Begehrte Feindin - Lisa Gibbs - E-Book

Begehrte Feindin E-Book

Lisa Gibbs

4,9

Beschreibung

Was wäre, wenn dein Leben eine nicht endende, aussichtslose Flucht wäre? Was wäre, wenn dein Jäger auf bittere Rache sinnt und nicht ahnt, dass er einst die Liebe deines Lebens war? Was passiert, wenn er dich findet?   Zoe Parret ist eine Editorin. Sie kann geistig in die Köpfe anderer eindringen, Gedanken vernichten und Erinnerungen auslöschen. Seit dem Tod ihrer Eltern wuchs sie bei dem skrupellosen Wissenschaftler und Genetiker Dr. Lester Grey auf. Für ihn setzte sie ihre Gabe ein und zerstörte dadurch viele Leben und ihre erste große Liebe. Zoe wurde zu Greys rechter Hand und führte die Einheit SGU – Special Giftet Unit – in lebensbedrohliche Einsätze. Bis sie begreift, dass sie selbst nur eine Marionette in Greys teuflisch geschmiedeter Intrige war und sie sich niemals aus den Klauen ihres düsteren Geheimnisses befreien kann. Auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit muss sie sich ihrem Schicksal stellen, denn Emmet Carter, der hochintelligente Ex-Marine und Anführer der SGU, jagt sie bedingungslos. Er will Rache und endlich Erlösung von seiner Sehnsucht nach Zoe. Sie spukt durch seine Gedanken, als wäre sie die Frau, die schon immer für ihn bestimmt war. Wird es ihm gelingen, Zoe aus den vernichtenden Schlingen des Bösen zu befreien? Oder wiegt ihr Verrat so schwer, dass Emmet selbst zu ihrem Scharfrichter wird?

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Begehrte Feindin- Zoe und Emmet -

SGU 5

Lisa Gibbs

Begehrte Feindin – Zoe und EmmetLisa Gibbs

Copyright © 2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-UmstadtUmschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN Taschebuch: 9783864436406ISBN eBook-mobi: 9783864436413ISBN eBook-epub: 9783864436420

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Prolog 13. Juni 2003

Kapitel 1: 1. Dezember 2013

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Epilog

Prolog

13. Juni 2003

Zoes Herz pumpte aufgeregt, als sie sich wie ein kleines Mädchen unter dem Fensterbrett versteckte und verstohlen einen Blick durch die Scheibe riskierte.

Das schmiedeeiserne Tor klackte leise, bevor es sich in Bewegung setzte. Han Li, der Kampfsporttrainer, begleitete den Fremden die breite Kiesauffahrt hinauf zum Tor des alten Anwesens.

Sie rückte immer weiter nach oben, bis sie sich die Nase an der Scheibe platt drückte. Aber von dem Fenster der Bibliothek im zweiten Stock konnte man kaum etwas sehen. Der Fremde trug eine dunkle Mütze und schwarze Klamotten, es sah ein bisschen aus wie ein Trainingsanzug. Er war sehr groß. Han Li wirkte neben ihm wie ein kleiner, zierlicher Junge. Sie kamen dem Hauseingang immer näher. Währenddessen sprachen sie kein Wort miteinander. Das war etwas, das ihr so verhasst war an diesem Ort. Es wurde viel zu wenig das gesagt, was man dachte. Immer musste man die Klappe halten. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie den Kopf noch weiter zur Fenstermitte reckte, um dem Weg der beiden Männer zu folgen.

Auf einmal linste er unter der Kappe nach oben. Direkt zu ihr. Blaue Augen blitzten unter der Mütze hervor.

„Mist!“ Schnell duckte sie sich weg.

Ihr Puls raste. Es fühlte sich an, als wäre ein tiefer Donnerschlag durch sie hindurch gerauscht. Alles war wie elektrisiert. Sie hatte Gänsehaut, obwohl das Adrenalin ihr Blut zum Kochen brachte. Dieses intensive Blau seiner Augen hatte sie für diesen Sekundenbruchteil ganz und gar gefangen genommen. Sie kam sich vor, wie einer dieser dummen neugierigen Teenager aus dem College-Film, den sie in einem Kino gesehen hatte, als sie das letzte Mal ausgerissen war.

