Bärlinger. Splitt - Jörg Reckmann - E-Book

Bärlinger. Splitt E-Book

Jörg Reckmann

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Beschreibung

Als der Immobilien-Tycoon Werner Gerlach beim Frankfurt-Marathon mit seiner persönlichen Bestzeit durchs Ziel läuft, ist er bereits seit Stunden tot. Ein Fall, der Kommissar Schurmann und seinem Team Rätsel aufgibt. Denn auch der Tatort am Main und die seltsam arrangierte Leiche deuten darauf hin, dass man der Polizei einen deutlichen Hinweis geben will. Ein Junkiepärchen, das man nicht weit vom Tatort aufgreift, entwischt der Polizei. Waren es die Täter? Für den zwielichtigen Innenminister, der sich mitten im Anti-Drogen-Wahlkampf befindet, ein gefundenes Fressen. Der Mord am Main wird zum Politikum. Und dann funkt Kommissar Schurmann auch noch immer dieser Bärlinger dazwischen. Wäre der offensichtlich etwas gelangweilte Wirtschaftsanwalt und frühere Strafverteidiger Bärlinger nicht ein enger Freund Schurmanns, hätte ihn sein ungesunder Hang zur Kriminalistik vermutlich längst selbst ins Gefängnis gebracht - oder sogar ins Grab. Denn die Zahl der Toten nimmt im Verlauf der Handlung zu, und immer mehr scheint es, als lege der Mörder eine Spur in die Vergangenheit. So sehr der Kommissar sich auch über Bärlingers eigensinnige Ermittlungen in dem ungeklärten Mordfall ärgern mag, dieses Mal wird er seine Hilfe brauchen.

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Jörg Reckmann

BÄRLINGER

SPLITT

Kriminalroman

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Romantischer Main

Sonntag, 31. Oktober

Zu Beginn dieses unerwartet milden Herbsttages trat ein hochgewachsener Mann am Mainufer langsam aus dem Schatten der Bäume in die Morgendämmerung. Es hatte die ganze Nacht geregnet, auf den durchnässten Wegen stand Wasser. Weiße Nebelschleier zogen über die Mitte des grauen Flusses. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne setzten in den Baumkronen glitzernde Lichtpunkte auf die feuchten Blätter. Nach Osten zur Gerbermühle hin, über Offenbach, zeigte sich ein rosa gefärbtes Wolkenband.

Am Molenkopf lag das Feuerlöschboot, die leblosen Verladekräne des verlassenen Schrottplatzes krümmten sich über dunkle Haufen ineinander verschachtelter Eisenarmierungen. Der Rost auf den Verbundeisen, Röhren und Stangen begann im Morgenrot sacht zu glimmen.

Nach Westen hin erhob sich die Skyline der Frankfurter Banken vor dem Morgenhimmel und wurde zusehends in das erst zartorangefarbene und dann gelbliche Licht des heraufziehenden Tages getaucht. Regelrecht angestrahlt ragten die Hochhäuser aus der Mitte der Stadt, links hinter dem fahlroten Sandsteinturm des Doms, als seien sie soeben herabgeschwebt von einer entfernten Galaxie und hätten mit den staksigen 50er-Jahre-Bauten um sich herum nicht das Mindeste zu schaffen. Der kräftig gebaute Mann mit den spöttischen Gesichtszügen war in den Schatten zurückgetreten und wartete.

Von der Flößerbrücke her kamen zwei Frauen in bunten Freizeitanzügen festen Schrittes auf die Baumgruppe zu, an deren Beginn die asphaltierte Promenade endet und als Pfad weiter in Richtung Rudererdorf und Gerbermühle verläuft, wo Johann Wolfgang von Goethe 1814, damals schon im heutigen Rentenalter, mit der 35 Jahre jüngeren Marianne von Willemer eine berühmt gewordene Beziehung eingegangen war. Der Frankfurter Bankier Willemer hatte das Mädchen im Kindesalter in sein Haus geholt, was zu reichlich Gerede Anlass gegeben hatte.

Der Mann im Schatten schaute noch immer unverwandt hinüber zu den Glasfronten der Skyline, die jetzt in gleißender Spiegelung die stärker gewordenen Sonnenstrahlen über die Stadt und den Fluss zurückwarfen. Er wandte sich nach rechts und sah ahnungslos lächelnd, wie der Tod auf ihn zutrat.

Die junge Frau war in locker gleitenden Bewegungen herangelaufen. Sie hatte ihn schon von weitem gesehen. Die gerade Gestalt, das herrisch nach vorne geschobene Kinn, die in die Hüften gestemmten Hände. Sie wurde ganz ruhig, ihr Atem ging gleichmäßig. Er sah ihr entgegen und war sichtlich zufrieden. Sie hauchte ihm einen Begrüßungskuss auf die Lippen, den er ausdehnen wollte, aber sie entzog sich seiner Umarmung, dirigierte ihn mit einer Kopfbewegung und einem kleinen Lachen hinunter zum Ufer, wo die Büsche Deckung versprachen. Als die letzten Zweige sich hinter ihm und seiner Begleiterin geschlossen hatten, war es, als seien sie nie an diesem Ort gewesen.

Er umarmte die junge Frau fester. Sie erwiderte seinen Kuss, wich dann aber zurück, er folgte der Bewegung, beugte sich zu ihrem Gesicht. Sie flüsterte etwas. Er lächelte und begann sich auszuziehen. Sie sah zu, hielt ihm eine kleine Plastikflasche hin, und als er die nahm, zog sie langsam ihr Oberteil über den Kopf und gab zwei volle feste Brüste frei, nach denen der Mann mit der rechten Hand griff, während er mit der linken trank, ohne seinen Blick von der jungen Frau abzuwenden. Die Wirkung trat augenblicklich ein. Der Mann erstarrte, sackte langsam in sich zusammen, saß dann wie gelähmt mit hängenden Armen, starrte auf den Fluss und schien seine Begleiterin kaum noch wahrzunehmen. Die halbleere Flasche war ihm entglitten und trudelte die Böschung hinunter, wo die junge Frau sie auffing, ehe sie im Wasser landete. Dann drehte sie sich um, löste ein Messer aus ihrer Gürteltasche und ging langsam auf den Mann zu, der inzwischen schwer atmend mit weit geöffneten Augen auf dem Rücken lang. Die ersten Schnitte setzte sie präzise, dann stach sie einfach nur auf ihn ein. Auf dem Main zog der erste Ausflugsdampfer vorbei.

Kurz darauf erreichten die beiden Walkerinnen, in ein heftiges, von spitzem Lachen unterbrochenes Gespräch vertieft, den dichter bewachsenen Teil des Ufers. In hochpreisigen Laufschuhen, zweifarbig abgesetzten Leggings, mit Handytasche am Gürtel, dazu passenden Funktionsshorts und leichten Kapuzenjacken gegen die Morgenkühle, an den Gelenken Pulsmesser und in den Händen Skistöcke, wie sie beim Nordic Walking unerlässlich sind. Mit für ihre Leibesfülle erstaunlicher Geschwindigkeit tauchten sie entschlossenen Schrittes in das Halbdunkel unter den Bäumen ein.

