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Locker-leichte Krimilektüre, mit einem Augenzwinkern erzählt. In Bärnau herrscht reges Treiben. Während Menschen aus aller Welt das berühmte Mittelalterfest besuchen, wird zwischen Gauklern, Rittern und Edelfrauen eine schreckliche Entdeckung gemacht. Knopffabrikantin Renate Meindl, Erbin einer Familiendynastie, liegt tot vor dem Geschichtspark, und schnell ist klar: Sie ist nicht dem Honig-Met erlegen. Hauptkommissar Johann Kranzfelder und seine Kollegin Klara Stern übernehmen den Fall, der es in sich hat, denn das Opfer war allseits unbeliebt. Doch dann bringt ein Hinweis die entscheidende Wendung.
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2025
Yvette Eckstein lebt mit ihrer Familie in den westlichen Wäldern von Augsburg und verbringt viel Zeit auf dem Bauernhof der Schwiegereltern in der nördlichen Oberpfalz. Seit ihrer frühesten Kindheit liebt sie es, Geschichten zu erzählen. Dafür absolvierte sie ein Studium an der Schule des Schreibens.
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Hintergrundwissen und ein Glossar.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Shutterstock/josefauer, Pixabay/Tom
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-266-6
Originalausgabe
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Reißt ein Knopf früh beim Ankleiden,hat man am Tag Unglück.
Aberglaube
Ihre Fingerkuppen berührten sanft die massive Tischplatte, als sie hinter den Schreibtisch aus schwerem Eichenholz trat. Dort erwartete sie sein Lederstuhl, und der schwarze Stoff des Stiftrockes, der ihr bis zu den Knien reichte, rutschte hoch. Er schlug Falten, als sie sich hineinsinken ließ, und die Unterseite ihrer nackten Schenkel legten sich um das kalte Leder. Es war, als wollte der Stuhl ihr zeigen, dass sehr lange niemand mehr auf ihm Platz genommen hatte.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und die Bluse aus fließendem Organza ließ sie nicht atmen. Doch in all den Jahren hatte sie gelernt, zu verdrängen, nur hin und wieder überkam sie das Gefühl, der Last auf ihren Schultern nicht standhalten zu können. Dann war es, als würde sie zusammenbrechen, wie eine Sandburg, auf die ein Eimer Wasser geleert wurde.
Die letzten Monate waren herausfordernd gewesen und hatten sie ausgelaugt. Sie fühlte sich matt und entkräftet, und der Wunsch in ihr, zu verschwinden, war weiter gewachsen. Dabei war sie keine schwache Person. Sie war stark und würde alles daransetzen, dass dies auch so bliebe.
Aber irgendwann würde sie es tun.
Ihr Blick legte sich auf das leere Krankenbett, das gegenüber dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes stand. Es war mit einer durchscheinenden Folie überzogen, bereit, abgeholt zu werden. Ebenso das Sauerstoffgerät, das daneben verharrte.
Scharf sog sie die Luft ein.
Atmen.
Sie durfte nicht vergessen, zu atmen.
Lange hatte die Familie sich auf diesen Augenblick vorbereitet. Der Meinung, dass ihnen noch genug Zeit bliebe. Doch dann war alles auf einmal ganz schnell gegangen. So viele Worte waren noch ungesagt, so viele Sätze unausgesprochen. Eine letzte Umarmung, die fehlte.
Sie zwang ihren Blick zurück zu dem Schreibtisch und vergrub den Kopf in ihren Händen. Sein Geruch waberte überall um sie herum, und das erdrückende Gefühl in ihrem Brustkorb schien seinen Höhepunkt zu erreichen. Es war, als würde er jeden Moment hinter ihr auftauchen und sie an der Schulter drücken, wie er es so oft getan hatte, wenn sie etwas »besonders gut« gemacht hatte.
Sie hob ihren Blick. Die Zeiger der goldenen Tischuhr waren stehen geblieben.
Wie passend, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie griff nach dem Bilderrahmen, der dort zwischen der Uhr und einem Briefbeschwerer in Form eines metallenen Würfels stand. Ein Familienfoto, das an einen sonnigen Tag im April erinnerte: Der Winter hatte sich verabschiedet, und die Tage dufteten wieder nach Veränderung und Neuanfängen. Ein Bild aus vergangenen Zeiten.
Zeiten, in denen sie noch nichts von der heimtückischen Krankheit wussten, die sie schon bald einholen würde.
Zeiten, in denen ihr größtes Problem war, nicht enden zu wollen wie sie.
»Jetzt stell dich nicht so an«, hörte sie den vor Kraft strotzenden Mann auf dem Foto sagen. »Die Erde dreht sich weiter.«
Jetzt war es nicht mehr aufzuhalten: Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, tropfte erlösend auf das Glas des Rahmens, und ein lautes Schluchzen entfuhr ihr. Erschrocken fuhr sie mit ihrer Hand darüber und verwischte damit eilig die Spuren der Schwäche.
»Es ist so weit.« Ein Ruck durchfuhr ihren Körper. Es hatte an der Tür geklopft, und sie hatte den Mann nicht näher kommen gehört.
»Ich komme«, antwortete sie, darauf bedacht, ihren Kopf gesenkt zu halten.
Niemand sollte sie so sehen. Jeder trauerte auf seine Art, aber sie wollte nicht als eine Heulsuse angesehen werden. Niemals.
Entschlossen stellte sie das Foto zurück an seinen Platz, nicht ohne es mit zwei Fingern auszurichten. Dann fuhr sie sich einmal über die strenge Frisur und erhob sich schließlich. Dabei verhakten sich die schwarzen Kunststoffrollen des Stuhls, und sie blieb mit ihren Pumps an einem der silbrig glänzenden Beine hängen. Sie stolperte und konnte sich gerade noch vor einem Sturz bewahren. Stieß jedoch gegen den Papierkorb, der daraufhin umkippte. Der Inhalt verteilte sich über das Parkett.
»Wo hab ich nur meinen Kopf?«, stieß sie aus.
»Das ist völlig normal.« Der Mann wartete in der Tür auf sie.
»So eine Sauerei.«
»Ich kümmere mich später darum, bitte, wir müssen los.«
»Nein«, antwortete sie und dann bestimmter: »Sie wissen genau, dass er nebst Unzuverlässigkeit nur die Unordnung mehr verabscheut hat. ›In einem aufgeräumten Zimmer wohnt ein aufgeräumter Geist!‹, schon vergessen?« Diese Schlamperei hätte er nie geduldet, und so umfasste sie ihre Handtasche, die sie an einem Silberkettchen auf ihrer Schulter trug, um in die Knie zu gehen.