„Was ist passiert?“ Rachels Flüstern klang gehetzt und nervös. „Du bringst uns wieder einen Haufen Ärger ein.“

„Na, dann ist es ja nichts Neues.“ Zoe schob vorsichtig den Kopf nach oben und spähte noch einmal zur Einfahrt. Leer. Vielleicht hatte sie sich geirrt und der Typ hatte sie gar nicht gesehen. Auf jeden Fall durfte sie nichts riskieren. Man durfte hier genauso wenig unerlaubt durch Fenster spähen, wie seine Meinung sagen, oder ohne Aufsicht das Haus verlassen. Alles bedeutete Strafe kassieren.

„Komm, wir hauen ab.“ Sie rappelte sich auf und packte Rachels Hand. Hastig zog sie ihre Schwester in den Flur Richtung Wendeltreppe und linste nach unten. Die beiden Männer gingen in den Trainingsraum, der hinten an den Gang grenzte. Auch Rachel hatte dort oft Kampftraining.

„Hör auf damit“, flüsterte Rachel gereizt und zog ihre Hand weg.

Zoe rollte mit den Augen. „Kommt dir das nicht eigenartig vor?“, flüsterte sie aufgeregt. „Er ist der Einzige, der immer wieder kommt.“

„Wer er?“, flüsterte Rachel gereizt, während sie die Hände nach oben hob, um ihr zu bedeuten, dass sie das alles eigentlich gar nicht hören wollte.

So war es meistens. Wenn der Doktor etwas sagte, Rachel glaubte es. Aber Zoe kamen immer mehr Dinge merkwürdig vor. Seit ihrem vierten Lebensjahr lebten die Zwillinge bei Doktor Lester Grey, Professor der Genetik, in verschiedenen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung tätig, Inhaber von P.S. – Biogen Pharmazeutika. Auf Wunsch ihrer Eltern hatte er sie aufgenommen, als diese bei einem Hausbrand ums Leben gekommen waren. Sie sahen ihn selten, dafür strukturierte er ihren Tagesablauf komplett. Für alles gab es Pläne, selbst das Essen war festgelegt.

Sicher, sie hatten ihm viel zu verdanken. Sie durften auf diesem Anwesen wohnen und bekamen Privatunterricht. Ansonsten gab es aber nichts. Keine freien Entscheidungen. Ausflüge waren tabu, kein Kino, keine Restaurants, keine Freunde. Während Rachel für so ein Leben wie geschaffen schien, wurde es für Zoe immer bedrückender. Mittlerweile war es mehr Gefängnis als Zuhause, sie kam sich isoliert vor. Weshalb jeder Gast eine spannende Abwechslung bot. Immer wieder kamen Fremde auf das Anwesen etwa zwei Autostunden westlich von Boston entfernt. Sie wurden mit Limousinen hergebracht oder von Mitarbeitern eskortiert. Meistens blieben sie ein paar Tage, dann waren sie wieder verschwunden.

Als sie sechs Jahre alt gewesen waren, war ein jüngeres, blondes Mädchen über ein Jahr bei ihnen geblieben. Sie hatten mit ihr Zirkus gespielt und ihr bei den Turnübungen und Trainings zugesehen. Sie war zierlich und sehr sportlich gewesen. Sie hatte sich blitzschnell bewegen können. Eines Tages war sie wieder spurlos verschwunden.

Seit sie bei ihm waren, wiederholte der Doktor immer wieder, dass sie besondere Eigenschaften besaßen, auf die die Welt da draußen noch nicht vorbereitet war. Und er sie schützen müsse. Das war das Problem, man konnte nicht mit jemandem diskutieren oder Vorwürfe machen, wenn alles unter dem Deckmantel des Schutzes ablief.

Bei Rachel nannte Grey es das pflanzen, sie konnte in fremde Gedanken eindringen und etwas Neues darin erschaffen.

Bei ihr war es das Gegenteil. Sie löschte Erinnerungen. Grey nannte es editieren. Für sie war dieser Zustand normal, sie waren damit aufgewachsen. Als sie kleine Kinder gewesen waren, hatten sie sogar damit experimentiert und ihre Fähigkeiten gelernt, wie Lesen oder Schreiben. Erst bei Grey wurde daraus etwas Besonderes, das er mit ihnen erforschte. Er hatte ihnen vor Augen geführt, wie gefährlich sie mit diesen Fähigkeiten für normale Menschen werden konnten. Dann hatte er sie damit eingesperrt. Zumindest sah sie das so.

Rachel fühlte sich beschützt.

Sie hingegen fühlte sich mittlerweile bevormundet und kontrolliert.

Rachel stieß ein leises Zischen durch die Zähne, um sie aufzuhalten. Zoe achtete nicht darauf. Sie schlich die Treppen hinunter und ignorierte das vehemente Zischen. Sie musste sich schon alles andere vorschreiben lassen, wenigstens hier drin hatte ihr niemand was zu sagen.

