Bayrisch Bossing - Paula Paulus - E-Book

Bayrisch Bossing E-Book

Paula Paulus

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Beschreibung

Christa liebt ihren Job und arbeitet sehr engagiert. Seit mehr als zwanzig Jahren kümmert sie sich bei einer Landwirtschaftsorganisation um die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Jeder kennt sie und jeder schätzt sie und ihre Arbeit. Und bei den Bauern ist sie sehr beliebt. Das ändert sich schlagartig, als ihr neuer Chef, Prof. Dr. Fürchtegott Biersack, das Ruder übernimmt. Nach einem Jahr Schamfrist kündigt er ihr unter einem höchst fragwürdigen Vorwand. Das ganze Jahr über, das Christa für Biersack arbeitet, hält er ihr Informationen vor, verweigert jedes Gespräch mit ihr, beschneidet ihre Kompetenzen – kurz und gut: er stellt sie kalt. Warum nur tut er das? Wie ein Spürhund nimmt Christa Witterung auf. Sie durchschnüffelt das berufliche Umfeld von Biersack und das von ihrer Nachfolgerin? Wo ist der Keller, in dem die beiden ihre gemeinsamen Leichen vergraben haben? Und sie wird fündig …

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Vollständige eBook Ausgabe 2017

 

 

© 2017 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt/Regensburg

Korrektorat: Sigrid Müller

Umschlaggestaltung: Ronja Windmeißer

Umschlagbild: © abeadev, Artenauta, eMIL, fotolia.com

Illustrationen im Innenteil: © Teresa Erhart

Autorenbild: © Elisabeth Zach

 

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

 

(eBook) ISBN: 978-3-95452-082-4

 

www.spielberg-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Bayrisch Bossing

Alte Studienfreunde

Der Advent ist eine Fastenzeit

Eine rosige Zukunft

Dreiundzwanzig Jahre später

Peanuts für einen verlorenen Arbeitsplatz

Keine Chance

Christas alter Chef

Jeder kennt jeden

Wie bei den Menschen – von der Ernährung hängt die Gesundheit ab

Nur ein Netzwerk?

Das ›große Fressen‹

Ein unerfüllter Wunsch

Loyal oder dumm?

Mit Bleifuß unterwegs

Ein Womanizer

Eine göttliche Familie

Der Bekreuzigte

Ein Langweiler

Babettes früher Tod

Schlaflos und gichtgeplagt

Christa liebt Zitate

Honigsüße Zwillinge

Die Globalisierung in Niederbayern

Er hatte bald seinen Fanclub

Frischer Wind

Götterdämmerung

Sand im Getriebe

Christa hat ein Spielplatztrauma

Christa allein unter Windlweibern

Mit Salamitaktik

Sommerlethargie

Zurück aus dem Urlaub

Schweinisches Leben

Kein Sex im Schweinestall

Eine gute Fettabdeckung

Schlechtes Gewissen

Das Gnadenbrot für Frau Dr. Steinbeißer

Angst vor dem neuen Chef

Eine späte Metamorphose

Diagnose Darmpolyp

Eine Entscheidung ist eine Entscheidung ist eine Entscheidung . . .

Ein feudalherrschaftlicher, autoritärer Führungsstil

Nach oben kriechen, nach unten treten

Ein Ausflug auf eine Alm

Endspurt bis Weihnachten

Sie hat sich angewanzt

Im neuen Jahr sollte alles besser werden

Angekommen im neuen Jahr

Konspirative Treffen

Es war nur noch peinlich

Es gibt nichts, was es nicht gibt!

Pharisäer, Heuchler und sonstige Schmeißfliegen

Christa wahrte die Contenance

Christa schämte sich fremd

Übergang zur Tagesordnung

Christa wollte kein Opfer sein

Ein Schulheft als Tagebuch

Fachlich kompetent für den Bayerischen Zwergrauhaardackelhundezuchtverein e.V.

Freunde kann man nie genug haben

Der Tag danach

Ein tränenreiches Wochenende

Er hat sich angewanzt

Süß mal süß ist zuckersüß und verursacht Sodbrennen

Die Dummen sind die Gefährlichen

Der ›Biersack’sche Erfüllungsgehilfe‹ oder der ›Mann für’s Grobe‹

Ihr Chef für mehr als zwanzig Jahre

Pubertät mit umgekehrtem Vorzeichen

Ein Heuchler

So a Freunderlwirtschaft

Vorwürfe an Dr. Rammlmeier

Keine Absolution

Ein schlichtes Gemüt

Auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz

Wahrung der Klagefrist

Peinlich! Was für eine jämmerliche Vorstellung!

Ein Vierer-Gespräch – dumm, dreist, frech und feige

No social dialogue

Drei hanebüchene Angebote

Keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus

Unausweichlich – der Gang zum Arzt

Frührente mit 49 – wegen der Psyche

Der Gang zur Selbsthilfegruppe

Ein Wendehals

Endlager gesucht

Christa, die Coole

Sie haben nichts dazugelernt

Peinlich für Professor Dr. Fürchtegott Biersack

Gut gemeint und falsch gemacht

Schlafen wie tot

Ein schlimmes Wochenende

Ein Giftnickel

Christa ließ sich nicht schikanieren

Zur Zahlung gezwungen

Ein Schlamper

RichterInnen sind auch nur Menschen

23 Jahre durchgewurstelt

Der Wendehals

Schriftliche Kündigung mit getürktem Datum und getürktem Diktatzeichen

Rausschmiss aus der Dienstbesprechung

Warum Rechtsanwälte auch Rechtsverdreher genannt werden

Das nächste Date mit Dr. Bonifaz Stirbeitl

Christa war erschöpft

Ein Kurzurlaub

Hemmungslos

The worst case

Kein Platz für Gefühle

Ich verweigere mich als Zeugin

Christa, dieses ahnungslose Schaf

Das letzte Date mit Dr. Bonifaz Stirbeitl

Auch Kleinvieh macht Mist

Christas letzte Stunden

Der Tag danach

Der erste Gerichtstermin

Die Urteilsverkündung

Ein strenggläubiger Hypochonder

Der Goldene Stinkstiefel

Kein Fleisch für Konstantin

Zwei Klugscheißer

Ein meinungsfester Mensch

Auch Christa liebt Musik

Auf Erfolg getrimmt

Keine Lügen an meinem Grab

Die zweite Instanz

Al Capone

Saudis in München

Christa ist wieder da!

Christa heute

Epilog

Mobbing ist kein Kavaliersdelikt

 

 

Paula Paulus (Ps) ist Agraringenieurin (FH) und hat deshalb die Handlung ihres Romans in die Landwirtschaft verlegt. Der Roman könnte auch in anderen Verbänden, Organisationen und Bereichen der öffentlichen Verwaltung, in jedem Unternehmen aus allen Wirtschaftsbereichen, beispielsweise im Baugewerbe, in der pharmazeutischen Industrie, im Maschinenbau, in der Autoindustrie, in jedem kleinen Handwerksbetrieb und in jedem Dienstleistungsgewerbe, spielen. Mobbing ist ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema.

 

Die ganze Geschichte ist erstunken und erlogen. Die ›Bundesvereinigung für landwirtschaftliche Produktion‹ und deren Landesvereinigungen mit den Tochterfirmen gibt es nicht. Selbst die zitierten Anwaltsschriftsätze und E-Mails sind Fakes. Aber solche und ähnliche Geschichten gibt es millionenfach. Denn Mobbing gehört leider zum Berufsalltag. Auch wenn in diesem Buch Unternehmen, Firmen, Verbände, Vereine, Behörden und Personen genannt sind, so bedeutet das nicht, dass es diese Unternehmen, Firmen, Verbände, Vereine, Behörden und Personen auch wirklich gibt oder je gegeben hat. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und unbeabsichtigt. Jede Ähnlichkeit mit bestehenden Unternehmen, Firmen, Verbänden, Vereinen und Behörden oder solchen, die es je gegeben hat, ist rein zufällig und unbeabsichtigt.

