Been down so long it looks like up to me - Richard Fariña - E-Book

Been down so long it looks like up to me E-Book

Richard Fariña

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Beschreibung

Been down so long it looks like up to me zählte zu den Lieblingsbüchern des legendären DOORS-Sängers Jim Morrison und erscheint nun zum ersten Mal auf Deutsch, in einer Übersetzung von Dirk van Gunsteren, die dem Original in Sprachwitz und Dynamik in nichts nachsteht.

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RICHARD FARIÑA

BEEN DOWNSO LONGIT LOOKS LIKE UPTO ME

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Mit einem Vorwort von Thomas Pynchon und einem Nachwort von Moritz Scheper

ROMAN STEIDL

VORWORT

Bevor ich Richard Fariña kennenlernte, hatte ich ihn schon ein paarmal flüchtig wahrgenommen. Es war im Winter 1958, gegen Semesterende, und ich war Hilfsredakteur beim Cornell Writer, der Literaturzeitschrift der Uni. Irgendwann kamen dann diese Stories und Gedichte. Es war eine vollkommen andere Stimme, sie schien aus der Welt da draußen zu stammen, sie war sicherer und wagemutiger, und die Beiträge waren besser als die üblichen Einsendungen. Kaum einer in der Redaktion wusste etwas über diesen Fariña, außer dass er für eine Weile fort gewesen und herumgereist war.

Bald entdeckte ich manchmal in den hinteren Reihen der Vorlesungen, die ich besuchte, eine gefährlich wirkende Präsenz, ohne Jackett oder Krawatte, mit mehr Haar, als modisch angebracht erschien, und immer umringt von denselben Leuten. Still, aber intensiv da, alles in sich aufnehmend. Irgendwann ging mir auf, dass zwischen ihm und dieser anderen, literarischen Präsenz eine Verbindung bestand.

Wir verkehrten in verschiedenen Kreisen, und so kreuzten sich unsere Wege nur hin und wieder. Einmal, im Frühling, ging ich über das Arts Quad, die große Rasenfläche vor dem Gebäude der geisteswissenschaftlichen Fakultät, und sah Fariña, der dort lag und ein Buch las. Wir nickten einander zu. »Hör mal«, sagte er, »ich schmeiße am Samstag in meiner Bude in der College Avenue eine Party – vielleicht hast du Lust, zu kommen.« So machte ich Bekanntschaft mit seiner außergewöhnlichen Höflichkeit. Während wir uns unterhielten, geschah etwas Seltsames: Studentinnen, die ich über die Weiten eines Hörsaals hinweg lüstern angestarrt hatte, machten im hellen Licht des Tages einen Umweg, um ein paar Worte mit Fariña zu wechseln. Und sie lud er ebenfalls zu seiner Party ein. Ui, dachte ich, uijuijui.

1958 hat natürlich auf einem anderen Planeten stattgefunden. Man muss sich das damalige Ausmaß der sexuellen Unterdrückung auf dem Campus vor Augen halten. Rock ’n’ Roll gab es zwar schon seit ein paar Jahren, aber die Verbindung von Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll hatten noch nicht allzu viele von uns hergestellt. Während des Grundstudiums mussten alle Studentinnen entweder in Wohnheimen oder in Verbindungshäusern wohnen, und diese Gebäude wurden nachts abgeschlossen. An Wochentagen mussten sie gegen elf Uhr abends zu Hause sein, denn dann wurden sämtliche Türen geschlossen. Unerlaubtes Fernbleiben über Nacht wurde vom Disziplinarausschuss für Frauen mit Strafen bis hin zum Rausschmiss geahndet. An Samstagabenden galt großzügigerweise eine Verlängerung – dann begann die Sperrstunde zu einer gleichermaßen idiotischen Zeit, nämlich um Mitternacht.

Sperrstunden waren nicht das einzige erotische Problem, mit dem wir konfrontiert waren. Da waren außerdem das Drei- oder Vier-zu-eins-Verhältnis von Studenten zu Studentinnen sowie die Tatsache, dass es diverse Arten von Unterwäsche gab, deren diabolischer Zweck darin bestand, allen Versuchen, zum Beckenbereich einer Frau vorzudringen, bis zur Sperrstunde standzuhalten beziehungsweise es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Ich weiß von einem Verbindungshaus – und sicherlich gab es noch andere –, in dem an Wochenenden eine Aufsichtsperson an der Haustür stand, deren Aufgabe es war, sich höflich, aber durchaus handgreiflich davon zu überzeugen, dass jede Verbindungsschwester mit irgendeiner Art von Playtex-Keuschheitsgürtel versehen war, bevor sie das Haus verließ. Vermieter und örtliche Geschäftsleute wurden ermuntert, die Verwaltung über die Anwesenheit von Studentinnen in Privatquartieren, wie dem Fariñas, in Kenntnis zu setzen. Auf diese und manche andere Weise glaubte die Universität ihrer Verpflichtung nachzukommen, in loco parentis, also an eines Elternteiles statt, zu handeln.

Gegen diese außerordentliche Bevormundung regte sich erst im Frühjahr 1958 ernsthafter Protest. Wie im Vorgriff auf die sechziger Jahre taten Studenten sich zusammen, schrieben Briefe, mobilisierten und demonstrierten – und schließlich marschierten in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai siebentausend Demonstranten zum Haus des Rektors und belagerten es. Steine, Eier und eine Rauchkerze wurden geworfen. Der mit Eiern bekleckerte Rektor stand auf seiner Veranda und schwor, Cornell werde niemals von einem Mob geführt werden. Dann ging er hinein, rief den Proktor, den Chef der Campuspolizei, an und schrie: »Ich will Köpfe! Und mir ist ganz egal, welche. Bringen Sie mir Köpfe, und zwar dalli!« So jedenfalls lauteten die Gerüchte am nächsten Tag, als vier Studenten im letzten Studienjahr, darunter auch Fariña, suspendiert wurden. Die Studentenschaft wollte das allerdings nicht hinnehmen und war wütend. Neue Demonstrationen wurden geplant. Nach einigem Hin und Her wurden die vier wieder zugelassen. Das war der politische und emotionale Hintergrund dieses längst vergangenen Frühjahrssemesters in Cornell, Zeit und Schauplatz von Richard Fariñas Roman Been Down So Long It Looks Like Up to Me.

Es ist eigentlich kein typischer Collegeroman. Fariña betrachtet den Campus eher als einen Mikrokosmos, in den er Besucher und Geschichten aus der Welt dort draußen hineinträgt. Es ist kein Ort der Zuflucht oder der ewigen Jugend. Wie die kalten Winterwinde, die es dort gibt, durchweht das Wissen um die eigene Sterblichkeit jedes einzelne Kapitel. Und am Ende des Romans stirbt eine der Hauptfiguren.

Studentisches Bewusstsein wurzelt zum Teil in ein paar unbekümmerten Annahmen bezüglich der eigenen Unsterblichkeit. Das Elitedenken und die Grausamkeit, die in studentischem Humor oft zutage treten, haben ihren Ursprung in dem Glauben daran, befreit zu sein, nicht nur von Zeit und Tod, sondern auch von den Anforderungen des Lebens. Dieses Befreitsein – in einem von Fariña auf interessante Weise erweiterten Sinn – ist es, was Gnossos Pappadopoulis, die Hauptperson des Buchs, verwirrt und verfolgt.

Für Gnossos ist das Befreitsein nicht selbstverständlich, er gibt sich auch keinen Illusionen darüber hin. Er muss sich täglich anstrengen, seinen Status zu verdienen und zu behalten. Im Lauf der Handlung befasst Gnossos sich mit verschiedenen Möglichkeiten, darunter östliche Religion, auf Reisen gesuchte Offenbarungen, Meskalin, Liebe, doch jede scheint irgendeinen Nachteil zu haben. Das Einzige, worauf er sich verlassen kann, ist seine eigene Stimmigkeit, eine erweiterte Version der Coolness der fünfziger Jahre. »Ich genieße Immunität«, denkt Gnossos, »denn ich bleibe unter allen Umständen cool.« Unterstützt von einer Reihe nützlicher Fertigkeiten – er kann Schlösser knacken und Dope auftreiben –, ist es diese Coolness, die Gnossos durchs Leben trägt und die Essenz seines Stils ausmacht.

In Fariñas eigenem Auftreten gab es ein ähnliches Element der Zurückhaltung. Wenn er etwas sagte, lag oft ein halbironisches Halblächeln auf seinem Gesicht, als verfolgte er, was seine Stimme sagte, und könne nicht ganz glauben, was er da hörte. Er befand sich in einem schützenden Kraftfeld aus Selbstbeobachtung und sofortiger Resonanz, in das ich nie ganz eindrang, obwohl ich ihn im Studienjahr 1959 etwas besser kennenlernte. Wir waren nie dicke Freunde, aber wir mochten einander, uns gefiel, was der jeweils andere schrieb, und wir hingen ein bisschen zusammen herum, auf Parties oder in irgendwelchen Bierkneipen auf dem Campus wie dem Ivy Room oder Johnny’s Big Red Grill (der im Buch Guido’s Grill heißt), wo man sich abends gewöhnlich traf.