In diesem Augenblick kam hinter ihnen ein groß gewachsener Läufer schnell heran, dem ein dumpfes Dröhnen von Technobässen vorauseilte. Das rhythmische Stampfen drang mit einer derartigen Lautstärke aus seinem Kopfhörer, dass die beiden Frauen ihre Unterhaltung unterbrachen, als der Mann sie kurz vor der Eisenbahnbrücke passierte, die an dieser Stelle den Main quert. Dann in der Unterführung stieß er einen langgezogenen Schrei aus, der nichts ähnelte, was sie jemals gehört hatte, wie eine der beiden Frauen bei ihrer Vernehmung später aussagte, außer vielleicht dem gurgelnden Geheul von Lisa, der Boxerhündin ihrer Nachbarn, als die in der Garageneinfahrt irrtümlich angefahren worden war und dann von der Polizei erschossen werden musste, das arme Tier. Dieser Vergleich sei ihr aber erst viel später eingefallen.

In dem fraglichen Augenblick selbst hätten ihre Freundin und sie dem sich schnell entfernenden Läufer nur verdattert nachgeschaut, zunächst stumm, weil ein schier endloser Güterzug über die Brücke fuhr und mit seinem Geratter alle anderen Geräusche übertönte. »So was gibt es, unter Brücken alles herausbrüllen«, hatte sie gesagt und ihre Freundin habe an eine Filmszene aus »Cabaret« erinnert, in der Liza Minelli im nächtlichen Berlin S-Bahn-Brücken geradezu sucht, um sich im Schutz des Lärms die Seele aus dem Leib zu schreien.

Dann habe sich das Gespräch schnell auf die Minelli konzentriert und wie aufgedunsen die aussehe, was bei ihrer Alkoholsucht auch kein Wunder sei, schade drum, wo sie doch so begabt und hübsch gewesen sei, aber das Kind berühmter Eltern zu sein könne schon eine schwere Bürde bedeuten. Womit man dann auf das Eltern-Kind-Verhältnis ganz allgemein gekommen sei und auf dem Rückweg – selbst unter der Brücke – schon gar nicht mehr an diesen Vorfall gedacht habe.

#

Morgenstunde

»Guten Morgen Frankfurt, es ist 8:30 Uhr an einem supercoolen Sonntag, dem 31. Oktober, dem Tag der Tage«, plärrte eine viel zu junge und viel zu wache Stimme aus dem Radiowecker. Bärlinger warf sich ächzend auf die andere Seite des Bettes, versuchte mit der rechten Hand auf das Plastikgehäuse zu schlagen, bekam das lärmende Teil schließlich zu fassen und riss den Stecker aus der Dose.

Vorher hatte die Stimme noch was von Frankfurt-Marathon erzählt und dass man in Kürze direkt zu Klaus-Peter und Marion schalten würde, die heute beide das erste Mal dabei seien und sicher schon ganz aufgeregt an ihren vitalkraftspendenden Müsliriegeln knabberten. Die Marke kriegte Peter Bärlinger nicht mehr mit. Er stand leicht benommen mit Schnur und Stecker in der Hand vor seinem Bett, das Radio lag stumm auf dem Teppich.

Er tappte zum Balkonfenster und schob es auf. Die kühle Morgenluft brachte ihn zur Besinnung. Er atmete mehrfach tief ein und aus. Auf dem Main zog erstaunlich früh ein erster Ausflugsdampfer vorbei, auf der feuchten Uferwiese machte eine schwarz gekleidete Gestalt wie in Zeitlupe abgezirkelte Arm- und Fußbewegungen. Zwei Frauen mit wackelnden Riesenhintern, die in rhythmischen Bewegungen Skistöcke in den Asphalt schlugen, stakten vorbei. Bärlinger betrachtete das seltsame Treiben mit verschlafenen Augen und fand in der Sinnkrise vor dem ersten Kaffee alles absurd: sich selbst ebenso wie die zur Skyline aufeinandergetürmten Büroschachteln, mit den Golden Boys der Investmentbanken in Käfighaltung. In den letzten Jahrzehnten hatten sie unvorstellbar hohe Milliardenbeträge immer hektischer gewinnbringend rund um die Erde gejagt, was die globale Geldmenge vervierzigfachte. Die Menge der Güter hatte sich im selben Zeitraum aber nur vervierfacht. Diese von Gier getriebene immer schneller rotierende Maschinerie, in der normale Menschen zu Störfaktoren geworden waren, musste irgendwann krachend auseinanderfliegen. Immerhin, bis dahin lebte auch er davon nicht schlecht. Mit Honorarsätzen, die ihm in der Stunde mehr einbrachten als einem Hartz-IV-Empfänger in einem Monat.

Allein die Aussicht auf die Stadt hatte den Preis seiner Vier-Zimmer-Wohnung auf dem alten Schlachthofgelände in unanständige Höhen getrieben. Ganze Stadtteile hatten die Spekulanten dort drüben plattgemacht für die verglasten Betonklötze. In wunderbare Jugendstilvillen war die Abrissbirne gerumst, Wohnhäuser verschwanden im Dutzend. Randale hatte es deshalb gegeben in der Stadt, und nicht zu knapp, und den einzigen wirklichen Theaterskandal der Bundesrepublik anlässlich eines schlecht geschriebenen Bühnenstücks, in dem ein Spekulant auftrat, der nur als »der reiche Jude« tituliert wurde. Jeder in Frankfurt wusste damals, wer damit gemeint war. Der Betroffene auch: Die Aufführung wurde verhindert.

Die Hausbesetzer und Streetfighter von damals sind inzwischen feine Leute. Verleger ist der eine, der andere leitet als Edelgastwirt ein sauteures Varieté, ein paar sitzen in irgendwelchen Parlamenten, einer, der einen Teil des väterlichen Erbes den Vertretern der Weltrevolution im fernen Vietnam vermachte, ist bei den Vereinten Nationen, einer wurde Kabarettist, andere sind Botschafter, und einer der Steinewerfer hatte es zum Außenminister gebracht. Zu einem international ziemlich anerkannten sogar. Bärlinger selbst, damals eher ein jüngerer Bewunderer insbesondere des weiblichen und für ihn wegen des Altersunterschiedes unerreichbaren Teils der revolutionären Bewegung, ist Wirtschaftsanwalt geworden und arbeitet in einer Kanzlei mit Sitz in einer der damals umkämpften, heute teuer renovierten Villen. Eine Stütze des Schweinesystems, wie eine seiner vielen Fast-Schwiegertöchter, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern konnte, mal wegwerfend gesagt hatte. Sein Sohn hatte das Mädel mit einem entschuldigenden Blick aus dem Zimmer geschoben, was er dem Jungen hoch angerechnet hatte.

Bärlinger ließ den Blick noch einmal über Frankfurt gleiten. Das Beste an den ganzen Betonburgen ist sowieso das Herrenklo im 36. Stock der Commerzbank mit Fenstern vor jedem Pissoir. Da haben die Herren Direktoren dann das schöne Gefühl, auf die Konkurrenz herunterzuschiffen. Frauen gibt es in diesen Läden ja ohnehin kaum, und wenn, nur in den unteren Etagen. Und die pinkeln sowieso im Sitzen, die wissen gar nicht, was ihnen entgeht, dachte Bärlinger, noch ehe er sich eine Chauviwarnung zurief.