Vorsichtig ging sie durch den Flur, am Eingang der Halle vorbei, zu den Umkleiden. Dahinter kam man in eines der Lager. Das Tor zur Halle war offen, wahrscheinlich hatte der Trainer Geräte herausgeholt.

Zoe wollte es nicht darauf ankommen lassen, entdeckt zu werden, weil Greys Strafen heftig waren. Während er Rachel oft mit Nichtachtung strafte, griff er bei ihr zu härteren Mitteln. Komplette Isolation, eine Art Einzelhaft, er nannte es Hausarrest.

„Mr. Carter, pünktlich wie immer.“ Die Stimme des Doktors durchbrach die Stille.

Erschrocken zuckte sie zusammen. Obwohl sie hinter den Geräten nicht zu sehen sein konnte, rieselte Angst durch ihre Venen.

„Das hat wohl kaum was mit mir zu tun“, erwiderte Carter.

In seiner tiefen Stimme schwang ein einprägsamer Cocktail aus unterschiedlichen Nuancen mit. Es lag am Klang, er war kraftvoll, sie mochte das dunkle Timbre. Gleichzeitig sagte er das sehr klar, selbstbewusst, und trotzdem schwang ein Hauch Sarkasmus mit. Er schlug Grey gegenüber einen Ton an, den sie sich gern getraut hätte. Sie musste grinsen.

„Ich kann mir vorstellen, dass diese Treffen anfangs, wie soll ich sagen …“, Grey zögerte, weil er die richtigen Worte suchte.

Sie hatte ihn noch nie so sprechen hören, er klang beinahe vorsichtig. Ihr Herz schlug immer schneller. Einerseits, weil ihr die Gefahr, entdeckt zu werden, sehr bewusst war. Andererseits war das hier sehr spannend. Noch niemals hatte sie jemand mit seiner Präsenz so in den Bann gezogen wie Carter. Allein die Tatsache, dass sie nun einen Namen zu dem unbekannten, geheimnisvollen Kandidaten hatte, war aufregend.

„… anstrengend waren. Aber sehen Sie sich an. Es zeigt Wirkung“, fuhr Grey fort.

„Ach wirklich?“ Die Pause, die er süffisant setzte, war köstlich. „Die Spritzen oder die Psychomasche?“, fragte er.

Reflexartig schlug sie sich die Hand vor den Mund.

Hatte er das wirklich gesagt?

O Gott.

„Neu ist der Hirnstromspektograph, der die Messungen projiziert.“ Grey klang kühler, aber er war einfach über die Frechheit hinweg gegangen. Wenn Rachel oder sie sich so etwas erlaubt hätten, hätte er sie längst angeschrien und bestraft.

Zoe linste vorsichtig um die Ecke. Carter zog sein Base Cap vom Kopf und strich durch seine blonden Haare. Ein regelrechtes Feuerwerk stob in ihr auf, als sie seine tiefblauen Augen aufblitzen sah. Er sah unglaublich gut aus. Er war groß und hatte sehr breite Schultern, wie ein Schwimmer. Volle Lippen, sonnengebräunte Haut, als würde er viel Zeit draußen verbringen. Ein leichter Bart betonte seine markanten Kieferknochen. Er hatte ein breites Lächeln, es wirkte frech und gleichzeitig ansteckend. Noch spannender war die Wirkung, die er nach außen hatte. Er hatte diese sexy, rebellische Miene. Als könnte ihm der Rest der Welt gestohlen bleiben, weil er in sich ruhte. Gleichzeitig schwang etwas sehr Gefährliches mit, als würde ihn ein düsteres Geheimnis umgeben. Er sah unwiderstehlich aus. Wahrscheinlich wusste er das auch.

Das Licht wurde gedimmt und eine Projektion angeschaltet. Grüne Linien bildeten sich kreisförmig um Carters Körper. Als stünde er in einem Glaskubus, auf dem verschiedene Filme liefen. Genaueres konnte sie auf die Entfernung kaum erkennen, aber eine Linie wie die eines EKGs zuckte regelmäßig nach oben. Sie wäre zu gern näher rangegangen, weil sie für so etwas Feuer und Flamme war. Alles was mit Wissenschaft und Medizin zu tun hatte, verschlang sie regelrecht.