Das Essen und die Atmosphäre bei Johnny’s waren ziemlich genau so, wie Fariña sie beschreibt. Von Zeit zu Zeit gab es Live-Musik. Peter Yarrow von Peter, Paul and Mary hatte dort seine festen Auftritte, vielleicht sogar die ersten. Er wechselte sich mit einer Rock ’n’ Roll-Gruppe ab, deren Mitglieder allesamt verwandt waren und aus der Familie des Gemüsehändlers gegenüber stammten. Ein paar Jahre später vereinigten sich diese beiden Strömungen – Modern Folk und proletarischer Rock – zu dem, was wir heute als die Musik der Sechziger bezeichnen. Damals interessierte Fariña sich nicht so sehr für Popmusik, sondern mehr für traditionelle amerikanische Formen wie Jazz und vor allem Blues, vorzugsweise ländlich und schwarz. Bei dem inzwischen kanonisierten Buddy Holly hatte er gemischte Gefühle – die auch im Roman deutlich werden –, aber »Peggy Sue« hörte er sich sehr genau an. Es kommt mir jetzt so vor, als hätte er in dem Gitarrensolo dieser Aufnahme vielleicht etwas wahrgenommen, das den anderen entgangen war, irgendeine akustische Vision der Zukunft – aber das könnte ebenso gut meine eigene Retro-Phantasie sein. Die beiden Platten, für die er sich damals restlos begeisterte, waren Back Country Suite von Mose Allison (die auch im Roman erwähnt wird) und die englische Version der Dreigroschenoper.

Beim Tanzen bevorzugte Fariña lateinamerikanische Musik. Er war mit einer glücklichen Kombination elterlicher Erbteile gesegnet und wusste es auch. Seine Mutter war Irin, sein Vater Kubaner. In beiden Ländern hatte er Verwandte, die er besucht hatte. 1958 und 59 gab es in Cornell einige Architekturstudenten aus Lateinamerika, und ihr Kreis war einer von mehreren, in denen sich Fariña ungezwungen und vertraulich bewegte. Ihre Wochenendparties galten als die besten weit und breit. Fariña tanzte einen seltsamen Paso Doble, den ich seither nie mehr gesehen habe und dessen Authentizität ich nicht beschwören kann. Die Frauen, mit denen er tanzte, waren manchmal vielleicht ein bisschen verwirrt, hatten aber auf jeden Fall großen Spaß, und darum ging es ja schließlich.

Es war Tradition, dass die Architekturstudenten jedes Jahr zum St. Patrick’s Day einen riesigen, dreißig, vierzig Meter langen chinesischen Drachen bauten, so viele Leute wie möglich rekrutierten und dann über den Campus rannten, in Seminare und Vorlesungen, wobei sich Hände aus dem Körper des Ungeheuers reckten und alle Studentinnen in Reichweite begrapschten, von denen sich viele die Haare grün gefärbt hatten. Alle betranken sich den ganzen Tag lang mit Bier in derselben Farbe. Kurz vor dem Frühjahrsäquinoktium war dies der Tag, an dem Fariñas ethnisches Erbe ins Gleichgewicht kam und er beiden zugleich nachgeben konnte. Er beendete den Tag gewöhnlich mit einer Menge Drachenträgern, die, allesamt mit grüner Farbe bespritzt, in eine altehrwürdige Bar namens Jim’s einfielen, wo er auf einen Tisch stieg und, einen Krug mit grünem Bier in der Hand, García Lorcas »Verde, qué te quiero verde …« rezitierte. Darauf folgten zahlreiche Toasts auf alles mögliche Grüne – cervezas verdes, coños verdes. Fariña schrie: »El barco sobre la mar y el caballo en la montaña!« Jahre später, in Kalifornien, liefen wir uns, beide verkatert, am Morgen des Tages, an dem er Mimi Baez heiratete, in irgendeinem Vorgarten über den Weg. Es war irgendwo auf dem Land, in den Bergen bei Palo Alto. Dann wurde uns eine jener gemeinsamen Offenbarungen zuteil. Fariña starrte auf eine Bergflanke. Sie war sehr grün, und dort stand ein Schimmel und sah uns an. Natürlich dachten wir beide an Lorcas Pferd auf dem Berg.

Gelegentlich gelang es uns, auf dieselbe literarische Wellenlänge zu kommen. Bei einer Party – keinem Maskenball – erschienen wir einmal verkleidet, er als Hemingway, ich als F. Scott Fitzgerald. Wir wussten beide, dass sich der andere gerade in einer Phase der Begeisterung für seinen jeweiligen Autor befand. Ich glaube, ich lernte damals von Fariña, mit einigen meiner Obsessionen Spaß zu haben. Ebenfalls 59 entdeckten wir gleichzeitig ein Buch, das für mich noch heute einer der besten amerikanischen Romane ist: Warlock von Oakley Hall. Wir erzählten anderen davon, und für eine Weile kam es zu einer Art Mikro-Kult. Bald sprachen einige vorzugsweise in Warlock-Manier, in einer Art nachdenklicher, stilisierter, viktorianischer Western-Diktion. Das mag Fariña zum Teil deshalb gefallen haben, weil es ein weiteres Mittel war, Coolness zu zeigen.

Zum ersten Mal habe ich Been Down So Long … im Sommer 1963 in Manuskriptform gelesen, in einer frühen Fassung. Ich weiß noch, dass ich ihm eine Menge guter Ratschläge gegeben habe, aber nicht mehr, welche. Glücklicherweise beherzigte er keinen davon. Er muss sich gefragt haben, ob ich dachte, wir wären noch im Schreibseminar. Später, als er es umgeschrieben hatte, ließ ihn zehn Seiten vor dem Ende seine Hand im Stich. »Hast Du von meiner gelähmten Hand gehört?«, schrieb er in einem Brief. »Ach, Tom, alter Junge« – Warlock-Stil –, »da wache ich also an einem im Großen und Ganzen vielversprechenden Morgen auf und habe keine Hand mehr, sondern bloß einen Klumpen Knete. Linsen. Linsen und eine Art von Erschöpfung, die nur Schwachköpfe mit sitzender Tätigkeit befällt. Ich, dem einst kein Wild zu flink war, dämmerte, zugedeckt mit einer Babydecke, in einem J. C. Penney-Sessel vor mich hin … Aber nach einem Monat kehrte meine Hand stechend und kribbelnd zurück, und so bin ich dann doch noch fertig geworden …«

Als ich das Buch zum ersten Mal las, verglich ich es mit meiner eigenen Erinnerung an den Ort, die Zeit, die Leute. Damals kam es mir so vor, als wären Gnossos und Fariña identisch. Es war auch ein großer Spaß, die Vorbilder für die anderen Figuren zu identifizieren und zu sehen, was er mit ihnen machte. Jetzt, beinahe zwanzig Jahre später, verstehe ich seine Methode ein bisschen besser und glaube, dass es vielleicht doch nicht so simpel war. Er hat nicht bloß tatsächliche Ereignisse beschrieben und lediglich die Namen verändert. Er hat sich große Mühe gegeben, aber das Ergebnis ist so elegant, dass er mich bei der ersten Lektüre vollkommen getäuscht hat.

Bei vielen seiner Figuren war Fariñas Ausgangspunkt anscheinend die Eigenschaft, die ihm an ihren Vorbildern am besten gefiel – Drew Youngbloods Anständigkeit, Juan Carlos Rosenblooms manischer Schneid, Judy Lumpers’ Figur. Von dort aus entwickelte er sie weiter, und wie es mit Figuren so ist: Mit einem Mal bekamen sie ein Eigenleben, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatte. Es hätte keinen Sinn, irgendwelche Namen zu nennen – die Leute, die hier vorkommen, wissen es und sind noch unter uns.

Gnossos ist keineswegs Mr. Perfect. Er ist unbeherrscht und hat wenig übrig für organisierte Religion, nationale Mythen, Unfähigkeit, Resignation, irgendwelche Leute aus den amerikanischen Südstaaten, seien sie nun Rassisten oder nicht – die Liste seiner Abneigungen ist lang. Er hat eine Schwäche für aufregende Konzepte wie Vendetta oder karmischen Ausgleich – ein Impuls, der Fariña, wie mir scheint, beim Schreiben des Buchs nicht ganz fern war. Gnossos macht unüberlegten Gebrauch von Drogen und Alkohol und beschimpft öffentlich Frauen – etwas, das ich Fariña nie habe tun sehen. Frauen gegenüber war er immer höflich und einfühlsam, auch wenn er ihnen manchmal das Blaue vom Himmel herunter log.

Diese Wolfgeschichte zum Beispiel. Diese ist die erste von Gnossos’ Begegnungen mit gefährlichen Tieren, die andere ist die mit dem Affendämon in Kapitel 14. Im Buch erzählt Gnossos diese Geschichte Kristin McCleod, der jungen Frau, in die er sich verliebt. Er tut es in Form eines Dialogs, bei dem Kristin – und damit auch der Leser – gebeten wird, die sinnlichen Eindrücke nachzuvollziehen: die Kälte, das Knirschen des Schnees, die Landschaft der Adirondack Mountains. Es ist Fariñas Vollendung einer Geschichte, deren erste Versionen viele seiner Freunde in Cornell schon kannten. Manche hatten sie öfter gehört, als ihnen lieb war. Tatsächlich war er bestürzend erfolgreich mit dieser Wolfgeschichte, die er hauptsächlich erzählte, um Studentinnen abzuschleppen, oft welche, auf die man selbst ein Auge geworfen hatte. Wenn ich mich recht entsinne, waren die meisten sehr beeindruckt. Natürlich arbeitete er sie jedes Mal, wenn er sie erzählte, ein bisschen um, und so wurde sie immer besser.