»Ich helfe Ihnen!«
»Nein«, antwortete sie. »Ich verlange, dass Sie hinunter zu den anderen gehen und sagen, dass sie nicht auf mich warten brauchen. Ich komme sofort nach.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich dem Inhalt des Mülleimers zu und fing an, Blatt für Blatt zurück in den Eimer zu befördern.
So würde es irgendwann also einmal enden, und alles, was von einem übrig blieb, waren ein Haufen Asche und irgendwelche Kritzeleien auf Notizzetteln.
»Einen harten Knopf aufzulösen, erfordert einen spitzigen Löser.«(Besondere Herausforderungen erfordern einen klugen Kopf.)
»Name?«
»Meindl, Chef. Renate Meindl.«
»Ausweis?«
»Leider nein.« Klara Stern kniete neben der leblosen Frau, ehe sie sich erhob. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schüttelte sie den Kopf, und ihr langer Pferdeschwanz schlug dabei wie eine wild gewordene Schlange um sich. »Es wurden bei ihr keine Wertgegenstände gefunden. Kein Geldbeutel, kein Handy, nicht mal ein Schlüsselbund.«
»Raubmord?« Kriminalhauptkommissar Johann Kranzfelder trat fragend an die Tote heran, die neben einem Stapel Holzbretter hinter der großen Halle vor dem Geschichtspark Bärnau-Tachov gefunden worden war. In der Hand hielt er eine Papiertüte, gefüllt mit »Hexentanz«, einer bunten Mischung aus pikantem Nussallerlei. Die hatte er sich nachmittags oben auf dem belebten Marktplatz an einer der Buden gekauft.
»Möglich.«
»Und woher wissen wir dann überhaupt, um wen es sich bei der Dame handelt, wenn keine Ausweise bei ihr gefunden wurden?«
»Scheint bekannt zu sein. Allein die zwei Sanitäter, die sofort zur Stelle waren, haben ihre Identität bei den Kollegen der Schutzpolizei bestätigen können«, antwortete die junge Kriminalkommissarin.
Kranzfelder ging in die Hocke, um sich die Frau mittleren Alters genauer anzusehen und mit ihr auf einer geistigen Ebene in Verbindung zu treten. Ihm half es, nicht nur hinzusehen, sondern auch hinzuhören.
Seine ausladende Körpermitte störte ihn dabei ein wenig. Er setzte sich die Brille auf die Nase, und jetzt kam ihm die Tote auch bekannt vor. Sie lag ausgestreckt hinter den aufgetürmten Bohlen und trug ein aufwendiges Gewand aus goldenem Brokat, das ihr bis über die Füße reichte. Das Haar war zu einem Zopf geflochten, die weiße Haube mit dem transparenten Schleier vom Kopf gerutscht. Er war mit Blut durchtränkt, genau wie der Boden unter ihr. Daneben lag eine abgerissene Halskette, an der ein schimmernder roter Knopf befestigt war.
»Hat die jemand bewegt?«, wollte Kranzfelder wissen, während die Spurensicherung um ihn herum weiter ihrer Arbeit nachging. Ihr dunkles Einsatzfahrzeug mit der Aufschrift »Kriminaltechnik« versperrte den langen und schmalen Weg.
Seine Kollegin nickte und zeigte an der Absperrung vorbei auf die zwei jungen Männer, die etwas abseits in Uniform neben ihrem Erste-Hilfe-Koffer standen. Sie unterhielten sich angeregt mit einem Polizisten. »Als die Frau gefunden wurde, lag sie mit ihrem Kopf Richtung Boden«, sagte sie.
»Hat denn irgendjemand Fotos von der Auffindesituation gemacht?« Kranzfelder wandte sein Augenmerk von der Leiche ab und erhob sich mit einem Stöhnen. Die sommerlichen Temperaturen stauten sich unangenehm, und eine Auffrischung in Form eines Gewitters ließ auf sich warten. Irgendwann würde ihn die Hitze umbringen, war er sich sicher.
Er legte die Brille, die mit einem Bändchen um den Hals vor dem Verlegen bewahrt wurde, wieder auf seiner Brust ab.
»Einer der Sanitäter, mit dem Handy«, antwortete die Stern auf seine Frage hin, und Kranzfelder verließ gefolgt von ihr die Absperrung.
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Eine Mitarbeiterin des Geschichtsparks. Sie ist im Sanitäterzelt. Hat einen ordentlichen Schreck erlitten.«
Kranzfelder beobachtete eine illustre Runde an Rittern in schwarzgelben Kostümen, die mit Steinkrügen in der Hand an ihnen und dem eilig aufgebauten Sichtschutz vorbeitorkelten. Sie nahmen keine Notiz von dem Aufgebot an Polizei, Sanitätern und Feuerwehr. Dass hier ein Todesopfer geborgen wurde, schien sie wenig zu beeindrucken. Nach einigen Metern verschwanden sie hinter der Kurve, die auf die Straße und hoch in die Altstadt führte.
Es war Sonntag und dies der letzte Abend des mittelalterlichen Treibens. Einige Besucher hatten bereits den Heimweg angetreten, andere ließen den Tag am Lagerfeuer oder oben vor der Bühne ausklingen. Morgen würde sie wieder der Alltag erwarten.
Kranzfelder folgte dem Weg um die Halle herum. Die Stern war ihm dicht auf den Fersen. Dabei ließen sie einen Wegweiser aus Holz links liegen: »Rittergelage«. Die mitgebrachten Falt- und Glockenzelte wurden dort von den Besuchern auf den grünen Wiesen rund um das Mittelalterdorf aufgeschlagen. Aufsteigender Rauch der Fackeln und Lagerfeuer, das metallene Geräusch aufeinandertreffender Klingen und das Schlagen des Stahls entführte die Menschen an diesem Sommerabend in längst vergangene Ritterzeiten.
Vor der Halle ließ Kranzfelder seinen Blick über den Parkplatz des Geschichtsparks schweifen. Hier parkten Wohnmobile und Autos, die vermutlich zu den Darstellern und Mitwirkenden gehörten, und hier befand sich auch die Anlaufstelle des Roten Kreuzes.
An diesem Wochenende fand in der Altstadt Bärnau das berühmte Marktspektakulum auf zwei Ebenen statt. Ein eindrucksvolles Mittelalterfestival, das die Menschen aus der ganzen Welt alle zwei Jahre in die Stadt einlud. Von Holzwiesenreuth aus war es eine knappe halbe Stunde, abhängig von dem Verkehrsaufkommen auf den Landstraßen, vorbei an Wiesen, Ackerland und Waldstücken.
