Bauernopfer - Gert Esterle - E-Book

Bauernopfer E-Book

Gert Esterle

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Beschreibung

In einem Weingarten im nördlichen Niederösterreich wird ein Landwirt tot aufgefunden. Todesart und Auffindung der Leiche deuten auf starke Emotionen mit religiösem Hintergrund. Wallfred Allig, einst AHS-Lehrer für Deutsch und Latein, steht als spätberufener Kriminalist vor seinem ersten Fall. Dessen Aufklärung wird keine leichte sein, wie sich bald herausstellt: Die Dorfgemeinschaft gibt nur ungern ihre Geheimnisse preis. Alligs Ermittlungen führen ihn bis in die Schweiz und nach Deutschland, aber auch tief in die Regionalpolitik, die ebenfalls viel zu verbergen hat. Wallfred Allig und seine drei sehr unterschiedlichen Mitarbeiter wühlen ordentlich Dreck in der ländlichen Idylle auf und ziehen die Schlinge um den Mörder enger. Bis es eine weitere Leiche gibt.

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Seitenzahl: 496

Veröffentlichungsjahr: 2018

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In einem Weingarten im nördlichen Niederösterreich wird ein Landwirt tot aufgefunden. Todesart und Auffindung der Leiche deuten auf starke Emotionen mit religiösem Hintergrund.

Wallfred Allig, einst AHS-Lehrer für Deutsch und Latein, steht als spätberufener Kriminalist vor seinem ersten Fall. Dessen Aufklärung wird keine leichte sein, wie sich bald herausstellt: Die Dorfgemeinschaft gibt nur ungern ihre Geheimnisse preis. Alligs Ermittlungen führen ihn bis in die Schweiz und nach Deutschland, aber auch tief in die Regionalpolitik, die ebenfalls viel zu verbergen hat. Wallfred Allig und seine drei sehr unterschiedlichen Mitarbeiter wühlen ordentlich Dreck in der ländlichen Idylle auf und ziehen die Schlinge um den Mörder enger. Bis es eine weitere Leiche gibt…

© Oliver Sartena

Gert Esterle, geboren 1949 in Kärnten, arbeitete bis 2011 als BHS-Lehrer für Deutsch und Geschichte in Wien. Mit „Bauernopfer“ legt er nicht nur sein Debütwerk vor, sondern interpretiert auch das Genre des literarischen Kriminalromans neu. Er lebt in Deinzendorf (Weinviertel), Niederösterreich.

“Wie besteht der Künstler in einer

Welt der Bildung, der Alphabeten?

Eine Frage, die mich bedrückt,

auf die ich noch keine Antwort weiß.

Vielleicht am besten,

indem er Kriminalromane schreibt,

Kunst da tut, wo sie niemand vermutet.

Die Literatur muss so leicht werden,

daß sie auf der Waage der heutigen

Literaturkritik nichts mehr wiegt.

Nur so wird sie wieder gewichtig.“

Friedrich Dürrenmatt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

KAPITEL 1

Unterhautzenhofen

Hornbrunn

Dienstag, 30. August 2016

„Mensch, Jochen, guck dir diese prallen Dinger an!“

„Wow! Und wie reif die da hängen, Rainer!“

„In die kannst du direkt reinbeißen!“

„Das tun wir doch gleich mal!“

„Klar, Mensch, ziehn wir uns diese blauen Beeren rein!“

„Laufen wir kurz in die Zeile, da sieht uns keiner!“

„Ist sowieso niemand da. Wo diese ollen Bauern wohl alle sind?

Total tote Hose im Dorf!“

„Von wegen die Trauben hängen zu hoch! Ist ja wie im Schlaraffenland!“

„Mensch, Jochen, die schmecken ja prima!“

„Das ist eine Radlerjause, was, Rainer!“

„Du sagst es! Ein Lebenselixier, diese Früchte!“

„Wir haben eine Pause verdient. Sag, wie weit haben wir es denn noch?“

„Laut Radkarte noch dreißig Kilometer bis Hornbrunn.“

„Das schaffen wir locker! Guck, ich hab schon ganz rote Finger.“

„Zeig die bloß mal nicht der Polizei! Da stehst gleich unter Mordverdacht.“

„Mensch, ich versteck meine Pfoten… Nein!!!“

„Was ist mit dir, Jochen? Ist dir übel geworden?“

„Rainer!!!“

„Mensch, was hast du denn?“

„Das gibt´s ja nicht! Rainer, da liegt ja wer!“

„Komm, lass mich gucken! Das ist ja…um Gottes willen!!“

„Ich glaub, ich muss kotzen…“

Ein Schweigen kann viele Stunden eine menschliche Wohltat bedeuten.

Des Tages Getöse zerrt an des Menschen Nerven, rüttelt am Wohlbefinden seiner Seele. Und das beileibe nicht nur in der Großstadt. Das Bild der ländlichen Idylle bedarf heute da und dort einer gründlichen Übermalung. Das Land – eine Oase der Ruhe? Auffällig und dem menschlichen Ohr schmerzhaft präsent sind auch weitab von der Stadt die Folgen der Industrialisierung: Autokolonnen in Dörfern ohne Umfahrungsstraßen, LKW-Züge, die durch entlegene Ortschaften donnern, gigantische Metallungetüme auf den Feldern und Dorfwegen. Dazu gesellt sich immer wieder die Unterhaltungssucht der Menschen, die einen Dezibelwert erreicht, der behördlich nicht zulässig sein sollte. Da ein Kirtag, dort ein Sportfest, in jedem Dorf ein lautstarkes Unterhaltungsfestival, Autos in quietschender An- und Abfahrt, eine Unzahl von auffrisierten Mopeds, die sich dröhnende Wettbewerbe liefern. Discolärm, der Menschen enthemmtes Geschrei, alkoholintensives Gebrüll und Gejohle. Da kann die Blasmusikkapelle nicht mithalten, auch wenn sie es noch so heftig versucht.

Schon seit zwei Stunden hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Es war Dienstag, der 30. August 2016. Ein warmer Nachmittag im schwachbesuchten Café Melanie. Wie kann ein in der Kunst der Rede geübter Mann nur so lange schweigend seine Zeit vergehen lassen, dachte sich Kommissar Allig, während er über seinen nächsten Zug nachdachte. Ihm gegenüber bemühte sich sein alter Spielpartner, der pensionierte ÖBB-Beamte Viktor Paul, den Kopf mit den ergrauten Haaren zwischen seinen Händen, die Spielsituation und seine Chancen abzuschätzen. Mit wachen, funkelnden Augen fixierte Paul das Brett und seinen Spielgegner. Es ist schon komisch, kein Verdächtiger, den er in seiner nun bereits fast dreijährigen Berufspraxis als Kriminalpolizist vernommen hatte, war so lange Zeit vor ihm gesessen, ohne ein Wort von sich zu geben, kam es Allig in den Sinn. Einmal – vor etwa einem halben Jahr – hatte ein des Mordes verdächtigter Bosnier bei einem Verhör eine dreiviertel Stunde vor sich hingestarrt. Keine Frage konnte ihm auch nur einen Ton entlocken, obwohl er bekanntermaßen der deutschen Sprache mächtig war. Allig war damals ausgezuckt, er, der Stoiker, den kaum etwas aus der Ruhe bringen konnte. In der damaligen Situation aber hatte er seine Beherrschung verloren und den Bosnier angebrüllt: „Qui tacet consentire videtur!“1 Erschrocken hatte er innegehalten. Da schreie ich meine lateinische Bildung diesem Jugotölpel ins Gesicht, durchfuhr es ihn reumütig. Aber immerhin, dieser wurde gesprächig. „Ich Dolmetsch verlangen.“ „Da hast du Pech. Cicero, Horaz, Sallust und Vergil, alle vier sind im Urlaub, und das unbefristet!“ „Dann ich kein Wort mehr sprechen.“ „Bitte, musst du nicht, die Indizien sprechen sowieso gegen dich. Das Verhör ist beendet.“ Der Kommissar hatte sich wieder unter Kontrolle gebracht. Das darauffolgende Gerichtsverfahren hatte dem Angeklagten acht Jahre unbedingt verschafft. Die Boulevardmedien hatten damals eine Zeitlang über diesen Fall berichtet, und dies nicht ohne einiges Aufsehen zu erregen. Wallfred Alligs Rolle bei den Ermittlungen war zwar nicht sonderlich groß gewesen, dennoch hatte er sich eine erheblichere Resonanz in den Zeitungen erwartet, was seinen persönlichen Anteil am Erfolg der Untersuchungskommission betraf.

Wie können mir beim königlichen Spiel derartige gedankliche Abschweifungen kommen? Bei diesem edlen Hobby, das mir so guttut, auch während der nervenaufreibenden Arbeit als Kriminalpolizist in Hornbrunn. Eine Ablenkung von diesen entsetzlichen Bluttaten, die ganze Familien ins Unglück stürzen, ging es Allig durch den Kopf. Dieses ruhige, anspruchsvolle Spiel, das mir so viel Konzentration abverlangt und mich immunisiert gegen den Geräuschpegel des Alltags. Ja, beim Tennis kann ich mich körperlich austoben, aber hier beim spielerischen Kampf gegen meinen Freund hole ich mir die mentale Kraft, die ich beruflich benötige. Jetzt musste Allig eine Entscheidung treffen. Er ergriff den weißen Springer und setzte ihn auf das Feld f7, das von keiner gegnerischen Figur gedeckt war. „Schach!“ Mit dieser lautstarken Ansage durchbrach er die lange Schweigephase und blickte sein Gegenüber erwartungsvoll an. Jetzt musste Viktor seinen König auf ein ungünstiges Feld ziehen. Und dann kann ich meinen Gewinnplan verwirklichen. In diesem Moment kam ihm die Anekdote von jenem Schachspieler in den Sinn, der auch stundenlang, ohne ein Wort zu reden, gegen einen Meister seines Fachs angetreten war. Nach einer schier endlosen Zeit des Grübelns und Spielsteinerückens hatte ihm dieser plötzlich mit einem Turmzug gleichzeitig laut „Schach“ zugerufen. „Sie reden und reden und reden“, hatte ihm der Amateur vorwurfsvoll geantwortet.

„Red nicht so viel, Wallfred!“

Viktors erste Worte nach zwei Stunden. Dieser alte Fuchs scheint meine innersten Gedanken zu kennen, durchfuhr es Allig. Er hätte bei der Kriminalpolizei Karriere machen können.