Unter der Dusche war er schon fast guter Laune. Er seifte sich kräftig ein, strich über seinen zunehmenden Bauch, dachte an die Verrückten bei diesem Marathon, ließ das warme Wasser mit geschlossenen Augen über Kopf und Schultern laufen, stand eine ganze Weile so da. Bevor der Zirkus losging, wollte er noch ins Büro. Das war trotz des frühen Aufstehens wegen der überall gesperrten Straßen wahrscheinlich keine gute Idee. An die Strecke musste er auch: Er hatte es versprochen, ein Freundschaftsdienst.

Mit dem immer so zielstrebigen Schurmann war er schon in die Schule gegangen, und der hatte ihn, während die anderen Klassenkameraden die ersten neckischen Keilereien anfingen, damals morgens immer noch schnell die Aufgaben abschreiben lassen – obwohl das eigentlich nicht korrekt war, das war Jürgens einziger, allerdings regelmäßig vorgetragener Einwand. Korrekt, das war der Jürgen, und so war er geblieben. Bärlinger war mit den Hausaufgaben ziemlich oft im Hintertreffen gewesen, dafür half sein schnodderiges Mundwerk bei den Mädels. Schurmann hingegen war zurückhaltend, ein schüchterner Musterschüler bis zum Abitur. Auch da war er mit Abstand der Bessere von beiden. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, aber immer wieder gekreuzt. Sie hatten sich oft verloren und schließlich wiedergefunden. Ihre besondere Nähe, das Grundvertrauen, war nur einmal erschüttert worden. Aber das war vorbei. Bärlinger atmete schnaubend aus und tauchte aus dem Strahl der Dusche auf: »Vorbeier geht gar nicht«, sagte er laut. Und nun hatte den Jürgen die Angst vor dem Altern gepackt, und er lief diesen Marathon. Monatelang hatte er Bärlinger genervt mit seinen Laufgeschichten, und vor allem war er immer schlanker geworden, fast hager. Schurmann wurde zu einer richtigen Provokation. Plötzlich lehnte er Wein und Bier ab, ließ die Besuche im Winzerausschank oben auf der Säuferbrücke der Kleinmarkthalle bei ihren Wochenendeinkäufen am Samstag aus, aß bei den gemeinsamen Kochabenden nur noch Grünzeug, trank Energiedrinks und ging irgendwie aufrechter, die Frauen guckten ihn auch anders an, behauptete er jedenfalls.

Beim Umdrehen kam Bärlinger mit dem Oberarm an den Hebel der Mischbatterie, eiskaltes Wasser schoss aus dem Duschkopf, er schrie und tobte, sagte Worte, die seine Ex-Frau nie hätte durchgehen lassen. Die duschte aber auch freiwillig jeden Morgen kalt. Das mache Brüste und Haut straffer, hatte sie immer gesagt, und dagegen mochte ihm so recht kein Argument einfallen.

In seinen Bademantel gewickelt kam Bärlinger ins Schlafzimmer zurück und schob den Stecker des Radioweckers wieder in die Dose. Das Ding war bei 8:30 Uhr stehengeblieben und blinkte wie wild, Klaus-Peter und Marion beschrieben gerade ihr etwas flippiges Lauf-Outfit und kündigten an, sich nun erst mal gemeinsam aufzuwärmen, was der Moderator mit der piepsigen Klein-Jungen-Stimme ungeheuer witzig fand. Bärlinger ließ dem Sendersuchlauf freie Wahl und landete bei Pavarotti und seiner Donna è mobile. Die Espressomaschine röchelte die letzten Tropfen in die kleine Tasse. Er trank, der Tag konnte beginnen.

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Start und Ziel

Sonntag, 31. Oktober, 9:30 Uhr

An der Messe, schräg vor der Festhalle, schwankte das mit Pressluft in die Höhe getriebene Plastiktor, das den Marathonstart markierte, leicht im Wind. Die ersten Läufer standen unschlüssig an den Absperrungen, wollten sich so früh noch nicht in ihre Startblöcke begeben, machten Dehnübungen oder liefen ein paar Schritte, um sich warm zu halten. Einige hatten gelbe Plastikplanen übergeworfen, die beim Warten auf den Start gegen Wind und vor allem gegen Regen schützen sollten. Aber die Wolkenbrüche der letzten Tage hatten einem freundlicheren Herbstwetter Platz gemacht. Der Himmel war blau, nur dass die aufgehende Sonne, kaum über den Horizont gekrochen, zu schwach war, um die Männer und Frauen zu wärmen, die nun in immer größerer Zahl nach der Kleiderabgabe in ihren Rennklamotten aus der Messehalle nach draußen auf den Platz strömten. Der Brezellauf für die Kleinen war beendet, der Einheizer an seinem Mikrophon hatte redliche Mühe, die Wartenden mit immer neuen Geschichten und Anekdoten bei Laune zu halten. Zwischen den Ansagen schepperte Discosound aus den Lautsprechern.

Bei der Kleiderabgabe auf Ebene III hatte die junge Frau einige Zeit neben dem Tisch für die Nummern 4000 bis 4750 gewartet. Hier musste er vorbei, Nummer 4375, dunkler Balken, der Startblock ganz hinten bei den schwächeren Läufern. Die weite Bodenfläche füllte sich langsam mit den nach Startnummern sortierten Kleidersäcken. Die Studentinnen, die sich um die Ablage kümmerten, schnappten die Säcke, wetzten mit Rollerskates über den Betonboden, legten ihre Fracht ab und kamen in elegantem Bogen zurück zum Tisch, an dem sich nun eine Schlange zu bilden begann. Noch eine halbe Stunde bis zum Start. Langsam wurde es Zeit.

Der Mann mit der Startnummer 4375, den sie in dem Gewusel der Läuferinnen und Läufer dann doch fast übersehen hätte, zumal ihn eine Säule halb verdeckte, schaute unruhig auf seine Uhr und dann suchend zum Eingang. Zufrieden sah sie, wie seine Unsicherheit wuchs. Er würde vergebens warten.

Vom Bild her hätte sie ihn nicht erkannt. Seit der Aufnahme, die sie in den Akten gefunden hatte, waren viele Jahre vergangen, aber das war es nicht. Der Mann war unförmig geworden, Gesicht, Doppelkinn, Nacken, alles war aufgedunsen. Wie so einer noch Marathon laufen konnte, war ihr ein Rätsel. Sie würde keine Mühe haben. Mit den Jahren hatte sie die Kreise um diese Männer immer enger gezogen. Der Tag, an dem sie erkannt hatte, dass sie mit der Lauferei an sie herankommen konnte, war ein Glückstag gewesen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, und heute zahlte sie sich gleich doppelt aus.

