Becca - Liebe ist nichts für Feiglinge - Rachel Hauck - E-Book
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Becca - Liebe ist nichts für Feiglinge E-Book

Rachel Hauck

4,6

Beschreibung

Ohne Vorwarnung verliert Rebecca, 33, ihren geliebten Abteilungsleiterjob. Gut, dass sie auf ihre drei Freundinnen aus der Gemeinde zählen kann. Denn jetzt ist guter Rat teuer: Soll Becca auf ihre Karriere setzen und in Chicago neu durchstarten? Keinesfalls will sie in ihren verschlafenen Heimatort Beauty zurückkehren – bis sie dort ihre Jugendliebe Dylan wiedertrifft … Wie kann sie bloß herausfinden, was Gott sich für sie ausgedacht hat?

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Rachel Hauck

Becca

Liebe ist nichts für Feiglinge

Roman

Deutsch von Renate Hübsch

Originaltitel: Georgia on Her Mind

© 2014 Forget-Me-Not Romances

Smashwords Edition

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2017 Brunnen Verlag GießenLektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: mauritius images / Cultura / Dean Northcott; shutterstock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-2072-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7474-0

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Kapitel   1

Kapitel   2

Kapitel   3

Kapitel   4

Kapitel   5

Kapitel   6

Kapitel   7

Kapitel   8

Kapitel   9

Kapitel   10

Kapitel   11

Kapitel   12

Kapitel   13

Kapitel   14

Kapitel   15

Kapitel   16

Kapitel   17

Kapitel   18

Kapitel   19

Kapitel   20

Kapitel   21

Kapitel   22

Kapitel   23

Kapitel   24

Kapitel   25

Kapitel   26

Kapitel   27

Kapitel   28

Kapitel   29

Kapitel   30

Kapitel   31

Kapitel   32

Kapitel   33

Kapitel   1

An: ALLECasperCo.

Betreff: Neuorganisation

Ich überfliege die E-Mail meiner Chefin Veronica Karpinski, Mit-Geschäftsführerin von Casper & Company.

Um unseren Workflow zu verbessern … bla, bla, blubber, blubber.

Ich scrolle weiter.

Neuorganisation unserer Abteilungen …

Neuorganisation? Das hat sie mir gegenüber noch nie erwähnt. Als Leiterin des Kundendienstes bin ich normalerweise in solche Umstrukturierungen eingeweiht.

Mit Wirkung von Montag nächster Woche übernimmt Mike Perkins die Leitung des Kundendienstes …

Was? Mike Perkins? Ich lese den letzten Satz noch mal. Mit Wirkung von Montag nächster Woche übernimmt Mike Perkins … Jedes Wort trifft mich wie ein Elektroschock. In einem Anflug von Panik greife ich zum Telefon und wähle Lucys Nummer. Meine Hände zittern. Mein Magen ist ein einziger Knoten.

Das Handy meiner Freundin klingelt bestimmt hundert Mal, jedenfalls kommt es mir so vor. „Mach schon, Lucy, geh dran!“

Ich kann die Tränen nicht länger zurückhalten. Aber ich muss. In Tränen aufgelöste Frauen, ganz besonders in Tränen aufgelöste Abteilungs­leiterinnen, kommen überhaupt nicht gut.

„Unprofessionelle Emotionalität“ nennt unser oberster Geschäftsführer, Jonathan Casper, das neuerdings. Kürzlich geschehen in einer Sitzung, in der Trish Carter die Fassung verloren hat, nachdem sie nicht zur Verwaltungsleiterin befördert worden war. Wieder einmal nicht.

Tränen dieser Art sind die schlimmsten – Frusttränen. Wuttränen. Tränen, die gar nicht wieder aufhören wollen, wenn sie erst einmal fließen.

„Ich glaub das echt nicht“, murmele ich, während ich noch immer auf die E-Mail starre und eine weitere Runde Klingeln abwarte, doch an Lucys Ende geht niemand dran.

Wie spät ist es überhaupt – halb elf? Der Tag hat gerade erst angefangen und steht jetzt schon ganz oben auf der Liste der deprimierendsten Tage meines Lebens.

Jetzt geht die Mailbox dran. „Sie sind verbunden mit dem Büro von Lucy O’Brien. Leider kann ich Ihren Anruf nicht …“

Ich warte die Ansage nicht ab und drücke die Eins.

„Lucy …“ Meine Stimme zittert, deshalb unterbreche ich mich und atme tief durch. „Becca hier. Bitte ruf mich zurück.“

Ich knalle den Hörer auf und beginne eine Wanderung durch mein Eckfensterbüro. Was wird hier gespielt? Was führt Veronica jetzt wieder im Schilde?

Draußen vor dem Bürofenster ballen sich dunkelgraue Sturmwolken zusammen und treiben über den Himmel Floridas, sodass ich mein Spiegelbild im Fenster sehen kann. Ich beuge mich vor, um mich genauer zu begutachten, und mache einen Schnellcheck. Gut sitzender Hosenanzug, teure Stiefeletten, perfektes Make-up, schulterlanges glänzend braunes Haar. Ich bin der Inbegriff einer jungen Karrierefrau aus dem 21. Jahrhundert.

Eigentlich bin ich genau da, wo ich in meinem 33-jährigen Leben sein wollte – bis zu dieser widerwärtigen E-Mail.

Ich stürme zurück an meinen Schreibtisch, zerre den Stuhl zurück und werfe mich darauf, während ich versuche, die widersprüchlichen Gefühle in mir zu sortieren. Verwirrung mischt sich mit Zorn, Tränen der Ohnmacht mischen sich mit trotziger Entschlossenheit. Ich hatte gedacht, über Momente wie diesen sei ich hinweg.

Das dürfte ein langer Tag werden.

„Becca?“ Jill, meine Assistentin, drückt sich vor der Tür herum.

Blitzschnell tauche ich aus meiner Schmollecke auf und schnappe mir die Maus, um vorzutäuschen, ich sei beschäftigt. „Jill, was kann ich für dich tun?“ Ich rüttele an der Maus, um den schwarzen Bildschirm zum Leben zu erwecken.

„Alles okay?“, fragt sie und steckt ihren Kopf zur Tür herein.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Klar. Wieso nicht?“ Schreie ich wirklich? Hört sich zumindest ganz danach an. Also räuspere ich mich und frage leiser: „Sonst noch was?“ Ich rüttele wieder an der Maus. Der Bildschirm erwacht.

Die grässliche Mail grinst mich an. Loser!

Jill lässt sich auf den Polsterstuhl auf der anderen Seite meines Schreibtischs fallen. „Ich hab dich heute Morgen kommen sehen. Neue Stiefel?“

„Ja.“

„Superschick.“

„Hab ich aus New York mitgebracht.“

„Wie teuer?“ Jill redet nicht um den heißen Brei herum.

„So viel, wie du in einer ganzen Woche nicht verdienst.“ Ich nehme auch kein Blatt vor den Mund. „Kommst du wirklich her, um mit mir über meine Schuhe zu reden?“

„J-ja, hörst du doch.“ Eine dunkle Röte überzieht Jills Wangen.

„Weißt du, dass du rot wirst, wenn du lügst?“

„Attila hat die neue Organisationsstruktur rumgeschickt“, platzt sie heraus und wirft eine Kopie des Organigramms auf meinen Schreibtisch.

Attila ist unser Codename für Veronica Karpinski. Kurz für Attila, der Hunnenkönig. Den Spitznamen hab ich ihr vor ein paar Jahren verpasst – unabsichtlich, als sie auf ihrer Karriereleiter gerade den ersten Sprung machen wollte und hypergeschäftig durch die Abteilung wuselte, alle und jeden herumkommandierte und ihr Terrain absteckte. Zu meinem Leidwesen blieb der Name an ihr kleben. Zum Glück erinnert sich aber niemand mehr daran, wer ihn erfunden hat.