Gestern hatte hier auch das Ritterturnier stattgefunden, ein Highlight des Festivals. Vom Marktplatz drang mittelalterliche Musik bis zu ihnen am Geschichtspark hinunter, und die Sonne begann dem Mond zu weichen. Kranzfelder dachte kurz an die Mittelalterbands, die Gaukler und Feuerspucker, die zu späterer Stunde oben, nur wenige Straßen entfernt, ihre Künste darboten. Und er dachte an den Zwiebelrostbraten, den er nebst seiner Frau Maria und der angeheirateten Familie dort in dem urigen Gasthaus überstürzt zurücklassen musste. Denn ausgerechnet an diesem Abend fand das Testessen von Marias Lieblingscousine Barbara statt, einer auf ewig geglaubten Jungfer, die am Ende des Tages doch ihren Deckel gefunden hatte. Was lange währt, wird endlich gut. Am darauffolgenden Wochenende würde hier in Bärnau das Hochzeitsfest stattfinden und er sich mit der buckligen Verwandtschaft seiner Frau herumschlagen müssen.
Zugegeben, er hatte sich das erste Mal in seiner langen Dienstzeit fast ein bisschen gefreut, als sein Handy vibriert hatte und er zum Einsatzort nur wenige Meter entfernt gerufen wurde. Nur um das bestellte Essen war es schade gewesen.
»Die sollen mir das einpacken«, hatte er seine Frau gebeten, darauf konzentriert, ihren tödlichen Blick zu ignorieren. Mit den Worten »Das Verbrechen schläft nie« hatte er sich von der Gesellschaft verabschiedet. Gerade rechtzeitig, um die aufflammende Diskussionsrunde »Feuchtes Toilettenpapier, ja oder nein?« zu verlassen. Beim Rausgehen hatte er sich dann gefragt, wie man überhaupt auf die Idee kam, ein Testessen während des Spektakulums auszurichten. Zuvor waren sie eingeladen worden, an den Marktständen vorbeizubummeln, und Marias Cousine hatte es geschafft, aus den Hochzeitsvorbereitungen ein kleines Event zu gestalten. Und wo sich am Nachmittag die Besucher noch mühelos verteilt hatten, wurde Kranzfelder beim Verlassen des Wirtshauses sofort in das Gedränge gezogen. Hier gab es eine Bühne, vor der Ritter, Edelfrauen und andere Zeitreisende zu elektronischer Mittelaltermusik tanzten. Dazu kam eine Horde wild gewordener Kinder, die ihn mit ihren Schwertern aus Laugengebäck über den Haufen gerannt hatten. Und der durchdringende Geruch nach Bratwürsten und Patschuli, der ihm in der Nase gekitzelt hatte. Er hatte sich mit dem Strom treiben lassen. Vorbei an Buden, in denen Kaufleute ihre Waren darboten, und Bierbänken, die dazwischen der Geselligkeit dienten. In der Mitte ein schwarzes Kreuz mit einem goldenen Jesus, der über sie wachte. Auf der Höhe einer zweiten, kleineren Bühne, auf der Künstler und Musiker in karierten Röcken und mit Dudelsack auftraten, wurde Kranzfelder von einer Traube Hexen umschlossen, die ihn die wenigen Gehminuten zu dem Geschichtspark mitgezogen hatten. Sie hatten keine Notiz von ihm genommen. Lebten die nicht ziemlich gefährlich im Mittelalter?, hatte er die kurze Zeit über sinniert und dabei an den Hexenkäfig gedacht, der heute durch die Reihen getragen wurde. Kranzfelder war schließlich erleichtert gewesen, als er an dem vermeintlichen Tatort am Rande des Mittelalterdorfes nebst Kinderschminken und Theaterdarbietungen angekommen war.
»Der Familie Meindl gehört eine Knopffabrik hier in Bärnau«, sagte die Stern und holte Kranzfelder in die Gegenwart zurück.
Er nickte wissend, denn der Name Meindl war im Stiftland und darüber hinaus nicht unbekannt. Dabei hatte er die junge Erbin des Knopfimperiums in ihrem Aufzug fast nicht erkannt. Auf den wenigen Fotos, die er bisher von ihr in der Zeitung gesehen hatte, wirkte sie neben ihrem Vater und Bruder eher unscheinbar. Kranzfelder warf sich eine Nuss in den Mund. Dann knüllte er die Papiertüte zusammen. »Wo ist jetzt unsere Zeugin?«, fragte er.
Die Stern zeigte auf das Sanitäterzelt und auf eine Frau im Magd-Kostüm, die dort mit einer Rettungssanitäterin sprach. »Der Park schließt am Abend, und sie war auf dem Weg in den Feierabend gewesen. Die Kollegen von der Schupo haben ihre Aussage bereits aufgenommen.«
Kranzfelder wartete darauf, dass sein Blick den der jungen Mitarbeiterin traf, und grüßte sie mit erhobener Hand.
»Ich habe mich auch mit ihr unterhalten«, sprach die Stern. »Ihr Deutsch reicht leider nur für das Nötigste.«
»Aus Tschechien?«
»Ihr ist bis auf die leblose Frau nichts aufgefallen. Sie ist sofort zum Sanitäterzelt und hat dort Hilfe geholt.« Die Stern zeigte auf ihre Handtasche. »Sie hat meine Karte und hat mir versprochen, dass sie sich melden wird, sobald ihr etwas einfällt.«
»Was wissen wir sonst noch?«
»Die Notärztin vermutet, dass das Opfer hart am Hinterkopf getroffen wurde«, antwortete sie.
Ihr Weg führte die Kommissare wieder zurück zu dem Einsatzort. Ein kurzes Hupen ließ sie zur Seite treten, um den Wagen des Bestattungsinstituts vorbeizulassen.
»Die bringen die Leiche jetzt zum Freund in die Gerichtsmedizin.«
»Dann erfahren wir mehr«, vollendete er ihren Satz.
»Kranzfelder! Stern!«, blaffte es überfallartig.
»Kreiz Birnbam!« Kranzfelder fasste sich an die Brust. Um Haaresbreite wäre ihm seine Nussmischung ausgekommen und auf dem Boden gelandet.
Sie wandten sich um.
»Der Sheriff«, bemerkte er nüchtern, unterdrückte aber ein Lachen hinter seinem Bart, während sich der Störenfried näherte. »Oder sollen wir lieber ›Eure Majestät‹ sagen?« Die kurzen Beine von Franz Kammermayer, dem Kriminalrat, steckten in einer schimmernden Leggings, darüber trug er einen dunkelblauen Frack, der mit goldenen Knöpfen besetzt war. Er sah die Mundwinkel seiner Kollegin gefährlich zucken.