Carter schien das zu kennen. Schweigend blieb er stehen. Er wirkte locker, entspannt. Mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung griff der Sporttrainer Carter an. Blitzschnell wehrte Carter ab. Die beiden Männer bewegten sich so gezielt in dem Nahkampf, als wäre es eine geprobte Choreografie. Die projizierten Bilder flossen schneller, zumindest kam es ihr so vor. Sie konnte den Manövern kaum folgen, Tritte, Schläge, immer wieder ein kurzes Geräuschbruchstück. Auf einmal wirbelte Han Li durch die Luft, er durchbrach die Projektion. Carter sprang hinterher und landete neben dem zu Boden gegangenen Han Li. Mit einer Handkante an seinem Hals hielt er den Trainer auf dem Hallenboden in Schach. Han Li trainierte auch Rachel. Han war Chinese, der nur bei Trainings in Erscheinung trat. Er sagte nie ein Wort, sondern befolgte stur einen Trainingsplan. Zoe hatte ab und zu bei Rachels Trainings zugesehen, verbotenerweise. Aber sie hatte den Kampfsporttrainer noch niemals so schnell zu Boden gehen sehen.

„Perfekt.“ Greys Stimme zerrte sie aus ihren Gedanken.

Erschrocken zog sie sich zurück. Grey hatte nur dieses eine Wort gesagt, aber das hatte ihr einen kalten Schauder über den Rücken gesandt. Weil es so endlich klang, als wäre er zufrieden. Sie hatte ihn noch niemals so gehört. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig. Sie traute sich nicht mehr, um die Ecke zu linsen, stattdessen kauerte sie sich zusammen, und versuchte, wieder ruhig zu werden.

Einen Moment war nichts zu hören, dann ein kurzes Klatschen. Als hätten sich die Männer abgeklatscht, wie bei einem sportlichen Wettkampf.

Wenig später hörte sie, wie sich Han Li und Carter in einer fremden Sprache unterhielten. War das Chinesisch?

Schritte näherten sich dem Lager, in dem sie sich in eine Ecke drängte.

„Ein verdammt mieses Versteck“, flüsterte Carter. Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. „An deiner Stelle wäre ich vorsichtig, Han wird dich bald bemerken.“

Mist.

„Ich verstecke mich nicht“, kam aus ihr rausgeschossen, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen, sie brachte sich nur Ärger ein. Sie war zu neugierig und zu stolz, um sich weiter in die Nische zu drücken, also linste sie zu ihm.

„Aha“, schmunzelte er, mit vor der Brust verschränkten Armen.

Sie fühlte sich sofort herausgefordert. Durch alles an ihm. Durch seine Art, seinen Gesichtsausdruck, sein Aha.

„Die kleine Hexe.“

Er war nicht der Erste, der eine Bemerkung über ihre flammend roten Haare machte. Als sie abgehauen und bei ein paar jungen Typen im Auto mitgefahren war, hatte sie viele Sprüche kassiert, die sie aber mehr oder weniger kalt gelassen hatten. Aber bei seinem Kommentar kochte ihr Puls sofort auf hundertachtzig. Nicht wegen der Hexe, sondern weil es sich so überheblich anhörte, als sei sie ein kleines, unerfahrenes Mädchen. „Mein Name ist Zoe“, flüsterte sie mit Nachdruck, während sie sich immer mehr aus der Deckung lehnte.

„Okay Zoe, und was machst du hier?“ Er warf einen Blick über die Schulter zu dem Trainer.

„Ich wollte nur sehen, für wen sich Grey so viel Zeit nimmt.“

Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

„Und?“ Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu und grinste sie dabei schief an, weiße Zähne blitzten auf.

„Nichts besonderes, außer ein eingebildeter Kerl“, platzte es aus ihr raus. Sie fühlte Hitze in ihr Gesicht steigen. Es war nicht nur die Tatsache, dass er sie entdeckt hatte. Es war seine ganze Art.

Er lachte leise und zog seine Augenbrauen nach oben. „Und du bist mir leider zu jung.“ Er grinste breit, bevor er sich umdrehte und sie perplex zurückließ.

Gott. Wie rot konnte man werden?

Nicht, weil sie sich ertappt fühlte, sondern weil ihr kein Konter mehr eingefallen war. Noch niemals hatte sie sich in einem Schlagabtausch so befangen gefühlt. Dieses Selbstbewusstsein, das dieser Mann ausstrahlte, war gewaltig. Und wenn sie sich nicht so provoziert gefühlt hätte, wäre ihr sein Lächeln auf freche Weise charmant vorgekommen.