„Verstehe.“ Ich verschwinde hinter meinem Laptop.

Jill beugt sich zu mir vor und flüstert: „Sie haben dir Mike Perkins vor die Nase gesetzt.“

Jetzt möchte ich am liebsten losschreien. Danke! Mails lesen kann ich auch! Die Tränen steigen mir wieder in die Augen, und wenn ich jetzt nur einmal blinzele, laufen sie bestimmt los.

Ich klicke auf eine alte Mail von Lucy, nur damit die ekelhafte An-diesem-Platz-brauchen-wir-dich-nicht-mehr-Mail vom Bildschirm verschwindet.

„Sonst noch was, womit ich dir behilflich sein kann?“, frage ich, um das Gespräch zu beenden. Bei mir ist so viel Dampf unterm Kessel, dass es jeden Moment zur Explosion kommen könnte. Ich kann keine Garantie für Jills Sicherheit übernehmen.

„Was denkt Attila sich nur? Ich meine, alle hier mögen dich. Und Mike ist so …“

„Sie weiß, was sie tut.“ Egal, wie sauer ich gerade auf Veronica bin, ich kann nicht zulassen, dass Jill Holmes, die größte Klatschtante im ganzen Unternehmen, mich hier zu unvorsichtigen Äußerungen verleitet. Jedes Wort, das ich jetzt sage, wird spätestens morgen in der ganzen Firma die Runde machen.

„Also, wenn ich dir irgendwie …“

Ich stehe auf und schneide ihr das Wort ab. „Mir geht’s bestens. Danke.“

Mein Telefon klingelt, als Jill den Raum verlässt. Das Display verrät mir, dass es Lucy ist – dem Himmel sei Dank.

„Becca, was ist los?“, fragt Lucy ungefähr zehn Mal, bevor ich mich aufrappeln kann zu antworten.

„Ich bin so wütend, so megawütend“, bringe ich zwischen zwei Schluchzern heraus. Ich lasse den Kopf hängen. Tränen tropfen auf das Eichen­imitat der Schreibtischplatte. Ich wische sie mit dem Organigramm weg, das Jill dagelassen hat.

„Was ist passiert?“

„Attila, der Hunnenkönig, hat die ganze Abteilung umstrukturiert.“

„Wann?“

„Am Wochenende, nehme ich an.“

„Und?“

„Ich bin nicht mehr Leiterin des Kundendienstes.“

„Was? Kann sie das denn einfach machen?“

„Ganz offensichtlich.“ Eine aufsteigende Gefühlswelle hämmert in meinem Kopf. Casper ist ein mittelgroßes, aber enorm erfolgreiches Software-Unternehmen. Jonathan Caspers jüngste Kopfgeburt, W-Book, dürfte das World Wide Web im Sturm erobern. Damit kann jeder seine eigene Website kreieren – jeder vom kleinen Steppke bis zur Uroma. Total easy.

Aber ich schweife ab. „Du weißt ja, wie so was läuft, Lucy. Sie machen, was sie wollen. Ganze Abteilungen und Abteilungsleiter mal eben mit einem Fingerschnippen austauschen – das ist nichts Neues. Ich hab nur nicht damit gerechnet, dass es mich treffen würde.“

„Becca, du bist so gut in deinem Job“, versucht Lucy mich zu trösten. „Du hast dir diesen Job echt verdient.“

„Glaubst du, das weiß ich nicht? Aber seit dieser E-Mail von heute Morgen hab ich diesen Mike Perkins über mir. Er ist der neue Leiter der Abteilung Kundendienst. Und über dem steht Veronica.“

„Sie hätte wenigstens seine Position anders nennen können“, bemerkt Lucy leise.

„Sollte man meinen.“ Ich koche wieder. Es gibt keinen Grund, absolut keinen, mir diese Position wegzunehmen. Meine Arbeitsergebnisse sind ausgezeichnet, keine Spur von mangelnder Qualifikation oder fehlender Führungskompetenz.

Ich investiere mich zu 130 Prozent in Casper & Company. Ich komme früh, gehe spät. Letztes Jahr habe ich freiwillig sogar über das Thanks­giving-Wochenende gearbeitet, damit ein Auftrag im Wert von einer halben Million rechtzeitig rausgehen konnte. Und im Dezember habe ich zwei Tage meines Colorado-Urlaubs geopfert, um den Verkaufsleiter zu einem Kunden zu begleiten.

„Becca, es muss doch einen Grund geben“, schließt Lucy.

„Attilas irrwitzige Inkompetenz?“

„Rede mit Jonathan“, schlägt sie vor.

„Der hat doch kein Rückgrat. Er wird mir erzählen, ich soll mit Veronica reden, und dann wird er sich hinter ihren Argumenten verstecken.“

„Dann sprich mit Veronica.“ Lucy gibt mir lauter Ratschläge, die ich nicht hören will.

„Nein. Sie hat das ausgeheckt – soll sie doch zu mir kommen.“

„Prima.“ Lucy seufzt. „Dann musst du eben damit leben. Aber beschwer dich nicht!“

Ich lache. „Wie gut kennst du mich überhaupt?“

„Becca, schon seit der zehnten Klasse. Du bist für mich wie eine Schwester, aber ich werde mir in den nächsten zwölf Monaten nicht dein Gejammer anhören, was diese Veronica Karpinski dir angetan hat.“

Lucy kennt mich tatsächlich. Aber ihre Offenheit ändert nichts an den Tatsachen: Ich werde jammern. Am liebsten würde ich ja zu Veronica marschieren und die Sache noch mal verhandeln. Aber das hier ist ihr Spiel.

Ich bin, äh, ich war Leiterin dieser Abteilung. Ab-tei-lungs-lei-tung. Ausbilder, technischer Support, Vertriebsunterstützung und Dokumen­tation – alle waren mir unterstellt. Und ich habe mich für sie stark gemacht, für meine Leute.

Mike Perkins … Soll das ein Witz sein? Keiner kann ihn ausstehen. Er ist der totale Egoist. Und kommt immer mit den dämlichsten Sachen an. In jeder Abteilungsbesprechung räuspert er sich ungefähr hundert Mal, bevor er fragt: „Hat jemand Interesse an der neuesten Folge von Xena, die Kriegerprinzessin? Ich hab sie aufgenommen.“ Jede Woche. Der Typ macht mir Angst.

Ich höre ein leichtes Klopfen. Als ich aufschaue, steht Veronica schon in der Tür.

„Lucy, ich ruf dich zurück“, belle ich in den Hörer und lege schnell auf.

Aha. Da ist die feige Socke. Ich drehe Veronica den Rücken zu und wische mir ein letztes Mal mit dem durchweichten Organigramm über die Augen, bevor ich mich mit einem leisen Lächeln umdrehe und meiner Exchefin einen Stuhl anbiete.

„Und? Was sagst du dazu?“ Sie zieht sich den Stuhl heran und greift mit einer perfekt manikürten Hand nach dem Organigramm. Dann verzieht sie das Gesicht. „Das ist ja ganz nass.“

„Wasser. Ich hab’s als Unterlage benutzt.“

„Oh.“ Sie lässt das Blatt wieder auf den Schreibtisch fallen. „Und?“ Veronica schlägt die Beine übereinander und wippt mit einem Fuß.

„Ich versteh’s nicht.“ Meine Kopfschmerzen werden immer schlimmer und ich lehne mich haltsuchend an den Schreibtisch. Ich könnte mich auch setzen, aber zu stehen gibt mir das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben – ob das nun stimmt oder nicht.