„O.k., jetzt hast du mich überrumpelt, Großmeister Allig.“ Leise Freude stieg im Kommissar hoch. „Heißt das, du gibst die Partie auf?“

„Warte noch…“

Was führt Viktor gegen mich im Schilde? Wie kann VIP seine Partie noch retten?

Allig hatte seinen Freund Viktor Paul mit diesem Spitznamen bedacht in Anspielung auf die Vornamen zweier berühmter Schachgroßmeister, die besten, die knapp davor gestanden waren, den Weltmeistertitel zu erringen. Der eine, Viktor Kortschnoi, war erst kürzlich im 86.Lebensjahr in der Schweiz verstorben. Der andere, Paul Keres, seit über vierzig Jahren tot, wird heute noch in Estland in höchsten Ehren gehalten.

Das laute Surren seines Handys riss den Kommissar aus seinen Gedanken. Am Display sah er, dass sein Assistent Gottfried Post anrief. Dies bedeutete höchste berufliche Alarmbereitschaft. Nicht das erste Mal endete eine Schachpartie für Allig auf diese Weise. „Hallo, Goks, was ist passiert? ...oh, ja, ich komme sofort… klar, in fünf Minuten.“

„Viktor, ich muss ins Büro, die Pflicht ruft, das duldet keinen Aufschub. Du warst ja selbst einmal ÖBB-Beamter. Bin gespannt, in welche Sache ich da hineingerate. Danke für die spannende Partie!“

„Klar, Wallfred, ich zahl den Kaffee, du hast die Partie ja so gut wie gewonnen. Wir hören voneinander. Viel Erfolg beim Einfangen der Ganoven!“

Da war der Kommissar schon zum Ausgang des Cafés gehastet. Ein kurzer Gruß noch mit dem Arm, es dünkte Viktor Paul, ein Siegeszeichen an Alligs Hand bemerkt zu haben, als ob dieser zum Abschied mit zwei gespreizten Fingern zugleich auf Viktors Namen und auf den Ausgang der Schachpartie anspielte.

Einen Kriminalroman schreiben?

Schon wieder einer!

Die literarischen Dilettanten werden schön langsam zur Plage.

Welches Thema?

Und wie die Handlung anlegen?

Welcher Typ von Kommissar?

Ein Strahlemann, ein Durchschnittsmensch?

Oder ein durchgeknallter Psycho?

Jung, dynamisch, karrierebewusst?

Frustriert, vor dem ersehnten Ruhestand?

Verheiratet, bieder, unauffällig?

Solo, verbissener Einzelgänger?

Verfallen dem ewig Weiblichen?

Schwul?

Welche Straftaten?

Wie deren Aufklärung?

Wieviel Blut und Sadismus

soll schocken den Leser?

Und der Täter? Die Täterin?

Ein Mensch wie du und ich?

Ein Serienkiller?

Taten nach Tötungsmuster?

Und das Entscheidende:

Wo das Motiv?

Die Seele ist ein weites Land…

Wie den Krimileser fesseln?

Was rührt ihn an?

Ein jeder Roman

zieht den Leser hinein

in sein innerstes Wesen.

Deckt bisweilen auch auf,

was in ihm schlummert.

Also zunächst ein Tötungsdelikt.

Das kann dem Roman am Anfang nicht schaden.

Der Kommissar: ein Schachspieler.

Wallfred Allig.

Dreiundsechzig Jahre alt.

Sieht seiner Pensionierung entgegen.

Also doch ein solcher.

Ein Spätberufener im Dienst des Gesetzes.

Lange Zeit Lehrer gewesen.

Deutsch, Geschichte, Latein.

Ein klassisch Gebildeter.

Hochmotiviert.

Hat Spaß am Denken.

Am Tüfteln.

Geschieden. Alleinlebend.

Als Single zufrieden.

Relativ halt.

Frauen nur bei besonderer Gelegenheit.

Nicht nach Bedarf.

Liebt die Natur, die Stille.

Ein Schweiger.

Freilich nicht immer.

Seine Zunge wird spitz

wie seine Gedanken.

Wenn es ihn drängt

zu formulieren.

Jetzt leitet er seinen ersten Fall.

Eine außergewöhnliche Geschichte.

Möglicherweise.

Das Leben hat ja einiges zu bieten,

was über und unter dem Durchschnitt.

Wo verläuft denn die Grenze

des menschlich Normalen?

Nun also zum Anfang.

Wie es halt so oft beginnt:

ein Mord in ländlicher Idylle.

Nein, nicht Polt im Pulkautal.

So aber ist – fast schon banal –

der Einstieg in unsere Krimigeschichte.

Wies weitergeht?

Mal sehen.

Vom Café Melanie bis zu seinem Büro brauchte Kommissar Allig fünf Minuten.

Die Räumlichkeiten der Kripoabteilung lagen in einem ehemaligen Kellerlokal. OB nannte die Hornbrunner Bevölkerung dieses Gebäude, „Ordnungsbunker“, in dem elf Beamte für den Schutz der Menschen zuständig waren, die ein friedliches Leben unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen zu führen gewillt waren. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Arbeitsstätte der Kriminalpolizei war die zentrale Lage gewesen, außerdem erwies sich die unmittelbare Nachbarschaft zum städtischen Krankenhaus als erheblicher Vorteil. Dort eingelieferte verletzte Opfer von Gewalttaten konnten jederzeit rasch aufgesucht und vernommen werden. Überdies verfügte das Spital über eine gerichtsmedizinische Abteilung.

Dass Wallfred Allig während seiner Dienstzeiten manchmal im „Melanie“ seine Zeit mit dem Schachpartner verbringen konnte, verdankte er vornehmlich dem Wohlwollen seines Vorgesetzten, Oberst Karl Toiflmayer. Dieser schätzte seinen „Walli“ als tüchtigen und scharfsinnigen Ermittler, er wusste, dass dem Kommissar beim Schachspiel manch ein inspirierender Einfall gekommen war, der zur Lösung eines Falles entscheidend beigetragen hatte.

Toiflmayer gedachte demnächst Wallfred Allig erstmals die Leitung einer Ermittlergruppe zu übertragen. „In der Ruhe liegt die Kraft“ – diesem Leitsatz Alligs konnte auch der Oberst einiges abgewinnen. Und der Erfolg heiligt bekanntlich sehr viele Mittel. So also versah sein Untergebener gelegentlich im Café beim Schachspielen quasi seinen Dienst. Ein weiterer Pluspunkt des Kommissars war für Toiflmayer, dass Allig keinerlei Karriereabsichten hegte. Zweimal hatte dieser bereits eine Beförderung zum Oberkommissar abgelehnt – eine in Polizeikreisen unfassbare Verhaltensweise. Denn diese bedeutete, dass er auf die OB-Leitungsfunktion, die der Oberst demnächst abzugeben vorhatte, grundsätzlich verzichtete. Toiflmayer gedachte frühzeitig in den Ruhestand zu treten, um sich voll und ganz seinem liebsten Hobby, dem Weinbau, zu widmen.

Wallfred Allig hatte in seinem früheren Beruf als AHS-Lehrer eine Abneigung gegenüber maßlosen Karriereambitionen entwickelt. Mit Argwohn, viel mehr noch aber mit echter Besorgnis und tiefem Bedauern verfolgte er jetzt die Karrieregelüste manch seiner Kollegen. Da waren einige mit verbissenem Ehrgeiz am Werk, die Hierarchieleiter im Polizeidienst emporzuklettern. Und es gelang auch hier nicht immer den wirklich Fähigen, auf den oberen Stufen zu landen.

Nun also betrat der Kommissar eilig das Bürogebäude und stieg hinunter zu seiner Abteilung. Es war zehn Minuten vor halb drei, er war infolge des hohen Gehtempos an diesem schönen Spätsommernachmittag ziemlich ins Schwitzen gekommen. Sein Assistent Gottfried Post, dessen Nachname Anlass für vielerlei witzige Anspielungen gab - „die Post geht ab“, „die Post ist heute nicht gekommen“ etc. - hatte die Tür seines Zimmers offengelassen.

„Hallo Goks! Was gibt’s für uns? Schieß los!“

„Grüß dich, Wallfred! Schießen ist gut, es gibt einen Toten.“

„Wo?“

„Vor zehn Minuten hat ein Polizist aus Unterhautzenhofen angerufen. Dort ist ein Mann tot aufgefunden worden. In einem Weingarten. Wahrscheinlich erschlagen.“

„Wer hat ihn gefunden?“

„Das weiß ich nicht. Der Oberst meint, wir sollen gleich losfahren und uns ein Bild über die Lage verschaffen. Du bist von Toiflmayer zum Ermittlungsleiter ernannt worden. Er selbst ist gerade zum Flughafen gefahren, in München gibt’s einen internationalen Kriminalistenkongress, an dem er teilnimmt. Übermorgen ist er wieder da.“

„Ist unser eiliger Kollege schon unterwegs zum Tatort?“

„Ja, Alfred Reschka ist bereits mit seinem Bike losgefahren.“

„Hoffentlich kommt dieser Raser unfallfrei bis Unterhautzenhofen! Ohne Abflug ins Kornfeld.“

„Das hoff ich auch, aber ohne seinem Motorrad geht beim Freddie nichts.“

„Ohne sein Motorrad!“

„Sag ich ja.“

„Du hast gesagt: ohne seinem Motorrad. Bitte den Akkusativ, nicht den Dativ!“

„Entschuldige, Herr Deutschlehrer, wird nicht wieder vorkommen.“

„Na dann, hinein in den Golf, du bist mein Chauffeur!“

So eine Autofahrt von Hornbrunn nach Unterhautzenhofen an einem Sommernachmittag hat es in sich. Vor dir eine Gruppe Radfahrer, die erst einmal gefahrlos überholt werden wollen. Der Tourismusslogan „Das ganze Land radelt“ ist ein Hammererfolg für die Fremdenverkehrsmanager, ein Fluch freilich für gestresste Pkw-Lenker.

Die Umleitung kurz nach Stripfendorf hast du auch nicht eingeplant. Lautstark sind die Baumaschinen im Vollbetrieb. Da bist du dann endlich auf der Geraden zwischen Mitterwaldbrunn und Höflingsweiden, steigst aufs Gas, willst die verlorene Zeit aufholen.

Nichts da! Vollbremsung!

Da hast du es vor dir, das Ernteungetüm! Braucht die gesamte Straße, zuckelt dahin, wackelt hin und her beim Dahinschleichen. Es ist zum Verzweifeln! Überholen praktisch Lebensgefahr.