Prolog

Mit viel Humor und Witz erzählt die Autorin den unfreiwilligen Abgang von Christa aus einem bayerischen Landwirtschaftsverband. Für diesen Verband war Christa über zwanzig Jahre für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Nach einem Jahr Schamfrist kündigte ihr ihr neuer Chef unter einem höchst fadenscheinigen Vorwand.

Christa wurde von ihrem Chef gemobbt. Sie hat sich schon geraume Zeit an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr wohlgefühlt. Ihr neuer Chef hat ihr Informationen vorenthalten, ihre Kompetenzen beschnitten, sie nicht mehr zu Meetings eingeladen, sie isoliert. Sie wusste nie, woran sie bezüglich ihrer Arbeit war. Von ihrem Chef bekam Christa das ganze Jahr über, das sie für ihn arbeitete, keinerlei Feedback. Das alles sind typische Mobbing-Handlungen.

Die 56-jährige Christa ist eine Romanfigur, steht aber für rund eine Million Menschen in der Bundesrepublik, die Ähnliches erleben oder erlebt haben. Somit hat die Autorin mit ihrem Roman ein gesellschaftlich brisantes Thema aufgegriffen.

Christa wurde von einem Moment auf den anderen aus ihrem gewohnten Leben herauskatapultiert. Lebensnah und einfühlsam schildert die Autorin den Leidensdruck, die Existenzängste und die wirtschaftlich schwierige Situation von Christa. Christa durchleidet ein Wechselbad der Gefühle – immer wieder die Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz und dann doch nur Absagen.

Die Autorin lässt den Leser mit Schmunzeln, Wut und Zorn, mit Betroffenheit und mit Zuversicht an Christas ›neuem‹ Leben teilhaben. Wut und Zorn deshalb, weil Christas Nachfolgerin nur aufgrund privater Beziehungen, man kann es Korruption nennen, diesen Arbeitsplatz bekam. Christa fühlt sich deshalb ungerecht behandelt und war zutiefst gekränkt. Sie musste leidvoll am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn Menschen, nur aufgrund von Freunderlwirtschaft und Kumpanei, ohne fachliche und soziale Kompetenz, in Führungspositionen mit Personalverantwortung kommen. Denn auch Christas neuer Chef wurde nur wegen seiner privaten Beziehungen Geschäftsführer. Der Personalchef ließ sich von ihm zum Erfüllungsgehilfen degradieren.

Betroffen machen Christas angeschlagene Gesundheit, ihre finanziell prekäre Situation und die Aussichtslosigkeit auf einen neuen Arbeitsplatz. Trotzdem ist es Christa gelungen, dass ›aus ihrem Herzen keine Mördergrube‹ wurde. Sie hat sich gegen diese Ungerechtigkeit zur Wehr gesetzt und dadurch diese Lebenskrise gut bewältigt. Geholfen haben ihr dabei ihre Geschwister und deren Familien und ihre Freundinnen und Freunde. Und das stimmt zuversichtlich.

Bayrisch Bossing

Die bayrisch-christliche Partei-Spezlwirtschaft: Von wegen menschlich und sozial, schon gar nicht christlich. Sie handelten eigennützig, egoistisch und rücksichtslos und haben hemmungslos gegen das 10. Gebot ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut!‹ verstoßen. Im biblischen Original heißt es: ›Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts was deinem Nächsten gehört.‹ Sie begehrten Christas Arbeitsplatz.

Christa sprang im Dreieck vor lauter Freude. Sie war in ihrem Praktikumsbetrieb in Vierkirchen und hatte gerade von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze einen Studienplatz für Agrarwissenschaften an der Fachhochschule Freising-Weihenstephan zugewiesen bekommen. Sie hatte keinen Plan B für den Fall eines ablehnenden Bescheides gehabt. Auf ihrem Praktikumsbetrieb hätte sie nicht bleiben können, denn der Ausbildungsplatz war schon für einen neuen Lehrling reserviert. Doch jetzt musste sie sich um ihre nähere Zukunft keine Gedanken mehr machen. Nun konnte es losgehen, Anfang Oktober in Landshut.

Der Studiengang Agrarwissenschaften war damals noch in Landshut angesiedelt gewesen. Es waren noch fast zwei Monate bis Semesterbeginn – noch genügend Zeit um sich eine Studentenbude in der Stadt zu suchen. Sie brauchte dafür einen freien Tag - schwierig im August, mitten in der Erntezeit. Es stand die Bodenbearbeitung für die Aussaat von Wintergerste und Winterweizen an. Es sollten Leguminosen als Zwischenfrüchte angebaut werden. Außerdem musste die Gülle ausgebracht werden. Mit dem Lohnunternehmer wurde verhandelt, wie in diesem Jahr das Maissilieren in etwa vier Wochen möglichst kostengünstig bewerkstelligt werden könne. Hedwig und Stephan, das Betriebsleiterehepaar, liehen Christa für die Zimmersuche ein Auto. An einem Tag hatte sie alles, was notwendig war, erledigt. Sie hatte sich immatrikuliert, beim Studentenwerk gemeldet, ihren Bafög-Antrag gestellt und ihren Studentenausweis beantragt.

Christa fand immer schnell Freunde, denn sie war, oft zum Leidwesen ihrer Eltern, noch nie ein Kind von Traurigkeit gewesen. Sie waren heilfroh, als Christa endlich einen Berufswunsch äußerte und in dem Lehrbetrieb bestens untergebracht war. Sehr präsent waren bei ihnen noch die Erinnerungen an Christas Schulzeit als sie bei der Theater-AG mitmachen wollte und ihren Willen dann auch durchgesetzt hatte. Christa war damals Klassensprecherin, Redakteurin von ›schoolnews‹ und Mitglied der Umwelt-AG gewesen. Sie hatte für Thomas aus der Parallelklasse geschwärmt. Um in seiner Nähe sein zu können, wollte sie zusätzlich noch in die Theater-AG. Ihre Eltern waren davon nicht begeistert: »Christa, das ist zu viel. Du bist Klassensprecherin, machst bei der Schülerzeitung mit und bist bei der AG für Umwelt- und Naturschutz! Wann willst Du denn deine Hausaufgaben machen? Deine Noten sind nicht die besten. In der letzten Mathe-Arbeit hattest Du eine Fünf«, sagte ihre Mutter. »Als Klassensprecherin muss ich ja nicht viel machen, das merke ich ja kaum. Und die Schülerzeitung erscheint ja auch nur alle drei Monate«, konterte Christa. »Zum Sport könntest Du auch mal wieder gehen. Schließlich bezahlen wir auch den Sportverein. Und ein wenig Bewegung würde Dir guttun. In der Besenkammer liegen Deine teuren Laufschuhe.« »Ihr bezahlt ja den Sportverein nicht nur für mich. Das ist ja ein Familienabo. Was ist mit meinen lieben Geschwistern? Wann waren Michael oder Maria das letzte Mal sportlich unterwegs. Da sagst Du nichts. Immer hackst Du nur auf mir rum!«, fauchte Christa. »Und was ist mit Deinem Akkordeon? Wir haben Dir dieses sündhaft teure Instrument gekauft und jahrelang Deinen Musikunterricht bezahlt. Und jetzt steht es einfach in der Ecke. Seit Wochen hast Du es nicht mehr angerührt.« »Ach ja, auf mir hackst Du herum! Aber was ist mit Franziska. Sie hat erst vor wenigen Wochen die teure Geige bekommen. Und sie übt jetzt schon nicht mehr. Und Ihren Musikunterricht schwänzt sie auch«, petzte Christa. Nach einem langen Streit setzte sie sich durch. Sie wusste sehr genau, wie sie es anstellen musste, um ihren Willen durchzusetzen. Sie spielte ihre Mutter gegen ihren Vater aus. Und Christa war der unausgesprochene Liebling ihres Vaters. Es war ein Leichtes für sie ihn um den Finger zu wickeln.