„Umschwung, Rebecca. Wir bringen den Kundendienst damit einen großen Schritt weiter.“

Aus den dunklen Wolken vor meinem Fenster ertönt leises Donnergrollen. Ich werfe einen Blick nach draußen. Ein Blitz zuckt zu Boden wie die Zunge einer Schlange. Dann prasselt Regen an die Scheiben.

„Was für einen Schritt?“, will ich wissen und sehe Veronica direkt an. „Wovon redest du?“

„Mike Perkins hat eine neue Struktur entwickelt, in der Ausbildung und technischer Support enger mit der Produktentwicklung verflochten sind. Er hat ein paar neue Ebenen in die Gesamtstruktur eingezogen. Jonathan findet es gut. Ich auch.“

Ein paar neue Ebenen? Managergefasel.

„Mir fehlen die Worte.“

„Sag einfach, du bist im Boot.“ Veronica lächelt. Immer noch wippt sie mit dem Fuß.

Mit Todesverachtung frage ich: „Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen, dass du etwas ändern willst, Veronica? Ich war nämlich die Leiterin dieser Abteilung.“

„Ach, Rebecca, eine rein geschäftliche Entscheidung. Nimm’s nicht persönlich.“ Sie zuckt die Achseln, als ginge es um irgendeine Kleinigkeit.

Rein geschäftliche Entscheidung? Ist das alles, was sie mir an Respekt zollt? „Veronica, ich habe mir diese Position erarbeitet. Ich kenne die Branche, ich kenne unsere Produkte und unsere Kunden. Ich verdiene eine bessere Position.“ Ich verkaufe mich noch einmal, in der Hoffnung, dass ich eher selbstbewusst klinge als verzweifelt.

„Wenn du nicht an Bord kommen willst …“ Sie beendet den Satz nicht, während sie mir direkt in die Augen sieht.

Ich verdaue die leise Drohung. Das Blut strömt von meinem Hirn direkt in meine Füße und ich fürchte, dass ich gleich zu Boden gehe. Ich darf es nicht übertreiben. Mein neues Cabrio hat mein Konto geplündert und die Kreditkarte wurde schon mit den Weihnachtseinkäufen belastet.

Ich gehe zurück zu meinem Schreibtischstuhl. Nein, ich habe hier überhaupt nichts im Griff. Ich kann mich also ebenso gut hinsetzen. „Wenn Mike jetzt die Abteilung leitet – was mache ich dann?“

„Alles, was dir Spaß macht“, erwidert Veronica begeistert, als hätte sie gerade eine Resolution zur Beendigung des Welthungers verkündet. „Direkter Kundenkontakt, Schulungen, Reisen. Wir brauchen deine Erfahrung im Team.“

Ich bin ruckartig wieder auf den Beinen, sodass der Stuhl gegen das Sideboard kracht. „Reisen?“

„Genau!“

„Nein, Veronica, ganz sicher nicht. Das hab ich alles wirklich schon durch. Ich will kein Leben mehr, das von Reiseterminen diktiert wird. Ich habe nämlich auch noch ein Privatleben. Und einen Partner.“

Ja, Chris. Ein Gedanke flattert mir durchs Hirn. Hätte ich ihn nicht anrufen sollen, ob wir gemeinsam zum Lunch gehen?

„Denk an die vielen Bonusflugmeilen.“ Veronica steht auf und streicht ihren Wollrock glatt. „Das ist die Position, die wir dir anbieten, Rebecca.“

Bonusflugmeilen. Die gesamte Luftfahrtbranche kann mir nicht so viele Bonusflugmeilen bieten, dass ich freiwillig in den Reisekundendienst zurückgehe. Ausgeschlossen.

Ich brauche frische Luft. Ich angele meine sündhaft teure Handtasche aus der unteren Schreibtischschublade und schnappe mir meinen Trenchcoat (beides Teil der Weihnachtsextras auf meiner Kreditkarte) vom Messinghaken an der Wand.

„Wo willst du hin?“ Veronica folgt mir durch den Flur.

Durch zusammengepresste Zähne lasse ich sie wissen: „Vor allem weg von hier.“

Kapitel   2

Ich wähle Chris’ Handynummer und auch die im Büro, aber er geht nicht dran. Die Chancen stehen allerdings gut, dass er irgendwann an unserem üblichen Treffpunkt auftaucht, in Pop’s Diner.

Ich parke nah am Eingang und stürme hinein, um dem Regen schnell zu entkommen. Gesprächsfetzen aus meiner Begegnung mit Attila dem Hunnenkönig spulen sich in meinem Hirn ab.

Mike Perkins. Reisedienst. Schulungen. Das hab ich alles schon durch. Wenn du nicht an Bord kommen willst …

Ich schiebe mich in eine Sitzecke nah am Eingang. Elizabeth entdeckt mich und kommt kaugummikauend an den Tisch.

„Was darf’s sein?“

„Doppelte Portion Pommes. Aber bitte heiß.“ Schließlich investiere ich gerade meine Tagesration an Weight-Watchers-Punkten – da sollen die Pommes auch richtig lecker sein.

„Bisschen früher dran heute, was?“, fragt Elizabeth und notiert die Bestellung.

„Und eine große Cola light.“ Ich spiele mit der Serviette. Ich hab gerade meinen Job verloren …

Stopp mal. Wenn ich jetzt nicht mehr Abteilungsleiterin bin, was ist dann mit meinem Gehalt? Mit Bonuszahlungen und Lohnerhöhungen? Ich hatte den Bonus schon eingeplant, um mein Konto aufzufüllen und die Weihnachtsextras zu bezahlen.

Meine Stirn senkt sich auf die Tischplatte und ich gebe mir alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.

Wenn Mike jetzt ich ist und ich, na ja, auch noch ich bin, allerdings ich als 08-15-EDV-Tante, bekomme ich dann auch nur ein 08-15-Gehalt? Und er meins? Hat man ja alles schon gehört …

Ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht. Machen Frauen das heutzutage noch?

Ich bin gerade von der Karriereleiter, die steil nach oben führt, abgestürzt – buchstäblich ins Bodenlose.

Als Elizabeth die Cola bringt, hebe ich den Kopf. „Und, hast du einen schönen Tag?“, fragt sie.

„Nein.“ Ich reiße das Strohhalmpapier auf.

Mein Handy klingelt und ich gehe dran in der Hoffnung, es ist Chris. Aber es ist Lucy. Auch gut.

„Ich bin bei Pop’s“, sage ich.

„Becca, oh no. Das ist es nicht wert.“

„Zu spät. Hab ’ne doppelte Portion Pommes bestellt.“

Sie seufzt. „Bin schon unterwegs.“

Lucy O’Brien hat seit einer Doku über ungesunde Ernährung im Jahr 1994 kein Junkfood mehr angerührt. Hätte ich gesagt, ich würde auf dem Geländer einer Brücke stehen und mich gleich 150 Meter tief in den Fluss stürzen, hätte Lucy nicht besorgter reagieren können. Als ich sie kurz darauf in Pop’s Diner stürmen sehe wie Superwoman im Einsatz, muss ich beinahe lachen.

„Tut mir leid, schneller ging’s nicht.“ Die zierliche rothaarige Journalistin, die ich meine Freundin nenne, setzt sich mir gegenüber, verstaut ihren Schirm und zieht ein Erfrischungstuch aus der Handtasche. Damit wischt sie den Tisch ab.

Ich habe den Mund bereits voller Pommes, die ich mit einem großen Schluck Cola hinunterspüle.

„Das Zeug bringt dich noch mal um, Becca.“ Lucy rümpft die Nase und streckt angewidert die Zunge heraus. „Wie du und Chris diesen Müll essen könnt, geht über meinen Horizont.“

„Das hier bringt mich nicht um. Veronica Karpinski bringt mich um.“ Ich halte ihr einen langen salzigen Pommesstreifen vor die Nase.