Schnell drehte sie sich weg und versteckte sich wieder hinter einem Pfosten, als sich Han Li umdrehte und in ihre Richtung sah. Carter ging auf ihn zu und sagte etwas zu ihm, was irgendwie beruhigend klang, auch wenn sie kein Chinesisch verstand.

Das war alles unglaublich. Sie kam sich vor wie im falschen Film. Carter schien genauso ein Gefangener zu sein, wie Rachel und sie, aber bei ihm wirkte das anders. Carter war größer, schneller und kampfstärker als alle, die sie bisher gesehen hatte. Han Li eingeschlossen. Jemanden wie Carter konnte man gar nicht einsperren, schoss ihr durch den Kopf. Trotzdem war er hier. Locker schlenderte er neben dem Kampfsporttrainer hinaus.

Wer um Himmels willen war er?

„Wo bist du gewesen?“, fragte Rachel, während sie sie mit aufgerissenen Augen ansah.

Zoe ging in das gemeinsame Zimmer und ließ sich auf ihr Bett fallen.

„Hat Grey dich gesehen?“

Zoe schüttelte den Kopf.

Rachel atmete auf. „Was hast du dann so lange gemacht?“

„Ich habe mir den Besuch genauer angesehen.“

„Halte dich da raus“, flüsterte Rachel, als hätte sie sie zu einer ungewollten Vertrauten eines Verbrechens gemacht.

Zoe brummte ein zustimmendes Geräusch, um einem Streit aus dem Weg zu gehen. Sie hatte Rachel oft in Schwierigkeiten gebracht. Aber ihrer Meinung nach waren sie zu jung, um ihr Schicksal eingesperrt auf diesem Anwesen zu fristen. Alles hier war reglementiert. Es gab keinen Kontakt zur Außenwelt, also hatte sie sich ein paar Mal welchen verschafft und Rachel mitgenommen.

Grey hatte sie gefunden und bestraft.

Deshalb witterte Rachel hinter allem, was sie tat, eine neue Katastrophe.

Zoe drehte sich um und verfolgte ihren Gedanken weiter.

Carter war häufig hier gewesen. Ihrer Rechnung nach wurde er alle sechs Monate gebracht. Bislang hatte sie immer nur beobachtet, sich versteckt, um still und heimlich eine Regelmäßigkeit in Greys merkwürdigen Treffen zu finden. Dieses Modell mit Carter war neu. Grey schien viel an seiner Forschung mit ihm zu liegen. Ein Hirnstromspektograph … Grey hatte auch mit Rachel und ihr viele Tests gemacht. Manche davon waren sehr schmerzvoll gewesen. Er sagte immer, dass man seine Gaben kennen musste, um sie richtig einsetzen zu können. Ansonsten wären sie nicht in der Lage, einen Tag in der Welt draußen zu überleben.

Für Zoe fühlte es sich so an, als wären sie Monster.

Carter war definitiv anders, so wie sie. Er bewegte sich geschmeidiger, beinahe lautlos. Dann diese auffallende Präsenz, die er ausstrahlte, und der stechende Blick mit diesen klaren, blauen Augen. Die gesteigerte Geschwindigkeit und die Kraft, die sie im Kampf gesehen hatte. Greys Hirnstrommessung. Und dann die Art, in der Grey mit ihm gesprochen hatte. Sie war schon lange sicher, dass Grey ihnen etwas vorenthielt, Carter war da nur Zunder für ihr Feuer. Grey hielt sie hier versteckt als wären sie unfähig draußen unter normalen Menschen zu überleben, aber wo lebte dann Carter? Wo war der Unterschied?

Vielleicht sollte sie alles pragmatisch sehen. Grey war mit Carter beschäftigt, der optimale Zeitpunkt, um auszubrechen und sich selbst ein Bild von der Welt zu machen.

Training oder Sitzung, sie nannten es immer anders, obwohl es immer dasselbe war.

Emmet saß in dem abgedunkelten Wagen, während der Sicherheitsmann die Auffahrt zum Tor hinunterfuhr. Jedes Mal ein anderes Gesicht, nur zwei oder drei Mal hatte er denselben gesehen. Der Doc schien eine ganze Truppe seltsamer Söldner zu beschäftigen. Männer, die nichts sagten, aber in deren Augen permanent Misstrauen lag. Der Einzige, der kontinuierlich da war, war Han Li, der Chinese.

Drei, zwei, eins … in Gedanken zählte Emmet den Countdown der Zeitschaltung herunter. Ab jetzt setzte ein Virus den computergesteuerten Schließmechanismus des Tores außer Kraft. Der Fahrer drückte auf den Touchscreen des Autocomputers, um das Tor zu öffnen, und raufte sich die Haare, als nichts passierte.