»Witzig, Kranzfelder«, antwortete der Vorgesetzte. »Sie können von Glück reden, dass ich mit meiner Frau grad in der Gegend war!«
»Dank sei Gott dem Herrn«, grummelte Kranzfelder ironisch.
»Sie sind ein Mittelalterfan, Herr Kammermayer?«, erkundigte sich seine Kollegin unterdessen aufmerksam.
Der überging ihre Bemerkung und trat an ihnen vorbei. »Was ist mit ihr geschehen?«, fragte er hinter der Absperrung, wo die Bestatter gerade dabei waren, die Frauenleiche in einen Sarg zu hieven.
»Was wird schon sein?«, entgegnete Kranzfelder. »Tot wird sie sein.«
Die Stern verpasste ihm einen diskreten Stoß in die Flanke. »Ein Raubmord kann nicht ausgeschlossen werden«, sagte sie schnell.
»Die junge Meindl, ausgerechnet.« Der Kriminalrat sog die Luft scharf durch die Zähne ein. »Das ist eine so gescheite Familie.«
»Um jede andere wäre es egal?«
»Sie wissen genau, wie ich das meine, Kranzfelder«, parierte Kammermayer.
»Kennen Sie die Frau näher?«
»Wie man sich halt so kennt«, antwortete er auf die Frage der Stern, und nach einer kurzen Pause erzählte er: »Gestern habe ich sie gesehen, als traditionell die Marktrechte zur Eröffnung verlesen wurden.«
»Dürfen wir mal kurz?« Die Bestatter warteten die Antwort nicht ab, sondern drängten sich vorbei, um den Sarg entschlossen in den Wagen zu laden.
»Nach Weiden!«, rief ihnen Kranzfelder hinterher und kassierte dafür einen genervten Blick: Es war sicher nicht das erste Mal, dass die Männer ihren Job erledigten. Geräuschvoll schlossen sie die Heckklappe des Leichenwagens und stiegen selbst in den Wagen. Die Räder quietschten auf dem Asphalt, als sie davonbrausten.
»Zeugen?«, fragte Kammermayer. »Irgendjemand hat doch sicher etwas beobachtet? Ich meine, bei dem Umtrieb.«
»Bisher leider nicht.« Die Stern hob die Hände.
Der Sheriff nickte, als würde er eine Entschuldigung akzeptieren, dann trat er wieder vor die Absperrung. »Und wer ist die?«, fragte er. Er hatte sich umgesehen und zeigte jetzt auf die Mitarbeiterin des Geschichtsparks, die das Opfer gefunden hatte. Sie war inzwischen zu ihnen zurückgekehrt und beobachtete sie etwas abseits des Fundortes.
»Sie hat die Tote entdeckt«, antwortete Kranzfelder, und ihm war, als würde die Frau auf jemanden warten.
»Sie verkauft Eintrittskarten und Souvenirs«, fügte die Stern an. »Auf dem Weg in den Feierabend ist ihr dann schätzungsweise auf dieser Höhe …«, sie zeigte neben sich auf den Boden, »… das Handy heruntergefallen. Sie wollte es aufheben, als sie aus dem Augenwinkel einen Fuß gesehen hat. Sie ist sofort zu der Dame gegangen, um zu helfen. Hat an ihr gerüttelt, sie hat gemeint, dass unsere Tote zu viel von dem Honigmet erwischt hat.« Sie zwinkerte. »Oder K.-o.-Tropfen. Es gibt nichts, was es nicht gibt – ihre Worte. Auf jeden Fall muss sie energisch versucht haben, die Frau aufzuwecken, und dabei hat sie das Blut entdeckt. Daraufhin ist sie sofort nach vorn auf den Platz gelaufen, um die Sanitäter zu informieren. Und der Rest ist Geschichte.«
»Eine Notärztin hat den Tod festgestellt«, sagte Kranzfelder. Dabei stellte er fest, dass es ihm schwerfiel, den Sheriff in seinem Aufzug ernst zu nehmen, und er Mühe hatte, nicht laut loszulachen.
»Tatwaffe?« Die Frau im Magdfräulein-Kostüm sprach jetzt aufgeregt in ihr Handy, und Kammermayer wandte sich mit seiner Frage wieder ihrer Unterhaltung zu.
»Negativ«, antwortete die Stern, und ein Mitarbeiter der Spurensicherung bestätigte ihre Aussage im Vorbeigehen mit einem Kopfnicken.
»Okay – weitermachen.« Der Kriminalrat schlug die Hacken zusammen und deutete eine knappe Verbeugung an. Dann fügte er mit gespielter Ernsthaftigkeit hinzu: »Ich muss zurück zu meiner Frau. Nicht dass sie sich endgültig in den Hufschmied verguckt.« Er verabschiedete sich mit einem knappen Gruß und verschwand in Richtung Altstadt.
»Merkwürdig«, murmelte die Stern, nachdem der Kriminalrat außer Hörweite war. Kranzfelder verstand nicht sofort, und sie erklärte: »Manchmal hasse ich meinen Job wirklich, aber zeitgleich könnte ich mir nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tun.«
»Hm.« Mittlerweile kannte er das Wesen seiner taffen und gewieften Kollegin: Sie vermittelte oft einen unterkühlten ersten Eindruck, dabei beschäftigte sie das Schicksal jedes Opfers. »Augen auf bei der Berufswahl«, sagte er daher und zwinkerte, um die Stimmung aufzulockern.
»Ich gebe ihr Bescheid«, redete die Stern weiter und unterbrach damit Kranzfelders Gedankengang. »Dass wir sie hier erst mal nicht mehr brauchen und von unserer Seite nichts dagegenspricht, wenn sie nach Hause geht?« Sie deutete in die Richtung der Zeugin. Die hatte ihr Telefonat beendet.
Kranzfelder nickte. »Klara?« Seine Kollegin drehte sich noch einmal zu ihm um. »Kannst du mich zu Hause absetzen?«, fragte er.
Ungläubig sah sie ihn an. »Willst du denn nicht zurück zu deinem Testessen?«
Unter normalen Umständen würde er niemals ein gutbürgerliches Gericht sausen lassen, und das wusste sie.
»Gott bewahre!« Seine Antwort kam prompt, und die Stern lachte auf.
Sie hatte verstanden, vermied es aber, weiter nachzubohren. Stattdessen informierte sie ihre Zeugin, die daraufhin ihre graue Wolldecke einem der herumstehenden Sanitäter in die Hände drückte. Mit dem kleinen Rucksack über der Schulter und einer Wasserflasche in der Armbeuge verließ sie das Gelände. Darauf bedacht, ihre Schritte zu beschleunigen und den Blick gen Boden gesenkt zu halten, als sie an Kranzfelder und dem Unglücksort vorbeikam.