Lucy schiebt meine Hand weg und ihr Gesicht spricht Bände. „Igitt.“

Ich stopfe mir die Fritte in den Mund. „Du weißt nicht, was du verpasst, meine Liebe.“

„Veronica Karpinski kann dich nur ,umbringen‘, wenn du sie lässt.“ Lucy malt mit den Fingern Anführungszeichen um das Wort umbringen in die Luft, als ob ich es tatsächlich wörtlich verstehen könnte.

„Jedenfalls stellt sie sich überaus geschickt an, meine Karriere bei Casper abzuwürgen.“

Lucy legt ihre Hand auf meine. „Das kommt schon wieder in Ordnung, Becca. Die ganze Sache wird sich von selbst regeln. Weißt du was? Ich wette, nächstes Jahr um diese Zeit bist du Veronicas Chefin.“

„Spinnst du? Das würde sie nie zulassen. Die Firma ist ihr Lebens­elixier. Vermutlich schläft sie sogar da. Sie hat ihre dritte Verlobung platzen lassen, weil der Kerl verlangt hat, dass sie ein Wochenende im Monat frei macht.“

Ich halte meinen Colabecher hoch, damit Elizabeth ihn nachfüllt.

„Und was sagt Chris zu dem Ganzen?“, fragt Lucy und bestellt einen Kräutertee, als Elizabeth mir die neue Cola bringt.

Gute Frage. „Ich hab versucht, ihn anzurufen, aber er geht nicht dran. Vielleicht geh ich nachher kurz bei ihm im Büro vorbei …“

Lucys haselnussbraune Augen weiten sich plötzlich und sie starrt wie gebannt auf irgendetwas hinter mir. „O nein. Schau besser nicht hin.“

Natürlich schaue ich hin und sehe, wie Chris gerade ins Restaurant stürmt, endlich. Die Sonne geht auf. Ich hebe die Hand, um ihm zuzuwinken, als ich bemerke, dass er nicht allein ist. Eine schlanke lächelnde Blondine in knielangem Rock und Plateauschuhen begleitet ihn. Die beiden sind tropfnass und lachen.

„Wer ist das?“, überlege ich laut.

„Jedenfalls nicht seine Schwester“, murmelt Lucy zwischen missbilligend verzogenen Lippen und weist mich darauf hin, wie selbstverständlich er den Arm um ihre Taille gelegt hat.

„Vielleicht eine Bekannte?“ Ich rede mir ein, der stechende Schmerz in meiner Brust sei eine Folge der übergroßen Pommesportion. Sooo selbstverständlich liegt sein Arm gar nicht um ihre Taille. Wirklich nicht.

„O zum Kuckuck, Becca, wach auf! Ich hab dich vor diesem Junkfood gewarnt. Es führt zu Hirnerweichung.“ Lucy schubst mich von meinem Stuhl. „Geh hin und finde raus, was für ein Spiel er spielt.“

„Chris?“, belle ich, ohne zu überlegen, wohin das führen könnte.

„Becca.“ Er zuckt von der Blondine zurück, als hätte ihn ein Hund gebissen – und der Hund bin vermutlich ich.

„Was machst du denn hier?“, fragt er.

„Bin früher zum Lunch gegangen.“ Die Arme verschränkt, funkele ich ihn an und mustere seine Begleitung von oben bis unten.

Mit einem verwirrten Gesichtsausdruck fragt er: „Waren wir für heute verabredet?“

Offensichtlich ist unsere Beziehung eine, der wir beide nicht viel Aufmerksamkeit schenken. „Ich hab versucht, dich anzurufen“, sage ich, die Arme noch immer verschränkt, den Blick noch immer auf dieses idyllische Pärchen geheftet.

„Ich war den ganzen Vormittag unterwegs.“

„Ja, das sehe ich.“ Ich strahle die Blondine an.

Chris tastet sich vor. „Das ist Kate Winters. Kate, ähm, das ist … ähm …“

„Rebecca Moore.“ Der Witzbold hat tatsächlich meinen Namen vergessen. Wenn wir unter uns wären, würde ich ihm von hinten ins Knie treten. Und dann noch ins andere.

„Freut mich.“ Kate bietet mir die Hand an.

Sie scheint erstaunlich unbefangen. Meine Intuition sagt mir: Wenn ich herausfinden will, was diese Situation bedeutet, dann muss ich auf sie setzen.

Mit einem gespielten Lächeln beginne ich meine Ermittlungen. „Ihr seid Kollegen?“

Kate lacht. „O nein. Ich bin gerade in meine neue Wohnung gezogen und Chris hilft mir, ein paar Möbel zu besorgen.“ Sie lächelt ein wenig zu innig. „Er liebt doppelte Cheeseburger, deshalb sind wir zum Lunch hergekommen.“

Natürlich liebt er doppelte Cheeseburger. Woher sie das wohl weiß? „Und woher kennt ihr euch?“

Kate von Wolke sieben platzt mit einer Erklärung heraus. „Ich bin Masterstudentin am Florida Tech. Im letzten Trimester war Chris mein Dozent in Betriebswirtschaft.“

„Ach ja?“ Ich werfe Chris einen Blick zu.

Aber Kate redet bereits glückstrahlend weiter. „Ich hatte heute keine Vorlesungen und Chris hat sich einen Tag frei genommen, damit wir was unternehmen können.“

Aha, jetzt wird mir die Sache klar. Sonnenklar. Chris betrügt mich. Oder er betrügt Kate. Wen auch immer. Ich beschließe ihn zu outen.

„Kate, seit einem halben Jahr bin ich Chris’ Freundin. Jedenfalls war ich das bis vor fünf Minuten.“

„Chris?“ Kate starrt ihn an.

Ach du Schande, gleich bricht sie in Tränen aus.

Chris schaltet um auf Besänftigungsmodus. „Kate, Becca, ich …“

Plötzlich steht Lucy neben mir und schiebt mich entschlossen Richtung Ausgang. „Komm, Becca. Der Kerl ist die Mühe nicht wert.“ Sie reicht mir meinen nachgefüllten Colabecher, hängt mir den Mantel um die Schultern und streift mir die Handtasche über den Arm.

„Sechs Monate, Chris. Verschwendet.“ So ein mieser, falscher, doppelzüngiger Mistkerl. An der Tür bleibe ich stehen und gebe Kate noch einen guten Rat. „Sieh zu, dass du Land gewinnst.“

Lucy schiebt mich hinaus in den kühlen Februarnieselregen.

„Was soll das bedeuten?“ Ich richte den Blick zum Himmel und breite die Arme aus. Der feine Regen benetzt mein Gesicht. „Hallo, Gott. Ich bin’s, Rebecca Moore. Deine Freundin. Was machst du mit mir?“

Lucy legt mir die Hand auf den Mund. „Die Leute gucken schon.“

„Sollen sie gucken.“ Ich lasse die Arme kreisen, dass die Cola aus dem Becher schwappt.

„Becca, wirklich.“ Entrüstet packt Lucy mich an der Schulter.

„Was wollte ich sagen, Lucy? Chris Wright. Ha! Besser wohl Chris Wrong“, rufe ich in Richtung Restaurant und hoffe, dass er mich hört. „Hast du sie gesehen? Ihn mit ihr?“

„Ja, mit eigenen Augen.“

Wieso hatte ich so etwas nicht kommen sehen? Masterstudentin! Also wirklich.