Emmet wusste nicht, was Grey in solch einem Fall für Regeln aufgestellt hatte, aber er rechnete damit, dass sie zum Hauptgebäude zurückfahren würden. In dem Chaos hatte er ein paar Minuten gewonnen, in denen er sich frei im Haus bewegen konnte.

Seit er drei Jahre alt war wurde er alle sechs Monate abgeholt und zu Dr. Grey gefahren. Jedes Mal gab es Untersuchungen, Trainings, Spritzen … Er hatte keine Ahnung, weshalb oder wozu. Grey beantwortete keine Fragen, sondern wich ihm aus. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass er spezielle Begabungen hatte und Grey darum bemüht sei, ihm zu helfen. Grey wolle die überdurchschnittlichen Werte erforschen. Herausfinden, warum Emmet leistungsfähiger und stabiler war als alle anderen Menschen. Aber dabei hatten sie ihn nicht angesehen, als wäre es eine Gabe. Eher, als wäre er ihnen fremd geworden oder unheilbar krank. Eine unangenehme Last, sobald seine Fähigkeit an die Öffentlichkeit kam.

Wie ihnen die Absonderlichkeit ihres Kindes bereits aufgefallen war, als Emmet drei war, hatte er nie gefragt. Je älter er wurde, desto mehr versuchte er, die Gabe zu verstecken. Aber auch wenn er die Fragen nach außen unterdrückte, wuchs der Drang, endlich die Wahrheit zu erfahren. Seinen Eltern zuliebe hatte er die ganze Zeit mitgespielt. Familienabende mit Karten- oder Strategiespielen wurden zu einer Farce, selbst wenn er versucht hatte, zu verlieren, sahen sie ihn seltsam an. Eine Runde Basketball mit seinem alten Herrn war demütigend für sie beide. Lange hatte er gehofft, dass sie recht behielten und Grey seinen Zustand bessern konnte, aber das Gegenteil war der Fall. Er wurde stärker, schneller, sein Gehirn kam ihm vor, wie ein unzerstörbarer Motor, der ihn nie abschalten ließ.

Bei seiner Schwester Rose gab es dieselben Symptome, aber sie war fast blind. Es war schrecklich, dass er mittlerweile so dachte, aber dieses Handicap schützte sie und er war beinahe froh, dass ihr der ganze Mist erspart blieb. Seine Eltern und er hatten sich darauf geeinigt, vor Rose Stillschweigen über Greys Forschung zu bewahren. Wenn er abgeholt wurde, dachte seine Schwester, dass er zum Training ging.

Der Fahrer zog sein Smartphone aus der Tasche. Er telefonierte kurz und sah dabei angespannt aus dem Fenster.

Emmet konnte seine Lippenbewegung durch das Sicherheitsfenster nicht erkennen, ansonsten hätte er ablesen können, was passieren würde. Der Fahrer legte auf, wendete den Wagen und fuhr zum Anwesen zurück.

„Es verzögert sich kurz.“

Der Fahrer forderte ihn auf, ihm zu folgen. Im Eingangsbereich wartete Emmet, bis der Mann wieder vom Telefon abgelenkt war, dann ging er in die erste Bibliothek. Vor seinem inneren Auge baute sich der lückenreiche Grundriss des Gebäudes auf. Jahr für Jahr hatte er Informationen abgespeichert. Welcher Mitarbeiter ging wohin. Durch jeden offenen Türspalt hatte er gespäht, um nach und nach einen groben Überblick zu bekommen. Immer wenn er hergebracht wurde, schien der Ablauf genau getaktet zu sein. Training in der Halle, Untersuchung in einem sterilen Raum im Erdgeschoss. Nie war er nach oben gekommen. Außerdem hatte er kein Arbeitszimmer, Labor oder gesammelte Aufzeichnungen gesehen.

Grey forschte, er war Professor der Genetik und Firmeninhaber. Dieser Mann musste einen Computer haben, in dem er seine Forschungsergebnisse dokumentierte. Dieses Anwesen war teuer, was steckte hier noch drin? Grey besaß einen Hirnspektographen. Emmet hatte in Forschungsveröffentlichungen von diesen Geräten gelesen, aber keines der aufgeführten Beispiele ähnelte dem, den er gerade bei Grey erlebt hatte. Er hatte den Eindruck, als hätte er erst die Spitze des Eisberges gesehen. Grey wusste, was los war, aber er machte absichtlich ein Geheimnis daraus.