Die Geschichte mit dem Affendämon, dem Mandrill am Fenster, kam nicht so gut an. Manche hielten sie für eine dramatische Übertreibung, andere dachten, er sei vorübergehend verrückt geworden. Wenn die Winterlangeweile einsetzte, gab es immer die Möglichkeit, sich zu ungewöhnlicher Stunde an Fariñas Fenster zu schleichen und, in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion, Mandrillgesichter und -laute zu machen. Aber dann lächelte er nur schwach und zuckte die Schultern, als wollte er sagen: Wenn ihr es nicht kapiert, kapiert ihr es eben nicht.

Trotzdem ist diese unter den vielen düsteren Szenen des Romans eine der packendsten. Die düsterste und packendste ist die auf Kuba, als Gnossos’ bester Freund ums Leben kommt. Zwar folgen noch ein paar Seiten College-Aufruhr, doch Kuba ist der eindeutige Höhepunkt des Buchs. In seiner Hemingway-Phase muss Fariña auf den Satz gestoßen sein, dass jede wahre Geschichte mit dem Tod endet. Der Tod treibt keine Scherze, und in diesem Roman lauert er immer vor dem Fenster. Der kosmische Humor verbirgt sich in Gnossos’ unbeholfenen Versuchen, zu einer Art Vereinbarung mit Thanatos zu kommen, zu irgendeinem Deal, der ihn von dem Vertrag, den wir alle unterschrieben haben, entbindet. Sie schlagen allesamt fehl, doch noch komischer ist, dass Gnossos viel zu verliebt ist in das Leben mit seinem Sex, seinen Drogen, seinem Rock ’n’ Roll: Er fühlt sich so gut, dass er Risiken eingehen muss – er muss den Tod herausfordern, und ihm ist dabei nur halb bewusst, dass er um so schneller an der Reihe sein wird, je intensiver er lebt.

Gegen Ende seines letzten Semesters in Cornell schien Fariña die Geduld zu verlieren. Er sagte, auf ihn warte in New York ein Job, und denen sei es egal, ob er einen Universitätsabschluss habe oder nicht. Möglicherweise war auch die Beziehung mit der echten Kristin McCleod in einer Katastrophe geendet, aber über so etwas sprachen wir nicht, und ich hörte nur unbestimmte Gerüchte. Wir waren im selben Seminar, saßen in Johnny’s Big Red Grill, tranken Red Cap Ale und büffelten für die Abschlussprüfung. Am nächsten Tag beantwortete ich eine halbe Stunde nach Beginn der Klausur gerade eine einfache Frage, nahm eine Bewegung wahr, hob den Kopf und sah Fariña sein Heft abgeben und hinausgehen. Er konnte unmöglich bereits fertig sein. Als er an meinem Tisch vorbeiging, hob ich die Augenbrauen, und er lächelte und zuckte die Schultern. Das war für eine Weile das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Er ging nach New York, nach Kuba, heiratete Carolyn Hester, begann eine Musikerkarriere, tourte in Europa, lebte in London, in Paris, ließ sich scheiden, zog nach Kalifornien, nach Boston, dann wieder nach Kalifornien. Manchmal schrieb er einen Brief, manchmal – viel zu selten – liefen wir uns über den Weg. Am Tag vor seinem Tod telefonierten wir miteinander. Sein Buch war gerade erschienen. Wir verabredeten, uns ein paar Wochen später in Los Angeles zu treffen. Am nächsten Tag hörte ich die Nachricht im Radio, auf einem Rock ’n’ Roll-Sender. Er war auf dem Soziussitz eines Motorrads auf der Carmel Valley Road gefahren, wo fünfzig Stundenkilometer angemessen gewesen wären. Die Polizei schätzte, dass die Maschine dreimal so schnell gewesen und aus der Kurve getragen worden war. Fariña wurde durch die Luft geschleudert und war auf der Stelle tot.

Ich rief in seinem Haus an – keine Antwort. Ich rief Associated Press in Los Angeles an – man konnte die Nachricht nicht bestätigen. Ich kam nicht auf den Gedanken, im örtlichen Krankenhaus anzurufen. Wahrscheinlich wollte ich nicht hören, was man mir gesagt hätte. Die einzige Person, mit der ich in dieser Nacht über ihn reden konnte, war eine weit entfernt lebende Freundin, die ihn ebenfalls aus Cornell kannte. Sie wusste auch nicht mehr als ich. Wir beide hofften, auch wenn die Hoffnung schwand, und sprachen lange, bis tief in die Nacht, über Fariña und die alten Zeiten, und in unseren Stimmen war diese Mischung aus Liebe und Verärgerung, die die meisten von uns immer empfunden hatten, wenn sein Name gefallen war. Schließlich, gegen Ende des Gesprächs, lachte sie. »Ich habe gerade so einen Gedanken gehabt«, sagte sie. »Wenn dieser verdammte Fariña bloß schwer verletzt ist – wenn er bloß bis zum Rand geht und wieder zurückkommt, du weißt schon –, werden wir uns die Geschichte bis ans Ende unserer Tage anhören müssen.«

Thomas Pynchon

Dies ist für MIMI

»Ich muss demnächst die Szene wechseln …«Benjamin Franklin in einem Brief an George Washington 5. März 1780

BUCHEINS

EINS

Nach Athené also.

Der junge Gnossos Pappadopoulis, pelziger Pu-Bär und Hüter der Flamme, war zurück von den Asphaltmeeren des großen wüsten Landes: O ihr Highways, o Route 40 und unerbittliche Route 66, ich bin heimgekehrt zu den von Gletschern gekerbten Schluchten, zu den fingerförmigen Buchten von Seen, zu den Goldmädchen von Westchester und Shaker Heights. Seht mich an mit meinen großen, stampfenden Stiefeln, meinem Mund voll Lügen, meinem Kopf voll Pläne.

Heim nach Athené, wo Penelope sich verzückter, ekstatischer Untreue hingegeben hat, wo Telemach seinen Vater hasst und ihm in die Eier treten will, wo der alte, geduldige Argus herbeitrottet, um seinen Herrn zu begrüßen und die Zähne tief in die vor Erschöpfung verkrampfte Wade zu schlagen, wobei er die Wunde mit tödlichem, tollwütigem Horror infiziert. Willkommen,

denn zurück ist der Verrückte,

zurück von seinen Träumen

und dem Satyr,

zurück, um Heu zu machen,

ob die Sonne nun scheint oder nicht, denn in diesem wohlgehügelten Land der geologischen Falten und Verwerfungen gibt es immer jede Menge Regen.

Stapfend wählt er den steilsten Anstieg, pflügt mit genagelten Stiefeln durch rußgraue Schneehaufen, riecht nach Hirsch- und Hasenfleisch, und seinem Mund entströmt das Anis-Aroma irgendeines orientalischen Fusels. Niemand hat ihn gesehen (und wenn doch, dann war es schlicht unmöglich, es zu glauben, denn den Gerüchten zufolge liegt er verdurstet am Fuß des Bright Angel Trail, rücklings und mit verzerrtem Gesicht, und die wilden Esel des Grand Canyon haben sich über seine Augen hergemacht; er ist von tätowierten Pachucos überfallen und getötet worden, unter dem Nachthimmel New Mexicos verbrannt von tausend in Königswasser getauchten Zigaretten; er ist in der San Francisco Bay von einem Hai gefressen worden, ein Bein wurde in Venice West angespült; G. Alonso Oeuf schließlich behauptet, er habe sich in den Adirondack Mountains den Arsch abgefroren), stolpernd kehrt er von den Seen dieser Gegend zurück (wo er auf einem Bett aus zarten Fichtenzweigen gesessen hat, die Beine im Lotossitz verschränkt, auf der Stirn, wo das dritte Auge wäre, ein mysteriöses Kastenzeichen, splitternackt, aber mit einer Erektion, und von den Daughters of the American Revolution aus St. Regis bei ihrer winterlichen Vogelexkursion entdeckt wurde).

Ich bin unsichtbar, denkt er oft. Und befreit. Ich genieße Immunität, denn ich bleibe unter allen Umständen cool. Meine Polarität ist frei gewählt, denn ich bin nicht ionisiert und habe keinerlei Valenz. Man könnte mich als inaktiv und strukturlos bezeichnen, aber Vorsicht: Ich bin der Schatten, der den Geist umwölkt. Wer kennt das Böse, das im Herzen des Menschen lauert? Ich bin der Dracula – sieh mir in die Augen.