„Das hab ich nun davon, dass ich mich mit einem Mann eingelassen habe, der gern mit dem Geld anderer Leute zockt. Dem ist nichts heilig.“ Ganz die selbstbeherrschte Frau, die ich bin, trete ich gegen einen Zeitungsständer und ruiniere meine neuen Stiefel.

„Becca, reiß dich zusammen.“

„Mich zusammenreißen? Lucy, meine Karriere ist im Eimer, mein Freund ist … ich weiß nicht … mit einer anderen Frau zusammen und dieses … Zeug … ist total klebrig.“ Ich strebe zu meinem Auto, werfe den Colabecher in den nächsten Papierkorb und wische meine eisige Hand am Mantelärmel ab.

„Wo willst du jetzt hin?“ Lucy folgt mir auf dem Fuß.

„Nach Hause. Ich muss nachdenken. Eine Lösung finden.“ Ich taxiere meine beste Freundin eine Sekunde lang, dann laufe ich zu ihr und nehme sie in den Arm. „Danke, dass du für mich da bist.“

„Ich komme heute Abend vorbei.“

„Bring was vom Chinesen mit.“

Kapitel   3

Sobald ich zu Hause bin, beschließe ich, das zu tun, was jede Frau mit meinem Bildungsstand und meinem Status tun würde: Rückzug in die Schmollecke. Ein großes Bad Selbstmitleid für eine Person, bitte! Ich werfe mich in mein entsprechendes Selbstmitleidsoutfit: einen ausgebeulten roten Jogginganzug.

Noch vor zwei Stunden war es Veronicas mieses Vorgehen, das mir nicht aus dem Kopf wollte. Jetzt ist es das Bild von Chris und dieser unglaublich sympathischen jungen Frau.

Im Spiegel über der Couch checke ich mein Erscheinungsbild: Meine Haare hat der Regen verklebt, meine Augen sind rot und verschwollen und Reste von schwarzer Wimperntusche haben Streifen auf meinen Wangen hinterlassen. Ich sehe aus wie ein Zirkuskünstler vom Cirque du Soleil.

Es ist reine Dummheit, mich in diesem Moment mit einer flotten Masterstudentin am Florida Tech zu vergleichen. Aber reine Dummheit hat mich noch nie geschreckt.

Als ich mich auf die Couch fallen lasse, kommt mir der flüchtige Gedanke, dass ich in einer solch dunklen Stunde eigentlich beten sollte. Aber jetzt einen Dialog mit Gott anzufangen käme mir allermindestens scheinheilig vor. Wir sind schon ein paar Monate lang nicht mehr so direkt im Gespräch miteinander, und mich jetzt an ihn zu wenden, weil mein Leben gerade zu Bruch gegangen ist, fühlt sich einfach nicht richtig an.

Okay, vielleicht ist das genau der Zeitpunkt, an dem man sich an Gott wenden sollte. Aber offen gestanden: Als ich Chris kennengelernt habe, habe ich das Ruder meines Lebensschiffchens selbst übernommen. „Danke, Herr. Ich habe meine Karriere und einen guten Mann. Mit dem Rest komme ich jetzt allein klar.“

Ich drehe mich auf den Bauch, vergrabe das Gesicht in einem dicken Fransenkissen und dresche auf das Sofa ein, bis mein Arm nach drei ­Hieben lahm ist. (Memo: Dringend neuen Vertrag fürs Fitnessstudio machen.) Ich lasse mein Leben mit Chris Revue passieren, um herauszufinden, ab wann etwas falsch gelaufen ist.

Kennengelernt habe ich ihn bei einem gemeinnützigen Einsatz. Wir haben in einem Stadtviertel hier in Melbourne, Florida, Müll weggeräumt. Das war kurz vor meinem dreiunddreißigsten Geburtstag und kurz nach dem ersten Alarm meiner biologischen Uhr: Hallo, Becca, du bist jetzt über dreißig.

Das hat mich wirklich erschüttert. Ich hatte mir eine Karriere und ein Leben jenseits meiner verschlafenen Heimatstadt Beauty in Georgia sehnlich gewünscht. Aber ich hatte nie im Leben eine dieser Workaholics werden wollen, die mit fünfundvierzig aufwacht und merkt: „Uups, ich hab ganz vergessen, eine Familie zu gründen.“

Und in diesem Zustand, in dem die Babyglocken noch läuteten, traf ich auf Chris und er lud mich kurz darauf zum Dinner ein. Er hatte im Chart House reserviert – wirklich nett! – und es hat Klick gemacht, als würden wir einander schon seit Ewigkeiten kennen. Plötzlich rückte der Gedanke an eine Heirat ganz oben auf meine Prioritätenliste. Einen Mann wie Chris hatte ich schon lange nicht mehr getroffen: attraktiv, zielstrebig, echt nett, eloquent und gut betucht. Mein persönlicher Ich-will-keine-­alte-Jungfer-werden-Angstfaktor verhinderte, dass ich Gott nach seiner Meinung fragte.

Und so bin ich jetzt genau da gelandet, wo dieser Plan mich hingebracht hat: Im Klub der gebrochenen Herzen. Mist!

Das Telefon klingelt und reißt mich aus meinem Selbstmitleidsbad. Ich angele nach dem Handy, das irgendwo unter dem Couchtisch liegt, und hole mir dabei eine Beule am Kopf.

„Hallo?“ Ich setze mich auf und reibe mir die Stirn. Winterliches Nachmittagslicht fällt auf den Wohnzimmerboden. Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es ist zwei.

„Rebecca?“

Meine Nachbarin von der anderen Straßenseite. „Mrs Woodward, wie geht es Ihnen?“ Die Worte kommen langsam und gequält und es klingt, als ob eine von uns beiden leicht schwachsinnig ist, und diese eine ist nicht sie.

„Ich hab gesehen, dass Sie mitten am Tag heimgekommen sind. Sind Sie krank?“

„Könnte man sagen.“

„Oh, das tut mir leid. Also, ich habe eine Suppe auf dem Herd stehen.“

Ich zucke zusammen. Ich weiß nicht, zum wievielten Mal sie mich jetzt in diesem Jahr schon zum Essen einlädt, und wir haben erst Februar. Ich habe noch nie zugesagt, weil ich keine Zeit hatte. Muss es jetzt wirklich endlich mal tun.

„Vielen Dank, Mrs Woodward, aber ich war gerade zum Lunch, und ehrlich gesagt bin ich im Moment auch nicht gerade eine angenehme Gesellschaft.“

„Ich verstehe. Wie wäre es zum Abendessen?“

Ich zucke noch einmal. „Da kommt schon jemand zu Besuch.“

„Männer- oder Frauenbesuch?“

Also wirklich! „Frauenbesuch. Lucy. Die kennen Sie ja.“

„Natürlich. Ich kann für sie auch mitdecken.“ Bei auch dehnt sie ihre Stimme, als ob sie mit einer Million Dollar locken wollte.

„Sie bringt was vom Chinesen mit.“

„Ach so. Also dann ein andermal. Bis dann.“

„Ja, bis dann.“

Gegen halb acht schwankt Lucy beladen mit Tüten vom Chinesen durch die Tür. Ich habe Heißhunger.

„Hier.“ Sie reicht mir ein paar Briefe. „Hat Dan Montgomery mir gerade in die Hand gedrückt. Er meinte, die sind aus Versehen bei ihm im Kasten gelandet.“

Ah, der smarte Dan, blendend aussehender Anwalt aus unserem Apartmentblock. Eine Mischung aus George Clooney und Arnold Schwarzen­egger.

„Du siehst furchtbar aus“, sagt Lucy auf dem Weg in die Küche.

„Danke. Ich hab’s auf absolut grauenhaft angelegt, aber furchtbar tut’s auch.“ Ich werfe noch einen Blick in den Spiegel über der Couch. Nein, ich denke, ich habe absolut grauenhaft geschafft.