Von der Bibliothek gingen zwei weitere Türen ab, doch bevor er eine davon öffnen konnte, hörte er leise Schritte hinter der linken.

Verdammt, er konnte jetzt nicht aufgeben, das war der perfekte Augenblick, um endlich mehr herauszufinden.

Leise wartete er hinter der Tür, bis die Person in die Bibliothek gekommen war.

Klein, zierlich, schwarze Jacke, Mütze.

Ein kaum wahrnehmbares Ausatmen, wie ein schüchternes Seufzen, verließ ihre Kehle. Er wusste genau, dass sie sich auf die Lippen biss, obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Für einen unvorsichtigen Augenblick schloss er die Augen und atmete ein. Dieser Geruch nach wilder Zeder, Pfeffer und einem unwiderstehlichen Hauch Kirsche. Er hatte keine Ahnung, welche Nuancen noch mit reinspielten. Aber dieser Duft hatte ihm schon vorhin Bilder in den Kopf gejagt, die weit entfernt von der Realität waren. Als hätte er ein schwarzes Loch entdeckt, durch das er für Sekunden in eine spannende, unentdeckte Welt abtauchen konnte.

„Vor wem versteckst du dich diesmal?“, flüsterte er.

Ruckartig drehte sie sich zu ihm um. Wieder lag dieser feste, unnahbare Ausdruck auf ihrem Mund. Aber er sah ihren Lippen an, dass sie voll und weich waren und nur darauf warteten, frech zu werden.

„Du?“

Sie sah ihn an, als hatte sie mit weiß Gott wem gerechnet, nur nicht mit ihm. Beinahe hätte er geschmunzelt, aber die Stimme des Fahrers war vom Flur aus zu hören. Der Mann suchte nach ihm, er hatte wertvolle Zeit verloren. Blitzschnell packte er ihren Arm und zog sie zwischen die Regale. Sie hatte ebenso geflüstert wie er, außerdem hatte sie versucht, so leise wie möglich hierher zu schleichen. Sie versuchte ebenso wie er, unbemerkt hier durchzukommen.

Am Ende des schmalen Ganges blieb er stehen, packte sie an den Schultern und sah sie an. „Du lebst hier?“

„Ja, wieso?“

Sie sah ihn irritiert an, ein weiches Gefühl strich um seine Hände, als wäre es etwas Besonderes, sie zu berühren. Sie folgte seinem Blick zu seiner Hand, die ihre Schulter hielt.

„Ich verstecke mich nicht, ich möchte nur …“ Sie schüttelte seine Hand ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

Keine Ahnung, ob er sie aus dem Konzept brachte, sie schaffte es bei ihm auf jeden Fall.

„Ich wollte nur mal wieder einen Abend außerhalb dieses Universums verbringen“, rechtfertigte sie sich.

Sie streckte ihr Kinn nach oben und sah ihm fest in die Augen. Heterochromie, er hatte von diesem Phänomen gelesen. Ein genetisches Merkmal. Ein Auge blau und eins braun, diese Anomalie war an sich schon spannend. Aber bei ihr brachte ihn das weniger aus dem Konzept als ihr Blick. Er hatte noch niemals so wahnsinnig fesselnde große Augen gesehen. Auf der einen Seite wirkte sie durch das blaue Auge kühl und unnahbar, kalt wie Eis. Auf der anderen wärmte das intensive Braun jedes Wort, das aus ihrer Kehle kam.

Die Stimmen auf dem Flur wurden lauter.

„Hinter dem Gewächshaus“, flüsterte er, während er im Kopf die Entfernung der Verfolger maß. Es gab im Eingangsbereich Fliesen, während im Flur Holzdielen verlegt waren. Er konnte an den Schritten hören, wann die Männer, mittlerweile zählte er drei, die Grenze zum Flur überquerten. Dann hatte er nur noch knapp sieben Sekunden Zeit.

Zuerst forschte sie in seinem Blick, ob sie ihn richtig verstanden hatte, dann nickte sie.

„Heute um Mitternacht. Ich zeige dir wie du rauskommst, dafür hilfst du mir“, flüsterte er, während er das Knarzen des Holzbelags hörte.

„Wie?“, fragte sie irritiert.

Er hob einen Finger an die Lippen und ging rückwärts in die Bibliothek zurück.

Fünf, vier …

Mit einer Hand fischte er ein Buch von Jean Piaget aus dem Regal.

Zwei, eins.