Die Spurensicherung war inzwischen mit ihrer Arbeit fertig. Einer nach dem anderen trug an Kranzfelder die Ausrüstung vorbei, zurück in das Einsatzfahrzeug. Nur die Absperrung und ein Flatterband blieben bestehen.
»Bericht kommt«, rief ihm ein Kollege zu, der sich aus seiner Schutzmontur befreite. »Das hier ist aber ziemlich sicher der Tatort, bei dem ganzen Blut.«
»Die Leut schrecken wirklich vor nichts zurück«, brummte Kranzfelder.
»Vielleicht der Kick?«
»Wie meinst jetzt das?«
»Manche Leute lieben es doch, mit der Angst zu spielen.« Der Kollege von der Spurensicherung sah ihm direkt ins Gesicht. »Na, erwischt zu werden.« Er langte sich an die Stirn und schüttelte den Kopf über Kranzfelders Schwierigkeiten, ihm folgen zu können.
»Mittlerweile wundert mich nichts mehr«, stimmte Kranzfelder zu und verabschiedete sich. Er ließ den Tatort hinter sich, spazierte nach vorn auf den Platz und von dort zum Eingang des Geschichtsparks. Er lief den kiesigen Weg hin und zurück, am Café »Brot & Zeit« vorbei, und beobachtete dabei die Leute, die sich weiterhin hier aufhielten und den Abend genossen. Dazwischen entdeckte er Kollegen in Blau, die dort ihren letzten Befragungen nachgingen.
Er blieb neben einer Tafel stehen, auf der die Besucher des Geschichtsparks Bärnau-Tachov mit einem Lageplan begrüßt wurden. Ein originalgetreues Mittelalterdorf nahe der tschechischen Grenze, das länderübergreifend und in Zusammenarbeit beider Gemeinden liebevoll gepflegt wurde. Hinter der Eingrenzung aus hohen Holzstämmen wurde man über verschiedene Wege an Häusern aus Früh- und Hochmittelalter durch die Geschichte geführt. Es war, als würde man hier durch die Zeit katapultiert. Zurück in die Vergangenheit.
Die Stern kam ihm winkend entgegengelaufen. »Hast du nicht jemanden vergessen?«, fragte sie.
»Wie könnte ich?«, antwortete er abwesend. Er war darauf konzentriert, einen jungen Mann zu beobachten, der mit einem Blasebalg die Glut bediente. Er war ihm mit seiner schweißtreibenden Arbeit schon heute Nachmittag aufgefallen. Aber die Maria hatte nur Augen für Stände mit Schmuck, Tüchern und Töpferwaren gehabt und ihn mitgezogen.
»Lust auf einen Honigmet, wenn wir schon mal hier sind?«, fragte sie mit einem Grinsen.
»Lieber nicht«, antwortete er. »Nicht dass es uns am Ende wie der Frau ergeht.« Eine Ausrede. Denn auch wenn er heute erst gelernt hatte, dass dieses altertümliche Getränk aus Honig, Wasser und Gewürzen bestand und seine Rezeptur älter war als die des Weines, traf es nicht seinen Geschmack.
»Dann lieber eine Gulaschsuppe?«, fragte sie weiter. »In einem rustikalen Brot?« Sie formte mit ihren Händen einen Laib und hob dazu verlockend die Augenbraue.
Kranzfelder sah sie skeptisch an. Seine Kollegin hatte eindeutig Hunger, oder warum redete sie sonst die ganze Zeit vom Essen?
»Hexentanz?«, fragte er. Dann bot er ihr die Papiertüte mit den Nüssen an. Sie lächelte dankbar. Es war noch ein Rest vorhanden. »Gesunde Fette, Vitamine, Mineralien«, zählte er auf.
»Ich bin beeindruckt«, entgegnete sie. Zielsicher landete eine der Nüsse in ihrem Mund, und gemeinsam beschlossen sie, einen Abstecher in das Rittergelage zu machen, auf das eine Reihe Wegweiser hindeutete.
»Wird die Frau Meindl denn von niemandem vermisst?«, fragte Kranzfelder, während sie durch das Lager schlenderten. »Ich meine, war sie allein hier auf dem Fest?«
Abwechselnd griffen er und seine Kollegin in die Tüte mit dem Superfood. Einige Zelte waren bereits abgebaut und wieder andere Mittelalterfans dabei, den Heimweg anzutreten. Der harte Kern aber saß in gemütlicher Runde beisammen. Fackeln und Lagerfeuer verliehen dem Sommerabend seinen Zauber und gaukelten Kranzfelder stellenweise tatsächlich vor, durch ein Tor in eine längst vergessene Welt eingetreten zu sein. Eine freundliche Einladung, sich dazuzugesellen, lehnten die Kommissare dennoch ab.
»Laut Kollegen hat bisher keiner der Befragten etwas bemerkt, und vermisst wird sie auch nicht. Sie scheint tatsächlich ohne Begleitung auf dem Fest gewesen zu sein. Sie sind aber noch nicht ganz durch.«
»Ein Event in der Größenordnung macht die Tätersuche nicht unbedingt leichter«, überlegte Kranzfelder. »Um nicht zu sagen, schier unmöglich. Seien wir mal ehrlich, der Täter ist inzwischen über alle Berge, nachdem er sich zuvor unter die Meute gemischt hatte.« Dabei erinnerte er sich an die Parkplatzmöglichkeiten und die angebrachten Wegweiser an den Straßen. Bärnau war im organisierten Ausnahmezustand und bestens vorbereitet, wenn die Stadt alle zwei Jahre ihre Tore für das Spektakulum öffnete.
»Maskierungen und Kostüme machen es nicht unbedingt besser«, bemerkte die Stern.
»Hast du den Pestarzt gesehen?«
»Gruslig, ja.« Sie nickte.
»Und von der Tatwaffe keine Spur«, sagte Kranzfelder. Sie waren am letzten Zelt vorbeigegangen und traten den Rückweg an.
»Bisher nicht, aber auch hier gilt, die Kollegen sehen sich weiter um.« Sie kamen wieder auf den Weg, der sie hinter der Halle entlangführte. Die Stern fasste Kranzfelder an den unteren Rücken und schob ihn so vor sich her. »Die könnte überall sein.«
»Genau wie unser Täter oder unsere Täterin.«
Sie deutete auf die Straße, die vom Geschichtspark weg nach oben in die Altstadt führte.