Die Leiche in Unterhautzenhofen liegt im Weingarten und wartet auf dich. Und vor dir dieser Koloss! Behinderung einer Amtshandlung! Dein Puls ist auf 140. Weh dir, du bist ein Choleriker! Auch Fluchen auf Lateinisch hat null Wirkung. Gut zureden aber auch nicht! Seneca und die Stoiker hin oder her.

Da, endlich - der Riese vor dir biegt ab in seinen Acker. Dein Gasfuß voll aktiv, jetzt im Formel 1 Modus. Na eh klar, wieder nichts, wieder bremsen, aber wie! Vor dir ein Duplikat des eben bewältigten bäuerlichen Ungeheuers.

Wieder hintenanstellen, warten, zuckeln, warten, bis dieses Monstrum sein Arbeitsfeld findet. Danach nur mehr zwei Kilometer bis zum Ziel. Du bist auf hundertachtzig, die Leiche und die Kollegen erwarten dich am Tatort.

Die Ortstafel ist schon in deinem Blickfeld, na endlich! Und wieder Schritttempo.

Diese zwei Traktoren vor dir liefern sich ein Überholmanöver. Beide praktisch gleich schnell. Einen Sieger wird es nicht geben. Das ist ein Schauspiel der Sonderklasse, ein Bauernschwank vom Feinsten.

Ein Hoch auf das flotte Zweiradgefährt des Assistenten, der auf

dich wartet mit den Ortspolizisten.

Natürlich auch einige schaulustige Gaffer.

Der Leblose kann dir deine gute Stunde Verspätung nicht zum Vorwurf machen. Das übernimmt dein Assistent mit leiser Schadenfreude.

Eineinhalb Stunden nerventötende Autofahrt am Land.

Da wäre statt Gottfried Posts Schimpfen und Fluchen ein Dialog zwischen dem Kommissar und seinem Assistenten am Steuer zwischenmenschlich zielführender gewesen.

„Goks, wie lange ist deine Frau noch auf Kur in Bad Hallbach?“

„In einer Woche ist sie wieder zuhause.“

„Was machst dann mit ihr, wenn sie so runderneuert schattenlos zurückkehrt?“

„Wir machen Urlaub, den habe ich schon bewilligt bekommen.“

„Bleibt ihr in Österreich?“

„Nein, wir fahren nach Italien, fünf Tage Florenz, ohne unseren Kindern.“

„Mit Akkusativ!“

„Nein, diesmal mit dem Zug, wir haben ein Sparschienenangebot gebucht.“

„Du bist eine lebende grammatikalische Sparschiene, Goks!“

„Entschuldigung, Herr Deutschlehrer, kommt nicht wieder vor.“

„Wer‘s glaubt, wird selig.“

„Wallfred, hallo! Na endlich!“

„Servus, Freddie! Grüß euch, Kollegen!“

„Hat dein Chauffeur aber die Bremsen malträtiert!“

„Diese Bauern hier sind wahre Feinde der schnellen Polizeiarbeit. Ihre Fahrzeuge gehören konfisziert!“

„Ja, ich weiß, deshalb liebe ich mein Motorrad.“

„Zur Sache, was haben wir hier?“

„Ein toter Landwirt mitten im Weingarten. Der Kollege aus Unterhautzenhofen war vor mir da.“

„Habe die Ehre, Herr Kommissar. Robert Kleiner mein Name.

Das ist mein Kollege Walter Gross. Zwei Radfahrer haben den Toten da entdeckt und uns am Posten angerufen. Bin mit meinem Begleiter gleich los und…also Sie sehen es ja…dieser Anblick…grausig!“

„Ein hiesiger Bauer?“

„Ja, Franz Hellinger, 56, hat Frau und zwei erwachsene Kinder. Kennen - kannten alle hier im Dorf.“

„Ist seine Frau schon verständigt?“

„Nein, sie ist auf Kur. Das weiß ich vom Franz selber, hab vorgestern noch mit ihm geredet.“

„Und die Kinder?“

„Der Sohn arbeitet in München. Pharmazeut, in einer Apotheke. Und die Tochter lebt in der Schweiz, in der Nähe von Zürich, glaub ich.“

„Wo kurt die Frau?“

„Soviel ich weiß, in Bad Hallbach.“

„Oh! Na, Goks, das übernimmst du. Bad Hallbach fällt in deine Zuständigkeit… nein, warte, das soll lieber der Freddie machen. In Bad Hallbach könnte dich deine Frau von der richtigen Spur abbringen.“

„Ja, wenn du das so siehst, Wallfred.“ Gottfried Post war sichtlich enttäuscht.

„Wo sind die Radfahrer, Kollege Kleiner?“

„Die sitzen im Gasthaus „Zur Rebe“ und erholen sich vom Schock. Die Wirtin kümmert sich um sie.“

„Ich werde dann gleich mit ihnen reden.“

„Ja, tun Sie das, Herr Kommissar.“

„Ist die medizinische Abteilung informiert?“

„Ich habe den Gemeindearzt verständigt, Doktor Gerhard Langer, er muss bald da sein.“

„Gehn‘S, Herr Kollege Kleiner, schicken Sie die Leute da weg! Sie sollen heimfahren und die Kronen Zeitung lesen.“

Der Polizist tat, wie ihm geheißen. Den Hinweis auf die Kronen Zeitung verkniff er sich, war er doch selbst Abonnent dieses populären Printmediums.

Allig beugte sich über den Toten.

Eine männliche Leiche auf dem Erdboden zwischen den Weinstöcken, ungefähr vier Meter vom Güterweg entfernt. Er lag auf dem Bauch, seine Hände waren seitlich ausgestreckt. Sein Körper bildete eine Art Kreuz, das umgestürzt auf der Erde das christliche Symbol zur Anschauung brachte. Der Mann trug die regionaltypische Arbeitskleidung mit blauer Schürze. Vom Kopf war nicht mehr viel zu sehen. Der Schädel war eingeschlagen, bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Neben ihm hatte sich eine riesige Blutlache gebildet, ein Teil des Blutes war bereits im Erdboden versickert.

So in etwa sind die römischen Legionäre zuhauf nach der Varusschlacht dagelegen, auf dem Teutoburger Waldboden, dachte sich Allig. Von den germanischen Berserkerhelden hinterrücks dahingemetzelt. Das wäre jetzt ein Anschauungsbeispiel für meine ehemaligen Schüler, lebendiger Geschichtsunterricht. Also lebendiger kann man historische Fakten nicht vermitteln.

Der Kommissar musste sich überwinden, die Leiche zu betrachten. Ein Toter mit derartig zerschlagenem Schädel war ihm noch nicht untergekommen. Was hat mich nur veranlasst, mein Lehramt aufzugeben und in einen Beruf zu wechseln, der den Anblick solch grauenvoller Verstümmelungen zur professionellen Pflicht macht! Diese entsetzliche Brutalität, zu der Menschen fähig sind! Aber ich wollte unbedingt vor meiner Pensionierung das wahre Leben mit eigenen Augen wahrnehmen, in die unfassbaren Tiefen menschlicher Abgründe blicken… Ein paar Jahre hätten mich die Jugendlichen noch ärgern können. In dieser Zeit wären Formen des menschlichen Sadismus zur Genüge erlebbar gewesen. Der Kommissar verdrängte diese Gedanken und wandte sich an den Polizisten Kleiner.

„Und, Herr Kollege, was gibt der Fundort nach Ihrer Wahrnehmung an Spuren her?“

„Wir haben nichts entdeckt. Keinerlei auffällige Details. Kein textiler Rest, kein Fremdobjekt, auch kein Zigarettenstummel.“

„Da gibt’s auch keine Schleifspuren“. Alfred Reschka übermittelte seine Beobachtungen.

Der Kommissar sah seinen Assistenten an.

„Es scheint so zu sein, der Mörder hat den Mann hier zwischen den Weinstöcken umgebracht.“

Allig besah sich nochmals die Leiche, blickte dann aber gleich wieder zum Leiter der örtlichen Polizei.

„Herr Kleiner, verwenden die Bauern hier alle diese grünen Stiefel?“

„Ja, das ist bei uns die übliche Fußbekleidung der Landwirte bei ihrer Arbeit.“

„Von diesen gibt es da eine Menge von Abdrucken auf dem Erdboden. Ich fürchte, eine Untersuchung der Stiefelspuren bringt uns keinerlei Aufschlüsse.“

„Auch von der Tatwaffe ist weit und breit nichts zu entdecken, Herr Kommissar.“

„Nur die Einschlagspuren am Kopf, Herr Kollege. Es muss etwas ganz Massives gewesen sein, das den Kopf des Mannes so fürchterlich zugerichtet hat. Eine Axt oder ein schwerer Hammer. Aber warten wir auf die Aussagen des Doktors. Wo bleibt der denn?“

„Ja, das frage ich mich auch, Herr Kommissar. Doktor Langer ist ein gewissenhafter, pünktlicher Mensch.“

„Na gut. Geh, Goks und Freddie, macht bitte einige Fotos. Vielleicht gibt’s da später noch was zu entdecken, das uns weiterhilft. Und dann fahren wir ins Gasthaus. Herr Kleiner, Ihr Kollege soll hierbleiben und den Gemeindearzt empfangen.“

Allig spürte eine Übelkeit in sich aufsteigen. Er ging einige Schritte von der Leiche weg. Am Güterweg schweifte sein Blick über das weite Kornfeld, das seine Frucht bereits den Bauern überlassen hatte. In der Ferne sah er einige Dorfhäuser und den barocken Kirchturm. Keine Wolken hingen am Himmel, die Sonne flutete ungestört die Felder und Weingärten.

Der Kommissar stellte sich erneut die Frage, aus welchem Grund er mit dem Unterrichten aufgehört hatte. Was hab ich mir mit diesem Polizeijob da eingebrockt? Natürlich war die Tätigkeit in der Schule in den letzten Jahren erschwert worden. Bürokratie und Zentralmatura hatten vielen Pädagogen die Motivation und die Arbeitsfreude geraubt, nicht wenige sogar ins Burnout getrieben. Auch das Verhalten seiner Schüler hatte einiges dazu beigetragen, dass Allig seiner Unterrichtstätigkeit in der AHS Hornbrunn ein Ende gesetzt hatte. Hauptsächlich freilich war dieser Schritt von dem Bestreben geleitet gewesen, in einem neuen Umfeld menschliches Fehlverhalten zu ergründen. Und wo könnte man das besser tun als bei der Kriminalpolizei? Geradezu besessen war er von dem Drang erfüllt, der Frage nachzuspüren, die bereits vor knapp zweihundert Jahren den jungen Georg Büchner bewegt hatte: „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“

Er musste jetzt auch an den Tag denken, an dem er im Rahmen seines Unterrichts dieses Erlebnis mit dem großen Philosophen und Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt gehabt hatte. So eine Deutschstunde kann dein Leben verändern! Sag mir keiner, dass die Literatur keinen Einfluss auf dein Dasein nehmen kann! Nicht zum ersten Mal spielte sich in Alligs Kopf ab, was vor drei Jahren geschehen war.

