Oh Gott, da bekommen wir doch nie ein Ticket bis der Bus abfährt!«, stöhnte Sofia entsetzt.
»Lass mich das machen. Pass du so lange auf die Rucksäcke auf«, antwortete Patrick, streifte seinen Rucksack ab und legte ihn vor ihren Füßen in den roten Staub des heißen Bodens.
Entschlossen kämpfte er sich den Weg durch die Menge zum Ticketschalter. Zu seinem Erstaunen wichen die Einheimischen vor ihm zur Seite und schoben ihn teilweise sogar nach vor, damit er schneller an die Reihe kam.
Kurze Zeit später kehrte er stolz mit zwei Fahrkarten zurück. Erst jetzt bemerkte er das laute Grummeln in seinem Magen. Es blieb noch etwas Zeit, bis der Bus eintreffen würde, also machten sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem, bevor sie die mehrstündige Fahrt antreten würden. Die unzähligen Straßenküchen verströmten einen köstlichen Duft nach gebratenen Satay-Spießen, der die stickige Luft rund um den Busbahnhof erfüllte.
Nachdem sie gemeinsam eine Portion Nasi Goreng, dem malaysischen Nationalgericht, das aus gebratenem Reis, Gemüse, Eiern und kleingeschnittenen Hühnchen-Stücken bestand, verspeist hatten, suchten sie Zuflucht im Schatten des Busbahnhofes. Der Wartebereich zwischen den Haltestellen der einzelnen Linien war mit löchrigen Wellblechen überdacht. Die rostigen Stahlbleche waren durch die Glut der Vormittagssonne bereits so aufgeheizt, dass sie wie riesige Herdplatten die Hitze fast ungehindert auf die Wartenden herabstrahlten. Das scharfe Reisgericht trieb den beiden den Schweiß noch stärker aus allen Poren. Patrick spürte seinen Kreislauf rebellieren. Sein Blutdruck sackte immer weiter in den Keller und so nippte er unentwegt an seiner Wasserflasche und versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren.
»Hier«, sagte Sofia und reichte ihm ein Stück Traubenzucker.
»Danke. Wieso wusstest du, dass mir etwas schwindelig ist?«, fragte er und bemerkte, wie zittrig seine Stimme wirkte.
»Ich würde ja gerne behaupten, dass es reine Intuition war, aber du bist gleich von der Wand hinter dir nicht mehr zu unterscheiden, so weiß bist du im Gesicht«, grinste sie frech zurück.
Patrick musste lachen und verschluckte sich an seinem Wasser. Nachdem der süße Geschmack des Traubenzuckers wieder aus seinem Mund verschwunden war, bemerkte er erst wie widerlich das warme, abgestandene Wasser in seiner 1,5L PET-Flasche schmeckte. Es hatte einen stark chlorhaltigen Nachgeschmack, der durch die Süße, die soeben noch seine Geschmacksknospen penetriert hatte, nun um ein Vielfaches verstärkt zur Geltung kam. Die Welt vor seinen Augen begann sich langsam zu drehen, als er einen weiteren Schluck aus der Flasche nahm. Er spürte das letzte bisschen Blut aus seinem Kopf in den Hals sickern und konnte sich im letzten Moment nach hinten sinken lassen, bis er den warmen Boden berührte. Die Füße hatte er auf den Rucksack gelegt, um dem sauerstoffhaltigen Blut das Hinauffließen in sein Gehirn zu erleichtern.
»Ich weiß das ist jetzt ein blöder Zeitpunkt, aber der Bus ist da.«
Sofia war über ihm aufgetaucht und sah besorgt auf ihn herab.
»Geht schon wieder«, ächzte Patrick.
Er fühlte zwar bereits, wie die Glucose begann seinen Körper zu fluten und seine Zellen mit neuer Energie zu versorgen, aber er war schwach und zittrig als er sich hochrappelte und seinen Rucksack wieder schulterte. Helle Sternchen flackerten vor seinen Augen. Sofia stützte ihn auf dem Weg zum Bus. Ein Helfer des Busfahrers nahm ihnen ihre Rucksäcke ab, band ein nummeriertes Pappschildchen daran und reichte ihnen die Abrisse, auf denen ihre Nummern vermerkt waren.
Patrick ließ sich auf einen Fensterplatz im vorderen Bereich des Busses sinken, richtete das Gebläse der Klimaanlage direkt auf seinen Kopf und drehte voll auf. Eiskalter Wind blies ihm ins Gesicht und kühlte seine überhitzte Stirn. Er genoss die Kälte, knüpfte sein Hemd auf und ließ sich von ihr fluten. Nach wenigen Minuten begann er bereits zu frieren, zog sich wieder an und spürte, wie das durchschwitzte Hemd an seiner Brust klebte.
»Spinnst du?«, rief Sofia, als auch sie eingestiegen war und ihren Platz erreichte.
»Morgen bist du krank, wenn du das nicht sofort abdrehst!«, schimpfte sie und schaltete die Klimaanlage über Patricks Kopf auf ein Minimum zurück.
Der Bus stand eine gefühlte Ewigkeit am Busbahnhof in Jerantut herum. Ungeduldig sah Sofia immer wieder auf die Uhr.
»Vor einer Stunde hätten wir abfahren sollen. Ich stehe extra mitten in der Nacht auf und hetze hierher, damit wir dann erst eine Stunde später losfahren! Ich gehe jetzt mal fragen was da los ist«, sagte sie, hüpfte auf und eilte hinaus, noch ehe Patrick Einwände hätte erheben können.
Kopfschüttelnd beobachtete er das Gebaren seiner Freundin vor dem Fahrer, der neben dem Bus im Schatten saß und rauchte. Wild gestikulierend und mit solch lauter Stimme, dass es durch das dreckige Fenster aussah, als würde sie ihn jeden Moment anfallen, diskutierte sie ein paar Minuten lang. Patrick hoffte, dass sie wegen ihres Temperaments nicht aus dem Bus geworfen wurden. Er schämte sich für den Ausbruch seiner Freundin. Man konnte nicht verstehen was, sie in ihrer Rage rief. Nur dumpf drangen die Laute durch die Scheibe. Plötzlich brachen sowohl der Busfahrer und sein Helfer als auch Sofia in schallendes Gelächter aus. Der Fahrer streckte Sofia die erhobene Hand entgegen, um mit ihr abzuklatschen. Einen Augenblick später saß sie, immer noch lachend, wieder neben Patrick, der sie verwundert anstarrte.
»Was war das eben?«, fragte er entgeistert.
»Wir fahren ab, sobald der Bus voll ist«, gab sie trocken zurück.
»Hä? Ich dachte du knallst denen gleich eine, weil du dich so aufgeführt hast!?«
»Achso, nein, da haben wir nur rumgeblödelt. Leute ausgerichtet und so… hahaha, das sind vielleicht zwei schräge Vögel…«, lachte sie wieder.