Alte Studienfreunde

Christa wurde zur Semestersprecherin gewählt, Rudi wurde ihr Stellvertreter. Beide engagierten sich beim allgemeinen Studentenausschuss, und Christa schrieb Artikel für die Studentenzeitschrift. Schnell hatte sich eine kleine Clique gebildet. Mit Rudi, Marion und Ludwig zog sie häufig in Landshut oder München durch die Kneipen. In jeder Vorlesung saßen sie in der letzten Reihe des Hörsaals nebeneinander und lernten gemeinsam für ihre Prüfungen. In den Semesterferien machten sie gemeinsam einen zweiwöchigen Landmaschinen-, Melk- und Tierhaltungskurs.

Christa hatte einen heftigen Disput mit dem Tierarzt Dr. Hinterwäldler, der die Trächtigkeitsuntersuchungen machte, als er auf sie und Marion zeigte und sagte: »Ihr zwei Mädchen gehörts in den Melkkurs, den die Ökotrophologinnen machen.« »Mit den diplomierten Bettenmacherinnen haben wir nichts zu tun. Wir studieren Agrarwissenschaften«, kam Christas Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Christa musste den Schwanz einer Kuh halten, denn Dr. Hinterwäldler musste mit seiner riesigen Pranke die Scheiße aus dem Darm der Kuh schaufeln. Erst dann konnte er die Gebärmutterhörner abtasten. Christa ließ den Schwanz los, Dr. Hinterwäldler bekam eine Schwanzwatschn, sie selbst konnte sich gerade noch wegducken.

Christa erntete großes Gelächter als sie vorlaut den Vortrag von Dr. Hinterwäldler unterbrach und erzählte, dass der Wiener Frauenarzt Ignaz Semmelweis um 1850 das Händewaschen erfunden hatte. Bei dem Vortrag ging es um Krankheiten, die auch auf Menschen übertragen werden können. Alle dachten sie schliefe – war bei ihr nichts Ungewöhnliches nach durchzechten Nächten. Sie hob ihren Kopf und erzählte die Semmelweis’sche Geschichte. »Ihr habts alle gmoant ich schlaf. Da habts Euch getäuscht. Ich hör mit de Ohrn und ned mit de Augn.« Und wieder lachten alle laut los. Sogar Dr. Hinterwäldler freute sich über Christas Beitrag zum Unterricht.

Christa und Marion fanden im Papierkorb vor dem Hörsaal die Prüfungsfragen zum Melkkurs, die sie fotokopierten und an alle ihre Kommilitonen verteilten. Es gab einen Riesenkrach, weil alle – außer Christa und Marion – die volle Punktzahl erreichten. Es wurde gedroht, dass der Melkkurs nicht anerkannt werden würde. Doch nie hat jemand erfahren, was genau da abgelaufen war.

Christa und Marion wurden wie Kühe beurteilt. Julius Schafberger, der Leiter des Melkkurses hatte Bögen zur Exterieurbeurteilung von Kühen verteilt. Darauf war eine Kuh skizziert und darin eingetragen waren die Beurteilungskriterien und eine Bewertungsskala. Alle Kursteilnehmer starrten auf Christa und Marion und bewerteten sie nach Rahmen, Bemuskelung, Form und Euter. »De Bemuskelung is bei Marion etwas zu schwach, die Form stimmt insgesamt schon. Sie hat a gebärfreudiges Becken, des is bei der Christa ned so. Da passt der Rahmen und die Bemuskelung. Alle zwoa habn a schöns Euter!« So ging es hin und her bei den Jungs. Sie bedauerten, dass nicht mehr Mädchen im Semester waren.

Christa und Marion beurteilten ihre Studienkollegen ebenfalls: ›X-, Schweiß- und Plattfüße, fehlerhafte Beinstellung. Zuchtuntauglich!‹.

Der Landmaschinenkurs war für Christa ein Hürdenlauf, denn für Technik hatte sie zwei linke Hände und da waren nur Daumen daran. In der Maschinenhalle mussten sie bei einem Schlepper Öl-Filter- und Radwechsel machen, von einer Felge den Reifen abmontieren und einen neuen aufziehen, Pflug, Grubber, Eggen und Bodenfräsen auseinander- und wieder zusammenbauen, Erntemaschinen mit dem Hochdruckstrahler reinigen und einwintern und für die Herbstsaat Sämaschinen abdrehen – alles Arbeiten, die Christa verabscheute. Hinzu kamen Maschineneinsätze auf den Äckern und Wiesen. »Wir haben Glück mit dem Wetter. Stell‘ Dir vor, es würde Schnüre regnen wie während unseres Melkkurses, beim Küheeintreiben«, sagte Ludwig zu Christa. »Du hast ja Recht. Trotzdem macht mir das alles keinen Spaß. Und mir graut vor der Prüfung. Denn dass wir nochmals das Glück haben und uns die Prüfungsaufgaben vorab in die Hände fallen, das glaube ich nicht«, antwortete Christa missmutig. »An die praktische Prüfung mag ich gar nicht denken. Ich fahr das nächste Wochenende auf meinen Lehrbetrieb nach Vierkirchen und werde mir alle Landtechnikzeitungen zu Gemüte führen und an den Maschinen etwas rumwerkeln.«. Christa bestand die Landtechnikprüfung, sogar mit einer 2. Die Wochenenden verbrachte sie häufig auf ihrem Praktikumsbetrieb.

Christa, Marion, Rudi und Ludwig sind auch fast vierzig Jahre später noch immer miteinander befreundet. Einmal im Jahr treffen sie sich und besuchen Marion am Neusiedler See. Sie bewirtschaftet mit ihrem Mann einen Winzerbetrieb. Neben den Weinbergen bauen sie Holunder an, der nach Deutschland zur Herstellung von Lebensmittelfarbe geliefert wird.

 

Rudi ist Berufsschullehrer in Passau und bewirtschaftet im idyllischen Perlesreuth, im Bayerischen Wald, als Nebenerwerbslandwirt fünfzehn Hektar Dauergrünland. Das Gras, Heu und Grummet verfüttert er an etwa 80 Milchziegen. Die Ziegenmilch verkauft er an eine genossenschaftliche Biomolkerei im nahegelegenen Spiegelau im Bayerischen Wald, die ausschließlich Ziegen- und Schafmilch verarbeitet. Aus der Milch werden verschiedene Sorten Käse, Joghurt und Quark hergestellt. Rudi ist Genosse der Biomolkerei und organisiert auch den Vertrieb der Molkereiprodukte, die überwiegend auf Bauernmärkten und in Hofläden verkauft werden. Der Bayerische Wald ist bei Berlinern und Skandinaviern eine beliebte Urlaubsregion. Sie besteigen den Großen und den Kleinen Arber, den Lusen, den Großen Rachel und den Großen Falkenstein, besuchen Glashütten in Zwiesel oder Frauenau. Hoch zu Ross oder mit dem Fahrrad können die Urlauber den Naturpark Bayerischer Wald durchwandern.