„Geh dich waschen. Ich hole die Teller. Ist dir klar, dass Dan schon vor der Tür stand und gerade klingeln wollte?“

„Oh, wirklich?“ Das wäre die Krönung dieses glorreichen Tages gewesen. Dem smarten Dan die Tür zu öffnen und selbst auszusehen wie ein totes Stinktier. Ich wette, er hatte seine Freundin im Schlepptau, Miss Perfect.

Unten im Bad schrubbe ich mir das Gesicht mit Seife. Ich bin zu müde und mir ist alles zu egal, um die überteuerte Reinigungsmilch von oben zu holen. Seife tut’s auch.

Lucy ruft irgendwas zu mir runter. „Was?“, brülle ich zurück und drehe den Wasserhahn zu.

„Denkst du noch an dein Dinner mit ihm?“

„Ihm? Wem? Chris?“ Natürlich denk ich noch dran.

„Nein. Dan! Als du hier eingezogen bist.“ Lucy schwebt mit einem Essenstablett vorbei.

Ich tupfe mir das Gesicht ab. „O Dan. Ja.“

Sie lacht. „Du hast ihn gefragt, in welche Gemeinde er geht …“

„… woraufhin er die Kellnerin um die Rechnung gebeten hat …“ Ich stimme in Lucys Lachen ein. Manche Dinge sollen einfach nicht sein. Ein paar Monate nach unserem kleinen Desasteressen hat Dan Miss Perfect kennengelernt und seitdem kleben die beiden zusammen wie Pech und Schwefel.

Ich mache gemütliches Licht an, fülle mir auf und pflanze mich in den großen Sessel. Es tut gut, dass Lucy da ist.

Aber sie kommt schon zur Sache, bevor ich auch nur einen Bissen von meinem Hühnchen Kung Pao genommen habe. „Also, wie steckst du die Sache mit Chris weg?“

„Oh, total easy, wie einen netten Tag im Park“, knurre ich. Der Gedanke an ihn mit dieser Kate könnte mir glatt den Appetit verderben. Könnte.

„Hey, ich bin doch auf deiner Seite. Sei froh, dass du mit so einem Typen nicht in einer Ehe gelandet bist.“

„Heiratsfähige Männer wachsen nicht auf Bäumen, Lucy. Ich kann mir nicht einfach irgendwo einen pflücken. Und schon gar keinen, der auch noch Christ ist.“

Lucy streckt mir ihren knochigen Zeigefinger entgegen. „Ihr wart euch schon fast einig, stimmt’s?“

O Mann, ich hoffe nicht. „Einig sein würde ich es nicht gerade nennen.“

„Bist du dir sicher, dass er überhaupt Christ ist?“

Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen steigt. „Na ja, er ist mit mir in den Gottesdienst gegangen.“ Manchmal zumindest. „Er hat dem Pastor die Hand geschüttelt und gesagt: Gute Predigt.“

„Becca, ich bitte dich.“

Ich hätte nicht gedacht, dass das mal rauskommen würde, aber die Wahrheit ist: Ich habe ihn nie wirklich nach seinem Glauben gefragt. Er hat respektiert, dass ich Christin bin. Und ich mochte ihn, liebte ihn vielleicht sogar und für den Moment war das genug. Vielleicht war das ja so was wie „sich einig sein“.

„Als wir zusammen im Kino waren, habe ich mitgekriegt, wie er zu Ruben Edwards gesagt hat, Jesus wäre für ihn einfach ein großer Mensch.“

„Stopp, Lucy. Der Tag ist wirklich schon schlimm genug.“ Ich will es nicht hören. Ich weiß. Ich weiß. Ich habe ein paar Dinge an Chris über­sehen. Wichtige Dinge. Es war diese biologische Uhr, ich sag’s euch. Dieses ständige laute Ticken hat mein klares Denken getrübt.

Lucy bedient sich noch einmal am gebratenen Reis. (Chinesisch ist das einzige Fast Food, bei dem sie schwach wird.) „Nur weil du dreiunddreißig bist, musst du noch lange nicht verzweifeln.“

„Ach ja, ich vergaß. Das war: Lucy O’Brian, die jedes Wochenende ein Date hat.“

Sie verdreht die Augen. „Stimmt gar nicht. Nicht jedes Wochenende.“

Letztes Jahr im Frühling hat Lucy mich mitgeschleppt zu so einem Singleevent, obwohl ich mich mit Händen und Füßen gewehrt habe. „Nein, das kann ich nicht“, habe ich wieder und wieder beteuert. „Ich bin allergisch gegen diese Singletreffen.“

Obwohl sich meine Kehle schon beim Gedanken daran zugeschnürt hat, bin ich am Ende doch eingeknickt und mit ihr zu diesem Singlezirkus gefahren. Nachdem sie mich daran erinnert hatte, dass ich seit mehr als einem Jahr kein einziges Date gehabt hatte. Es gab ein Lagerfeuer am Strand, Spanferkel am Spieß, in der Dämmerung Volleyball und Kerzen in den kleinen Pavillons. Das Ganze begleitet von einer pseudohawaiianischen Ukuleleband. Alles in allem ein recht netter Abend, das muss ich zugeben.

Aber am Ende war es, wie ich befürchtet hatte, doch nur das übliche Standardevent, das Gemeinden so für Singles veranstalten. Fünf Mädels auf einen Kerl und die Männer durch die Bank Fehlanzeige – jedenfalls meiner unmaßgeblichen Meinung nach. Der einzige coole Typ, der ohne Polyestershorts, Klettverschlusssandalen und USB-Stick um den Hals aufkreuzte, umging mich elegant, magisch angezogen von Lucy.

„Becca, hey, komm auf den Teppich.“ Lucy schnippt mit den Fingern. „Das hier ist die Wirklichkeit.“

„Was?“ Ich kehre blitzartig zurück in die Gegenwart.

„Was ist mit deinem Job? Was willst du jetzt machen?“

Ach, das. Nach dem Erdbeben bei Casper und dem Erdbeben mit Chris weiß ich nicht mehr, wo oben und unten sind.

„Keine Ahnung. Mein ganzes schönes Leben … ein einziger Scherbenhaufen.“ So, jetzt ist es raus. Und ich mitten in meiner Depression gelandet.

„Becca, bitte, versteh das jetzt nicht falsch …“, beginnt Lucy mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

„Oh, keinesfalls. Ich liebe Gespräche, die mit ,Bitte versteh das jetzt nicht falsch‘ anfangen.“ Ich wappne mich innerlich gegen eine ihrer berüchtigten freundschaftlichen Breitseiten.

„Deine Karriere ist allmählich zu deiner absoluten Priorität geworden.“

„Was?“ Das ist jetzt wirklich nicht fair.

„Im letzten Jahr hast du dich verändert. Erst hast du wie verrückt gearbeitet. Dann hast du Chris getroffen …“

„Ich hab wie verrückt gearbeitet?“, wiederhole ich und beiße in meine Frühlingsrolle.

„Du warst nur noch darauf aus, auf deiner Karriereleiter weiterzukommen, und das hat deiner Begeisterung geschadet“, sagt Lucy.

„Begeisterung? Hast du nicht gerade was von ,arbeiten wie verrückt‘ gesagt?“

Meine Freundin sieht mich einen fast endlosen Augenblick lang an und ich weiß, jetzt kommt gleich etwas Tiefgründiges. „Deine Begeisterung für Jesus ist verflogen. Total ausgeleiert. Wie Dauerwellen oder überweite Blusen mit Gürtel.“

Jetzt bin ich wirklich verletzt. Mein geistliches Leben mit der abstoßenden Mode der 80er zu vergleichen! Ich schieße meine Verteidigung ab. „Meine Begeisterung für Jesus zeigt sich darin, dass ich meinen Job so gut wie möglich mache.“

„Jetzt verdreh nicht die Tatsachen, Becca. Diese ganze schicke Yuppie- und Karrierewelt hat dich schon total geprägt. Die Autos, die Klamotten, die Geschäftsessen und eine Fünfzig- oder Sechzigstundenwoche.“ Lucy greift zur Packung mit dem gebratenen Reis und häuft sich noch eine Portion auf den Teller.