Natürlich hatte sie anfänglich auch Fehler gemacht. Sie war ganz im Bewusstsein ihres Ziels und ihrer jugendlichen Stärke losgerannt und hatte dann nach zehn Kilometern erschöpft an einem Zaum gelehnt, hatte sich wegen der übergroßen Anstrengung erbrochen. Aber sie war gelaufen: egal bei welchem Wetter. Glatteis hatte es gegeben, und sie war gelaufen, bei acht Grad unter null hatte sie sich mit Handschuhen und Wollmütze gegen die Kälte geschützt, als sie früh am Morgen durch die Dunkelheit glitt. Körper und Kopf hatten ihr immer wieder zugerufen, den Blödsinn zu lassen, sich lieber ins Bett zu legen. Ihr Atem hatte weiße Fahnen vor ihr hergetragen und war am Kinn zu einer Eiskruste erstarrt. Aber sie war gelaufen, mit angewinkelten Armen, den Blick starr fünf Meter voraus auf den Boden gerichtet, um Unebenheiten ausweichen zu können. Manchmal lief sie nachts mit einer Stirnleuchte. Dann irrlichterte sie stundenlang über die Waldwege, bis die Dämmerung die Nacht zu vertreiben begann. Muskelkater hatte sie gehabt, und als sie dann längere Strecken lief, waren die Brustwarzen plötzlich aufgescheuert, bluteten und taten höllisch weh. Sie hatte Heftpflaster drübergeklebt und sich einen besseren Sport-BH gekauft, dann ging es. Die Blasen am Fuß: desinfizieren, Heftpflaster drüber, weiterlaufen. Mal hatte sie sich eine Erkältung geholt, mal war der Magen nicht in Ordnung, Durchfall, Sonnenbrand. Sie hatte gekotzt vor Anstrengung, geheult vor Wut, weil es nicht schnell genug ging. Aber dann hatte sie ihren Körper kennengelernt und erfahren, dass er alles tut, wenn man nur nicht versucht, ihn zu überrumpeln, ihn unvorbereitet zu etwas zu zwingen. Der Schmerz ließ jeden Tag ein wenig nach. Es war ein Kampf gegen sich selbst gewesen, angetrieben von einem unbändigen Willen. Sie hatte gelitten, alles auf diesen Tag hin.

Rückwärts von zehn bis go mitgezählt von Zehntausenden drang der Countdown zum Start aus den Lautsprechern. Was weiter vorne als zunächst kaum wahrnehmbare Bewegung begann, setzte sich schließlich in die hinteren Startblöcke fort, bis auch der Letzte an die Startlinie heranrückte und sie unter dem Dauerfiepen der Sensoren überquerte.

Nach dem Start hatte sie zunächst aufpassen müssen, nicht über Flaschen und Plastikumhänge zu stolpern, die von den Tausenden von Läufern der vorderen Startblöcke weggeworfen worden waren. Langsam wurden diese Hindernisse seltener. Der riesige Strom von Männern und Frauen zog sich auseinander, so dass ein wenig Raum zur Verfügung stand, in den man mit gleichmäßiger Geschwindigkeit hineinlaufen konnte.

Gedränge hatte es noch einmal bei der ersten Verpflegungsstation gegeben, an der plötzlich der ganze Lindwurm der Läufer mit Tausenden von ausgestreckten Händen nach den Getränken gegriffen hatte, dabei langsamer geworden war und, nachdem die halbvollen Plastikbecher in hohem Bogen klatschend im Rinnstein oder auf dem Asphalt gelandet waren, wieder Fahrt aufnahm. Der Mann lief jetzt keine zehn Meter vor ihr und hatte erste Schwierigkeiten.

Weiter vorn versuchte eine in Goldlamé gewickelte brünette Frau mit jedem Schritt den auf dem Boden liegenden Bechern auszuweichen, um sich die Fußsohlen nicht aufzuschneiden an dem scharfkantigen Plastikmüll. Sie lief barfuß. Andere hatten sich als Obelix oder Asterix verkleidet, schoben Kinderwagen oder dribbelten sich beim Laufen wegen irgendeiner Wette einen Fußball zu – sie wollten das zweiundvierzig Kilometer lang durchhalten. Michel, der Franzose, der mit seiner Trikolore keinen Marathon ausließ, wurde umarmt und gefeiert. Die Zuschauer klatschten, feuerten die noch frischen Läufer mit Beifallsrufen an, tanzten zu den Rhythmen von Jazzcombos, Blechbläsern oder Steelbands. Gruppen von Cheerleadern in kurzen Kleidchen rissen ihre an den Handgelenken mit glitzernden Federbüschen besetzten Arme in die Höhe, Sambatänzerinnen schwangen immer wieder ihre Hüften dem schier endlosen Menschenstrom entgegen und würden nach ein paar Stunden genauso fertig sein wie die Läufer selbst, die sich allein, in kleinen Gruppen oder als Pärchen jetzt der Zehn-Kilometer-Marke näherten. Der Mann war noch langsamer geworden, jetzt schloss sie auf und blieb eine gute Stunde einfach hinter ihm und sah mitleidlos zu, wie er sich quälte. Auf seinem blauen Shirt zog sich vom Schulteransatz unter dem kräftigen Nacken eine bis zu den am Hosenbund überquellenden Hüften breiter werdende Schweißbahn, die schließlich in die Gesäßfalte des viel zu eng anliegenden Lauftights mündete. Der mit kleinen Flaschen bestückte Gürtel schnürte die unförmige Taille so ein, dass die Erschütterungen der ungelenken Schritte die unter und über dem schwarzen Elastikband zu Wellen gefalteten Fettpolster in ständiger Bewegung hielten. Dabei setzte sich die Laufbewegung mit einer Art asymmetrischer Verzögerung fort, bei der die linke Körperhälfte nach unten schwappte, während der rechte Fuß nach vorne wanderte und beim Auftreten an die Hüfte einen nach oben gerichteten Schwung weitergab, der die Abwärtsbewegung links stoppte, um sie gleich darauf rechts verstärkt einsetzen zu lassen, was im Ganzen zum Eindruck eines angestrengten Torkelns des massigen Körpers beitrug, das zwar nicht den baldigen Sturz, aber sicher ein unvermeidlich nahendes Straucheln befürchten ließ. Der Mann lief gekrümmt nach vorn gebeugt, strich sich immer wieder mit dem Handrücken über die Stirn, ließ dann die Arme langgestreckt an der Seite baumelnd mitschwingen, wie lästige Gewichte, winkelte sie wieder kurz an, schüttelte die Hände aus. Sein Atem ging stoßweise und war von flachem Stöhnen begleitet.

Sie schloss zu ihm auf, blieb neben ihm, lächelte, ohne dass er sie zunächst bemerkte. Sie lief leicht und geschmeidig. In fast tänzerisch schwingenden Bewegungen glitt sie mühelos neben dieser stampfenden Laufmaschine dahin, fiel gelegentlich ein wenig zurück und war kurz darauf mit ihm wieder auf gleicher Höhe, zog spielerisch an dem schwer arbeitenden Mann vorbei, verlangsamte ihren Lauf und ließ ihn wieder herankommen. Wie eine Raubkatze, die sich ihrer Beute sicher ist und, ehe sie zufasst, beobachtet, wie das Opfer immer schwächer wird.

Der Mann mit der 4375, der die junge blonde Frau neben sich zunächst nur flüchtig wahrgenommen hatte, achtete in diesem Moment nur auf seine rechte Wade. Nichts anderes war wichtig, nur auf diesen Muskel kam es jetzt an. Etwa bei Kilometer fünfzehn hatte er den kleinen stechenden Schmerz zum ersten Mal wahrgenommen und den Gedanken daran gleich beiseitegeschoben. Aber das war gar nicht so leicht, denn der Schmerz kam immer wieder, schlich sich leise aus dem Hintergrund ein, lag wie ein Grundton unter allem, was er an Ablenkungen abgerufen hatte: »Bloß jetzt kein Krampf.« Der Mann stöhnte und lief.