Von der erbsengrün gestrichenen Greyhound-Station des Städtchens schlurft er die abgeschmackt benannte Academae Avenue hinauf, dick eingepackt in den Parka (Linus’ Schmusedecke, wärmend in den Wäldern, ein transportabler Mutterschoß), im prallvollen Rucksack alles, was er besitzt und zum Leben braucht: ein Captain Midnight Code-O-Graph, einhundertsechsundneunzig Silberdollars, ein Kalender für das aktuelle Jahr (1958), acht Ampullen Opiumtinktur, ein Plastikbeutel voll exotischer Samen, ein Bündel Weinblätter in einem speziellen Humidor, ein Schraubdeckelglas voll Feta, Teile von Drahtkleiderbügeln zur Verwendung als Fleischspieße, ein Pfadfinderhemd, zwei Zimtstangen, ein Flaschenverschluss von Dr. Brown’s Cel-Ray Tonic, ein bei Bloomingdale’s erbeuteter Satz Fruit-of-the-Loom-Unterwäsche, eine Cordhose zum Wechseln, eine Baseballmütze von 1920, eine Hohner-Mundharmonika in F, sechs Hirschlendenkoteletts und eine unbestimmte Anzahl kürzlich abgeschnittener und gepökelter Hasenpfoten.

Im Busbahnhof, bei der Lektüre der Kleinanzeigen im unbezahlten Athenér Globe, war sein Blick auf die Nummer 109 der fürs Frühjahrssemester angebotenen Wohnungen gefallen. Jetzt stand er, vom Anstieg schnaufend, vor dem Gebäude, musterte es kritisch, hielt Ausschau nach möglichen Fluchtwegen, zählte Fenster und Türen. Es war ein American-Gothic-Haus, frisch gestrichen, rot mit weißen Kanten, die Fenster eingefasst mit allerlei alpenländischem Schnitzwerk. Ein Hauch von Idyll, ein angenehmer Ort, um an einem Maimorgen mit einem Mordskater aufzuwachen, den Kopf wieder auf das Kissen sinken zu lassen und den Duft der Vergissmeinnicht zu atmen.

Zaghaft klopfte er an und wurde von der schlanksten jungen Frau begrüßt, die er je gesehen hatte. Plüschmorgenrock mit Puschelfell am Kragen, lange braune, mit gelbem Gummiband zusammengehaltene Zöpfe, keine Augenbrauen.

»Sie kommen wegen der Wohnung?«

Britisch. Mörderin zypriotischer Bauern, Erzfeindin, Vorsicht. Also lügen: »Ganz recht, Miss, ganz recht. Mein Name ist Ian Evergood. Dürfte ich sie mir wohl einmal ansehen?«

»Es ist ein schreckliches Durcheinander; wir ziehen gerade um, in eine Wohnung über der Studentenwäscherei, kennen Sie die?«

Mein Gott, hochhackige Schuhe zum Morgenrock, ob sie darunter überhaupt was anhat? Diskretion. »Ich bin nicht ganz sicher, bin seit einem Jahr nicht mehr hier gewesen, und alles zieht ständig um. Hübsche Wohnung, das.«

»Finde ich auch.«

Teuflisch schlau: hübsche Wohnung anstatt nette Bude. Sie sieht mich an. »War auf einer Art Jagdausflug. In den Adirondack Mountains. Verzeihen Sie meine Aufmachung.«

»Jagd? Sie meinen, auf Tiere?«

»Könnte man sagen, ja.«

»Wie schrecklich. Kleine Tiere umbringen, die sich nicht wehren können?«

»Es gab da einen Wolf, müssen Sie wissen. Und einen marodierenden Bären.«

»Einen Bären? Wirklich? Kommen Sie doch herein – wozu im Eingang herumstehen?«

»Hat drei Kinder zerrissen, bevor ich ihn erwischt hab. Furchtbare Sache. Famoser Schuss allerdings.«

»Sind Sie Brite?«

»Grieche.«

»Oh.«

Zu spät. Hätte alles mögliche sagen können. Zweiter Versuch. »Verwandt mit den Mountbattens. Ist die Wohnung möbliert?«

»Zwei von den Korbsesseln gehören denen«, sagte sie und nickte in Richtung der verriegelten Flügeltür zur Nachbarwohnung. »Einer gehört mir, und das Schmetterlingsding ebenfalls. Wenn Sie wollen, verkaufe ich es Ihnen, die Sessel sind nicht besonders bequem, jedenfalls nicht als Sitzmöbel.«

Als was dann? Die Falten über ihren Augen wölben sich, wie es die Brauen vielleicht tun würden. Wäre einen Versuch wert. Das Geräusch von kochendem Wasser. Gratisessen. »Ich brauche sie trotzdem. Waren Sie gerade dabei, Tee zu machen? Ich wollte Sie nicht –«

»Das macht gar nichts. Sehen Sie sich ruhig um, Sie sind der Erste.« Sie ging in die Küche. Herrgott, auch noch Nylonstrümpfe. »Trinken Sie ihn mit Zucker und Milch?«

»Mit allem.« Kein Schlafzimmer, stattdessen war das hintere Ende des Raums mit Bambusmatten abgeteilt, ein schlechtes Zeichen. Trotzdem, der Rest sah gut aus: Reispapierballons als Lampen, weiße Wände, ein Navajoteppich, großes Sofa, offener Kamin. Mal einen Blick in die Küche werfen.

»Ich heiße Pamela«, sagte sie und schenkte den Tee durch ein Holzsieb in henkellose Tassen. Der Morgenmantel klaffte am Hals ein wenig auf, und der Puschelbesatz gab den Blick auf ein blondes Brusthaar frei, was einen Lustkrampf auslöste.

Zwischen den Tassen: »Was studieren Sie?«

»Astronomie«, log er. »Ursprungstheorien, expandierende Galaxien, Quantenmechanik, so was eben. Und Sie?«

»Architektur.«

»Warum wohnen Sie nicht in einem Wohnheim?« Hoffnungsvoll.

»Ich bin im fünften Studienjahr. Gefällt Ihnen die Küche? Der Kühlschrank ist riesig, und das Besteck gehört zur Wohnung. Heißen Sie wirklich Evergood?«

»Als mein Vater zu den Benediktinern gegangen ist, habe ich den Namen meiner Mutter angenommen.«

»Oh, ich wollte nicht aufdringlich sein.«

»Macht nichts. Er schickt mir immer Brandy. Sie wissen schon: das Brot der Mönche. Famoser Tee, das. Pamela – und weiter?«

»Watson-May. Haben Sie wirklich einen marodierenden Bären getötet? Ich meine, ist das nicht ziemlich gefährlich?«

Auf jeden Fall. Und stehen dir bei dem Gedanken daran nicht die zarten Oberschenkelhärchen zu Berge? Schade, dass Nachmittag ist – bei Matinéen hab ich noch nie viel gerissen. Aber gut, dass ich den Parka anhabe, sonst würde sie was sehen. Eigentlich stehe ich nicht so auf dünn, aber diese Schuhe und das Haar! Gib noch ein bisschen Gas. »Nicht unbedingt gefährlich. Es kommt natürlich sehr auf den Jäger und den ersten Schuss an.« Ho-ho!

»Natürlich.«

»Entweder ist er sofort tot oder er greift an, dann muss man ihn mit einem Herzschuss erledigen. Wenn ich darüber spreche, werde ich immer ganz angespannt. Sie haben nicht zufällig etwas Alkoholisches?«

»Ist es dafür nicht ein bisschen früh?«

»Heute nicht, nein.«

»Es ist vielleicht noch Gin da und ein bisschen Scotch.«

»Metaxa haben Sie nicht?«

»Was?«

»Scotch ist prima. Geben Sie einfach einen Schuss in den Tee. Und genehmigen Sie sich auch einen, das löst die motorische Spannung, sage ich immer, haha.«

Sie schenkte ihnen ein und setzte sich rittlings auf den Schmetterlingssessel. Der Morgenmantel war bis über die knochigen Knie hinaufgerutscht, eine schmale Hand hielt ihn am Ausschnitt zusammen und drückte das Pelzchen an den Hals. Gnossos verspürte das Bedürfnis nach einer in O-Tinktur getauchten Pall Mall, die seine Qual auf dem Weg zum Gehirn herausfiltern würde. Aber Scotch konnte das fast ebenso gut.

»Gefällt Ihnen die Wohnung?«

Er nippte. Gegenfrage: »Was kostet sie denn?«

»Siebzig. Fünfunddreißig, wenn Sie einen Mitbewohner finden.«

»Natürlich. Was ist mit den Nebenkosten?«

»Alles inklusive außer dem Telefon, das ich Ihnen dalassen würde, wenn Sie die Kaution übernehmen.«

Klare Sache. »Wer wohnt da drüben?« Ein Nicken in die Richtung. »Hinter der Tür da?«

»Bloß die Rajamuttus, George und Irma. Aus Benares, glaube ich, aber trotzdem sehr nett. Sie trinken den ganzen Tag Gin Tonic mit Grenadine und haben noch nie jemanden belästigt.«

Vielleicht deswegen? »Und was machen sie so? An der Uni, meine ich.«

»Ich glaube, George studiert Hotelwesen. Faktotumswissenschaften, Master of Bartending, so was in der Art.«

Frohes Mixen im Punjab Hilton. Pappadopoulis schenkte sich den Rest aus der Flasche ein. »Ich hätte gute Lust, die Wohnung zu nehmen. Muss ich mit einem Makler sprechen?«

»Nein, Sie sind dann einfach mein Untermieter. Der Eigentümer lebt auf dem Land.«

Und die Mäuse tanzen auf dem Tisch?

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Pamela rief: »Einen Moment«, stellte ihr Glas ab und raffte den Puschelpelz enger zusammen. Die Polizei? Ein wütender Vater? Die Stimme klang irgendwie vertraut.