„Friedrich Dürrenmatt ist einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat auch drei Bücher verfasst, die der Gattung des literarischen Kriminalromans zuzuordnen sind. ´Der Richter und sein Henker´, ´Der Verdacht´ und ´Das Versprechen´. ´Der Richter und sein Henker´ war sein Debütkrimi, eine doppelbödige Geschichte, in der Dürrenmatt in gesellschaftskritischer Weise das perfekte Verbrechen thematisiert. Der Schweizer Kommissär Bärlach durchschaut sehr bald den Täter und dessen Motiv. Sein Gegenspieler Gastmann besitzt eine hohe gesellschaftliche Reputation, eine große Hürde für Bärlachs Ermittlungen. Beide kennen einander, vor vielen Jahren hat eine schicksalshafte Begegnung am Bosporus stattgefunden.“

Der Deutschprofessor Allig ließ diesen Worten eine Analyse der Krimihandlung folgen. Ausführlich skizzierte er die Persönlichkeit Bärlachs. Diese eingehende Charakteristik der ermittelnden Hauptperson des Romans führte letztlich dazu, dass Wallfred Allig in Schülerkreisen den Spitznamen „Kommissär“ aufgehalst bekam. Mitverantwortlich dafür war natürlich auch die immer wieder vom Professor vorgebrachte Äußerung, alle Schwindelversuche seitens der Schüler seien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er durchschaue alle unerlaubten Aktivitäten wie ein Kriminalkommissar und bringe sie gnadenlos zur Aufdeckung. Er sei zwar nicht Torbergs sadistischer Gott Kupfer, indes ein der absoluten Gerechtigkeit verschriebener Mensch. Nicht wenige seiner Schülerinnen und Schüler waren ihm gegenüber deshalb von großem Respekt erfüllt.

Und dann die Schlüsselszene:

„Herr Professor, ich habe nicht geschummelt.“

„Patrick Hollmann, meine Augen sind Sensoren, die deine Lügenwelt lückenlos erfassen.“

„Ich bin unschuldig, Herr Professor!“

„Steh mal auf, erhebe dich, du Unschuldslamm!“

„Ich kann nicht.“

„Willst du heuer sitzenbleiben?“

„Nein.“

„Dann bring dich in Stehposition!“

„Geht nicht. Meine Hose hat ein Reißloch.“

„Auch deine Hose hat eine Lücke?“

„Jaaa…“

„Bring mir diese defizitäre Befindlichkeit deines Beinkleids zur Anschauung!“

„Muss das sein?“

„Ja. Also auf und heraus mit dem Schummler aus deinem Reißloch!“

„Erwischt.“

„Ich erwische und fasse alle Übeltäter!“

„So wie Kommissär Bärlach bei Dürrenmatt, Herr Professor.“

„Bravo! Dafür gibt’s ein Plus für dich. Gutes Literaturwissen!“

„Danke, Sie sind ein gerechter Richter.“

„Schau nur, dass du nicht zum Henker wirst, so wie es Tschanz im Kriminalroman ergeht!“

Seit diesem Dialog hieß Professor Allig bei seinen Schülern nur mehr Kommissär. Nicht Kommissar, die Schweizer Bezeichnung hatte es den Jugendlichen angetan. Das wäre an sich für einen Pädagogen ein positiv besetzter Begriff. Doch Wallfred Allig hatte sich innerlich bereits von seinem Lehrerdasein verabschiedet. Drei Monate später setzte er sein Vorhaben in die Tat um. Nach entsprechenden erfolgreichen Schulungen begann er mit seiner Arbeit bei der Hornbrunner Kriminalpolizei, ein Spätberufener im Dienste des Gesetzes.

Jetzt also ermittelt er.

In Unterhautzenhofen.

Verbrechen am Lande.

Ein Toter,

umgeben von Reben.

Kein Täter.

Keine Waffe.

Und kein Motiv.

Noch nicht.

Und keine Zeugen.

Eine Leiche im Freien,

entsetzlich verstümmelt.

Allig muss handeln.

Als Frager,

als Großinquisitor.

Wo sind die Spuren?

Wie sind sie zu deuten?

Also ab in das Gasthaus,

genannt „Zur Rebe“!

Es ist an der Zeit,

vorwärtszuschreiten

in der Krimigeschichte.

Nun denn!

„Die Radfahrer sitzen im Stüberl, Herr Kommissar.“

„Ja, gut, erst möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.“

Am großen runden Tisch in der Mitte des Gastzimmers hatten sie Platz genommen. Die Wirtin und Allig, seine beiden Assistenten sowie der örtliche Oberpolizist, der seinen Kollegen bei der Leiche im Weingarten zurückgelassen hatte. Dieser sollte den Gemeindearzt mit dem Toten konfrontieren. Offenbar war der Doktor durch irgendwen aufgehalten worden.

Allig musterte die Wirtin, die sich als Martina Willendorfer vorgestellt hatte. Eine Mittfünfzigerin, schätzte der Kommissar. Blonde Haare, kurz geschnitten, mollige Figur, etwa 1,75 m groß, rundlicher Kopf, nicht unhübsche Gesichtszüge, etwas zu grell geschminkt. Sie trug ein Dirndlkleid mit einem ausgesprochen umsatzfördernden Ausschnitt, der auch Allig nicht unberührt ließ. Willendorfer, kein unpassender Name für diese augenfällige Körperlichkeit, ein Fruchtbarkeitssymbol nicht nur in der Urgeschichte, ging es dem Vorzeitexperten Allig durch den Kopf. Die Körpergröße passt freilich nicht ganz zur Urzeitvenus. Die Kunde vom Toten im Weingarten und die Anwesenheit der Polizisten hatten die Frau, allem Anschein nach, ziemlich mitgenommen. Sichtlich betroffen beklagte sie das Hinscheiden des Landwirts. Ihre Stimme hatte die typische Heiserkeit einer starken Raucherin.

„Schlimm, sehr schlimm, was da passiert ist. So etwas in unserem Dorf! Wer hätte das gedacht!“

„Ja, das Verbrechen ist kein Privileg der Stadt. Wo Menschen leben, keimt auch das Böse. Frau Willendorfer, kannten Sie den Herrn Hellinger?“

„Ja, klar, er war dreimal die Woche hier.“

„Auffälligkeiten?“

„Er hat Karten gespielt und seine drei, vier Bier getrunken. Und immer ein Fluchtachterl.“

„Hat es Probleme mit ihm gegeben?“

„Selten, im Allgemeinen war der Franz ein umgänglicher Typ. Auf das Fluchtachterl hat er immer alle eingeladen.“

„Mit wem hat er Karten gespielt? Schnapsen, nehm ich an.“

„Schnapsen, ja. Er hat immer mit dem Rockefellner und dem Lustig gespielt. Meistens hat er gewonnen. Ein schlauer Spieler war der Franz.“

„Also ein beliebter Zeitgenosse?“

„Im Allgemeinen schon, Herr Kommissar.“

„Und im Besonderen?“

„Da weiß ich keine Begebenheiten, wo er heftiger gestritten hätte.“

„Seine Ehe war in Ordnung?“

„Im Allgemeinen schon, Herr Kommissar.“

Also diese Frau wird uns keine Geheimnisse verraten, war sich Allig sicher. Dieses „im Allgemeinen“ ging ihm bei allen Befragungen schwer auf die Nerven. Andererseits war es ein Indiz, dass in solchen Fällen etwas nicht stimmte. Sprachliche Floskeln haben oft etwas Aufklärerisches. Sie verdecken meist Dinge, die es gezielt ans Tageslicht zu befördern gilt. Da hat dann der Kriminalist anzusetzen.

Die Frau des Toten werde ich sowieso bald unter die Lupe nehmen können. Allig war sich sicher, dass er von ihr entscheidende Hinweise bekommen würde. Auch die beiden Spielpartner Hellingers könnten einiges über den Bauern berichten. Mit dieser Wirtin würde es sicherlich noch einige Treffen geben. Der Kommissar hatte da so ein bestimmtes Bauchgefühl, noch selten war er diesbezüglich falsch gelegen.

„Danke, Frau Willendorfer, das war´s fürs erste. Freddie, schau, ob du in Bad Hallbach fündig wirst. Sei aber nicht zu ruppig, diese Frau Hellinger soll keine Verlängerung ihrer Kur beantragen, sondern möglichst schnell nachhause kommen, keine Information über die Brutalität des Verbrechens! Psychologisches Feingefühl halt!“

„Klar, Wallfred. Die sanfte Tour und viel Trost. Wird schlimm genug für diese Frau, vom Ableben ihres Mannes zu erfahren. Ich erledige das in meinem Büro in Hornbrunn.“

„Tu das, aber halt deinen Gasfuß im Zaum!“

Da war Alfred Reschka schon aufgesprungen und zu seinem Bike geeilt. Man hörte, wie er sein Motorrad startete und mit diesem davonraste.

„Gut, danke, Herr Kleiner. Sie können jetzt Ihrer Tagesarbeit nachgehen. Und bitte besorgen Sie mir die Adressen dieser Herren Rockefellner und Lustig. Ich kümmere mich nun mit meinem Kollegen um die Radfahrer. Dann schauen wir noch einmal zum Toten im Weingarten. Ich will noch vor Ort mit dem Arzt reden.“ „Ist gut, Herr Kommissar. Sie erreichen mich am Posten, wenn Sie was brauchen. Ich habe heute bis Mitternacht Dienst. Habe die Ehre!“

„Auf Wiedersehen, Herr Kleiner. Frau Willendorf…Frau Willendorfer“, Allig korrigierte sich schnell, „wo sitzen die Radfahrer?“

„Im hinteren Stüberl, ganz vorne da, rechts.“

„Danke. Lassen Sie uns dort jetzt bitte allein.“

Die Befragung der beiden Radfahrer hatte nichts Brauchbares zu Tage gefördert. Sie waren zu dieser Zeit die einzigen, die sich auf der Radstrecke im Bereich des Fundortes des Toten aufgehalten hatten. Zwei befreundete Sportler aus Osnabrück, eine Woche Urlaub hatte sie nach Hornbrunn geführt, von wo aus sie täglich Radtouren unternahmen. Bei dem heutigen Ausflug waren sie während einer Rast ein Stück weit in den Weingarten geraten, als sie den Reifegrad der Trauben testeten. Dabei hatten sie den tot auf der Erde liegenden Mann entdeckt. Dem einen war übel geworden beim Anblick des eingeschlagenen Schädels. Der andere war unverzüglich zum Rastplatz zurückgegangen. Sein Anruf bei der Notrufnummer der Polizei hatte zur Folge, dass der Unterhautzenhofener Postenkommandant Kleiner mit seinem Kollegen nach zehn Minuten im Weingarten aufgetaucht war. Die Polizisten mussten sich zunächst um die geschockten Urlauber kümmern, ehe Kleiner die Kripo in Hornbrunn verständigte.