»Die Mülleimer neben den ganzen Fressbuden«, knurrte Kranzfelder und suchte dazu den roten Mini der Stern. »Sag den Kollegen Bescheid, die sollen nachsehen.« Er zeigte auf ihr Handy. »Die Tatwaffe könnte auch in jeder Wiese liegen.«
»Eine Hundertschaft ist schon informiert«, bemerkte sie. »Die werden das ganze Gelände drum herum durchkämmen, allerdings erst morgen Vormittag.«
»Der gesuchte Gegenstand kann inzwischen aber auch auf dem schlammigen Grund eines Karpfenteichs liegen«, sagte Kranzfelder.
»Ich organisiere uns Taucher.«
»Sie kann überall sein.« Er blieb abrupt stehen. Wie ein kleines Kind, das entschieden hatte, keinen Meter weiter zu laufen. »Sag mal, wohin bringst du mich überhaupt?« Sie waren mittlerweile auf einer Straße gelandet, die hinter dem Geschichtspark entlangführte.
»Ich bringe dich nach Hause.«
»Ja, aber doch nicht zu Fuß! Mit dem Auto!«
»Dafür müssen wir nur noch herausfinden, wo ich es geparkt habe«, witzelte sie, und Kranzfelder stöhnte auf. Er kannte die verwinkelten Straßen hier in Bärnau. Hatte er doch sich selbst schon des Öfteren verfahren, wenn sie wieder zu Besuch bei Marias Cousine waren.
»Informierst du die Familie der Toten?«, fragte er, im Hintergrund die Dudelsackklänge der Band, die jetzt ihren Auftritt hatte.
»Knopff oder Spitz, welchs du willst.«(Aussage galt früher als eine Drohung.)
»Zefix!«, stieß Kranzfelder wütend hervor. »Pfui! Aus!« Energisch versuchte er, den Hund mit seinem Fuß beiseitezuschieben. »Kann mal jemand das Kalb hier an die Leine nehmen?« Das Tier ließ sich davon nicht abschrecken. Es hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Marmeladensemmel des Hauptkommissars gelegt. »Super, jetzt liegt sie auf dem Boden!«, erklang es ernüchternd.
»Idefix!« Alexander, Kranzfelders erwachsener Sohn, war unbemerkt in die Küche gekommen und fand dort sein Haustier neben dem Küchentisch vor. Es schleckte sich genüsslich mit der langen und fleischigen Zunge über das Maul.
Kranzfelder schmunzelte, denn der Name des Hundes war die reinste Form von Ironie. Das Tier reichte ihm bis zur Hüfte und gehörte, sofern er seinen Sohn und Hundevater korrekt verstanden hatte, zu den größten Hunderassen der Welt. Bei Idefix handelte es sich um einen Irischen Wolfshund.
Alexander war erst vor Kurzem aus Bangladesch zurückgekehrt und hatte sich in den wenigen Monaten dort neu erfunden. Er engagierte sich jetzt für den Tierschutz, bot Tieren eine Pflegestelle an und trug Klamotten aus Leinen, so weit geschnitten, dass ihm der Schritt der Hosen bis in die Kniekehlen reichte. Sein kinnlanges Haar passte zu dem ungekämmten Erscheinungsbild des Hundes. Es hieß nicht umsonst, dass sich Vierbeiner und deren Besitzer mit der Zeit optisch anglichen, überlegte Kranzfelder amüsiert.
»Was war das?«, fragte er, und Kranzfelder vernahm einen Anflug von Panik in seiner Stimme.
»Ich hab dem nix gegeben«, antwortete er wahrheitsgemäß.
»Jetzt tu nicht so, der Hund hat doch was gefressen!«
»Du meinst die Semmel mit Butter und Marmelade, die er mir geklaut hat?«
»Jetzt wälz die Schuld nicht auf das Tier ab. Du weißt genau, dass der Idefix nichts verträgt!«
»Was kann ich dafür, wenn du den Hund nicht im Griff hast?«, donnerte Kranzfelder. »Es ist höchste Zeit, mit ihm eine Hundeschule zu besuchen.« Das Tier war ständig hungrig. Es war kaum zu bändigen, wenn es Nahrung witterte, im Speziellen die, die nicht für ihn vorgesehen war. Der Name Obelix würde für den Hund weitaus besser passen als Idefix.
Sein Sohn sah ihn entgeistert an. »Er hat traumatische Zeiten hinter sich, Papa, ja? Der Idefix hat monatelang gehungert, war irgendwo auf einem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Nach seiner Rettung muss er sich erst an die neue Umgebung gewöhnen und daran, dass für ihn gesorgt wird. Es dauert halt nun mal, bis man in diesem Fall eine geeignete Familie findet, die ihn übernehmen kann«, erklärte er aufgebracht. »Du unsensibler Klotz!«
Kranzfelder suchte nach einer passenden Antwort, fand sie nicht und trank einen großen Schluck von seinem Kaffee. Missmutig verzog er das Gesicht. Kein Zucker. Er erinnerte sich an die Worte seiner Hausärztin, die besagten, kleine Veränderungen würden langfristig für eine gesündere Zukunft sorgen – man müsse sich nur daran gewöhnen.
Alexander hatte sich seinem Hund zugewandt und kraulte ihm beherzt durch das dichte Fell. Da betrat Maria die Küche, gefolgt von Konrad Kranzfelder.
Die Eltern des Hauptkommissars wohnten ebenfalls auf dem Hof, in einem Haus gegenüber.
»Die Irmgard würde di so nie unter d’ Lait lassn, Opa!«, schimpfte Maria. »Wir redn dou niad vo a Kirwa, sondern vo a Hochzeit. Dou kummt ma niad daher wai da letzte Depp!« Unter ihren roten Locken hatten sich hektische Flecken gebildet.
Vor einiger Zeit war Maria bei einem frühsommerlichen Eisbecher gegenüber der Kirche in Holzwiesenreuth gefragt worden, ob sie das Amt der Trauzeugin übernehmen würde. Sie hatte keinen Moment gezögert, sich dem zu stellen, und nahm ihre Aufgabe seitdem ausgesprochen ernst. Nichts wurde dem Zufall überlassen, und Kranzfelder war sich sicher, dass sie jede Hochzeitsplanerin in den Schatten stellte.
»Des is doch nu pfenniggout«, sagte Opa Kranzfelder. Er steckte in einem Anzug aus senfgelbem Cord, darunter ein grünes Hemd und eine gemusterte Krawatte. Dabei vermittelte er den Eindruck, die Welt nicht mehr zu verstehen.
»Des is doch sicher niad da oinzige Anzug in deim Kasten?« Maria klang verzweifelt.