»Entspannen Sie sich, laufen Sie ganz ruhig und gleichmäßig, laufen Sie locker, ganz locker«, rief die Blonde ihm zu. »Und denken Sie an was Angenehmes, an irgendwas, und vor allem locker, rhythmisch, leichtfüßig laufen.«

Der Mann mit seinem schweißnassen Gesicht stampfte vorwärts, versuchte ein Lächeln und murmelte vor sich hin »locker und gleichmäßig, locker und gleichmäßig«.

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Aufgebahrt

Der Tatort war vom Weg aus nicht einzusehen, und was dann kam, hatte die Beamten wie ein Schlag in den Magen getroffen. Der Tote war nackt, blutüberströmt, sein Unterleib verstümmelt. Dr. Servatius, der in der Gerichtsmedizin als Sonntagsbereitschaft eingesprungen war, war ein älterer Herr mit gewöhnlich altersmildem Lächeln, das sich jetzt aber verhärtet hatte. Er legte dem jungen Polizisten neben sich beruhigend die Hand auf die Schulter.

Der Körper lag auf einer Art kleinen Lichtung unmittelbar am Wasser, den Kopf ein wenig erhöht auf einem Stein – wie aufgebahrt. Die Büsche, selbst das spärliche Gras um die Leiche herum wirkten seltsam intakt, als habe sich der Tote hier selbst zur letzten Ruhe gebettet. Auf dem Main fuhr unter knalliger Musik die »Goethe« zurück zur Stadt. An Deck des Ausflugsdampfers standen Touristen, fotografierten und winkten.

Als der junge Einsatzleiter ziemlich blass wieder auf dem Weg stand, fiel ihm der Wagen des städtischen Ordnungsdienstes mit dem zusammengekauerten Pärchen wieder ein, das er bei seinem Eintreffen angewiesen hatte, sich zur Verfügung zu halten. Sah so aus, als hätten sie die Leiche entdeckt. Er ging zu dem Wagen hinüber und sah aus den Augenwinkeln, wie sich dieser KP Brinkmann hinter der Absperrung Notizen machte. Um die beiden hätte er sich gleich kümmern müssen, aber das war alles zu viel. Musste Schurmann ausgerechnet heute ausfallen? Ans Handy war der Chef auch nicht gegangen, obwohl er gesagt hatte, wenn was ganz Wichtiges ist, bin ich auch beim Laufen zu erreichen. Von wegen.

Der Mann vom Ordnungsdienst zuckte mit den Schultern: »Die Kleine war richtig fertig, sie hat mir den Wagen vollgekotzt, da hab ich sie rausgelassen, dann hat ihr Freund auf sie eingeredet, und als ich den Dreck weggewischt habe, sind die beiden weg, die Böschung hoch. Erst läuft sie mir vors Auto, und dann das, die waren völlig am Ende. Kein Wunder nach dem, was die da gesehen haben.«

»Rennen konnten sie aber noch, wir brauchen eine Personenbeschreibung«, in dem Kriminalbeamten kroch Wut hoch und Ärger über sich selbst. Das würde ein Ding geben morgen. Zeugen, schlimmer noch, Verdächtige waren noch am Tatort verschwunden. Das fing gut an. Er drehte sich um und sah den »Rundschau«-Reporter, diesen KP, der die Szene grinsend beobachtet hatte. »Das schreiben Sie nicht, oder«, sagte er trocken. »Das kostet aber. Die hatten es ziemlich eilig, die beiden«, kam die Antwort. KP grinste unverhohlen. Inzwischen waren weitere Journalisten eingetroffen. Ein junger Mann von der »Allgemeinen«, eine freie Mitarbeiterin der »Neuen Presse«, die genau aufpasste, was KP tat, und eine Fernseh-Redakteurin, die unschlüssig an ihrem Kugelschreiber kaute.

Sie hatte kein Team mehr bekommen, die Freien drehten alle beim Marathon, und die Bereitschaft war wegen Krankheit des tarifvertraglich vorgeschriebenen Tonassistenten nicht einsatzfähig. Ohne Bilder aber, das war ihr klar, würde die Story einfach nicht stattfinden. Nichts als rausgeschmissene Zeit, die sie hier rumstand. Missmutig beobachtete sie einen Kollegen von den Privaten. Einen Mann mit Videokamera, der, während er drehte, seinen Kommentar ins Mundmikro sprach, Tontechniker, Redakteur und Kameramann in einem.

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Schwierige Verhältnisse

In der Kanzlei hatte sich Bärlinger in eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die steuerliche Verrechnung der Verluste von Tochtergesellschaften mit Gewinnen der Konzernmutter im EU-Ausland vergraben. Das klang öde, und es begann ihn zu langweilen, obwohl es um Milliarden ging. Selbst für den Bundeshaushalt war da ein ziemliches Risiko versteckt. Denn sollte eine Steuerminderung möglich sein, saß der Finanzminister wegen der dann fälligen Rückzahlungen auf einer tickenden Zeitbombe. Bärlinger hatte lustlos gearbeitet und gegen Mittag die Akten geschlossen. Seit seine Frau ihn verlassen hatte, ging er auch sonntags ins Büro.

Eine halbe Stunde später stand Peter Bärlinger ungeduldig an der Strecke, sah endlich, wie Schurmann mit verbissenem Gesicht an ihm vorüberzog, rief ein paar aufmunternde Worte und hatte seinem Freundschaftsdienst damit Genüge getan. Er ging zu seinem Auto zurück und fuhr los. Die Stadt war dicht. Messe, Hauptwache, Mainufer und Bahnhofsviertel waren gesperrt. Bärlinger fuhr einen gewaltigen Bogen am neuen Polizeipräsidium vorbei, das wie ein steinerner Faustschlag klobig in der Stadt lag, irrte von Absperrung zu Absperrung, und als er gegen dreizehn Uhr nach ziemlichen Umwegen wieder auf seiner Mainseite angekommen war, blockierten quergestellte Polizeiwagen die Straße, in der er wohnte.

Keine fünfhundert Meter Luftlinie von dem Balkon, auf dem er heute Morgen gestanden hatte, war der Weg ins Ufergebüsch großräumig abgesperrt. Neugierige standen in kleinen Gruppen herum. Vorne bei einem der Beamten, mit dem er angelegentlich plauderte, Karl-Peter Brinkmann, der schon so lange Polizeireporter bei der »Rundschau« war, dass manche jüngere Polizisten glaubten, er gehöre zu ihnen, und ihn auch schon mal um Rat fragten. Bärlinger, der sich zum Unverständnis seiner Kollegen eine Nische als Strafverteidiger erhalten hatte, kannte Brinkmann aus revolutionären Jugendtagen. Außerdem hatte KP, wie er wegen seiner eindeutigen politischen Vergangenheit genannt wurde, eine Reihe jener unappetitlichen Prozesse als Berichterstatter verfolgt, in denen Bärlinger die Verteidigung übernommen hatte. Hoffungslose Fälle zumeist, in denen die Täter schon vor Prozessbeginn verurteilt schienen. Machte er das nun diesen armen Teufeln zuliebe oder vor allem wegen seiner ihm selbst nur schwer erklärlichen Faszination, die solche Verbrechen auf ihn ausübten? Er wusste es nicht. Sie nickten sich kurz zu. »Ei Gude.« KP holte gern sein breites Hessisch raus.