»…wegen der Kleinanzeige und wollte fragen, ob ich mir die Wohnung …«

»Es tut mir leid, ein Mr. Evergood sieht sie sich gerade an, und ich glaube, er will sie nehmen.«

»Ist das etwa Fitzgore?« Um die Ecke schoben sich karottenrotes Haar und eine sommersprossige Nase, die sogleich vor Schreck erbleichte.

»O Gott!«

»Komm rein, Mann.«

»Aber du bist tot! Irgendwo im Norden erfroren. Gott im Himmel, Paps!«

»Ich bin eben wiederauferstanden. Und wähle deine Worte mit Sorgfalt – ›Paps‹ heißt das, was deine Oma isst.«

»Mir ist schlecht.«

»Pam, ist in der anderen Flasche noch etwas Gin für diesen dünnblütigen Kohlkopf? Komm rein und nimm Platz in meiner neuen Bleibe, mein Alter, sieh dich um.« Er stand auf und schüttelte die zögernd ausgestreckte Hand des Kleineren, klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn zu einem der Korbsessel, in dem Fitzgore mit einem schiefen Lächeln ins sich zusammensackte.

»Mann, kein Scheiß, was war da nicht alles in Umlauf. Es gab sogar eine Grand-Canyon-Geschichte, aber dann hat man dich in Las Vegas gesehen.«

»Nur ein kleiner Hitzschlag, als ich auf der Phantom Ranch nach Sonnengöttern gesucht habe. Pamela und du habt euch schon miteinander bekanntgemacht?«

Fitzgore nickte halbherzig, nahm das Glas entgegen und beäugte misstrauisch den blassroten Inhalt. »Grenadine«, erklärte sie. »So trinkt man ihn in Benares.«

»Und in der San Francisco Bay, hieß es –«

»Nein, das war der Polizist, der mich gerettet hat. Dem hat ein Hammerhai ein Bein abgebissen. Seltsame Ironie: gerettet durch einen Polizisten.«

»Heilige Muttergottes.«

»Nichts von heilig. Ein Bulle wie alle Bullen. Sie haben ihm ein buntes Band gegeben. Oder einen Micky-Maus-Stempel – ich kann mich nicht erinnern. Wo ist eigentlich Oeuf?«

»Erholt sich im Krankenhaus vom Pfeifferschen Drüsenfieber. Von Tripper war auch die Rede.«

»Oeuf hat einfach keine Fantasie. Aber wir müssen ihn besuchen. Trink deinen Gin, wir machen eine Tour über den Campus.«

»Ich hab heute Nachmittag Laborstunde, Paps. Du weißt doch: Das Semester hat angefangen. Bist du jetzt wieder Student oder was?«

»Ein bisschen von allem« – mit bösem Grinsen. »Kann ich mich noch einschreiben?«

»Kostet wahrscheinlich fünf Dollar Strafe«, sagte Pamela und legte, von einer Art Partystimmung ergriffen, eine Platte auf. Ein unausgegorener Gedanke: Sie hat Potenzial. Fetisch?

»Ach, was solls«, sagte Fitzgore, »ich kann genauso gut schwänzen.«

»Stammt Ihre Familie aus Irland, Mr. Fitzgore?«, fragte sie. Auf der Platte war Musik von Bach. Mann, wie sie doch alle gleich waren. Ihre Identität ließ sich ablesen an einem halben Dutzend Platten, den üblichen Büchern und achtzehn Lochkarten aus einem UNIVAC, die in einer türkisblauen Geldbörse hinter dem Foto der liebsten Verbindungsschwester stecken. Beethoven, Brubeck, ausgewählte Symphonien, Der Prophet, diverse Anthologien, Now We Are Six. »Nennen Sie ihn lieber beim Vornamen, Pamela. Hardy ist fromm und hält auf Tradition.«

»Hardy also?«

»Die Wurzeln meiner Familie reichen weit zurück«, sagte Fitzgore. »Bis zu den Iren in Salem, den Vorfahren der Siedler in Back Bay.«

Keine Zeit zu verlieren. »Miss Watson-May« – förmliche Worte von Gnossos, der sich erhob –, »wir müssen leider gehen. Die Wohnung erscheint mir geeignet. Allerdings muss ich Sie warnen, dass ich im Hinblick auf Lärm ein wenig anstrengend sein kann.«

»Sie mögen keinen Lärm?«

»Er macht ihn«, sagte Fitzgore.

»Die ganze Zeit. Sehr wenig Zurückhaltung. Das griechische Erbe schlägt durch.«

»Das finde ich, ehrlich gesagt, nicht so schlimm.«

»Ich heiße übrigens Pappadopoulis. Nennen Sie mich Gnossos, mit stummem G, okay? Wir sehen uns später.« Sie stellte die Bach-Platte leiser und sah ein bisschen enttäuscht aus. Weil wir gehen? »Sind Sie heute Abend zu Hause?«

»Ich werde wahrscheinlich packen.«

»Vielleicht kommen wir vorbei. Sagen Sie den Rajamuttus Bescheid. Ich habe – wie haben Sie es ausgedrückt? – einen Mitbewohner gefunden: Fitzgore.«

»Moment mal«, kam der Protest. »Ich wollte eine Wohnung für mich allein, damit ich besser lernen –«

»Haa!«, schnaubte Gnossos, »ganz bestimmt. Ganz und gar bestimmt.«

Sie gingen die vereiste Treppe zur Straße hinunter und dann weiter den langen Hügel hinauf zum Campus. Überall klotzige Haufen aus schwerem Schnee, ein Winter der Mystic-Lakes-Variante, der schon früh im Jahr von Norden gezogen kommt; der Himmel schwillt unheilvoll an und lädt unablässig Massen riesiger, teppichartiger Schneeflocken ab, die alle Extreme der Spektralfarben neutralisieren, Konturen glätten, Geräusche dämpfen und auch dem ersten sturzbachgebärenden Tauwetter, dem ersten Leuchten der unverhüllten Sonne trotzen. Aber ich bin nicht ionisiert und habe keinerlei Valenz.

Wem schleicht so träg und kalt das Blut,

der nie ausrief in hoher Glut:

»Was tut sich denn so, Fitzgore?«

»Wie meinst du das?«

»Gibts irgendwo Shit?«

Im Flüsterton, den rotbeschopften Kopf wie eine Schildkröte in den Kragen des Mantels gezogen, mit furchtsamem Blick die belebte Avenue musternd, hinter deren Fenstern und Türen die Saat des Unheils vielleicht nur darauf wartete, aufzugehen: »Du meinst Rauschgift?«

»Was ist mit Oeuf? Sag bloß nicht, er ist enthaltsam geworden.«

»Nichts. Seit du weg warst, gar nichts. Und sprich leiser bitte, ich will schließlich meinen Abschluss machen. Nur noch sechs Monate.«

»Na klar. Was ist mit dem Black Elk? Mit Fat Fred?«

»Kein Weißer geht da rein.«

»Mal sehen. Ich hab für alle Fälle ein bisschen O-Tinktur. Hat irgendjemand einen Ventilator?«

»Herrgott, Paps, du bist wirklich der Kuss des Todes.«

»Das wäre dann wohl eher Thanatos. Immerhin auch ein Grieche.«

Ringsum lauter Goldmädchen auf der Suche nach hübschen Kleinigkeiten. Mitten in wildester Winterskälte hüpfen sie in Turnschuhen, Söckchen und cremefarbenen Regenmänteln herum. Eine Generation in der Gussform, während der Große Weiße Gießer auf seinem fruchtbaren Bett liegt und grinsend darauf wartet, dass die Masse fest wird. Aber er kennt mich noch nicht. Hier ist jemand, der aufrühren, aufwühlen, aufschäumen wird. Die Zweitsemester in ihren nagelneuen Junior-Blazern, wie schon am Donnerstag erschienene Wochenendbeilagen. Frisch eingebundene Lehrbücher aus der Campus-Buchhandlung, Lineale in Lederfutteralen, baumelnd wie Breitschwerter, bis auf die jungfräuliche Faser durchgewaschene Chinohosen, gestärkt, gebügelt, mit rasiermesserscharfen Falten, Oxfordhemden mit Button-down-Kragen unter Rundhalspullovern, blaue Augen überall, verblüfft strahlend angesichts dieser androiden Synthese aus Vitaminpillen, Tropicana Orangensaft, frischen Landeiern, Kraft’s Käse, Tetrapacks voll angereicherter Milch, Cheerios mit sonnengereiften Bananen, Hähnchen in Cornflake- Panade, Eiscreme mit Karamellsauce, Dairy Queen Milchshakes, Cheeseburgern, Maiscremesuppe, Riboflavin, Hefepaste, Erdnussbutter mit Stückchen, Thunfischauflauf, Pfannkuchen mit künstlichem Ahornsirup, Kurzrippensteaks, gelegentlich einem Hummer, Pfadfinderkeksen, fettreduzierten Weizenkeimen, Kellogg’s Frühstücksflocken, geschnittenen grünen Bohnen, Wonderbread, Schokoladensirup, tiefgefrorenen Augenbohnen, gehacktem Spinat, fritierten Zwiebelringen, Endiviensalat, Linseneintpf, Hähnchenleber, Pecanplätzchen, Mandelkuchen, Aureomycin, Penicillin, Tetanus-Antikörpern, Pockenimpfstoff, Alka-Seltzer, Aspirin, Wick Vaporub, 8 × 4 mit Chlorophyll, Antihistaminpräparaten, Nasenspray, Milliarden Kubikmetern gesunder, fortwährend gereinigter Atemluft und den gesunden Varianten gemeinschaftlicher Aktivitäten, die den Menschen des Westens zur Verfügung stehen. Ah, der eingebläute gute Wille, die eingetrichterte Zuversicht derer, die zwar nicht sanftmütig sind, aber trotzdem das Erdreich besitzen werden.