Christa kennt diese Gegend gut. Als Kind hatte sie oft in Leonberg bei ihrer Tante ›Urlaub auf dem Bauernhof‹ gemacht. Und mit ihrem Kollegen Ignaz Machtlfinger besuchte sie fast jedes Jahr mehrere Teichwirte, um Fotos zu machen und Betriebsreportagen zu schreiben.

 

Ludwig ist Geschäftsführer einer kleinen Genossenschaftskäserei und bewirtschaftet im Nebenerwerb im Donaubergland in der Schwäbischen Alb einen Biobetrieb mit zwanzig Hektar Dauergrünland und zwanzig Hektar Ackerland. Auf seinen Äckern baut er hauptsächlich Einkorn, Silomais, Wintergerste und Sommerweizen, Hafer und Roggen an. Außerdem baut er Körnerleguminosen, zum Beispiel Ackerbohnen, und viele Zwischenfrüchte – Winterrüben und einjähriges Weidelgras – an. Das, was Ludwig erntet, verfüttert er an zwanzig Milchkühe und zehn Mutterkühe. Das Einkorn-Getreide, den Hafer und den Roggen bringt er in eine nahegelegene Mühle, das Mehl daraus verkauft er in seinem Hofladen, ebenso das Fleisch aus der Mutterkuhhaltung. Die Milch seiner Kühe wird in seiner Käserei verarbeitet.

Der Advent ist eine Fastenzeit

Zwei Semester wohnten Christa, Rudi und Ludwig Tür an Tür im Studentenwohnheim und für die letzten vier Semester hatten sie sich in einen leerstehenden Bauernhof in Ergolding eingemietet. Marion war leider nicht dabei. Im Sommer wurden andere Kommilitonen zum Grillen eingeladen. Die meisten kamen jedoch auch ohne Einladung, häufig nach dem Schwimmen in einem nahegelegenen Baggersee.

Im Advent gab es abends fast täglich Feuerzangenbowle und Bratäpfel. Die Bratäpfel waren gefüllt mit Mandeln, Marzipan und Rosinen, mit Blätterteig umhüllt und wurden im Ofenrohr in der Wohnküche gedünstet. Der Kachelofen verbreitete eine wohlige Wärme. Die Düfte, die durchs Haus waberten, hat Christa bis heute in ihrer Nase. Hinzu kamen Plätzchen und Stollen, die immer die Mitbringsel der anderen Studienkollegen waren. Die Folgen dieser gemeinsamen Adventsstunden waren sehr schnell spürbar. Wenn die vier, Marion gehörte sozusagen zum Inventar, im Hörsaal oder im Auto saßen, mussten sie ihre Hosenknöpfe öffnen. Marion sagte: »Der Advent ist ja eigentlich eine Fastenzeit, die auf die Geburt Christi vorbereiten soll. Mir gefällt diese Form des Fastens. Irgendwie werde ich die Pfunde nach Weihnachten schon wieder los.« »Wir machen gemeinsam Diät«, war Christas spontane Antwort. »Viel fehlt nicht mehr und ich hab‘ das Lebendgewicht einer schlachtreifen Mastsau.«

Eine rosige Zukunft

Christa sprang im Dreieck vor lauter Freude. Nachdem sie in Landshut ihr Studium abgeschlossen hatte, konnte sie ihre erste Hospitanz bei einer katholischen Tageszeitung machen. Sie durfte Kommentare zur Agrar- und Umweltpolitik schreiben und recherchierte zu Themen aus der Fortpflanzungsmedizin. Das war es, was sie interessierte und was ihr Spaß machte. Trotzdem war Christa unzufrieden, denn ihre ehrliche Meinung durfte sie in den Artikeln nicht immer äußern. Sie stand schon damals der Katholischen Kirche sehr kritisch gegenüber und der Chefredakteur strich gnadenlos ihre Artikel zusammen. Aber Christa wollte die sechs Monate durchhalten und hatte auch schon ein Volontariat bei einer landwirtschaftlichen Fachzeitung in Aussicht. Trotz aller Differenzen mit den Redakteuren und der Chefredaktion bekam Christa zum Abschluss ein anständiges Zeugnis.

Christa sah voller Optimismus in ihre Zukunft, denn sie hatte das langwierige Aufnahmeverfahren für die Deutsche Journalistenschule bestanden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Mit dem Chefredakteur der landwirtschaftlichen Fachzeitung vereinbarte sie, dass sie ihr Volontariat nach dem Lehrgang absolvieren sollte. Vorab konnte sie als freie Mitarbeiterin mit einem, wenn auch mageren, Fixum Beiträge verfassen und veröffentlichen. Mit dem Fixum und einem Stipendium finanzierte sie ihren Lebensunterhalt.

Christa bekam die heißbegehrte Hospitanz bei einer Rundfunkanstalt in der Redaktion Umwelt und Natur. Drei Monate war sie mit einem Kamerateam unterwegs, durfte Texte für Hörfunk- und Fernsehbeiträge verfassen, war im Tonstudio zum Schneiden von O-Tönen und in der MAZ, wenn Fernsehbeiträge geschnitten wurden, suchte Filmmusik aus und recherchierte Themen für die Sendungen. Außerdem hatte sie drei Stunden in der Woche Sprecherziehung. Dabei merkte sie, dass sie eine angenehm warme Stimme hatte und diese durch Atmung beeinflussen konnte. Lange Zeit trug sie sich mit dem Gedanken, in einem Chor zu singen.

Christa war überglücklich. Sie war auf Erfolgskurs, denn ihr wurde nach dem Volontariat bei der landwirtschaftlichen Fachzeitung die Stelle als Verantwortliche für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der ›Bayerischen Landesvereinigung landwirtschaftliche Produktion‹, für die Tochterfirma Tierzucht, Tierhaltung und Reproduktionsmedizin, kurz TTR, angeboten. Daneben gab es die Töchter Pflanzliche Produktion, Land- und Bautechnik, Erneuerbare Energien und Vermarktung. Jede Tochter hatte eine eigene Geschäftsführung und war gegliedert in Hauptabteilungen mit den entsprechenden Hauptabteilungsleitern und Unterabteilungen, ebenfalls mit den entsprechenden Abteilungsleitern. Diese Töchter hatten selbst weitere Töchter in die Welt gesetzt, beispielsweise eine ›Beratungs- und Service-GmbH‹. Der Geschäftsführer der Tochter, beispielsweise Pflanzliche Produktion, ist zugleich Geschäftsführer der ›Beratungs- und Service-GmbH‹. Christa musste die Pressearbeit mit den Tochterfirmen und deren Hauptabteilungen koordinieren und mit dem Pressechef der Dachorganisation ›Bundesvereinigung für landwirtschaftliche Produktion‹ abstimmen. Christa brauchte fast ein halbes Jahr bis sie das ganze Firmenkonstrukt und die Firmenverflechtungen durchschaut hatte.