»Die Leiche soll übel aussehen, muss heute Morgen passiert sein. Komisch ist nur, wer so angegriffen wird, wehrt sich, aber dafür gibt es angeblich keinerlei Anzeichen, Hämatome, Hautabschürfungen oder so was«, sagte Brinkmann. Bärlinger grinste.

»Du weißt schon wieder alles, oder?«

»Da ist so ein Jüngelchen, das die Ermittlungen leitet, kennst du den? Schurmann ist nicht da, aber vielleicht muss der gehobene Dienst sonntags ja nicht mehr ran.«

»Schurmann läuft den Marathon, ich hab ihn gerade vorbeiziehen sehen, sehr frisch war der nicht mehr«, sagte Bärlinger.

Er freute sich über die missbilligende Ironie, die sich auf KPs Gesicht zeigte. Wenigstens einer, der nicht im entferntesten in den Verdacht geraten konnte, diesem Laufkult zu verfallen, dafür war er dem Bier auch zu sehr zugetan, was sich an seinem Leibesumfang ablesen ließ und dem Fahrrad, das neben ihm lehnte: Der Führerschein war weg. Beim letzten Mal hatte selbst Schurmann nichts mehr retten können. Ein ziemlich heftiger Auffahrunfall unter Alkoholeinfluss genau vor dem Präsidium, da war nichts mehr zu bügeln, schließlich hatte die halbe Frankfurter Polizei an den Fenstern gehangen und zugeguckt.

Der leitende Beamte gab eine kurze Erklärung ab, in der er die Verstümmelung der Leiche überging, als ungefähre Tatzeit den frühen Morgen nannte, einen unnatürlichen Tod als wahrscheinlich angab und den Umstand, dass gleich zu Beginn der Ermittlungen zwei wichtige Zeugen, vielleicht sogar die Täter, abhandengekommen waren, aussparte, indem er die improvisierte Pressekonferenz abbrach, als die Frage gestellt wurde, wer den Toten gefunden habe.

»Ich ruf an«, sagte KP, als der Beamte zu seinem Wagen ging, und es klang wie eine Warnung. Aber mit Karl-Peter Brinkmann konnte man zusammenarbeiten, das sagten jedenfalls alle, auch der Chef, und vielleicht würde er ja das peinliche Verschwinden der beiden Zeugen für sich behalten. Warum musste der Schurmann ausgerechnet heute diesen blöden Marathon laufen?

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Mühen der Ebene

Der Frankfurt-Marathon war eigentlich platt wie ein Pfannkuchen, jetzt aber in Höchst stieg die Laufstrecke nach einer Linkskurve langsam, aber stetig an, und die junge Frau sah, wie diese Kleinigkeit den Dicken neben ihr noch weiter aus dem Takt brachte. Nicht nur sein körperliches, auch sein seelisches Gleichgewicht bekam an dieser läppischen Steigung einen richtigen Knacks.

Gute fünfundzwanzig Kilometer lagen nun hinter den verbliebenen Läufern, die ersten waren in der Festhalle mühelos über die Ziellinie gelaufen, hier aber kämpfte das Gros mit jedem Meter, haderte so mancher mit seinem selbstverschuldeten Schicksal. Am Straßenrand krümmten sich Läufer, die unzureichend vorbereitet gestartet waren, auf den Tragbahren der Sanitäter, Krankenwagen fuhren mit Blaulicht durch die dünner gewordene Schar der Sportler. Sauerstoffduschen standen bereit. Oberschenkel und Waden wurden massiert, einige legten mit gesenkten Köpfen Gehpausen ein, einer riss sich die Startnummer runter, zwängte sich durch die Reihen der Zuschauer und humpelte in Richtung S-Bahnhof davon.

Der Mann mit der 4375 lief schwerfällig, atmete mühsam, machte kleinere Schritte, die ihm fast erschienen, als trete er auf der Stelle. »Scheiß Wette.« An der Theke so einfach hingeworfen: Marathon, schon mal gemacht, könnt ich immer noch. Und dann hat auch noch der Werner gekniffen, »was für eine blöde Schinderei«, stöhnte er. Ab Kilometer dreißig sollten Koffein und Zucker helfen, den ausgelaugten Körpern Kraftreserven vorzutäuschen. An der Versorgungsstation sah der Dicke, wie die Barfußläuferin hinter den Cola-Tischen entlanglief, um so den weggeworfenen Trinkbechern zu entgehen. Als er sich ein Stück Banane in den Mund schob, ging er ein Stück und fühlte in der Seitentasche seines Laufshirts nach dem Fläschchen, das die Blonde ihm gegeben hatte. Ab Kilometer dreißig, wenn der Hammer fällt, wenn alles schmerzt und nichts mehr geht, wenn jeder Schritt eine einzige Überwindung ist und ein kleiner Kilometer unendlich lang erscheint, dann, so hatte sie ihm geraten, solle er sich das Zeug in den Mund schieben, in einem Zug trinken, schmeckt mies, ist aber die Bombe. Kohlehydrate pur, die sich sofort lösen und wirksam werden, wie beim handelsüblichen Powergel aus der Tube. Nur, das hier war stärker, viel stärker, ein Wundermittel, quasi Raketentreibstoff, hatte sie lächelnd gesagt, die Flasche von ihrem Gürtel genommen und ihm in die Hand gedrückt. Er war ihr unendlich dankbar. Dass sich so ein junges Ding mit ihm so viel Mühe machte, Werner wäre neidisch gewesen. Seltsam, dass sie Handschuhe trug, so kalt war es gar nicht. Er setzte die Flasche an.

Am Ortsausgang von Höchst, in Höhe der Straßenbahnhaltestelle machte sich auch Schurmann auf das Schlimmste gefasst, und er sollte recht behalten, denn die letzten acht, neun Kilometer führte die schnurgerade Strecke über die Mainzer Landstraße. Hier gab es kaum noch Zuschauer, die den Läufern Mut machen konnten, keine Anfeuerung mehr, die den Stolz packte und nach vorne trieb, dafür vielmehr bei den üblichen Frankfurter Wetterlagen jede Menge Gegenwind und ein schier endloses Asphaltband, das irgendwo weit hinten in der Stadt verschwand und an dessen Ende nach mehrmaligem Herumkurven durch die Innenstadt an der Messe das Ziel wartete. Schurmann beruhigte sich damit, dass die verbleibenden Kilometer so etwa der kleinen Trainingsrunde entsprachen, die er jeden zweiten Tag lief: Wer wirklich will, kann alles.