Jetzt war Kommissar Allig mit seinem Assistenten Post wiederum am Tatort, an dem er den Polizeibeamten Walter Gross antraf, der auftragsgemäß den Tatort absicherte. Seltsam erschien es Allig, dass in der Nähe der Fundstelle kein geparktes Fahrzeug zu sehen war, abgesehen von den Polizeiautos. Weder ein Traktor noch ein Pkw, auch kein zweirädriges Gefährt. Am Radweg waren Spuren von Traktoren erkennbar, die ja täglich hier unterwegs waren. Erdklumpen zeigten deutliche Abdrucke von großen Reifen. Jedoch keine anderen Kfz-Reifenspuren waren zu sehen. Es hatte schon seit einer Woche nicht mehr geregnet. Allig und Post untersuchten nochmals den Tatort. Keine offensichtlichen Hinweise auf Spuren, die von dem Täter stammen könnten. Im Kommissar kamen Zweifel auf, dass die Tötung des Weinbauern hier erfolgt sei. Die Menge des im Erdboden versickerten Bluts sprach allerdings doch dafür. Eines stand fest: er lag auf seinem eigenen Grund und Boden. Dies bestätigte ihm Walter Gross. Von ihm erfuhr er auch, dass sich Hellingers Wohnhaus gut zwanzig Minuten zu Fuß von hier befand. Sein Presshaus sei noch etwas weiter weg gelegen, schätzungsweise dreißig Minuten, wenn man sie zu Fuß bewältigte. Gottfried Post bekam von Allig den Auftrag, diese Örtlichkeiten zu inspizieren und sich diskret umzuhören.

Nachdem Alligs Assistent weggefahren war, wandte sich der Kommissar an den Polizeibeamten.

„Wo bleibt denn dieser Gemeindearzt? Er ist längst überfällig.“

„Keine Ahnung, Herr Kommissar, er hätte schon vor einer halben Stunde da sein sollen.“

„Hat er sich bei Ihnen nicht gemeldet?“

„Nein. Ich habe ihn mehrmals zu erreichen versucht. Keine Telefonverbindung.“

„Gibt es hier noch einen Mediziner?“

„Nein, der Doktor Langer ist der einzige Arzt in der Gegend.“

„Da bleibt mir nichts anderes übrig, als einen Hornbrunner Arzt herbeizurufen. Einen aus dem Spital.“

Allig führte mit dem Empfang des Krankenhauses ein kurzes Gespräch. Herr Doktor Spritzenberger hätte Dienst und würde sogleich verständigt. Ein guter, wenngleich etwas arroganter Arzt, Allig hatte mit ihm schon einmal zu tun gehabt. Gleichzeitig wurde von Seiten des Spitals der Abtransport des Toten nach Hornbrunn veranlasst, wo er in der gerichtsmedizinischen Abteilung Aufnahme finden sollte. Eine gute dreiviertel Stunde müsste die Leiche also auf den professionellen Beschauer weiter warten. Es sei denn, dieser mysteriöse Gemeindearzt tauchte früher auf.

Wallfred Allig sah auf die Uhr. Seine sprichwörtliche Geduld war in ihrer finalen Phase. Um 18 Uhr erwartete man ihn in Hornbrunn am Tennisplatz. Das wöchentliche Dienstagdoppel mit seinen Vereinskollegen. Zur Aufrechterhaltung seiner körperlichen Fitness eine unabdingbare Aktivität. Joggen, der Lieblingssport vieler seiner Kollegen, war seine Sache nicht. Jetzt war es schon bald fünf Uhr. Er würde sich zum Tennis sicher verspäten. Seine Partner waren es aber schon gewohnt, dass er nicht pünktlich erschien.

Nun klingelte sein Handy. Am Display sah er, dass ihn Alfred Reschka anrief.

„Hallo, Freund der Radarboxen, was gibt’s? … Nein… jetzt… wieso… ein Unfall… du lebst noch… na Gott sei Dank… nur eine Wunde am Arm… einige Prellungen… der Autofahrer ist nicht ansprechbar… die Rettung aus Hornbrunn ist unterwegs… ja, lass deinen Arm verbinden…wo bist du denn… zwischen Hintzengrub und Breitenweilern… Ja, o.k., aber meld dich gleich!“ „So, Herr Kollege Gross, jetzt können Sie heimgehen. Mein Assistent hat einen Unfall gehabt, ist gottlob nur leicht beschädigt. Sein Unfallgegner ist schwer verletzt. Die Leiche hier wird von einem Hornbrunner Arzt begutachtet. Ich warte selbst hier auf ihn. Vielleicht brauch ich Sie heute noch. Grüße an Ihren Chef. Auf Wiedersehen.“

So geht es oft.

Man wartet und harret

der kommenden Dinge.

Gar nichts bewegt sich.

Stillstand. Kein Fortschritt.

Und dann das Ereignis

ganz unvermittelt.

Wie aus heiterem Himmel

ein Blitz, ein Geschehnis,

das sprachlos dich findet.

Nun wirbelt die Story.

Und die Turbulenzen

erfreuen den Leser,

denn dieser vermisst schon

den Kitzel der Spannung,

das Salz der Lektüre

von Krimiromanen!

Und wieder erweist sich,

dass doch es sich lohnt,

geduldig zu sein.

Denn jegliches Warten,

nie ist es endlos!

„Hallo Goks, gut, dass du schon da bist.“

„Servus Wallfred. Ich habe Hellingers Heim und sein Presshaus gesehen. Also der hat ein Anwesen! Ein gstopfter Bauer in Unterhautzenhofen!“

„Hatte.“

„Ja, hatte. Dieser Landwirt muss mehr Geld als Heu gehabt haben! Ich zeig dir die Fotos.“

„Gut, Goks, später! Heute Abend im Büro begutachten wir seine Latifundien.“

„O.k. Hab eh keinen Menschen getroffen. Das Kaff hier ist wie ausgestorben.“

„Du meinst, die Chancen auf weitere Leichen steigen.“

„So habe ich es nicht gemeint. Ein Toter muss genügen. Also um acht Uhr gibt’s die Besprechung. Da treffen wir uns dann.“

„Einander, Goks.“

„O.k. Um acht im Büro. Einander.“

„Fahr bitte gleich los. Ich warte hier. Und brems dich bei der Unfallstelle zwischen Hintzengrub und Breitenweilern ein. Da sitzt der Freddie mit seinem lädierten Arm.“

„Nein! Was ist passiert? Den Freddie hats erwischt? Das war ja überfällig! Endlich, also… wie denn?“

„Ein Crash! Bike gegen Auto. Er hat Glück gehabt, nur eine Armverletzung. Dem Autofahrer geht’s nicht gut. Also nimm bitte den Herrn Reschka mit nach Hornbrunn. Und um acht soll er auch da sein, wenn er kann.“

„Gut, mach ich. Bleibst du allein hier?“

„Ja. Ich wart auf den Spritzenberger vom Spital, der ist schon unterwegs. Der nimmt mich dann nach Hornbrunn mit.“

„Ja, dann bis später, Wallfred.“

„Und, Goks, ruf in Bad Hallbach an. Das musst jetzt doch du erledigen. Die Frau Hellinger soll endlich wissen, dass ihr Mann nicht mehr lebt. Sei sensibel, verschone sie mit den Details!“

„Ich sause gleich los!“

„Mach nicht den Rennfahrer! Denk an den Freddie!“

„Keine Angst, ich hole ihn heim, behutsam und sicher.“

„Tu das. Ich hör mir an, was der Arzt zu sagen hat. Dann geh ich mit ihm nochmals zur Rebenvenus. Muss dringend was essen.“

„Servus, Wallfred.“

„Servus, Goks, wir sehen einander um acht.“

Eine eigenartige Geschichte, diese Leiche mit dem zerschlagenen Kopf.

Liegt kreuzförmig da in seinem Weingarten.

Kein Fahrzeug dabei. Seltsam. Und was ist mit dem Gemeindearzt?

Wie vom Erdboden verschluckt. Ich brauch jetzt keinen Doktor als weiteres Opfer.

Als Täter aber auch nicht.

Andererseits könnte man diesen Fall dann wohl bald zu den Akten legen. Warum hat sich der Doktor Langer nicht gemeldet? Angeblich ein so verlässlicher Arzt? Was ist ihm nur dazwischengekommen?

Alligs Gedanken waren ins Kreisen gekommen. Da hörte er Autogeräusche, die schnell lauter wurden. Ein roter Maserati kam neben ihm zum Stehen.

„Grüß Gott, Herr Kommissar.“

„Herr Doktor Spritzenberger, guten Tag. Danke, dass Sie so rasch gekommen sind!“

„Ich habe mich beeilt.“

„Haben Sie den Unfall gesehen?“

„Welchen Unfall?“

„Zwischen Hintzengrub und Breitenweilern ist ein Motorrad in ein Auto gekracht. Oder umgekehrt.“

„Nein, ich bin über Wullers gefahren. Etwas längere Strecke, aber da kann man glühen.“

„Na, das haben Sie blendend geschafft. Ich zeig Ihnen jetzt den Toten. Aber ich warne Sie, kein guter Anblick.“

„Herr Kommissar, gute Anblicke gibt’s in meinem Beruf selten.

Im Spital im Schwesternzimmer höchstens.“

„Na, schauen Sie sich den Mann an! Da war enorme kriminelle Wut im Spiel!“

„Ein Täter in absoluter Enthemmung…ist ja keine Seltenheit.“

„Bitte begutachten Sie die Leiche. Im Dorfgasthaus reden wir über die Details. Ich brauch was für meinen Magen.“

Der Arzt waltete seines Amtes. Währenddessen telefonierte der Kommissar mit dem Polizeiposten in Unterhautzenhofen. Der Polizeibeamte Walter Gross erschien kurz darauf, um wieder bei dem Toten zu warten, bis der Transportwagen der Hornbrunner Klinik eintraf. Nachdem Doktor Spritzenberger mit seiner Arbeit fertig war, fuhren er und Allig ins Dorfzentrum.