„Was willst du damit sagen? Soll ich meine Träume aufgeben?“

„Natürlich nicht. Was ich nur sagen will: Nimm eine Neujustierung vor. Was wir im Leben tun, ist doch nur ein Spiegel dessen, wer wir als Christen sind: Menschen, die Gott lieben und ihm dienen.“

Lucys Worte erschüttern mich. Sie hat recht. Ich war blind. Ich wollte es nicht sehen. Ich hasse diese Aha-Momente. Als ob man erst merkt, dass die Ampel auf Rot gesprungen ist, nachdem man in vollem Schwung in den fünften Gang hochgeschaltet hat.

„Casper weiß offensichtlich nicht zu schätzen, wie viel du für die Firma aufgegeben hast. Und Chris hat dir heute auch gezeigt, wie viel ihm deine Liebe wert ist. Er hatte deinen Namen vergessen, Becca.“

„Mann!“

„Echt.“ Lucy lehnt sich in der Couch zurück, den Teller in den Händen, und angelt nach der Fernbedienung. Bei der neuesten Folge von Big Boss bleibt sie hängen.

„Lucy, hey, macht’s dir was aus, das wegzuschalten?“ Ich zeige mit meinen Essstäbchen auf den Fernseher. „Ich brauche echt keine Erinnerung.“

Ob der Big Boss mich feuern würde? Oder besser, ob er Veronica Karpinski feuern würde? „Veronica, du kannst gehen.“ Hmm. Keine schlechte Vorstellung. Ich fühle mich gleich besser.

Seufz. Aber mein Leben ist keine Realityshow. Es ist viel schlimmer. Dieses Organigramm zu sehen, auf dem mein Name von der Managementebene in die breite Masse der normalen Angestellten gewandert ist, hat mich echt verletzt. Gedemütigt. Und dann auch noch auf Chris mit dieser anderen Tussi zu treffen …

Ich frage mich, ob ich ihn anrufen soll. Die Sache klären. Aber wenn er nun bei ihr ist? Das könnte ich nicht ertragen. Also werde ich nicht anrufen. Würde ja so aussehen, als sei ich verzweifelt. Nein, wenn er etwas loswerden will, kann er selbst kommen und es sagen.

Mitten in meinen geistigen und geistlichen inneren Dialog hinein klingelt das Telefon. Lucy geht ran und reicht mir das Handy, die Augen weit aufgerissen, die Finger über dem Mikrofon.

„Dein Boss“, flüstert sie.

„Du brauchst nicht zu flüstern, Lucy.“ Ich reiße ihr das Handy aus der Hand.

„Hi Veronica.“ Vielleicht sieht sie auch gerade Big Boss und ruft an, um sich zu entschuldigen.

„Rebecca, hier ist Mike Perkins.“

Kapitel   4

Oh. Da war doch was. Mein Boss. „Was kann ich für Sie tun?“

„Tut mir leid, dass ich Sie zu Hause störe, aber Sie sind nicht mehr ins Büro gekommen …“

„Ich hatte ein paar Dinge zu regeln.“

„Mhm, okay. Hören Sie, Pete Miller aus Atlanta hat angerufen. Er braucht technische Unterstützung beim Upgrade seiner Websoftware. Und ihm läuft die Zeit weg – sie wollen demnächst einen neuen E-Commerce-Zweig starten.“

„Ich habe ihm letzten Monat vorgeschlagen, Tim Sorenson zu schicken, aber das hat er abgelehnt. Er wollte nicht für eine Beratung vor Ort zahlen.“

„Aber jetzt lehnt er es nicht mehr ab. Jetzt verlangt er es.“

Typisch. „Mein Terminplan ist für die nächsten Wochen ausgefüllt, Mike.“

„Na ja, also … Jill hat Sie auf den 7.15-Uhr-Flug gebucht.“

Ich springe auf. „Mich? Sieben Uhr fünfzehn?“ Mein Teller mit Hühnchen Kung Pao landet auf dem Boden. Lucy versucht den Teller aufzufangen, ohne ihren loszulassen, und stößt dabei die Packung mit der Wonton-Suppe um.

„Veronica und ich waren der Meinung, Sie sind genau die Richtige, um Pete zu beschwichtigen. Machen Sie das Ganze zu einer kleinen Werbekampagne für die Firma. Sie können bei ihm auch gleich W-Book installieren. Machen Sie ihn neugierig auf unser neuestes Produkt.“

Werbekampagne für die Firma? Die Firma, die mich gerade in die unteren Ränge zurückversetzt hat? Das ist soooo typisch Veronica. Mike rattert Details über die Reise herunter, während Lucy versucht, Suppe, gebratenen Reis und Erbsen vom Fußboden zu kratzen. Wie betäubt lausche ich Mikes Instruktionen und bestätige mit einer Reihe von „Mhm-hmms“.

Bis wir auflegen, hat sich mein Magen in winzige Knoten gelegt. Ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei einem Kunden vor Ort. Aber, hey, das ist wie mit Fahrradfahren, oder? Man verlernt es nicht. Man reiche mir ein Dreirad.

Ich mache in Gedanken eine Checkliste: packen, Rechnungen für nächste Woche bezahlen, E-Ticket ausdrucken. O Mist, mein Laptop ist im Büro.

Ich nenne Lucy die Fakten. „Becca, warum sagst du ihm nicht, dass du nicht kannst?“

„Ach klar, warum hab ich daran nicht gedacht? Und wenn er mich feuert, zieh ich bei dir ein und verkaufe meine Wohnung, ja?“

„Stimmt. Tja, dann gute Reise.“

Na klar, wie ich’s mir gedacht hatte. Wir reden noch ein wenig darüber, wie gruselig der Tag für mich war, während wir aufräumen und die Teller in die Küche bringen.

„Becca, das mit heute tut mir leid. Ich hab für dich gebetet“, sagt Lucy, während sie unter der Spüle nach einer Flasche mit Teppichreiniger angelt. Sie schnappt sich ein sauberes Geschirrhandtuch und steuert ins Wohnzimmer.

„Danke, Lucy.“ Ich sehe ihr durch die Durchreiche zu. Wo wäre ich ohne Lucys Freundschaft? Sie kommt vorbei, sie macht meinen Teppich sauber, als ob es ihr eigener ist, sie betet für mich, sie tröstet mich, sie muntert mich auf, während ich mich beharrlich weigere, mit meinem Gemaule und Gejammer aufzuhören.

Ich kann nicht sagen, dass ich diesen Tag verdient habe oder dass Gott mich irgendwie straft. Was ich sagen kann, ist: Wenn ich ein wenig enger mit ihm in Verbindung geblieben wäre, würde es jetzt vielleicht nicht ganz so wehtun.

„Wirst du den Job hinschmeißen?“, will Lucy wissen, als sie in die Küche zurückkommt und den Teppichreiniger wieder unter die Spüle räumt.