Er dachte an das vergangene Weihnachtsfest mit Heff. Mexikanisches Gras und Martinis. Sie hatten den Wagen der Delta- Phi-Heinis geklaut, als die dabei gewesen waren, ihre Badewanne voll Sprit auszutrinken, waren zum Ramrod gefahren, um sich die importierte Krippe anzusehen, hatten fast eine halbe Stunde die einen Meter hohen Figuren angestarrt und die gregorianischen Gesänge gehört, die aus den Lautsprechern über ihnen kamen. Einer der Hirten schielte zu offensichtlich.

Heh, Heffman, was sagst du zu Sebastian?

Zu wem?

Dem schielenden Typ da, dem Schäfer. Hinter dem alten Zimmermann.

Oh, ja. Tatsächlich, er schielt.

Das ist geschmacklos, oder?

Schon möglich.

Er sieht doppelt, kapierst du?

Ja.

Er sieht zwei kleine Jesulein.

Sprich weiter.

Und das ist nicht gut.

Was?

Zwei kleine Jesulein. Herrgott, das ist ein katholisches Paradox.

Seh ich genauso, Paps.

Wir müssen eins wegnehmen, damit alles wieder stimmt.

Pappadopoulis nahm die Gipsfigur des Jesuskindes und barg sie unter dem Parka, als wäre sie eine Flasche erlesener Champagner; dann drehten die beiden sich um und schlenderten zurück zum im Halteverbot geparkten Wagen und setzten sich hinein. Der Motor lief.

Weißt du was, Heff? Die heilige Mutter Gottes hat alles gesehen.

Sie weiß Bescheid?

Wir stecken in der Scheiße.

Los, wir nehmen sie auch mit.

An der Krippe schnappte sich Heff die Jungfrau Maria, doch unterwegs zum Wagen, auf der Treppe, stolperte er mit Getöse, sodass die Figur in einem fußlastigen Bogen durch die Luft flog und auf den Bürgersteig prallte, wobei der Kopf abbrach und auf die Straße rollte.

Sie hat den Kopf verloren, Paps.

Ja, steck ihn ein.

Sie fuhren durch den verschneiten Campus in Richtung Harpy Creek. Pappadopoulis streichelte den kleinen Jesus, kraulte ihn unter dem Kinn, stupste ihn mit dem kleinen Finger in den Bauchnabel und tastete unter der Windel nach Kaka. An der Brücke hielt er an und schlenderte bis zur Mitte.

Ehrwürdige Tradition, mein Heffalump.

Klar. Nicht dass sie einstürzt.

Beide küssten die Figuren und warfen sie in den verschneiten Abgrund, wo sie im Fallen polternd gegen vereiste Felsen prallten. Sie lauschten: gedämpftes Knirschen, zweimal.

Sollten wir uns nicht auch um Sebastian kümmern, Paps? Sonst sagt er noch, es waren nicht zwei, sondern vier Entführer.

Wir holen ihn.

Der gekidnapte Hirte fand einen Platz auf einem rosaroten Resopaltisch in Guido’s Grill. Alle standen um ihn herum, sangen Weihnachtslieder und prosteten der schielenden Figur zu. Heff kicherte seinen eigenen Text:

Holder Knabe im lockigen Haar

Schlaf mit himmlischen Maiden …

Apropos:

»Hast du in letzter Zeit eigentlich mal eine Kommilitonin flachgelegt, Fitzgore?«

»Mann, du stellst wirklich die entwaffnendsten Fragen.«

»Ich war auf einer Reise, mein Lieber, auf einer Art Suche, und ich habe Feuer und Pestilenz gesehen und Vorzeichen einer großen Seuche. Ich bin befreit.«

»In Circe III gibts eine Nympho, die mit jedem vögelt, seit Heff sie verlassen hat, aber sie hat Warzen.«

»Guter Heffalump, immer ein Herz für die Entstellten. War sie denn gut?«

»Ich will lieber nicht dran denken. Ich hab sie mit Grasshoppern abgefüllt, und sie hat mir den ganzen Rücksitz vollgekotzt. Aber diese Pamela interessiert mich irgendwie.«

»Rücksitz? Du hast was Fahrbares?«

»Mein Dad hat mir fürs letzte Studienjahr einen Impala geschenkt.«

»Wie wunderbar. Herrliche, herrliche Degeneration und Dekadenz.«

»Hör zu, Paps, im Ernst: Ich muss mich dieses Semester anstrengen. Ich hab achtzehn Wochenstunden belegt und bin auf Bewährung.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, ich muss es schaffen.«

»Irgendwann, du bastardierter Verräter an deinen Ahnen, werde ich dich mal fragen, warum. Aber nicht heute, okay? Komm, wir gehen zu Louie’s.«

»Das wird gerade abgerissen.«

»Was?«

»Da kommt ein Ding namens Larghetto Lodge hin. Herrgott, die Dinge ändern sich, du kannst nicht ein Jahr im ganzen Land herumstiefeln und erwarten, dass du in dieselbe lausige Gegend zurückkehrst. Lass uns im Plato Pit ein Bier trinken.«

Sie trotteten im Sechzig-Grad-Winkel zum nicht enden wollenden Hügel dahin, und Gnossos dachte an die Studenten links und rechts, die taub waren für die Trommeln des Verhängnisses. Kleine Läden und Geschäfte umwarben die vorbeischlendernde Kundschaft. Ein neuer Fotograf, dem Schaufenster nach zu urteilen auf dramatische Posen spezialisiert: von unten beleuchtete Gesichter, Pfeifenrauch und leidenschaftliche Intensität, vor schwarzem Hintergrund. Starr mich an, ich bin eine Büste von Homer. In der Studentenwäscherei wimmelten strebsame, kurzhaarige junge Männer herum und vermischten die Inhalte verschiedener Wäschebeutel, studentische Fahrer saßen am Steuer studentischer Lieferwagen, die von studentischen Disponenten abgefertigt wurden, die Sohlen matschverschmierter Schnürstiefel quietschten im Schnee, und alle, alle zogen am selben Strang. Wie kann ich sie aufs Kreuz legen?, fragt sich Gnossos und denkt an den Roulettetisch, den Heff und er im Keller hatten. Plötzlich ein Schild an quietschenden Angeln: MENTOR UNIVERSITY, GEGRÜNDET 1894. Bilder von schnurrbärtigen Studienanfängern mit Zelluloidkragen, die einen Studentenjargon entwickeln und Traditionen begründen. Wie lautet die viktorianische Entsprechung zu »Was läuft, Alter?« Kuhweiden damals. Das Jupiter-Wohnheim ein spitzgiebeliges Wahrzeichen jener Zeit.

Vorbei an der juristischen Fakultät mit ihrer Universitätsgotik. Eigentlich ein Yale-Abklatsch – hübscher Innenhof, hervorragend geeignet für Duelle. Hin und wieder dreht sich einer ungläubig nach ihm um: Wer ist der komische Typ mit dem Lockenkopf? Neue Gesichter, unglaubliche Körper junger amerikanischer Frauen, verlockend selbst unter Wollschichten. Weicht meinen Blicken aus, ihr Damen, denn den Wunsch darin lest ihr nur zu genau. Wie wärs mit einem kleinen Ausritt auf einem Verrückten, bevor ihr euren Juristen heiratet? Ein bisschen Gnossos-Samen für den Fall, dass der Gatte von den vielen Martinis unfruchtbar wird. Die da mit den grünen Kniestrümpfen. Hab sie schon mal irgendwo gesehen.

»Wer ist das, Fitzgore?«

»Wer?«

»Grüne Kniestrümpfe und Slipper.«

»Kenne ich nicht. Irgendeine Überfliegerin in Politikwissenschaften, glaube ich.«

Unglaubliche Beine. Wenn sie wüssten, wie lange es her ist. Der große Trugschluss. Aber was solls – spar es dir auf. »Und das da drüben?«

»Das neue Gebäude für die Ingenieurwissenschaften. Sie wollen es als großes Viereck um das Institut für Chemie bauen. War das nicht schon da, als du weggegangen bist?«

»Bestimmt nicht.« Eingefärbte Aluminiumbleche, große Flächen aus wetterfestem Glas, Dymaxionbogen: der synthetische Inhalt einer architektonischen Wundertüte. Sauber, gut beleuchtet, billig zu heizen, funktional, kann an einem langen Wochenende zerlegt und woanders aufgebaut oder per Hubschrauber nach Las Vegas transportiert werden. Demontage als Bestandteil der Baukonstruktion. Eine Verbeugung vor der Sterblichkeit.