Viel half das nicht, aber er setzte weiter fast automatisch einen Fuß vor den anderen, ihm war übel. Der aschrote Bodenbelag der Messstelle unter dem bunten Plastiktor der Fünfunddreißig-Kilometer-Marke zirpte jedes Mal bewundernd, wenn ein Läufer mit seinem Chip über die Induktionsschleifen lief. Auch bei Schurmann zirpte es. Er hatte die Krise überwunden, er würde es schaffen. Auch mit fünfzig ging noch was. Und plötzlich war da wieder diese blonde Läuferin, die jetzt ohne ihren dicken Begleiter mit Leichtigkeit und einer unglaublichen Geschwindigkeit an ihm vorbeizog. Das war Energie pur: Diese junge Frau musste sich nicht mühen, die Anstrengung nicht in Grenzbereichen austesten, sie enteilte wie selbstverständlich mit großen gleitenden Schritten, wischte mit dem an Kraft überschäumenden Glücksgefühl des Gipfelsturms die Mühen der Ebene einfach beiseite. Schurmann schaute ihr fassungslos hinterher. Ein Mal nur, ein Mal so laufen können.

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Die Sieger

Sonntag, 31. Oktober, 18:30 Uhr

Für Dr. Peter Bärlinger, der vom Main in seine Wohnung zurückgegangen war, wo er sich mehr zerstreut als konzentriert der Mehrwertsteuererstattung im Euro-Raum zu widmen versuchte, war es unterdessen Zeit geworden, der Huldigung an den Läufer Schurmann das nächste Kapitel hinzuzufügen. Der Herr Kommissar hatte zur Feier des Tages ein paar Freunde auf ein Geripptes ins »Gemalte Haus« eingeladen. Und er war nicht der Einzige mit dieser Idee, wie Bärlinger unschwer erkennen konnte, als er die Tür zu der Apfelweinkneipe an der Schweizer Straße öffnete.

Der große Raum mit seinen hellbraunen Holztischen und der geschmacklosen Innendekoration war rappelvoll mit Menschen, die goldene Medaillen um den Hals baumeln hatten und sich gegenseitig voll Bewunderung auf die Schultern klopften. Wenn es beim Marathon nur Sieger gibt, wie es immer hieß, dann waren hier wohl besonders viele der knapp 20 000 Helden und Heldinnen dieses Tages versammelt. Hinten rechts im Saal entdeckte Bärlinger unter einem riesigen Frankfurtbild im Stil naiver Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts seinen Freund Schurmann, der mit einem Lorbeerkranz um den Kopf auf einer Bank stand, umringt von einem Dutzend heftig fotografierender asiatischer Touristen, die sich diese offenbar landestypische Sitte nicht entgehen lassen wollten. Bärlinger setzte sich. Schurmann erzählte hingebungsvoll von seinem Leidensweg.

Die letzten Kilometer waren die Hölle gewesen. Allein mit dem Gegenwind, hatte er sich Schritt für Schritt vorangekämpft. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, wurden die Beine immer schwerer. Eine innere Bremse sorgte dafür, dass er mehrfach, ohne es zu wollen, ja gegen seinen ausdrücklichen Willen erst kürzere, dann längere Strecken nur noch ging. Bis zum nächsten Baum, bis zum Stoppschild, bis zur Ampel. Er setzte sich immer neue Zielpunkte, an denen er wieder laufen würde. Plötzlich überholten ihn Läufer, die er vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte.

Erst kurz vor dem Ziel unter dem Hammering Man hatte er die Zuschauer wieder wahrgenommen, die in der Innenstadt dicht an dicht standen. Schon an der Alten Oper hatte er sich in Positur geworfen, als einer der offiziellen Rennfotografen sein Objektiv auf ihn richtete, und die letzten zweitausend Meter lief er wieder erhobenen Hauptes, vorbei am alten Polizeipräsidium mit seinem wilhelminischen Charme, vorbei an der gelben Fassade der Matthäuskirche, gegen deren Abriss die Gemeinde seit Jahren einen zähen Kampf austrug, während die Kirchenoberen den Wert des Baulandes und den des Seelenheils in ein ganz anderes Verhältnis setzten.

Er bog schließlich links hinter dem Messeturm in Richtung Festhalle ein, dann war es geschafft. Das Ziel war erreicht. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Glück, trotzigem Stolz und fast kraftloser Leichtigkeit lief er auf dem roten Bodenbelag der Festhalle die letzten Schritte auf die Viererkette junger Frauen zu, die den Ankommenden die Siegermedaille um den Hals hängten. Eine tausendfache Geste, die jedes Mal mit einem Lächeln von ungeheurer Dankbarkeit beantwortet wurde, das immer breiter wurde, je später die Läufer im Ziel eintrafen.

So schilderte Schurmann das Ende seines Rennens, so oder ähnlich wurde es auch an den Nachbartischen erzählt.

»Klasse«, sagte Bärlinger, »Hochachtung, wirklich tolle Leistung.« Und er meinte es auch so. Verrückt war diese Lauferei schon, aber immerhin musste man das erst mal schaffen. Diesen Triumph konnte er Schurmann neidlos lassen. Die Zeiten, in denen sie sich in aller Freundschaft immer in allem Konkurrenz gemacht hatten, waren gottlob vorbei. Die Sache mit Susanne auch. Jedenfalls sprachen sie nicht darüber und waren zu ihren alten Gewohnheiten zurückgekehrt.

»Während du gelaufen bist«, sagte Bärlinger. Schurmann nickte: »Ich weiß, die Kollegen haben mich kurz nach dem Zieleinlauf erreicht. Ich war schon im Präsidium.«

Es hatte ihn einfach ins Büro getrieben. Die ausführlichen Berichte des Arztes und der Spurensicherung würden zwar erst morgen auf dem Tisch liegen. Die Pathologie blieb nach der letzten Sparrunde im Landeshaushalt an Wochenenden auch unbesetzt, und die genaue Auswertung der Erkenntnisse vom Tatort würde ihre Zeit brauchen – trotzdem. Noch in Laufklamotten war er in sein Büro gestürmt, für das sich Farbpsychologen, die straffrei ausgegangen waren, ein duftiges Lila als Wandfarbe ausgedacht hatten, und knallhart wieder im Alltag gelandet. Es hatte sauer nach Kaffee gerochen. Irgendwer hatte die Kanne auf der Wärmeplatte stehen gelassen, es war nur noch eine bräunliche, in Teilen zähflüssige Farbkruste von dem ohnehin kaum trinkbaren Zeug übrig. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich säuberlich Kante auf Kante Aktenmappen, Verhörprotokolle und Dienstanweisungen in unterschiedlichen Farbtönen, eine davon mit den kreisrunden Kringeln von Kaffeebechern. Ärgerlich, diese Nachlässigkeit. Schurmann hatte Bleistifte und Kugelschreiber geordnet. Der rechte Winkel bedeutete ihm viel. Eine Illustrierte hatte Frankfurt schon wieder als Hochburg der Kriminalität ausgemacht, und die Führung des Hauses war nach einer ministerlichen Rüge nicht umhingekommen, die Beamten auf diese Veröffentlichung aufmerksam zu machen.