»Scho.«
»Wos is mit deim Hochzeitsanzug?«
»Den heb i mir af.«
»Für wos?«
»Mei Beerdigung.«
Marias Blick entgleiste. »Des is a Scherz, oder? So …«, sie zeigte auf seine Kleidung und betonte jedes Wort, »… nehm ich dich nicht mit!«
»A recht«, antwortete Opa Kranzfelder unbeeindruckt. »Dann geh i halt zum Andres ins Wirtshaus.«
Die Maria gluckste gefährlich. »Sicher niad«, zischte sie. »Wir foarn und kaufen dir a ordentlichs G’wand.«
»Des is asseg’schmissens Geld.«
»Wo is d’ Irmgard?«
»Seniorenfrühstück.«
»Der Idefix muss raus«, murmelte Alexander. Er war schon fast durch die Küchentür, in der Hoffnung, unbemerkt von der Bildfläche zu verschwinden.
»Warte auf mich«, stieß Kranzfelder aus und sprang von seinem Platz auf. Eilig stellte er seinen Teller neben das Spülbecken und leerte schwungvoll den Inhalt seiner halb vollen Kaffeetasse in den Abfluss. Dann zeigte er erklärend auf sein Handy. »Die Stern hat schon dreimal versucht, mich zu erreichen.«
»Niad so schnell!«, blaffte die Maria. »Alexander, dir hob i dein Anzug vom Abschlussball asseg’sucht, der passt dir scho nu!«
Kranzfelder schob sich an seiner Frau vorbei. »Ich bin dann weg.«
Doch sie packte ihn mit festem Griff am Arm und hinderte ihn am Weitergehen. »Dein Sakko hängt am Schrank. Anprobieren, aber niad auf den letztn Drücker, Bärchen!« Sie betonte seinen Kosenamen und verpasste ihm einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange, dann ließ sie ihn frei.
Kranzfelder folgte dem Alexander aus der Küchentür in die Garderobe.
»Und denk an unseren Tanzkurs heute Abend!«, hörte er die Maria ihm hinterherrufen. Damit war der Auffrischungskurs in der Tanzschule gemeint, und ihm wurde spätestens jetzt wieder bewusst, dass Verdrängung eher suboptimal war. Denn es packte das Problem nicht an der Wurzel, sondern schob es nur auf die lange Bank.
Er erinnerte sich. »So a Chance bekommen wir niad nu mal, endlich unsern Hochzeitstanz nachzuholn«, hatte seine Frau mit verklärtem Gesichtsausdruck gesagt, nachdem sie freudestrahlend die Hochzeitseinladung ihrer Cousine aus dem Briefkasten gefischt und kurz darauf die Annonce der Tanzschule im »Neuen Tag« gelesen hatte. Noch heute wurde keine Gelegenheit ausgelassen, um ihn an ihren eigenen Brauttanz zu erinnern. Ein langsamer Walzer, bei dem sich seine Füße in der ersten Drehung verknotet und er sein Gleichgewicht verloren hatte. Mit voller Wucht war er im Kuchenbüfett gelandet und hatte die Maria in ihrem Kleid mit sich gezogen. Die Flecken der roten Grütze auf dem ausladenden Rock trieben ihr auch Jahre später die Tränen in die Augen. Etliche Reinigungsversuche hatten nicht die gewünschte Wirkung erzielt, und so wurde dieses Ereignis bei Familientreffen aller Art als Eisbrecher genutzt. Gab es schließlich reichlich Aufnahmen, die ihn und seine Frau in der erniedrigenden Situation zeigten.
Kranzfelder war kein Tänzer, er gehörte zu den Leuten, die am Rand standen und zusahen. Oder besser: den Moment nutzten, um mal dringend die Toilette zu besuchen. Er bewunderte die Leute, die über ein Rhythmusgefühl verfügten und auf der Tanzfläche eine vorteilhafte Figur machten. Kranzfelder dagegen war die Marionette, deren Gliedmaßen an dünnen Fäden hingen und sich ungelenk bewegten. Kurzum, es bereitete ihm Unbehagen.
Er schüttelte die unangenehme Erinnerung an seine Hochzeit ab und zog die Haustür hinter sich zu. Der Alexander war inzwischen mit Idefix verschwunden.
***
»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie hier auftauchen werden«, sagte Konstanze Meindl, eine Frau Ende sechzig. Um ihren Hals trug sie ein schlichtes Kreuz. Sie war die Mutter der Toten, die am Vorabend während des Marktspektakulums gefunden worden war.
Kranzfelder und Stern hatten sich ihr über die schmalen und ausgetretenen Stufen der grünen Anhöhe hinter der Steinbergkirche genähert. Das kleine Gotteshaus außerhalb der Altstadt war in Bäume eingebettet, nur wenige Meter von der tschechischen Grenze entfernt, die ein blaues Schild kennzeichnete.
»Wir sind von der Kriminalpolizei und ermitteln im Fall Ihrer Tochter«, sagte die Stern und hob ihren Dienstausweis in die Höhe. »Mein Kollege, Kranzfelder.« Nachdem sie gestern am späten Abend versucht hatte, die Familie über den Tod der Frau zu informieren, hatte sie nur die Haushälterin der Meindls erreicht.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
Sie war es auch, die den Kommissaren eben die Tür geöffnet und ihnen gesagt hatte, wo sie die Dame des Hauses antreffen würden. Sie verbrachte wohl die meiste Zeit an diesem heiligen Ort und vertrat sich dort gern die Beine. Kranzfelder und Stern hatten sich daraufhin gleich die Räumlichkeiten der Toten in der Villa zeigen lassen und sich umgesehen. Gemeinsam mit dem fast erwachsenen Sohn bewohnte Renate Meindl dort eine Anzahl von Zimmern mit einer eigenen Küche und Badezimmer – quasi eine Einliegerwohnung. Anders als erwartet war das Mobiliar zum größten Teil schlicht und stammte vermutlich von einem schwedischen Möbelhaus. Auch für Dekoration hatte die Tote offenbar nicht viel übriggehabt, dafür lagen auf einem kleinen Wohnzimmertisch haufenweise Reiseführer und Urlaubskataloge. Auf den ersten Blick hatte alles unauffällig gewirkt. Von der Geldbörse und dem Handy fehlte weiterhin jede Spur, eine Ortung bei Letzterem bisher erfolglos.
»Ihre Haushälterin, Frau Barbero, hat uns verraten, wo wir Sie finden werden«, antwortete die Stern behutsam.