Heffalump, der Viertelschwarze, saß im Plato Pit unter einem jämmerlichen, mit künstlichem Efeu behängten Plastiktopf an einem der lackierten Picknicktische neben der Jukebox, den schmalen Mulattenoberkörper über seine Dose Red Cap gebeugt, als könnte sie einen Fluchtversuch unternehmen. Neben ihm eine junge Frau mit Jeanne-d’Arc-Frisur und in Männerkleidern. Langsam anschleichen und dann …

»Und das ist wirklich ein Heffalump, Fitzgore? Das mit dem Rüssel im Schaum vor sich hin brütet?«

Die spinnenhafte Gestalt erwachte in einer Explosion von Armen und Beinen zum Leben, Bier schwappte in einer schäumenden Lache über den Tisch. »Aaaahhh!« Die Augen Monde der Fassungslosigkeit.

»Aber warum weicht es dann zurück? Da kehre ich von großen Abenteuern heim, und niemand schüttelt mir die Hand. Spießer!«

»Jesusmariaundjoseph! Du bist nicht tot!«

»Das hat Fitzgore auch schon bemerkt.«

»Pachucos in Texas oder so. Oeuf hat gesagt, du wärst ermordet –«

»Er projiziert nur seine Todessehnsucht, Baby. Jedenfalls – das war in Taos, New Mexico, irgendein Pfadfinder, den sie sich vorgenommen haben. Ich war derweil im Knast.«

»Kein Scheiß, Mann« – Heff kicherte nervös –, »wir dachten, du hast den Löffel abgegeben.« Man drehte sich nach ihnen um. Verlegen warf Fitzgore Geld in die Jukebox und stellte sich in der Bierschlange an. Jeanne d’Arc streckte die Hand aus und sagte: »Ich heiße Jack. Und du musst Paps sein.« Ihre Stimme ein rauchiger Bariton.

»Gnossos.« Er fand ihren Händedruck übermäßig fest und setzte sich. Heffalumps Mund stand, zwischen Kicheranfällen, noch immer offen, die riesigen Zähne ragten hervor wie die eines Bibers.

»Mann«, sagte er.

»Ihr hattet wirklich nichts gehört?«

»Irgendwas war mit den Adirondack Mountains, aber niemand wusste was Genaues, und die zeitliche Einordnung war sowieso immer schwierig. Wir wussten nicht, ob du noch gehst oder schon wiederkommst.«

»Ich auch nicht. Um genau zu sein: Ich bin zurückgeflogen. Hatte in North Beach eine Offenbarung und sah in allen Gesichtern mein eigenes. Was natürlich meinen Befreit-Status in Frage stellte. Also musste ich da weg.«

»Warum?«, von der Braut namens Jack, stirnrunzelnd und ein bisschen zu ernst.

»Wer weiß? Um dem Affendämon einen Schritt voraus zu sein. Die Zeichen waren deutlich.« Fitzgore kehrte zurück, sah sich nach allen Seiten um, stellte die drei Bierdosen auf den Tisch und verschwand, um noch etwas anderes zu holen. »Der Zeitpunkt war jedenfalls fast richtig.« Und hinter dem letzten Silberdollar im Rucksack lauerte das Verhängnis. »Lässt du noch die Kugel rollen, Heff?«

»Pssst! Mann, wenn sie das rauskriegen, schmeißen sie mich in Nullkommanichts raus.«

»Jemand Neues in der Verwaltung?«

»Eine Frau namens Susan B. Pankhurst. Vizepräsidentin für studentische Angelegenheiten.«

»Jungfrau?«

Ein Stöhnen von Heffalump, der zugleich mit einem Blick nach unten feststellte, dass Bier auf seine Jeans tropfte. Jack lachte und donnerte die Hand auf seinen Rücken, worauf er hustete. Kampflesbe vom Becken aufwärts. »Hast du schon eine Bleibe?«, fragte sie.

»Hab ich vorhin klargemacht, in der Academae Avenue, mit Fitzgore. Von einer englischen Braut übernommen.«

»Englisch?«

»Fitzgore?«, sagte Heff. »Ich denke, der ist in einer Verbindung?«

»Zum einen gibt es da was, das Memphis Slim mal die Mietsituation genannt hat. Zum anderen hat er eine Karre.«

Die Jukebox plärrte »Peggy Sue« – Buddy Holly mit Schluckauf.

Fitzgore stellte seine Teetasse ab und zerstieß mit dem Löffel die Zuckerwürfel darin. »Wann ziehen wir ein, Paps? Ich wohne noch immer im Verbindungshaus, und heute ist schon der zweite Unterrichtstag.«

Heff schlürfte an der Öffnung seiner Bierdose. »Ich schaue heute Abend mal da vorbei«, sagte Gnossos. Vielleicht kann ich ihr dieses fabelhafte Brusthaar auszupfen. Der Busen ist nicht der Rede wert, aber es ist verdammt lang her. Das Wichtigste sind die Beine. Ein kleiner Mitternachtsimbiss? Dolma mit Weinblättern, dazu ein bisschen Avgolemono, dann Moussaka? Ich brauche Metaxa. Und nachher was zu essen? Bei Fitzgores Verbindungsbrüdern?«

Peggy Sue grunzte sich durch den Refrain.

»Veranstaltet deine Verbindung einen Tag der Offenen Tür, Fitzgore?«

»Die ganze Woche ist Offene Tür. Vielleicht ganz gut, dass ich ausziehe.« Er drückt den Teebeutel mit der Gabel am Tassenrand aus. Frag ihn.

»Irgendeine Klausel, die Griechen ausschließt?«

»Ich glaube nicht.«

Dann fällt der Groschen, er lässt die Tasse sinken und sieht Gnossos über den Rand hinweg stirnrunzelnd an. »Warum? Was hast du vor?«

»Ach, mit ein bisschen ausgeliehenem Harris-Tweed, Daks und einer Regimentskrawatte dürfte ich wohl mehr als qualifiziert für das beste Haus auf dem Hügel sein.«

»Das haben wir vor zwei Jahren schon mal bei Delta-Phi abgezogen«, von Heff. »Er ist gut.«

»Ich bin famos. Geistreiche Konversationen, Gesellschaftsspiele, Scharaden, ich kann das griechische Alphabet aufsagen und das Fußvolk beeindrucken. In welchem Haus bist du?«

»Delta-Y. Aber –«

»Dikaia Hypotheke. Hervorragendes Motto. Inspirierend, könnte man sagen.« Schnell einen Schluck Bier, du spürst es schon, das Loch im Magen, die beißende Säure. »Ein Haus ohne Voodoo, wenn ich mich recht erinnere. Kein geheimer Handschlag, kein Hokuspokus, keine Rituale – nur eine ehrliche Vereinbarung unter Männern. Wer weiß, Fitzgore, vielleicht überkommt es mich und ich trete ein. Laufe in der Initiationswoche mit einem Propellermützchen herum oder ziehe auf dem Weg zur Vorlesung eine Quietschente hinter mir her.«

»Du bist doch nur auf das Gratisessen aus, Paps. Und wenn die das merken?«

»Was gibts denn? Filet mignon? Hummerschwänze in zerlassener Butter? Irgendwas Abgefahrenes, das mich beeindrucken könnte?«

»Und überhaupt – du hast hast nichts zum Anziehen.«

»Heff?«

»Ich hab einen Brooks-Anzug aus der Studentenwäscherei.«

»Na bitte.« Jack lachte wieder ihr Baritonlachen und rieb sich die Hände. Trotz allem attraktiv. Ob sie eine Zimmergenossin hat? »Hol mich bei Heff ab, sagen wir um sechs.«

»Herrgott, Paps, ich weiß nicht.«

»Sie werden begeistert von mir sein«, in den Rucksack, wo er nach etwas kramte, mit dem sich dieser Augenblick angemessen feiern ließe, nach einem Silberdollar und dem Feta, wobei er sich durch feuchte Hasenpfoten, Unterwäsche und die Ampullen mit Opiumtinktur graben musste. Er schraubte das Glas auf, brach vier Stücke von dem weißen Käsebrocken, hob sie über seinen Kopf und murmelte feierlich:

»Confiteor Deo omnipotente,

Beatra Pappadopoulis, semper virgini,

Beatra Pappadopoulis, semper paramus.«

Etwas Transsubstantiation. »Dies ist mein Leib, Leute.« Er schob die Bierdose in die Tischmitte. »Dies ist mein Blut.« Ziegenkäse, im Kupferkessel gekocht, Symbol der zickigen Zellen des Lebens. Mit geheiligten Händen legte er die Käsestücke auf die dargebotenen Zungen.

»Ich bin erlöst«, sagte Heff.

»Amen«, von Jack.

Gnossos schnippte den Silberdollar zu Fitzgore und sagte: »Ein ansehnlicher Teil meines Vermögens für mehr Blut.«

»Okay, wenn ich bei Tee bleiben darf.« Fitzgore stellte sich gehorsam an der Theke an und versuchte, sich mit dem Gedanken an das spätere Essen im Haus seiner Verbindung abzufinden. Jack starrte lächelnd und mit großen Augen. Vorsicht, sie könnte Heffs Braut sein. Gab schon genug Probleme mit den Bräuten von Freunden. Fitzgore war im Handumdrehen wieder da.