Dreiundzwanzig Jahre später

Es war ein bitterkalter, sonniger Tag als Christa zu ihrem Chef gerufen wurde. Sie fühlte sich an ihrem Arbeitsplatz schon geraume Zeit nicht mehr wohl. Sie war verunsichert im Umgang mit ihrem neuen Chef und auch im Umgang mit ihren Kolleginnen und Kollegen, obwohl sie mit diesen zum Teil schon über Jahrzehnte zusammenarbeitete. Und vor allem wusste sie nie, woran sie bezüglich ihrer Arbeit war. Von ihrem Chef hatte sie das ganze Jahr, das sie für ihn gearbeitet hatte, keinerlei Feedback bekommen. Morgens stand sie mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend auf und abends ging sie mit einem ebenso mulmigen Gefühl in der Magengegend ins Bett. Es war ein diffuses Gefühl, ein Unbehagen, und Christa konnte nicht sagen, was die Ursache für dieses Unbehagen war.

Mehr als 23 Jahre hatte Christa für die Bayerische Landesvereinigung landwirtschaftlicher Produktion gearbeitet. Ihre Misere begann, als ihr alter Chef in Rente ging, für den sie über zwanzig Jahre gut und gerne gearbeitet hatte.

Seinem Nachfolger war sie im Weg. Von Anfang an hatte Christa das Gefühl, dass er sie als altes Eisen betrachtete und sie Stück für Stück aus der Firma drängen wollte. Deshalb hat er auch das ganze Jahr über nicht mit ihr gesprochen. Er hat ihr Informationen vorenthalten und ihre Kompetenzen beschnitten, kurz und gut – er hat sie aufs Abstellgleis geschoben.

Er, Professor Dr. Fürchtegott Biersack, brauchte nur ein Jahr Schamfrist, um ihr den Stuhl vor die Türe zu stellen. Christa zog vors Arbeitsgericht. Die Klage lautete:

. . .›‚Ziffer I. Es wird festgestellt, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis besteht.‹ . . .

Mit anderen Worten: Es ging um Scheinselbständigkeit. Die TTR hatte für Christa keine Sozialversicherungsbeiträge bezahlt. Deshalb bekam sie auch kein Arbeitslosengeld.

Dieser ersten Klage folgten sechs Klageerweiterungen und ein ›Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Weiterbeschäftigung‹. Diesem Antrag wurde stattgegeben.

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Klageschrift gesehen, geschweige denn gelesen. Immer wenn sie die Kuverts ihres Rechtsanwalts öffnete, war sie aufgeregt, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Die Klageschrift und alle anderen Schreiben, die sie von ihrem Rechtsanwalt im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung bekam, musste sie immer mehrmals lesen, um das juristische Kauderwelsch wenigstens halbwegs zu verstehen. Auch die Kommunikation mit ihrem Rechtsanwalt war für sie schwierig. Geduldig versuchte er ihr die juristischen Zusammenhänge zu erklären – meist mit nur mäßigem Erfolg. Sie kam sich dabei vor, wie ein kleines Kind, dem Mama oder Papa die Welt und das Leben erklären mussten.

Peanuts für einen verlorenen Arbeitsplatz

Im Hauptsacheverfahren hat Christa in der ersten Instanz vollumfänglich verloren. Sie ging in Berufung vor das Landesarbeitsgericht und hat gewonnen. Mit einem Vergleich hat sie sich von der TTR verabschiedet. Sie bekam etliche zehntausend Euro Abfindung, einerseits viel Geld, aber für einen verlorenen Arbeitsplatz waren es Peanuts. Eine Weiterbeschäftigung wäre für Christa nicht mehr in Frage gekommen, denn sie fürchtete weitere Schikanen. Lieber wäre sie Steine klopfen gegangen, als zurück an ihren alten Arbeitsplatz.

Keine Chance

Hinter Christa liegt ein Bewerbungsmarathon. Trotz ihrer umfangreichen Aus- und Fortbildungen ist sie mittlerweile seit mehr als fünf Jahren arbeitslos und wird Hartz IV beantragen müssen. Noch kann sie sich als journalistische Freelancerin und dank eines Minijobs finanziell über Wasser halten.

In den fünf Jahren, in denen sie nun zu Hause ist, hat sie mehr als 300 Bewerbungen verschickt – ohne Erfolg. Christa hat keine Hoffnung mehr, je einen Arbeitsplatz zu finden, außer es geschieht ein Wunder und daran kann sie nicht so recht glauben. Sie hat sich im ganzen Bundesgebiet beworben, auch auf Stellen, für die sie absolut überqualifiziert ist. Und überall hört man vom angeblichen Fachkräftemangel.

Von der Bundesagentur für Arbeit wurde Christa eine sechsmonatige Fortbildungsmaßnahme ›50plus Berufliche Weiterbildung‹ bezahlt. Einmal pro Woche ging sie zu ihrem Coach, der ihr Stellenangebote aus dem Internetportal des Arbeitsamtes vorlegte und ihren Lebenslauf und ihre Bewerbungsanschreiben korrigierte. Nach der zweiten Coachingstunde sagte er zu ihr: »Für Sie kann ich im Grunde genommen nichts mehr tun. Worin soll ich Sie weiterbilden? Alles, was ich Ihnen anbieten kann, können Sie alleine.« Trotzdem besuchte Christa die Coachings weiter, in der Hoffnung, dass sich doch noch etwas ergeben würde. Ihre Hoffnung war vergebens. Aber immerhin kam sie so ein bisschen raus und sie führten angenehme und witzige Gespräche. Einmal sagte Christa zu ihm: »Ich gehe nicht mehr davon aus, je eine Stelle zu finden. Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich mich mit der Situation arrangiere.« Er meinte: »Ich halte die Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit für die über 50-Jährigen für sehr sinnvoll. Aber diese alleine genügen nicht. Die über 50-Jährigen sollten auf dem Arbeitsmarkt den Behinderten gleichgestellt sein.« Christa sah schon die Schlagzeile vor sich: ›Alter als Behinderung!‹ Sie wandte sich an die Redaktionen diverser Zeitungen und Hörfunk- und Fernsehsender. Eine Zeitung hat einen Artikel dazu gebracht.

Christas alter Chef

Dr. Rammlmeier lebte alleine. Der Abschied aus dem Berufsleben fiel ihm sichtlich schwer. In unregelmäßigen Abständen besuchte Dr. Rammlmeier Christa in ihrem Büro und schüttete sein Herz bei ihr aus. Er fühlte sich einsam. Mit dem Alleineleben kam er inzwischen nur schwer zurecht. »Ich habe ein schönes Haus, aber es ist so leer und still. Ich fühle mich darin verloren. Und mit niemandem kann ich meine Vorlieben teilen. Wenn ich in ein Konzert gehe, kann ich mit niemandem darüber reden und ich komme zurück in dieses leere, große Haus«, klagte er sein Leid. »Und wenn ich jetzt in Rente bin, dann werden die Tage allein zu Hause unendlich lang. Ich weiß nicht, wie ich die freie Zeit füllen soll.« Für Christa war das auch unangenehm. Denn was sollte sie ihm sagen? »Suchen Sie sich doch eine Frau. Dafür gibt es heute die Singlebörsen im Internet.« Oder hätte sie sagen sollen: »Das wird schon. Das Leben geht weiter. Es wird sich schon was ergeben. Suchen Sie sich ein Hobby.« Christa sagte nichts dergleichen. Sie dachte sich, das sei plump und auch kränkend für ihn. Sie hörte meistens nur zu. Dr. Rammlmeier wusste, dass Christa schweigen konnte wie ein Grab, auch wenn man dies von ihr als Zuständige für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit nicht wirklich vermutete. Über die Jahre hatten sich die beiden zusammengerauft und es hatte sich ein gutes Vertrauensverhältnis entwickelt – dachte Christa. Doch sie wurde von ihm bitter enttäuscht.