„Nein. Ich kann’s mir nicht leisten, Primadonna zu spielen.“

Sie lächelt und lehnt sich gegen den Türrahmen. „Gut. Ich will nämlich nicht, dass du von hier weggehst.“

Ich nehme den Stapel Briefe zur Hand, den Lucy mitgebracht hat. „Ich bin bereit, ein Weilchen durchzuhalten und zu sehen, was passiert.“ Ich seufze. „Aber, Lucy, Reisedienst – das ist wirklich die Hölle.“

„Ich weiß. Gib dem Ganzen eine Chance … Oh, da ist sie ja schon.“ Lucy zeigt auf einen leuchtend roten Flyer, der aus dem Poststapel he­rausragt.

„Was ist da schon?“ Ich ziehe an der roten Ecke, bis der Flyer herauskommt.

„Die Einladung zu unserem Klassentreffen. Fünfzehnjähriges nach dem Abi.“

„Schon?“

Tatsächlich liegt sie jetzt vor mir: in Rot und Schwarz und in den überschwänglichen Worten unserer Klassensprecherin Alisa Bell: die Erinnerung, das Wochenende des 4. Juli unbedingt im Kalender zu reservieren und „für den durchaus denkbaren Fall, dass deine werte Anschrift sich geändert haben sollte, dann sei doch so gut und lass mich das unverzüglich und ohne Umschweife wissen, danke!“

Alisa hat diesen Klassensprecherjob nie wirklich aufgegeben. In fünfzehn Jahren ist es keinem von unseren Mitschülern von der Beauty Highschool gelungen, von ihrem Radar zu verschwinden.

„Ich kann’s kaum erwarten“, sagt Lucy. „Klassentreffen sind immer so cool.“

Normalerweise würde ich zustimmen, aber angesichts der jüngsten Ereignisse ist die Vorstellung, auf ein Klassentreffen zu gehen, schlicht grässlich. „Ich weiß nicht. Vielleicht lass ich es dieses Jahr aus. Warten wir noch zwanzig Jahre und dann kann ich hoffentlich als Millionärsgattin aufkreuzen, die ihre eigene Firma managt.“

„Becca.“ Lucy schnappt sich ihre Handtasche und fischt den Schlüsselbund heraus. „Du bist eine der talentiertesten Frauen, die ich kenne.“ Sie nimmt mich in den Arm. „Ich weiß, heute war’s echt hart. Aber du musst einfach glauben, dass Gott einen Plan für dich hat.“

„Ich weiß. Ich weiß.“

Den Rest des Abends verbringe ich damit, alles für meine morgendliche Abreise vorzubereiten. Die Wäsche, die ich eigentlich am Wochenende waschen wollte – aber nicht gewaschen habe –, muss endlich gemacht werden. Ich belade die Waschmaschine und stelle sie an, schlüpfe in Straßenschuhe und fahre zum Büro, um meinen Laptop zu holen.

„Ich verstehe nicht, was hier gerade vorgeht … Wenn du meine Aufmerksamkeit gewinnen wolltest, das ist dir gelungen … Bitte schenk mir, dass ich das alles verstehe … Ich verspreche auch, dass ich zuhören werde …“

Es ist spät, als ich endlich ins Bett falle. Meine Gedanken sind überall und nirgends und doch denke ich an nichts Bestimmtes.

Als ich gerade einschlafen will, klingelt mein Telefon. Ich spiele mit dem Gedanken, einfach nicht dranzugehen. Mit wem sollte ich um diese Zeit wohl reden wollen? Kann mir niemanden vorstellen. Aber beim dritten Klingeln siegt die Neugier.

„Hallo?“

„Rebecca, tut mir leid, Sie so spät zu stören. Hier ist Elaine Woodward.“

Elaine Woodward. Mrs Woodward? Sie heißt Elaine mit Vornamen?

„Hi.“ Ich taste nach dem Lichtschalter.

„Könnten Sie wohl zu mir rüberkommen?“

„Mrs Woodward?“, rufe ich, ziehe den Gürtel meines pinkfarbenen Morgenmantels fester zu und schüttele das Wasser von meinen grünen Plüsch­puschen.

Die Wohnungstür steht offen, ich spähe hindurch und betrete das Jahr 1954. Die Möbel, die Lampen, die Spitzendeckchen auf der Sessellehne, die ganze Atmosphäre könnte in ein Schöner-Wohnen-Heft aus den 50er-Jahren passen. Mir kommt es tröstlich und warm vor.

„Mrs Woodward?“, frage ich noch einmal. Sie liegt auf der Couch, eine Hand auf den Magen gepresst, die andere auf den Augen. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Rebecca, danke, dass Sie kommen. Ich wollte nicht allein sein.“

„Was ist los?“ Ich setze mich auf die Sofakante.

„Schmerzen“, sagt sie und atmet tief. „Hier.“ Sie drückt auf eine Stelle im Brustkorb.

Herzinfarkt? Bitte, bitte, kein Herzinfarkt. Ich bin nicht gut als Sanitäterin. Ich falle schon in Ohnmacht, wenn ich mich an einem scharfen Papier schneide.

„Ich rufe den Notarzt.“ Allein die Vorstellung lässt mein Herz schneller pochen.

„Nein, nein, ich will nicht den Rettungsdienst belästigen. Es wird schon gleich wieder gehen.“

„Belästigen? Das ist deren Job.“ Warum haben ältere Leute ständig die Sorge, sie würden andere belästigen?

„Nein, warten wir erst mal ab. Ich wollte nur einfach nicht allein sein.“ Sie seufzt und stöhnt tief auf, ihr Gesicht ist verzerrt und sehr blass.

Jetzt sage bitte niemand, das sei alles nur ein cleverer Trick, um mich in ihre Wohnung zu locken. Wenn sie mich jetzt fragt, ob ich eine Tasse Tee möchte oder einen Teller Suppe, weiß ich nicht, was …

Sie stöhnt wieder und ich sehe, dass sie wirklich Schmerzen hat. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen wegen meines mangelnden Mitgefühls.

„Haben Sie Schmerzen in der Brust? Ist der Arm taub?“ Ich schiebe meine Hand unter ihre. Wenn sie Ja sagt, werde ich den Notarzt belästigen.

„Es ist kein Herzinfarkt“, sagt sie. „Könnten Sie mir ein Glas Wasser holen?“

Ich spurte in die Küche und schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Ich weiß zwar nicht, was genau ich für meine kranke Nachbarin tun soll, aber es tut mir gut, mich auf jemand anderen zu konzentrieren als auf mich selbst.

Mrs Woodwards Hand zittert, als sie das Glas greift, und ich helfe ihr dabei, einen Schluck zu nehmen.

„Lassen Sie mich den Notarzt rufen“, bitte ich.

„Nein. Es geht immer wieder vorbei.“

„Dann haben Sie solche Anfälle schon öfter gehabt?“ Ich nehme das Glas und stelle es auf ein Deckchen. „Was meint Ihr Arzt dazu?“

„Ich habe ihm nichts davon gesagt.“

„Mrs Woodward, es könnte etwas Ernstes sein“, predige ich.

Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern, welche Organe über dem Magen und im unteren Brustkorb liegen. Ich habe keine Ahnung. Die hundertsiebzig Dollar für den Anatomiekurs an der Uni waren wirklich rausgeschmissenes Geld.

Ich sitze ein Weilchen einfach ruhig da und halte Mrs Woodwards Hand. Ich werde schläfrig und kann nicht umhin, daran zu denken, wie schnell es vier Uhr morgens sein wird. Dann höre ich, dass die alte Dame ruhig und gleichmäßig atmet.

„Mrs Woodward?“ Ich streiche ihr sanft über den Arm.

Sie ist eingeschlafen. Ich stehe vorsichtig auf, ohne sie zu stören, und greife nach der Wolldecke, die über der Sofalehne liegt. Damit decke ich Mrs Woodward zu und mache die Lampen aus – bis auf eine, für den Fall, dass sie aufwacht und ins Bett gehen möchte.