»Die nehmen ihn nicht.«

»Was?«

»Den Silberdollar.«

»Die nehmen ihn nicht?«

»Die Frau an der Kasse sagt, so was hat sie noch nie gesehen.«

Sofort sprang er auf, die Augen blitzten, der Parka über den breiten Schultern blähte sich wie der Umhang eines Magiers, Locken umkräuselten die Ohren. Marschierte an der Schlange vorbei, zwei Studentinnen, die gerade ihre Muffins bezahlen wollten, brachten ihre Slipperfüßchen vor seinen stampfenden Stiefeln in Sicherheit. Die Frau an der Kasse hatte ein Kartoffelgesicht und eine Haut wie Maisbrei. Er hatte sie in Hunderten Rasthäusern und Seitenstraßenhotels gesehen, in zahllosen Supermärkten und Ramschläden, mit gespitzten Lippen, in billigen Kleidern und schiefgetretenen Schuhen und nach Geheimnissen riechend, die man bei Woolworth kaufen kann. Alle Leidenschaft, die sie vielleicht mal gehabt hatte, war seit ungefähr zwanzig Jahren erloschen. Wer resigniert, ist mein Feind.

Die drei geöffneten Bierdosen und eine Tasse Tee standen neben ihr. Mit einem gewichtigen Klicken legte er den Silberdollar auf die Theke.

»Der gilt nicht«, sagte sie. »Hab ich dem anderen auch schon gesagt.«

»Was?«

»Nicht gültig.«

Er stützte beide Hände auf die Theke und beugte sich so weit vor, dass sie zurückweichen musste. »Ich bitte sehr um Ihre idiotische Verzeihung, aber der gilt SEHR WOHL, und SIE werden ihn nehmen.«

»Tut mir leid, junger Mann, aber –«

»Junger Mann? JUNGER MANN? WISSEN SIE EIGENTLICH, MIT WEM SIE ES ZU TUN HABEN?«

Im ganzen Lokal war es totenstill, an allen Picknicktischen fuhr man herum, um zu sehen, wer da brüllte.

»Ich bin König MONTEZUMA, verdammt, und das ist das Zahlungsmittel meines Königreichs.«

Die Frau sah sich hilfesuchend um und fingerte nervös an den Tasten der Kasse herum. Ihr Mund stand offen, die Ellbogen ruderten.

»Und sollten Sie sich weigern, die Münze meines Königreichs einzulösen, dann werde ich Ihnen das Herz rausreißen lassen, verstanden? RAUS RAUS RAUS aus Ihrem Körper!« Sie keuchte. »Auf der Spitze der Pyramide.« Sie wich zurück. »Und dann werde ich es verspeisen – ROH!«

Die beiden Studentinnen ließen ihre Muffins fallen und ergriffen die Flucht; die Frau an der Kasse war leichenblass.

Gnossos nahm die Dosen und den Tee und zischte: »Der Rest ist für dich, Baby. Kauf dir eine Wärmflasche.« Dann kehrte er zum Tisch zurück, wo sie rasch und unter dem vorsichtigen Gemurmel der anderen Gäste austranken, bevor sie in den bereits hereingebrochenen Abend hinaustraten, wo graue Schneeflocken vom Himmel fielen und die Ketten auf den Rädern der vorbeifahrenden Wagen leise klirrten.

ZWEI

Von einem Ende des bläulich getönten Campus zum anderen, vorbei an dem hohen beleuchteten Uhrenturm und die vielen, von den Spuren nachmittäglicher Tablett-Rodler gezeichneten Nebenhügel hinauf und hinunter, pendelten Wagen zwischen Wohnheimen, Verbindungshäusern und Lairville hin und her. Eine erwartungsvoll gespannte Atmosphäre lag in der urzeitlich stillen Spätwinterluft, ein Geruch nach Ozon, und überall sah man Kandidaten mit glänzenden Augen, die sich dieser neuen Komplexität gesellschaftlichen Umgangs stellten, nervös und aufgeregt über das Ende des Aufnahmestopps; endlich Gelegenheit, ein bisschen teilzuhaben an der weltmännischen Eleganz von Upperclass-Verbindungen. Die besten kutschierten in Thunderbirds und Corvettes, in MGs und Austin Healeys herum, und hin und wieder fuhr auch ein weißes Lincoln Cabrio vorbei, offen natürlich, einem windzerzausten Abenteuer entgegen. Der Feuerwehrwagen von Chi-Psi jagte voll besetzt und bimmelnd die Labyrinth Avenue hinunter. Alles Teil der in den vergangenen Wochen ausgebrüteten taktischen Finessen: Während der Semesterferien hatte man lange Stunden mit der detaillierten Auswertung gesammelter Informationen verbracht, Identitäten analysiert und auf Karteikarten katalogisiert: Name, Heimatort, Schulen, außerschulische Aktivitäten, Position des Vaters, Familieneinkommen, Vorfahren, Rasse, Religion, besondere Kennzeichen, Schneider (ggf.), Vorlieben, Abneigungen, Besonderes. Die 1A-Essenz der Sahne, abgesondert durch das Wirken der lautlosen Zentrifuge einer Gesellschaft von Blauäugigen. Derweil saß Gnossos auf der Rückbank eines viersitzigen Aston Martin, eingezwängt zwischen zwei Erstsemestern, Footballhelden aus Alexandria, Virginia, mit Androidenköpfen und Mündern, die, wenn sie etwas murmelten, athletisch gespannt waren, als hätten diese Burschen Paranüsse in den Backentaschen geparkt. Was läuft, Alter?

Für mich gibts keine Karteikarte. Ich bin befreit. Meine geheime Identität wird nie gelüftet, denn ich bin Plastic Man und daher imstande, mich durch einen mühelosen Willensakt in eine Bowlingkugel, ein Stück Bürgersteig, eine Tür, ein Korsett, einen Elefantenpariser zu verwandeln.

»Habt ihr noch ein paar Paranüsse?«

»Hm?«

»Paranüsse?«

»Hahaha, nee, ich nicht.«

»Hahaha, hab ich auch nicht angenommen.« Ein steifer Finger gegen seinen Adamsapfel, und er isst den Tod. Okinawa-Karate ist einfach ästhetischer. Er weiß nicht, wer sein Feind ist.

Sie bogen in die Auffahrt des Delta-Y-Hauses ein, wo in Harris-Tweed gekleidete Hausoffiziere bereits mit schüttelbereiten Händen und eingefrorenem Lächeln rechts und links der weit geöffneten Tür warteten. Heffs Anzug ist unbequem, er kneift an den Eiern. Gott steh mir bei, wenn sie meine St.-Louis-Socken sehen – die machen alles zunichte. Fühle mich beschickert, sollte ich aber nicht. In der Anzugtasche die mit Tinktur behandelten Zigaretten. Nett von Heff, dass ich seine Lampe zum Trocknen benutzen durfte. Muss aber was finden, wo ich die Dinger rauchen kann, vielleicht auf dem Klo. Pamela kommt später dran. Wird beim ersten Mal wohl nicht besonders darauf stehen. Da kommt Fitzgore. Oh, sieh nur, wie besorgt. Ganz ruhig jetzt, bloß etwas Geplauder: »Halli-hallo, Gorzy, wie gehts?«

»Ganz gut, Paps.« Ein Blick in die Runde, unbehaglich grinsend: zu viele Rollen auf einmal. Dann vertraulicher, halblaut murmelnd: »Hör zu, halt dich zurück, ja? Für die bist du einer, der die Uni gewechselt hat. Geh ein bisschen herum, lern ein paar Leute kennen, mach unverbindlichen Small Talk.«

»Wann gibts was zu essen?«

»Mann, typisch. In ungefähr einer halben Stunde. Aber du musst dich unters Volk mischen, dich vortasten.«

»Erst muss ich aufs Klo.«

»Herrgott. Oben, zweite Tür rechts.« Und dann ruft er hinterher: »Erster Stock, Paps.«

Von hinten nähern sich zwei Verbindungsbrüder – gerade noch geschafft. Überall Walnussholztäfelung, Ledersessel, Messing. Was finden die Leute bloß an diesem Tudorstil? Sieht allerdings gemütlich aus. Ah, das Klo ist frei.

Gnossos öffnete das Fenster, schloss die Tür der Kabine und setzte sich auf die Schüssel. Beide Joints waren noch etwas feucht, die Wärme der Glühbirne in Heffs schimmligem Zimmer hatte sie nur teilweise getrocknet. Er schwenkte sie ein bisschen, um den Vorgang zu beschleunigen, verlor die Geduld und zündete den ersten an, wobei er den Rauch so tief wie möglich einatmete und dreißig Sekunden in der Lunge behielt. Genießerisches Ausatmen, fast kein Rauch mehr. Jaaa.

Ja.

Noch ein Zug, nicht ganz so tief und lang, dann eine Reihe kurzer, bei denen er am Mundstück vorbei vernehmlich zischend Luft ansaugt. Erneut ausatmen.

Ummmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmm.

Der erste war geraucht. Gut. Absolut prima. Spar dir den zweiten auf, erhöhte Sensibilität heute Abend.

Langsam stand er auf, öffnete die Tür der Kabine und sah sein Gesicht im Spiegel. Sehr eigenartige Augen. Höchst sonderbar. Müsste was dagegen tun.

Oh.

Wäre ein schöner griechischer Wein jetzt nicht genau das Richtige? Wessen Zimmer ist das?