Jeder kennt jeden

Mit jedem Tag, der verging und das Ausscheiden von Dr. Rammlmeier näher rückte, kam mehr Unruhe unter den Kolleginnen und Kollegen auf. Das Ausschreibungsverfahren bekam Christa nur am Rande mit. Aber sie wurde von potentiellen Bewerbern gefragt, wie weit das Verfahren nun gediehen sei. Sie hüllte sich in Schweigen.

Ihr Arbeitsumfeld, die bäuerlichen Interessensvertretungen und die Agrarlobby sind in einem Maße vernetzt, um nicht zu sagen verstrickt, wie dies nach Christas Meinung in kaum einem anderen Wirtschaftszweig der Fall ist. Kurz gesagt: Jeder kennt jeden! Da Christa im Laufe der Jahre viele Veranstaltungen besucht hatte, viel unterwegs gewesen war, Fotos und Texte verschickt und bei anderen landwirtschaftlichen Organisationen recherchiert hatte, war auch sie bekannt wie ein ›bunter Hund‹. Sie hatte oft nur die Gesichter im Kopf, aber nicht die dazugehörigen Namen und beruflichen Aufgaben.

Christa war, wie vielen anderen auch, nicht wohl bei dem Gedanken einen neuen Vorgesetzten zu bekommen. Ihr war auch bewusst, dass – sie war direkt der Hauptgeschäftsleitung unterstellt und ihre Stelle stand als Stabstelle im Firmenorganigramm – es für einen neuen Chef ein Leichtes sein würde, sie hinauszuekeln, wenn er wollte. Sie hatte einen Vertrag, mehr als zwanzig Jahre alt, der das Papier nicht mehr wert war, auf dem er geschrieben war. Mehrmals wollte Christa Dr. Rammlmeier darauf ansprechen, aber sie schob es immer weiter vor sich her – aus Rücksichtnahme auf seine schwierige Situation und aus eigener Bequemlichkeit. Letzteres, die Bequemlichkeit, die Scheu vor dem Gespräch, schreibt Christa sich selbst zu. Aber damit hatte sie ein Druckmittel, nämlich Scheinselbständigkeit, gegen ihren neuen Chef, Professor Dr. Fürchtegott Biersack, in der Hand und sie hatte es auch benutzt. Auch mit einem neuen Vertrag mit Festanstellung, hätte er ihr gekündigt. Wenn ein Arbeitgeber einen unliebsamen Mitarbeiter loswerden möchte, dann geht das auch. Das Arbeitsrecht schützt nicht wirklich. Eine betriebsbedingte Kündigung geht immer.

Vor Weihnachten stand die letzte Ausschusssitzung mit Dr. Rammlmeier auf dem Programm. Der neue Geschäftsführer, Professor Dr. Fürchtegott Biersack, stand schon fest, er musste nur noch von den Geschäftsführern der Tochterfirmen und den Ausschussmitgliedern bestätigt werden.

Christa mochte diese Ausschusssitzungen nicht. Es waren immer die gleichen Fotos, die sie machen musste – jeden einzelnen Referenten fotografieren und zum Schluss kam das unvermeidliche Gruppenfoto. Die Vorträge waren meistens mit vielen Zahlen gespickt und langatmig. Die wenigsten Referenten waren brillante Redner: »Der hat ein Temperament wie eingeschlafene Füße«, raunte sie oft einem Kollegen zu. Jeder Wortbeitrag war immer bis ins letzte Detail festgelegt, nur der letzte Punkt der Tagesordnung ›Wünsche und Anträge‹ bot den Anwesenden die Gelegenheit für Diskussionen. Da die Ausschusssitzungen von vielen Landwirten besucht wurden, wurde diese Möglichkeit nur selten wahrgenommen. Sie mussten zurück nach Hause zur Stallarbeit. In der Ausschusssitzung, bei der Professor Dr. Fürchtegott Biersack von den Ausschussmitgliedern als neuer Geschäftsführer bestätigt werden sollte, war es genauso. Auch Christa saß wie auf heißen Kohlen. Sie fürchtete die weite Fahrt von Bayreuth nach München, denn es hatte schon den ganzen Tag über geschneit. Es herrschte winterliches Sauwetter.

Professor Dr. Biersack stand schon sehr unruhig vor den verschlossenen Türen des Saals. Nachdem die Ausschussmitglieder den neuen Geschäftsführer bestätigt hatten, wurde Christa geschickt, ihn in den Saal zu bitten.

Professor Dr. Biersack stellte sich mit nur wenigen Sätzen über seinen beruflichen Werdegang vor. Er habe in Kiel Agrarwissenschaften studiert und in Weihenstephan promoviert. Vor seinem Promotionsstudium habe er ein Jahr in einem Milchviehbetrieb in Neuseeland gearbeitet und ein Jahr in einem Schafzuchtbetrieb in Australien. An der Universität Hohenheim, Stuttgart, habe er habilitiert. Inzwischen bewirtschafte er mit seiner Frau einen kleinen Nebenerwerbsbetrieb und er habe fünf Kinder. Ebenso hob er seine christliche Orientierung hervor.

 

Sepp Rüpplhuber, Vorsitzender der Bayerischen Landesvereinigung landwirtschaftliche Produktion und der TTR, war in der Ausschusssitzung wieder zu seiner Höchstform aufgelaufen und verwies wie immer mit stolzgeschwellter Brust auf die ›Drei Seppn‹: »Mia drei Seppn. Mia passn zam. Wenn mia was anfangen, dann klappt des auch! Mia san guad! Mia san guade Typen! Und der Professor Dr. Biersack passt a guad zu uns! Er is a guada Typ!« Mit den ›Drei Seppn‹ meinte er Sepp Sauerampfer, einen Mitarbeiter des Verwaltungsamtes für Agrarökonomie, Ländliche Strukturentwicklung, Umwelt- und Naturschutz, Sepp Wamprechtshammer, Vorsitzender einer bäuerlichen Vermarktungsorganisation, und natürlich sich selbst als den Besten und den Größten. Christa dachte sich: ›Die drei Seppn sind die Prototypen für das Seppltum in Bayern.‹

Sepp Rüpplhuber trug fast ausschließlich Lederhosen, im Sommer kurze, mit kurzen Trachtensocken und Wadlstutzen, im Winter lange Kniebundlederhosen oder ganz modern – lange Lederhosen im Landhauslook. Über seinem üppigen Bauch spannten sich filigran bestickte Hosenträger, darunter trug er rot-weiß-karierte Hemden. Zu besonderen Anlässen trug er Leinenhemden mit Stehkragen mit Gänseblümchen, Edelweiß und Enzian bestickt. Sein Hosenlatz war reichlich mit schwerem Schariwari – Hirschgrandl-, Gamskrickerl und Bärtlanhänger – geschmückt, der laut klapperte, wenn Sepp Rüpplhuber in seinen Haferlschuhen, deren Absätze mit Eisenplättchen belegt waren, ein Zimmer betrat oder einen Gang entlang schlurfte. Christa erinnerte das immer an hufeisenbeschlagene Pferde. Und der Gamsbart auf dem Hut durfte natürlich auch nicht fehlen.

Wie Sepp Rüpplhuber schob auch Sepp Wamprechtshammer eine wuchtige Wampe vor sich her. Und auch er war entweder in Lederhosen oder Trachtenanzug unterwegs.