„Frau Willendorfer, haben Sie was für den großen Hunger?“

„Im Allgemeinen schon, aber erst ab 18 Uhr. Jetzt gibt’s nur Kleinigkeiten, Herr Kommissar.“

Allig saß mit dem Arzt im Stüberl, in dem er vorhin mit den Radfahrern gesprochen hatte. Doktor Spritzenberger – so erschien es dem Kommissar – wollte ihm etwas Wichtiges mitteilen. Die Wirtin kam ihm, als sie die beiden Herren nach ihren Konsumationswünschen fragte, harscher und verschlossener vor als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Welche Rolle spielte sie wohl in diesem Kriminalfall? Ein Gasthaus, zumal das einzige im Ort, ist immer auch eine zentrale Stätte der Kommunikation. Da weiß der Wirt Bescheid über das Leben der Dorfbewohner, da werden intimste Details ausgetauscht, da wird der Gasthauschef zum Geheimnisträger. Diesbezüglich rangiert der Pfarrer oft weit hinter ihm. Frau Willendorfers Auskunft über die reduzierte Palette der Speisen war für Allig eine bittere Enttäuschung. Ein deftiger Bauernschmaus hätte seinem Magenknurren ein angemessenes Ende bereitet. Missmutig sah er den Arzt an, dieser schien am Frust des Kommissars keinen Anteil zu nehmen. Er wandte sich an die Gastronomin, die sichtlich ungeduldig die Bestellung ihrer Gäste erwartete.

„Dann bringen Sie mir halt eine Kleinigkeit im Doppelpack. Welche gibt es denn?“

„Belegte Brote können´s haben, Frankfurter, Wurst in Essig und Öl, auch in Kernöl. Im Allgemeinen wird die Wurst bei uns sehr geschätzt.“

„Dann hätte ich gern speziell diese geschätzte Wurst in Kernöl, aber bitte zwei Portionen. Und einen roten Spritzer.“

„Und für Sie, Herr Doktor?“

„Ich trink ein Achterl Rebensaft.“

„Ja, wie, Traubensaft oder die Alkoholversion?“

„Alkohol, weiß, Riesling.“

Die Wirtin verließ den Raum. Allig wandte sich dem Arzt zu. „In vino veritas.2 Wie schaut´s aus mit der Wahrheit? Haben Sie was entdeckt?“

„Der Kopf ist übel zugerichtet. Eingeschlagene Schädeldecke. Mehrfachfraktur…ich erspare Ihnen die Fachdetails, Sie haben´s ja gesehen.“

„Und was habe ich nicht gesehen?“

„Seltsam, da gibt es was…“

Der Arzt stockte in seinen Ausführungen. Nachdenklich blickte er den Kommissar an. „Da gibt´s ein Einstichloch am Hals, bei dem Zustand des Toten kaum zu sehen, ich habe es zunächst gar nicht bemerkt.“

„Das heißt, jemand hat dem Hellinger eine Injektion verpasst?“

Allig musste unwillkürlich an den Gemeindearzt denken. Spritzen fallen ja vornehmlich in den Kompetenzbereich von Ärzten. Und natürlich auch von Junkies.

„Es scheint so zu sein. In unserer Klinik werden wir den Toten genauer untersuchen. Dann kann ich Ihnen sicherlich mehr sagen.“

„Wer könnte ihm denn die Injektion verpasst haben?“

„So es denn eine war. Das werden Sie herausfinden müssen, Herr Kommissär!“

„Sagen Sie, Herr Doktor, haben Sie Dürrenmatt gelesen?“

„Nein. Wer soll das sein?“

„Ein Schweizer Schriftsteller. Kennen Sie nicht sein berühmtes

Theaterstück ´Der Besuch der alten Dame´? Gibt es auch als Film.“

„Nein, Literatur war nie mein Hobby. Deutsch habe ich in der Schule gehasst.“

„Aber Sie haben eben ein Wort verwendet, das in Dürrenmatts Kriminalromanen vorkommt: Kommissär. So bezeichnet der Autor seinen ermittelnden Inspektor. Kommissär Bärlach.“

„Ach so, nein, ich habe lange in der Schweiz gelebt. Habe in St. Gallen studiert. Da ist bei mir was haften geblieben, rutscht manchmal aus mir heraus.“

„Galen in Gallen, nicht schlecht, was?“

„Also so berühmt wie dieser griechische Arzt werde ich wohl nie. Aber seine pathophysiologischen Vorstellungen haben mich lange fasziniert.“

Allig war irritiert, dass sein Wortspiel bei seinem Gegenüber nicht die erhoffte Resonanz gefunden hatte. Ein humorloser Mediziner, dachte er sich. Spaßfaktor null, lustig wird´s bei ihm wohl nur in seinem Maserati.

„Ja, dann warten wir auf die Ergebnisse der Obduktion, Herr Doktor. Apropos warten, wo bleiben die Kleinigkeiten?“

„Herein! Na, wenn man davon spricht…“

Die Wirtin stellte die Getränke und die beiden Wurstteller auf den Tisch und verließ wortlos gleich wieder den Raum.

„Mahlzeit, Herr Kommissar!“

„Danke und Prost!“

Allig aß und bemühte sich, das Kernöl von seiner Kleidung fernzuhalten. Seine Gedanken waren beim Toten im Weingarten. Wer tötet auf diese bestialische Weise einen Bauern? Spritze und Hammer, oder was immer das Schlaginstrument gewesen sein muss. Wie passt das zusammen? Hatte die Injektion nicht ausgereicht, Hellinger ins Jenseits zu befördern? Wozu das Zerschmettern des Kopfes? Unbestritten – die Nadel ist viel unauffälliger und überraschender als Tötungswaffe einzusetzen. Aber war es überhaupt eine solche? Umgekehrt macht es ja wenig Sinn, zuerst das Erschlagen und dann die Spritze. Was wurde denn injiziert? Die Fachleute im Hornbrunner Spital würden das klären. Es wäre wichtig, um grundsätzlich einmal die Todesursache festzulegen. Allig wurde vom Arzt aus seinen Überlegungen gerissen.

„Ich habe gehört, Sie spielen Schach, Herr Kommissar?“

„Ja, manchmal im Café Melanie. Sind Sie auch ein Freund dieses Spiels, Herr Doktor?“

„Leider kenn ich mich beim Schachspiel nicht aus. Ich brauche Bewegung, körperliche Aktivitäten. Im Fitnessstudio, beim Joggen und beim Golfen. Ab und zu spiele ich Tennis.“

Da ist mir ein Schnösel als Schachpartner erspart geblieben. Allig ertappte sich bei diesem Gedanken. Tennis war aber das richtige Stichwort.

„Tennis, um Gottes willen! Um sechs Uhr sollte ich am Tennisplatz sein. Können Sie mich nach Hornbrunn mitnehmen, Herr Doktor Spritzenberger? Wenn wir jetzt fahren, wird sich meine Verspätung in Grenzen halten.“

„Selbstverständlich, Herr Kommissar. Ich glüh Sie zum Tennisplatz.“

„Danke. Es muss aber kein Autorennen sein.“

„Eine Maseratifahrt halt, Herr Kommissar.“

Das Tennisdoppel konnte von Allig nicht bis zum Ende durchgespielt werden. Mitten im Entscheidungssatz hatte er sich entschuldigt und seine nahe gelegene Wohnung aufgesucht. Dort lebte er seit seiner Scheidung vor fünf Jahren als Single. Mit dieser Situation einigermaßen zufrieden, unternahm er keine gezielten Aktivitäten, eine neuerliche Bindung mit einer Frau zu riskieren. Im Alter von 63 Jahren durchaus noch in einer respektablen Befindlichkeit, gewiss im Stande, einer Frau in physischer Hinsicht erlebnisorientiert gegenüberzutreten. Er war ein großgewachsener Mann, von imposanter Statur, sein Gesicht strahlte, obgleich von einigen Falten durchzogen, eine verschmitzte Jugendlichkeit aus, die auch seinen lebhaft funkelnden grünen Augen geschuldet war. Die vollen dunklen Haare sträubten sich (noch) mit Erfolg gegen eine altersgemäße Graumelierung. Es kam gelegentlich vor, dass er, was sein Äußeres und seine Haltung betraf, mit Peter Simonischek verglichen wurde. Dies empfand er als wohltuende Schmeichelei, zumal dieser Bühnen- und Filmstar sein Lieblingsschauspieler war. Keine Frage: Allig verfügte über ein vorteilhaftes Aussehen. Als Weltmann mit humanistischklassischer Bildung ausgestattet, empfahl er sich so mancher kultivierten Dame als Partner ohnehin. Das war nicht das Problem. In Erinnerung an die konfliktbehaftete Zeit seiner Ehe hatte er sich darauf eingerichtet, sein Alleinsein zu genießen. Er liebte die Ruhe, die ihn umgab, wenn er sich in seiner geräumigen, stilvoll eingerichteten Wohnung aufhielt. Da konnte er ohne Fremdeinwirkung eigenbestimmt agieren. Manchmal gab es schon Tage, an denen er so etwas wie Sehnsucht nach einem Menschen an seiner Seite empfand. Ein emotionaler Ausnahmestatus, der Allig einiges an Konzentration bei seiner Arbeit kostete. Grundsätzlich aber war er einverstanden mit seinem Leben als Solist. Mit der Zeit hatte er seine Kochkünste auf ein Niveau gebracht, das ihm ein abwechslungsreiches Repertoire an leiblichen Genüssen zur Verfügung stellte. Er schätzte das hochwertige Angebot an Weinen der Hornbrunner Region. Vor allem war er dem Rotwein zugetan, dessen Qualität in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen hatte. Seine umfangreiche Bibliothek bot ihm ein Ambiente, in das er behaglich immer wieder einzutauchen pflegte. Einen besonderen Platz nahm in seinem Wohnzimmer ein großes Schachbrett ein. Regelmäßig spielte er Partien bekannter Meister und aktueller Größen dieser Sportart nach.