Und doch hatten sie die Mutter der Toten nicht sofort entdeckt. Die Stern hatte sich umgesehen und Kranzfelder sich auf den Eingangsstufen der kleinen Kirche platziert. Sie war gepflegt und mit einem schmucken Tor aus gusseisernem Stahl verschlossen. Ein Aushang informierte über die Öffnungszeiten. Von hier ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen, sah eine mit Laubbäumen gesäumte Allee, die kerzengerade auf ihn zuführte. Ein durchdringender Pfiff hatte seine Suche beendet. Die Stern hatte Frau Meindl bei ihrem Rundgang hinter der Kirche, oberhalb der mit Moos bewachsenen Tribüne, gefunden. Die abgesetzten Sitzreihen erinnerten an ein kleines Kolosseum, und die Arena verfügte über einen steinernen Altar. Kranzfelder stellte sich vor, dass an manchen Tagen hier Messen im Freien abgehalten wurden.
So begleiteten sie die Dame auf ihrem Weg, der sie direkt auf ein Waldstück zuführte. Trotz der Straße, die entlang der Kirche verlief, herrschte zu diesem Zeitpunkt absolute Ruhe, und die Zeit schien stillzustehen. Bis auf das gelegentliche Rauschen der Bäume, Vogelgezwitscher und das Knirschen ihrer Schuhsohlen auf dem Untergrund waren keine Störgeräusche zu hören. Es war friedlich.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte die Stern. Sie blieben vor einer Grotte am Wegesrand stehen. Aus ihr sah den Vorbeigehenden, eingesperrt hinter einem mit Blütenköpfen geschmückten Gitter, die betende Maria entgegen.
»Wie soll es einer Mutter gehen, die vor wenigen Stunden erfahren musste, dass ihre einzige Tochter aus dem Leben gerissen wurde?«, flüsterte Frau Meindl endlich, und ihre erstickte Stimme spiegelte den Schmerz wider, der sie beherrschte.
»Wir möchten Ihnen unser aufrichtiges Beileid aussprechen«, meldete sich Kranzfelder, der zu ihnen gestoßen war.
Stern berührte kurz die Schulter der Frau. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt und betrachtete die Muttergottes.
»Haben Sie denn jemanden, der sich in dieser schweren Stunde um Sie kümmert?«
Frau Meindl warf Kranzfelder einen flüchtigen Blick zu. Sie war von normaler Größe, ihr Gesicht fahl und ausgemergelt, die Augen eingefallen und von Schatten umgeben, das kurze braune Haar mit grauen Strähnen durchzogen.
»Ihr Mann vielleicht?«, fragte die Stern.
Frau Meindl erweckte den Anschein, ihre Fragen nicht gehört zu haben. Sie flüsterte ein Gebet, die Augen wieder starr auf die Heiligenfigur gerichtet.
Die Kommissare sahen sich ratlos an. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben.
»Haben Sie meine Kollegin gehört?«, fragte Kranzfelder schließlich.
»Er ist verstorben.« Frau Meindl zeichnete ein Kreuzzeichen auf der Brust nach.
»Entschuldigen Sie bitte.«
»Vor zehn Wochen, drei Tagen und sieben Stunden.«
Sie reagierte nicht auf die weitere Beileidsbekundung der Stern, und Kranzfelder erinnerte sich wieder an die Todesannonce in der Zeitung.
Es reichte ein erneuter Blickwechsel zwischen den Kommissaren, um zu verstehen, dass sie beide die gleiche Sorge hatten. Denn die Stimme von Frau Meindl klang monoton und ohne jegliche Emotion. Für zwei Verluste in ihrer Familie, die dazu eng aufeinanderfolgten, wirkte sie gefasst, wenn auch gedanklich abwesend.
»Benötigen Sie ärztliche Hilfe? Jemanden, mit dem Sie reden können?«, fragte die Stern. »Wir haben bei der Polizei für solche Fälle extra Seelsorger, die Ihnen zuhören.«
Frau Meindl schüttelte den Kopf. »Ich habe noch einen Sohn«, hauchte sie. »Jonathan.«
»Und? Kümmert er sich um Sie?«, fragte Kranzfelder.
»Er hat die Fabrik«, antwortete sie, als ob er von ihm etwas völlig Abwegiges erwarten würde. »Seit Helmut gehen durfte, lasten die Belange schwer auf seinen Schultern. Aber es war nun mal der Wunsch seines Vaters.«
»Ihren Sohn zu belasten?« Kranzfelder klang ungläubig.
»Ihm die Leitung der Fabrik zu übergeben«, antwortete sie. »Außerdem gehört mein Herz der Kirche. Der Herr wird mich durch diese schwere Zeit begleiten.« Sie schloss kurz die Augen, und ihr Blick richtete sich nach innen.
»Frau Meindl«, wechselte die Stern zurück zu dem eigentlichen Thema. »Dieses Gespräch ist sicher nicht leicht für Sie, aber im Moment kann ein Raubmord nicht ausgeschlossen werden.«
»Ich habe Renate oft gesagt, dass sie nicht allein in der Weltgeschichte umherschwirren soll.« Sie lächelte flüchtig. »Aber hat sie auf mich gehört? Nein. Schon als junges Mädchen hat sie lieber das Gegenteil von dem getan, was ich ihr geraten habe. Ein kleiner Sturschädel, immer mit dem Kopf durch die Wand. Typisch Widder, oder?«
»Sind Sie am Wochenende auch auf dem Marktspektakulum gewesen?«, fragte die Stern.
»In meinem Alter?«
»Ich bitte Sie!«, kam es von Kranzfelder.
»Sie schmeicheln mir, Herr Kommissar, aber ich habe schon länger das Gefühl, mit dem rasanten Tempo der heutigen Zeit nicht mithalten zu können.« Sie überkam ein Schluchzen, und sie wischte eine Träne fort. »Ich bin wie jeden Abend früh zu Bett gegangen.«
Kranzfelder reichte ihr ein Taschentuch. »Es ist unvorstellbar, wie belastend dieser Verlust für Sie sein muss«, sagte er. »Aber wir sind hier, um das Verbrechen an Ihrer Tochter aufzuklären. Das ist sicher auch in Ihrem Interesse.«
»Wir verstehen aber, wenn Sie momentan nicht in der Lage sind, mit uns zu sprechen«, fügte die Stern mit sanfter Stimme an. »Dann vereinbaren wir einfach für morgen ein neues Gespräch?«
»Ich wünsche mir, dass dieser Mensch, der meinem Mädchen das angetan hat, gefunden wird«, erklang es unerwartet scharf aus ihrem Mund. Sie war stehen geblieben, und ihr Blick war klar. »Schaffen Sie das?«
»Wir werden alles in unserer Macht Stehende versuchen«, kam es von Kranzfelder. Mit Versprechungen jeglicher Art war er vorsichtig. Denn in der Vergangenheit hatte er einmal den Fehler begangen, etwas zu versprechen, das er am Ende nicht hatte einhalten können.
»Raubmord, sagten Sie?«