Christas Brüder hatten auch Lederhosen getragen, im Sommer kurze, im Winter Kniebundlederhosen. Letztere hatten sie immer ›Kniabißlahosn‹ genannt. Sie hatten diese Hosen nicht gerne getragen, sie waren hart und unbequem. Aber damals in den fünfziger Jahren hatte es nichts anderes gegeben. Oft sagten ihre Brüder, wenn sie daran zurückdachten: »Wie bequem sind doch heute die Jeans. Schade, dass es die in unserer Kindheit noch nicht gab.«

Wenn es nach Sepp Rüpplhuber ginge, dann dürften Frauen nur Dirndlkleider tragen. Immer wieder, bei jedem Anlass und auch ohne Anlass, betonte er, dass bei einem Dirndlkleid die ›Nockerl‹ gut zur Wirkung kommen müssten. Deshalb müsse ein Dirndl auch einen tiefen Ausschnitt haben. Dabei schaukelte er seine Hände auf Brusthöhe hin und her. Christa war immer angewidert, dachte sich ›der Zipfeklatscha, der blöde‹ und wäre vor lauter Peinlichkeit am liebsten jedes Mal im Boden versunken. Christa hatte deshalb auch Streit mit Dr. Rammlmeier. Sie sagte zu ihm, er solle doch endlich einmal Rüpplhuber in die Schranken weisen: »Wenn Sie es nicht machen, dann tu ich es. Und ich mache es vor versammelter Mannschaft. Das dürfen Sie mir glauben. Sie haben es schon als sexistisch-männerdiffamierend angesehen, als ich zum Thema ›Künstliche Besamung‹ ein Foto mit einem prallen Stierhoden auf unsere Homepage gestellt habe. Sie haben darauf bestanden, dass es wieder rausgenommen wird. Aber Sepp Rüpplhuber redet bei jeder Frau über deren ›Nockerl‹. Das ist respektlos und es ist sexuelle Belästigung.« Dr. Rammlmeier war dies sehr peinlich und er schaute sehr verlegen drein. Doch von diesem Tag an erwähnte Sepp Rüpplhuber nie mehr die ›Nockerl‹, zumindest nicht in Christas Beisein.

Christa findet Dirndl sehr schön und hat sich sogar zwei für eine Landwirtschaftsausstellung schneidern lassen. Aber sie hat sie dann doch nie getragen, denn sie wollte Distanz halten zu diesem Seppltum.

Was Professor Dr. Biersack betraf hatte sie ein etwas mulmiges Gefühl. Sie kannte ihn bereits, denn sie hatte beruflich schon mit ihm zu tun gehabt. Dass er ihr unsympathisch war, konnte sie nicht sagen, aber er war ihr auch nicht sympathisch. Er hatte bei ihr keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Christa war mit Professor Dr. Biersack in einem Milchviehbetrieb in Balzhausen, unweit von Berchtesgaden gewesen. Es war um ein neues Beratungsprojekt zur Fütterung von Milchvieh gegangen. Christa gefallen die vielen schönen Bauerngärten, die es in dieser Gegend gibt und die meist etwas abseits von den Straßen liegen und mit einfachen Holzstaketenzäunen geschützt sind.

Wie bei den Menschen – von der Ernährung hängt die Gesundheit ab

Der Landwirt wollte eine Fütterungsberatung, denn seine Kühe waren nicht gesund. Bei einigen stellte der Hoftierarzt Eierstockzysten fest. Deshalb konnten sie nicht mehr trächtig werden. Andere hatten kranke Klauen. Und sowohl die Fruchtbarkeit als auch die Klauengesundheit hängen zu einem wesentlichen Teil von der Fütterung ab.

»Na, Christa. Du bräuchtest auch eine Fütterungsberatung. Nicht wegen mangelnder Fruchtbarkeit, aber dein Beinwerk wird es bald nicht mehr machen«, begrüßte sie ihr Kollege Vitus Wahkirchner. »Ich weiß, dass bei mir eine verhaltene Fütterung angebracht wäre. Noch bin ich aber sehr geländegängig unterwegs«, konterte Christa. Sie machte Fotos, als ihr Kollege Vitus Wahkirchner, der für die Fütterungsberatung in diesem Regierungsbezirk zuständig war, im Stall mit einem Sieb Kot auswusch, um die Verdaulichkeit von Maissilage und Stroh zu beurteilen. Im Sieb blieben viele Maiskörner und Strohteile zurück: »Herr Möslburger, die Maiskörner wurden beim Häckseln zu wenig angeschlagen. So wie die Kuh den Mais frisst, so wandern die Körner durch den Verdauungstrakt und kommen hinten mit der Scheiße im Ganzen wieder raus. Und das gilt auch für das Stroh, das ist zu lang.« Christa machte auch Fotos, als er Futterproben von Mais- und Grassilage nahm, als er in der Scheune Heu und Grummet beurteilte und als er mit fachmännischem Griff einzelne Tiere abtastete und feststellte: »Herr Möslburger, die Edith ist zu fett. Sie sollten sie auf Diät setzen. Und Birgit und Gertrud sind auch zu fett. Wenn sie zum Kalben kommen, Sie haben gesagt, in fünf bis sechs Wochen, dann kann es zu Problemen mit Milchfieber und Festliegen kommen.« Auch als Vitus Wahkirchner am Computer neue Futterrationen zusammenstellte und berechnete, machte Christa Fotos. Von Hieronymus Möslburger ließ sie sich die Betriebsdaten, zum Beispiel wie viele Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche er bewirtschaftet, die Klimadaten und die Leistungsdaten seiner Kühe, geben. Wenn Christa einen Bauernhof besuchte, fragte sie immer danach und hatte dazu ein Formblatt dabei, das sie eigens dafür zusammengestellt hatte. Das alles brauchte Christa, um eine Betriebsreportage für die Homepage der Bayerischen Landesvereinigung landwirtschaftliche Produktion, die TTR-Homepage und für landwirtschaftliche Fachzeitungen zu schreiben. Damit stellte sie das neue Beratungsprojekt vor.

Da die Badestrände nicht mehr so überfüllt waren wie in den heißen Sommermonaten, hatte Christa ihren Tankini, eine Decke und ein Badetuch eingepackt und nutzte die Gelegenheit, um im Obersee ein paar Runden zu schwimmen. Ein leiser Wind streichelte die Wasseroberfläche. Und die Tage waren in diesem warmen, sonnigen Spätsommer noch lang genug, um nach 20 Uhr in einem Strandcafé auch noch einen Latte Macchiatto zu trinken.

 

›Wer den Papst zum Vetter hat, kann leicht Kardinal werden.‹ (William Shakespeare, Englischer Dramatiker, Lyriker und Schauspieler, 1564 – 1616)

 

Die Gerüchteküche brodelte. Der Flurfunk funktionierte nicht nur innerhalb des Hauses hervorragend, sondern auch innerhalb der einzelnen Organisationen und Verbände. Bis Weihnachten hatte es sich unter den Kolleginnen und Kollegen herumgesprochen, dass Professor Dr. Biersack angeblich Leiter des Vereins ›Gesunde Rinder‹ werden wollte. Warum wurde er es nicht? Scheiterte er am Beamtenrecht?

Außerdem wurde gemunkelt, dass ursprünglich auch ein anderer Bewerber für den Posten des Geschäftsführers vorgesehen war. Die Verträge hätten schon zur Unterschrift vorgelegen. Hatte der Kandidat nur Pech gehabt? Die Bayerische Landesvereinigung landwirtschaftliche Produktion und die TTR hatte schon über zehn Jahre Sepp Rüpplhuber als ersten Vorsitzenden, der auch CSU-Landtagsabgeordneter war. War er der päpstliche Vetter von Professor Dr. Fürchtegott Biersack? Ging da alles mit rechten Dingen zu was die Einstellung von Professor Dr. Biersack betraf? War die fachliche Qualifikation zweitrangig? War Professor Dr. Biersack nur zweite Wahl als Big Boss bei der TTR? – Darüber wurde viel spekuliert. Waren Professor Dr. Biersack und besagter erster Vorsitzender damals nicht dick befreundet gewesen? Gehörte nicht auch Christas Nachfolgerin zu diesem ›Freundeskreis‹? Profitierte sie ebenfalls von dem über 60 Jahre gewachsenen schwarzen CSU-Filz?