Gelegentlich gab es auch Momente, in denen ein weibliches Wesen im Begriffe war, in seine Privatsphäre einzutreten. Und Wallfred Allig war manchmal auch geneigt, dies zumindest als Versuch, sein Solodasein auf die Probe zu stellen, zuzulassen. Erst unlängst hatte ihn im Café Melanie eine Frau angesprochen und ihm zu verstehen gegeben, dass sie gerne mit ihm Schach spielen würde. Eine rothaarige, schlanke Mittfünfzigerin, so seine Schätzung. Allig war sich sicher, bei dieser Frau landen zu können. Da spielte er mit dem Gedanken, versuchsweise sein Singledasein zumindest temporär zu beenden. Er wollte freilich nichts überhasten und den Zeitpunkt des engeren Kontakts mit ihr selbst bestimmen. Dass ihr Vorschlag, mit ihm das Schachspiel zu pflegen, lediglich ein Vorwand war, näher an ihn heranzukommen, war Allig von vornherein klar. Da musste nicht erst der Kommissar in ihm kombinieren. Wie viele Möglichkeiten bietet doch das Leben, zwischenmenschlich nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen! Allerdings hat die Briefmarkensammlung in dieser Hinsicht heute weitgehend ihre Rolle eingebüßt.

Allig hatte diese Frau vertröstet, ihr in Aussicht gestellt, dass er zu einem Spiel mit ihr bereit sei, wenn seine Freizeit dazu ausreiche. Ihre Erscheinung war ihm sympathisch, noch dazu war ihm ihr Hang zum Rotwein aufgefallen. Auf einer solchen Gemeinsamkeit ließe sich schon etwas Intimeres aufbauen. Bis dahin sollte es diesen Schwebezustand geben, in der Illusion und Phantasie den Alltag durchziehen. Retrospektiv ist für viele Paare diese Zeit die schönste in ihrem gemeinsamen Leben. Allig war jedenfalls gewillt, diese Phase seiner Befindlichkeit auszukosten.

Allig fühlte sich nach dem Duschen vom Tennisspielen einigermaßen erholt. Er verließ seine Wohnung und erreichte seine Arbeitsstätte kurz vor acht. Seine Assistenten erwarteten ihn im Besprechungszimmer. Alfred Reschka wirkte noch etwas mitgenommen vom Unfall, sein linker Arm war einbandagiert.

„Na, du machst Sachen, Rennfahrer! Wie geht’s dir?“

„Danke, ich bin o.k. Die Prellungen tun weh. Gott sei Dank kein Bruch. So ein Kornfeld ist ein Segen für einen Biker, dem sein Gefährt abgeschossen wird. Bin auf einem naturbelassenen Sprungtuch gelandet. Meine Wunde ist versorgt. Krankenstand abgelehnt. Nur meine Suzuki braucht eine Operation.“

„Das hör ich gern, Kollege. Wir können jetzt keinen personellen Ausfall brauchen.“

„Ich steh voll zu deiner Verfügung.“

„In medias res!3 Wie ist die Lage?“

Sie saßen am kleinen runden Tisch. Gottfried Post ergriff das Wort.

„Ein Bauer in Unterhautzenhofen, Franz Hellinger, ist offensichtlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Wir haben ihn ja gesehen, fürchterlich zugerichtet, erschlagen aufgefunden zwischen seinen Weinstöcken.“

„Der Doktor Spritzenberger hat einen Einstich an seinem Hals entdeckt. Eine Art Injektion vermutlich. Der Tote wird in unserem Spital untersucht.“

Nach Alligs Einwurf setzte Post seine Ausführungen fort.

„Was wir über Franz Hellinger wissen, ist: großes Vermögen, Prachthaus, riesiges Presshaus, großzügiger Weinkeller, auch sein Weingarten kein Schrebergartenformat.“

„Ich habe vorhin im Internet recherchiert. Einige Hellinger-Weine haben vor drei Jahren Preise eingeheimst. Aber nie in den absoluten Spitzenrängen. Im Presshaus und im Weinkeller haben regelmäßig Veranstaltungen stattgefunden. Und politisch war Hellinger auch aktiv. FPÖ-Gemeinderat in Braunsthal. Unterhautzenhofen ist eine von sechs Ortschaften dieser Großgemeinde. Dieser Bauer scheint ein umtriebiger Typ gewesen zu sein.“

Reschka war also trotz seines körperlich beeinträchtigten Zustandes nicht untätig gewesen.

„Danke, Freddie! Der Beliebtheitsgrad dieses Landwirtes wird noch zu untersuchen sein. Jedenfalls regelmäßig als Kartenspieler im Wirtshaus. Da werden wir nachbohren.“

Der Kommissar nickte Reschka anerkennend zu. Dann wandte er sich an den anderen Assistenten.

„Wie schaut´s mit seiner Familie aus?“

„Verheiratet, Sohn und Tochter im Ausland. Seine Frau war bis heute um fünf Uhr Nachmittag auf Kur in Bad Hallbach.“

„War?“

Allig reagierte überrascht.

„Ja. Sie ist heute abgereist. Einen Tag vor Beendigung ihres Kuraufenthalts. Der Kurdirektor höchstpersönlich hat es mir telefonisch bestätigt.“

„Du hast sie also nicht erreicht? Weiß man, wohin sie sich begeben hat?“ „Ich denke, sie wird heimgefahren sein. Der Kurdirektor weiß nichts Gegenteiliges.“

„Ist sie denn telefonisch nicht erreichbar? Hat sie kein Handy?“

„Die Kurverwaltung ist nicht informiert. Frau Hellinger hat offenbar eine Geheimnummer.“

Ein weiteres Geheimnis, ging es Allig durch den Kopf. Auch bei dieser Frau hatte er kein gutes Gefühl.

„Wir werden unsere Kollegen vom Unterhautzenhofener Posten verständigen. Sie sollen uns melden, wenn diese Dame zuhause ankommt. Freddie, bitte mach das jetzt gleich.“

„O.k., Wallfred.“

Reschka verließ den Raum.

Allig wandte sich an den anderen Assistenten.

„Mit dem Tod ihres Vaters werden wir seine Kinder noch nicht konfrontieren. Das soll die Frau Hellinger tun, wenn sie zuhause ist. Eigentlich müsste sie schon da angekommen sein.“

Post nickte zustimmend.

„Ganz sicher, falls sie von Bad Hallbach ohne Umweg heimgefahren ist. Ich werde jedenfalls recherchieren, wo die Kinder erreichbar sind. Der Kleiner hat gesagt, der Sohn lebt in München und die Tochter in der Schweiz.“

„Ja, Goks, tu das.“

Alfred Reschka hatte sein Telefonat beendet und erschien wieder im Besprechungszimmer.

„Sag, Goks, wer ist denn das bedauernswerte Opfer von Freddies Bikeraserei?“

„Der schwerverletzte Autofahrer…du wirst es nicht glauben, Wallfred.“

„Na, wer denn?“

„Doktor Gerhard Langer!“

„Nein! Der Gemeindearzt von Unterhautzenhofen. Das ist ja eine Geschichte!“

„Ich kann aber wirklich nichts dafür, Wallfred! Der Wagen ist auf meiner Straßenseite entgegengekommen. Mit weit über hundert, im Stil eines Rennautos!“

„Der Freddie ist unschuldig am Unfall“. Post nahm Reschka in Schutz. „Der Arzt ist mit seinem Porsche in einem Wahnsinnstempo auf die falsche Seite geraten. Das ist protokolliert. Freddie, du hast einen Schutzengel gehabt, wirklich!

Doktor Langer ist ins Schleudern geraten und in einen Lichtmasten geprallt. Ohne seinem Airbag wäre er nicht mehr am Leben.“

„Ohne seinen..., der Akkusativ. Wie immer auch, der Airbag ist eine segensreiche Erfindung. Weiß man, wohin der Langer so flott unterwegs war?“

„Nein. Jedenfalls ist er von Unterhautzenhofen in Richtung Kleingrabern gerast.“

Eigenartig ist es schon, ging es Allig durch den Kopf. Dieser Arzt hätte zu uns in den Weingarten kommen sollen. Stattdessen flitzt er auf der Landstraße dahin und baut einen Unfall. Mit seinem Porsche. Kein langsames Fahrzeug. Noch ein Mediziner im Rennmodus. Komisch. Schaut aus wie eine Flucht. Vor wem ist er davongefahren? Zu wem wollte er?

„Wenn du mich fragst, Wallfred, ich glaube, der Doktor Langer wollte gar nicht zu uns kommen.“

„Goks, das habe ich mir eben auch gedacht. Wir werden ihn und sein Umfeld unter die Lupe nehmen müssen.“

„Jetzt liegt er im Hornbrunner Spital und ist nicht ansprechbar.

Der Oberarzt hat gemeint, wir sollen uns morgen bei ihm melden.

Aber er ist skeptisch, ob Langer schon auskunftsfähig sein wird.“

„Gut, warten wir ab, heute können wir ohnehin nichts mehr tun.

Morgen gehen wir wie folgt vor…“

Nach der Bekanntgabe des Einsatzplanes musste Allig die Toilette aufsuchen. Auch Gottfried Post musste. Vor dem Besprechungszimmer hatte der Kommissar das Gefühl, dass ihm sein Assistent etwas mitteilen wollte. Er ermunterte ihn mit einer Kopfbewegung zum Sprechen.

„Wallfred, ich wollte dich schon lange etwas fragen.“

„Was liegt dir am Herzen, Goks?“

„Sag, was ist eigentlich ein Akkusativ?“

„Hast in der Schule nicht aufgepasst? Akkusativ ist der vierte Fall eines Nomens. Derjenige, mit dem du auf Kriegsfuß stehst.“

„Meine Schulbildung war eh nicht so schlecht. Volks- und Hauptschule halt. Hab aber oft gefehlt. Die Arbeit auf den Feldern und im Weingarten, weißt du. Meine Eltern waren Bauern.“

„Ja, das Übliche. Kinderarbeit auf dem Land. Da fahren bereits die Zehnjährigen alleine mit dem Traktor herum.“

„Ich schon mit acht!“

„Da ist die Grammatik für dich Nebensache gewesen. Also der Akkusativ ist die Bezeichnung für den vierten Fall. Du bist ohne den Traktor da. Nur ein Beispiel. Der dritte Fall heißt Dativ. Dein Lieblingsfall. Du sitzt auf dem Traktor.“

„Und der erste Fall?“

„Das ist der Nominativ. Um bei dem Beispiel zu bleiben: der Traktor. Der Traktor war für dich ein Kinderfahrzeug.“

„Nominativ: der erste Fall.“

„Richtig.“

„Danke. Du bist halt ein Studierter, da kann ich nicht mithalten.“

Allig fühlte sich jetzt unwohl. Ich muss mir diese sprachlichen Belehrungen abgewöhnen, redete er sich ins Gewissen. Er nahm sich vor, zukünftig auf seine grammatikalische Besserwisserei gegenüber seinen Kollegen zu verzichten.