Das war jedes Jahr so. Immer wenn die Kriminalstatistiken auf dem Markt waren, rechneten die auf schnelle Schlagzeilen gebürsteten Redaktionen irgendwelcher Massenblätter an den Zahlen herum und fanden todsicher, dass pro Einwohner in Mainhattan, wie es dann gleich hieß, doppelt so viele Verbrechen begangen wurden wie anderswo und die Aufklärungsrate zu wünschen übrigließ. Dass 350 000 Menschen jeden Morgen in die Stadt pendelten und das kleine Frankfurt mit seinen 650 000 Einwohnern damit tagsüber zur Millionenstadt machten, blieb bei diesen Rechnungen unerwähnt, genauso wie der Flughafen mit seinen Millionen von Passagieren. Wenn da Amazonaspapageien geschmuggelt, Handtaschen geklaut oder in Tütensuppen – vorzugsweise Spargelcreme – Heroin gefunden wurde, dann landete das alles in der Frankfurter Statistik. Der Innenminister erwähnte diese Schattenseiten des Airports nicht, der wollte ja schließlich den Ausbau des Flughafens. Um jeden Preis. Auf die Drogenszene, die sich aus dem Umland mit der üblichen Beschaffungskriminalität in die Stadt abgesetzt hatte, schlug er hingegen mit Vorliebe ein.

Der Tote vom Main versprach im Wahlkampf ein schönes Spektakel, in Wiesbaden würde der Innenminister erhabene Reden über Recht und Ordnung halten, aber neue Stellen würde es wieder nicht geben, und so würde alles beim Alten bleiben, bis zur nächsten Kriminalstatistik. Ein unsäglicher Schwätzer, dieser Minister, von dem unter Kollegen erzählt wurde, er habe sich mal eine tote Katze vor die Haustür gelegt, um sich nach dieser Warnung als besonders bedroht einstufen zu lassen. Und in der hessischen Kleinstadt, in der er vor seiner Ministerkarriere als Anwalt gearbeitet hatte, hieß er nur Herr Millimeter, seit er versucht hatte, per gerichtlicher Anordnung ein Einfamilienhaus abreißen zu lassen, weil der Bauherr, ein kleiner Angestellter, mit seinem Häuschen entgegen der Bauordnung zwei Zentimeter zu nah an das Nachbargrundstück geraten war. Aber es gab noch Richter. So hatte es Bärlinger jedenfalls erzählt. »Dein Anwaltskollege«, hatte Schurmann gesagt. Bärlinger hatte sich etwas pikiert gegeben. Vielleicht war die Geschichte auch ein wenig ausgeschmückt, der Herr Anwalt konnte seinen Hang zum gefälligen Fabulieren nicht immer im Zaum halten.

Schurmann schaute sich im Gastraum um, winkte einigen bekannten Gesichtern zu. Bärlinger hob sein Glas: »Hochachtung, wirklich. Ich hätte das nicht geschafft.«

»Du hättest das auch nicht versucht, so wie du dich in Arbeit vergräbst – jeder löst seine Probleme anders –, ich laufe. Schön, dass du an der Strecke warst.«

»Prost«, sagte Bärlinger.

Der Äppelwoi zeigte langsam Wirkung, und wenig später standen sie in der mit hellem Marmor ausgelegten Toilette nebeneinander an den Pinkelbecken.

»Eine ziemliche Sauerei muss das gewesen sein«, sagte Schurmann. »Der Mann soll übel zugerichtet sein. Viel Blutverlust, sein Penis ist fast abgeschnitten. Und weißt du, was die Spurensicherung neben der Leiche gefunden hat? Feinsäuberlich abgetrennte Etiketten von Medikamentenschachteln. Ein richtig deftiger Cocktail: K.-o.-Tropfen, Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Schmerzstiller, auch ein Tilidin-Präparat ist darunter, eine Art Modedroge, putscht auf und macht gleichzeitig schmerzresistent.«

»Neben der Leiche? Hat der Mann das Zeug selbst geschluckt?«

»Wissen wir noch nicht, der Befund der Gerichtsmedizin steht noch aus, aber die Pappstückchen lagen unter einem kleinen Steinhaufen neben dem Kopf des Toten.«

»Wie bei einem Selbstmörder, der Hinweise geben möchte, um dann doch noch gerettet zu werden. Aber schneidet sich so einer vorher noch schnell den Schwanz ab?«, sagte Bärlinger.

Er tropfte gut ab und verstaute alles wieder besonders vorsichtig in seiner Hose.

»Fingerabdrücke waren auf den Packungsstücken nicht zu finden, ebenso wenig wie Hinweise auf Herkunft oder Verfallsdatum, auch das kleine Preisschildchen, das Apotheken auf die Packungen kleben, fehlt. Wenn der Mann das wirklich alles geschluckt hat, könnte das durchaus tödlich gewesen sein.«

»So ein Tablettengemisch muss fürchterlich schmecken, das trinkt man freiwillig nur, weil danach sowieso alles egal ist. Aber ein Suizid mit Selbstverstümmelung?«

»Eher ein Sexspielchen, das außer Kontrolle geraten ist. Wir werden uns in der SM-Szene mal umsehen müssen.«

»Bleiben außerdem die beiden Jugendlichen, die euch am Tatort abgehauen sind.«

»Woher weißt du das denn schon wieder?«

»Ist schließlich vor meiner Haustür passiert. Ich war unten an der Absperrung. KP war auch da. Aber warum sollte sich einer zwingen lassen, so ein Dreckzeug zu trinken? Wann ist das passiert, sagst du?«

»Ich hab gar nichts gesagt. So am frühen Morgen.«

»Ich war ziemlich früh auf, da waren schon ein paar Leute am Main und so ein Ausflugsdampfer.«

»Du als Zeuge? Nicht wirklich, oder?«

»Wenn du nicht willst.«

»Sei nicht gleich beleidigt. Weißt du, als Kinder wollten wir immer beide Sherlock Holmes sein, ich jedenfalls bin es wirklich geworden. Musst nicht neidisch sein, wird ziemlich mies bezahlt. Halt dich da raus.«

»Dr. Watson verneigt sich in Ehrfurcht«, sagte Bärlinger. »Gehen wir wieder rein?«

Die Gaststube mit den zu Deckenleuchtern umfunktionierten Hirschgeweihen war inzwischen etwas leerer geworden. Die Zeiger der braungeränderten Wanduhr aus den fünfziger Jahren rückten unaufhaltsam vor. Noch ein paar Gläser – der Abend ging langsam zu Ende.

Bärlinger kaufte beim »Kleinen Milano« nebenan, der entgegen der Regel weit über die warme Jahreszeit noch offen hatte, einen Amarettobecher, ließ ihn einpacken und fuhr nach Hause.

Vor einiger Zeit hatte er im Weißweinmeer des nahen Rheingaus, in dem fast nur Riesling angebaut wird, eine Rotweininsel entdeckt, von der er sich regelmäßig ein paar Kisten mitbrachte. Er öffnete eine Flasche, bemerkte, dass der Hosenbund schon wieder enger geworden war und dass er heute noch nichts gegessen hatte. Mit dem Trinken würde er sich ein wenig zurückhalten. Er ließ Butter in einer Pfanne aufschäumen, schlug zwei Eier hinein, wartete, bis die Eiweißränder eine goldgelbe Kruste ansetzten, gab nun einen Schuss Balsamico hinzu, servierte sich das Ganze auf zwei getoasteten Graubrotschnitten und schaltete den Fernseher ein.