Nur ein Netzwerk?

Christa hat sich sagen lassen, dass man dies heute als ›Netzwerk‹ bezeichnet. Und nichts sei heute für eine berufliche Karriere wichtiger als sich zu vernetzen, auch ›Netzwerken‹ genannt, unter anderem über Facebook und andere sozialen Netzwerke. Christa bezeichnet es als ›Günstlingsnetzwerk‹.

 

Dr. Rammlmeier hatte Christa wieder einmal besucht. Es war an einem seiner letzten Tage bei der TTR. Christa waren diese Besuche inzwischen sehr unangenehm geworden. Aber sie brachte es nicht übers Herz ihn zu bitten, zu gehen. Er sprach mit ihr über Professor Dr. Biersack. Christa sagte ihm, dass viele Gerüchte bezüglich Professor Dr. Biersack im Umlauf seien.

Dr. Rammlmeier lud sie zum Mittagessen beim Italiener um die Ecke ein. Sie lehnte ab. Dr. Rammlmeier beharrte hartnäckig darauf. Es gab für Christa kein Entkommen. So bestellte sie eine kleine Pizza und zum Nachtisch gab es noch einen Cappuccino. Sie aß mit wenig Appetit, schaufelte ihre Pizza einfach in sich hinein, denn sie war unter Zeitdruck. Am morgigen Vormittag war Redaktionsschluss und sie musste noch einen Artikel zur Ferkelerzeugung fertig schreiben. Von der Landwirtschaftlichen Fachzeitung hatte sie zwei Seiten dafür bekommen. Und sie musste noch die Fotos mit Bildunterschriften fertig machen. Sie versuchte Dr. Rammlmeier mit Fragen zu dem Artikel etwas abzulenken und von ihm auch noch einige Informationen zu bekommen: »Herr Dr. Rammlmeier. Warum sind im zurückliegenden Jahr so viele Ferkelerzeugerbetriebe ausgeschieden? Woran kann das gelegen haben, dass so viele Betriebe ihre Mitgliedschaft bei uns gekündigt haben? Und woran kann es gelegen haben, dass die Ferkelverluste um fast ein Prozent gestiegen sind? Das ist ganz schön viel.« Christa bekam nur eine kurze Antwort: »Dass Betriebe ausscheiden, das hat es schon immer gegeben. Es sind halt im vergangenen Jahr nicht mehr so viele dazu gekommen. Und die Ferkelverluste – da fragns besser beim ›Verein für gesunde Schweine‹ nach. Aber mich interessiert das auch nicht mehr. Das ist für mich nicht mehr wichtig«, sagte Dr. Rammlmeier sehr niedergedrückt. Er führte einen Monolog und kotzte sich bei Christa aus. Sie hörte ihm geduldig zu. Abends konnte Christa ihr Büro nicht rechtzeitig genug verlassen und musste ihre Turnstunde ausfallen lassen.

Das ›große Fressen‹

Zum Jahresanfang begann Professor Dr. Biersack mit seiner Arbeit. Dr. Rammlmeier war noch drei Monate für die Geschäftsübergabe im Haus, feierte seinen 65. Geburtstag und seine Verabschiedung. Dazu wurde für 10 Uhr das ganze Haus in den großen Vortragssaal eingeladen. Mit Sekt wurde auf das Geburtstagskind angestoßen. Dann kamen die unvermeidlichen Reden auf das Geburtstagskind. Im zweiten Anlauf kamen die Reden zum nahenden Abschied. Dr. Rammlmeier stand da wie ein kleines Kind, gab schön ›Händchen‹ und bedankte sich artig. Man merkte ihm an, dass er sich nicht wohlfühlte und traurig war. Er tat Christa leid.

Inzwischen war es 12 Uhr geworden und ein Caterer hatte in einem Nebenraum ein Büffet aufgebaut. Er brachte verschiedene Sorten warmen Leberkäs, Fleischpflanzerl und Spareribs. Zusätzlich konnten sich alle ein einem üppigen Salatbuffet bedienen. Außerdem wurden Tabletts mit leckeren Kanapees mit Schinken, Käse und Fischcreme gereicht. Zu Trinken gab es verschiedene Sorten Bier, Obstsäfte, Cola und Wasser. Zum Nachtisch gab es ein großes Kuchenbuffet mit Kaffee und Tee. Der Essensduft lockte an den ›Futtertrog‹. Es wurde üppig getafelt, aber gute Laune kam nicht auf.

Dr. Rammlmeier ›mischte sich sonst immer unters Volk‹. Diesmal saß er mit Professor Dr. Biersack, den Geschäftsführern der Tochterfirmen, den Vorsitzenden und den Hauptabteilungsleitern abseits an einem gesonderten Tisch. Es herrschte eine traurige Stimmung und Christa dachte an den Leichenschmaus nach der Beerdigung ihres Onkels. Da war es lustig zugegangen. Es waren lange verschollene Gesichter, Cousins und Cousinen, wieder aufgetaucht, und es hatte viel zu erzählen gegeben. Es war wie in Kinderzeiten gelacht und gealbert worden.

Dr. Rammlmeier sagte zu Christa, als sie ihm spätnachmittags die Fotos zeigte, die sie gemacht hatte, es sei für ihn die Henkersmahlzeit gewesen. Christa versuchte ihn aufzumuntern: »Ach, Sie können uns ja immer wieder besuchen. Sie sind doch immer herzlich willkommen und wir freuen uns auf Sie!« »Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie versuchen mich zu trösten. Und natürlich werde ich immer wieder einmal vorbeischauen und Euch bei der Arbeit aufhalten. Aber es ist trotzdem nicht leicht für mich«, sagte er traurig und verabschiedete sich. Dabei umarmte er Christa, er drückte sie fest an sich. Die Tränen standen ihm in den Augen. Christa war genauso traurig.

Ein unerfüllter Wunsch

Professor Dr. Biersack nutzte die Zeit, in der Dr. Rammlmeier noch im Hause war, um sich in allen Abteilungen vorzustellen und für ein persönliches Gespräch mit seinen künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. An Christas Tür ging er vorbei. Dabei hatte sie sich so sehr gewünscht, dass er auch mit ihr sprach, welche Wünsche und Erwartungen er bezüglich ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hatte. Außerdem wollte auch sie ihre Wünsche, zum Beispiel ein neues Layout für das TTR-Mitteilungsblatt, neu gestaltete Flyer oder dass ein externer Webdesigner die Homepage attraktiver gestalten sollte, äußern. Ihr Wunsch blieb unerfüllt und sie hatte immer ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Christa nahm all ihren Mut zusammen und schickte ihm eine E-Mail, mit der Bitte um einen Gesprächstermin. Er lehnte ihre Bitte ab mit der Begründung er habe keine Zeit. Ein andermal sprach sie ihn im Treppenhaus an. Auch hier verweigerte er das Gespräch. Einmal war sie mit ihm im Außendienst im Auto unterwegs. Sie wollte die Zeit nutzen, um mit ihm zu reden. Auch hier blockte er wieder ab. Er müsse sich gedanklich auf seinen Vortrag konzentrieren und könne deshalb jetzt nicht mit ihr reden.