„Schon gut, Goks. Du bist sehr tüchtig, hast ganz andere Bildungsbedingungen gehabt. Ich habe dafür halt noch nie einen Traktor zur Bewegung gebracht. Mit acht Jahren bin ich von der Biene Maja direkt in den „Faust“ hineingeraten. Ich war daheim von Büchern umgeben.“

„Den Faust?“

„Ein Theaterstück von Goethe. Hier auch im Akkusativ.“

„Die Biene Maja kenn ich vom Fernsehen. Hat der schön gesungen! Mein Vater war nebenbei auch Imker. Ein harter Job heutzutage. Bei dem Bienensterben, das um sich greift.“

„Apropos Sterben. Wenden wir uns dem Nominativ zu. Auf zu unserem ersten Fall!“

Die Aufgaben für den morgigen Tag waren verteilt.

Alfred Reschka würde nach Unterhautzenhofen fahren. Er sollte weitere Erkundigungen über Franz Hellinger einziehen. Vor allem müsste er mit Hellingers Frau reden, falls diese daheim angekommen war. Das hielt Allig allerdings für unwahrscheinlich. Reschka sollte auch das Gasthaus aufsuchen, um sich bei den Gästen umzuhören. Hellingers Partner beim Schnapsen wären unbedingt zu befragen. Aufgrund seiner Verletzung konnte Alligs Assistent kein Fahrzeug steuern, das würde eine junge Polizistin übernehmen, Manuela Schmidtleitner, die damit der Ermittlergruppe zugeteilt war.

Gottfried Post wurde nach Bad Hallbach beordert.

Alligs Ahnungen, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte, waren immer stärker geworden. Diese Dame und ihre Kur müssten unter die Lupe genommen werden. Goks sollte mit dem Kurdirektor reden, auch mit den betroffenen Ärzten, wenn möglich auch mit Kurgästen, in diskreter Form. Vielleicht wäre ja auch von seiner Gattin etwas zu erfahren über diese ominöse Barbara Hellinger.

Allig selbst beabsichtigte, vorerst zuhause zu bleiben und am frühen Vormittag das Spital aufzusuchen. Er rechnete damit, mit relevanten Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Untersuchung des toten Bauern konfrontiert zu werden. Er hoffte auch auf ein Gespräch mit dem verunfallten Gemeindearzt.

Zu Mittag würde er sich nach Unterhautzenhofen begeben. Zuerst zum Polizeiposten, dann zur „Rebe“. Im Gasthaus war ein Erfahrungsaustausch der Ermittler geplant. Gottfried Post müsste halt sehr früh nach Bad Hallbach aufbrechen, um rechtzeitig zur Besprechung in Unterhautzenhofen zu kommen. Er sollte vor allem den Kontakt mit seiner kurenden Frau auf das Notwendigste reduzieren. Im Urlaub in Italien könne er ja alles Versäumte nachholen. Allig gelang es nicht, sich diese Bemerkung zu verkneifen.

So verabschiedete man sich voneinander.

Allig und seine Assistenten traten den Heimweg an.

Am Anfang tappt man

fast immer im Dunkeln.

Durchwegs nur Spuren,

auf denen man tänzelt.

Verstrickt und gefangen

im Rätselgewirr.

Vermutungen, Ahnungen,

vage Gedanken.

Da ein Geheimnis,

dort kein Ergebnis.

Kommissär Bärlach

im Dürrenmatt-Krimi,

der hat durchschaut

sogleich das Geschehen.

Aber im Leben

verläuft es ganz anders.

Lange oft braucht es,

das Böse zu bannen

und gleich zu erkennen,

wer was verbrochen

aus welchem Motiv.

Ungeduld aber

ist fehl hier am Platz.

Wie heißt er so schön,

der Spruch auf dem Hause,

der Zierde der Weinstadt,

das Glück der Touristen

und ihrer Beglücker

signalisierend:

ALLES MIT DER ZEIT

Seit einer halben Stunde saß Allig in seinem Wohnzimmer. Nachdenklich betrachtete er sein Schachbrett, auf dem die Figuren in ihrer Ausgangsstellung darauf warteten, gegeneinander bewegt zu werden. Auf seiner Couch sinnierte er über die Ereignisse der letzten Stunden. Er schenkte sich ein zweites Glas Cabernet Sauvignon ein. Der Rotwein diente als Ersatz für das Abendessen. In seiner Nachdenkphase wollte er seinen Magen nicht belasten. Vor ihm auf dem Tisch lagen drei Zeitungen. Zwei Tagesausgaben seiner abonnierten Qualitätsblätter. Sie hatten ihn kurz mit den wichtigsten Meldungen versorgt. Da gab es ohnehin wenig Erfreuliches zu lesen. Krieg in Syrien, Terroranschläge, Flüchtlingsströme, naturbedingte Zerstörungen – lauter Horrormeldungen. Und Skandale in Politik und Wirtschaft. Dagegen wirkte der innenpolitische Aufreger der letzten Tage, die klebefeindlichen Wahlkuverts, geradezu erheiternd. Obwohl natürlich diese Panne vor allem in ausländischen Kommentaren mit Spott und Häme bedacht wurde. Im Fernsehen lief eine Übertragung einer Nationalrats-Sondersitzung zu dieser Affäre.

Fünf Minuten hatte Allig diesem Spektakel seine Aufmerksamkeit geschenkt.

Jetzt fiel sein Blick auf die Titelseite der Bezirksblätter, dem wöchentlichen Geschenk an die Bürger mit und ohne Interesse am Lokalgeschehen. Hornbrunn hat die beste Wurst der Welt, las er da. Ihm wurde warm ums Herz. Na, das kann einen mit dem Leid der Welt versöhnen, für kurze Zeit wenigstens. Dem ausführlichen Bildbericht im Zeitungsinneren entnahm er, dass zwei Fleischhauer der Region, einer direkt mit Hauptsitz in Hornbrunn, bei der Wurst-WM mit einer Flut von Auszeichnungen überhäuft worden waren. 21 Goldmedaillen für diese zwei Fleischereibetriebe! Alle Achtung! Die WM hatte zwar in Hornbrunn stattgefunden. Aber dennoch: die ganze prominente Wurstwelt war in Hornbrunn versammelt gewesen. Da muss sich ein heimischer Fleischer erst einmal behaupten. Und gleich in so überragender Weise! Der Leberkäse bei diesem ausgezeichneten Betrieb ist ja wirklich Weltklasse, davon war Allig als gelegentlicher Konsument dieses Nahrungsmittels seit jeher überzeugt. Die haben sich diesen Erfolg in der Tat verdient. Bei den Olympischen Spielen in Rio haben wir eine Bronzemedaille gewonnen, eine magere sportliche Ausbeute. Und jetzt dieser Goldregen für unsere Wursterzeuger! Ein Balsam für die patriotische Hornbrunner Seele!

Dieser Triumph war dem Kommissar ein weiteres Glas Rotwein wert. Sein Blick schweifte wieder zum Schachbrett. Für eine Beschäftigung mit diesem war er zu müde. Die Uhr zeigte dreiviertel elf. Sein erster Arbeitstag als Chefermittler hatte ihn ziemlich mitgenommen. Und ein Nachtmensch war er nie gewesen.

Bevor sich Allig der Nachtruhe übergab, entschloss er sich, noch einen Telefonanruf zu tätigen. Er griff nach seinem Handy und wählte den gewünschten Kontakt.

„Hallo, Viktor! Ich hoffe, du bist noch wach.“

„Ja, hallo, Wallfred. Grüß dich. Wie ist es dir denn heute ergangen?“

„Wir haben einen Toten in Unterhautzenhofen. Ein Landwirt ist in seinem Weingarten erschlagen worden. Viel wissen wir noch nicht. Einiges ist unklar und geheimnisvoll. Das Rad der Inquisition ist heute in Bewegung geraten. Morgen legen wir richtig los.“

„Ein Landwirt in Unterhautzenhofen? Wen hat´s denn erwischt?“

„Ein gewisser Franz Hellinger. Wie es aussieht, der reichste Bauer in diesem Ort.“

„Nein! Was du nicht sagst! Der Franz Hellinger ist tot?“

„Du kennst…also du kanntest ihn?“

„Ja, ich war einige Male bei ihm im Weinkeller. Der Weißwein ist absolut trinkbar gewesen.“

„Viktor, sein Presshaus hat gewaltige Ausmaße. Du kennst es ja.

Morgen untersuchen wir seine Güter näher.“

„Das Presshaus ist eine Riesenhalle. Vor drei Jahren hat dort eine Schachveranstaltung stattgefunden.“

„Ein Schachturnier?“

„Ja, so ein Event. Schach und Wein. War ein großer Andrang damals. Sag, hast du nichts davon mitbekommen, Großmeister Allig?“

„Nein, das ist mir entgangen. Warte…vor drei Jahren war ich einige Monate in Italien, den ganzen Sommer. Erholung vom Schulstress. Meine Ferien wurden verlängert, dann habe ich diesen Job ohnehin aufgegeben.“

„Ach so, ich verstehe. Also dieses Schachturnier war gut besetzt. Die Bezirksblätter haben darüber berichtet. In dieser Woche werden da unsere preisgekrönten Wurstmacher vorgestellt.“

„Das habe ich gelesen. Die Hornbrunner Wurst ist Weltspitze. Alle Achtung! Die lassen wir uns von CETA und TTIP nicht verderben!“

„Wirst sehen, Wallfred, das Volksbegehren im Jänner wird ein Riesenerfolg für die Kritiker dieser Freihandelspackelei.“

„Hoffentlich, Viktor. Sag, wer hat denn das Schachturnier in Unterhautzenhofen gewonnen?“

„Ein Internationaler Meister aus Armenien. Ich weiß seinen Namen nicht mehr. In den Bezirksblättern war ein Foto von ihm zu sehen.“

„Ich werde mir von der Redaktion diese Ausgabe zeigen lassen. Danke für deinen Hinweis. Du, ich muss jetzt schlafen. Grüß dich, Viktor. Gute Nacht.“

„Schön, dass du angerufen hast. Gute Nacht, Wallfred. Und viel Erfolg morgen!“

1 Wer schweigt, scheint zuzustimmen

2 Im Wein liegt die Wahrheit

3 Gleich zur Sache!

KAPITEL 2

Hornbrunn

Unterhautzenhofen

Bad Hallbach

Mittwoch, 31. August 2016

Am nächsten Tag erwachte Allig um sechs Uhr.