Einen Wimpernschlag bevor sich die Tür öffnete, setzte er sich auf das schwere Ledersofa mit dem geöffneten Buch auf den Beinen. Er wartete einen Augenblick, dann sah er von der Seite auf und blickte in das irritierte Gesicht des Fahrers und zwei anderen Männern.

„Fertig?“, fragte er.

Sie hatten Grey nicht Bescheid gegeben. In ihren Gesichtern stand Schweiß, sie waren nervös, wahrscheinlich wurde hier jede Ungenauigkeit bestraft.

War das der Grund für Zoes Flucht?

Zehn Minuten später saß er wieder in dem schwarzen Wagen. Sie fuhren durch das Tor, an dem sich schon zwei Techniker zu schaffen machten.

Er lehnte sich zurück und sah durch die abgedunkelten Scheiben, dass sie die gleiche Route nahmen wie immer. Zweieinhalb Stunden fuhren sie zurück nach Boston. Jeder normale Mensch hätte in dieser Zeit die verfluchte Scheibe runtergefahren und sich unterhalten. Aber der Fahrer starrte wie jeder andere vor ihm stur geradeaus.

Es war seltsam, aber er bekam kaum einen klaren Gedanken zustande. Die meiste Zeit erinnerte er sich mit einem Lächeln auf den Lippen an Zoe. Selten fand er etwas wirklich fesselnd oder faszinierend. Vieles war logisch erklärbar, erlernbar oder einfach verständlich für ihn. Aber das spannungsgeladene Kribbeln, diese tiefe Unruhe, als er sie gesehen hatte, hielt ihn gefangen.

Der Fahrer setzte ihn zu Hause vor der Tür ab.

Was seine Eltern den Nachbarn erzählt hatten war ihm ein Rätsel. Aber wahrscheinlich fiel das unter irgendeine Army-Spekulation. Verschiedene Unis hatten es nach dem College auf ihn abgesehen gehabt, er galt als begabt. Sein Vater erzählte jedem, dass er trotzdem zur Army gehen würde. Auf die West Point Militärakademie, weil er bodenständig geblieben sei. Sein Vater hatte ihn nie gefragt, was er eigentlich wollte.

Genauso wenig erkannten sie Roses Potenzial, die erstklassige Noten nach Hause brachte.

Zoe … unwahrscheinlich, dass sie Greys leibliche Tochter war, sie sah ihm nicht ähnlich. Aber warum versteckte er sie sonst? Er hatte sie noch nie zuvor dort gesehen, aber er bildete sich ein, dass er ihren Blick oft gespürt hatte. Es war wie ein siebter Sinn, aus diesem Grund hatte er auch nach oben gesehen, als er zum Training gekommen war. Er spürte ihre Nähe und jetzt konnte die Zeit nicht schnell genug vorübergehen, damit er wieder dorthin fahren konnte.

Das Gewächshaus war ihm auf einem Luftbild aufgefallen, das er im Netz gefunden hatte. Mehrmals war er nachts aufgebrochen und hatte versucht, sich Zugang zum Anwesen zu verschaffen. Die Sicherheitsmaßnahmen rund um das Gebäude waren immer schärfer geworden. Anfangs waren die Mauern nur mit Kameras versehen gewesen. Mittlerweile gab es intelligente Bewegungsmelder, die abscannten, um wen oder was es sich bei dem Eindringling handelte. Wieder eine Technik, die auf Militärforschung schließen ließ.

Er hatte ein paar Mal darüber nachgedacht, bei Greys Firma nachzuforschen. Der einzige Grund, weshalb er sich so viel Zeit bei der Geschichte ließ, waren seine Eltern. Er wusste nicht, welchen Deal sie mit Grey hatten, aber er wollte ihnen nicht schaden und er spürte, dass es ihnen wichtig war, dass er kein Treffen mit dem Professor versäumte. Weshalb auch immer.

Als er die Tür aufgeschlossen hatte, rief er, dass er daheim sei, bevor er auf sein Zimmer ging.

Nach dem College war er, dem Wunsch seines Vaters entsprechend, auf die West Point gegangen. Obwohl die Kadetten auch zwischen den Semestern weitere Kurse absolvieren mussten, war er freigestellt worden, um zu den Treffen zu Grey zu fahren.

Es war seltsam, zu Hause zu sein, ohne es wirklich zu wollen. Er wollte keine Extrabehandlung, lieber wäre er, wie die anderen Kadetten, zu einer Prüfung gefahren.

Nicht einmal Rose war da. Sie war dem Wunsch ihrer Eltern zum Trotz auf eine Kunst-Uni gegangen. Eine blinde Malerin, hatte sie gesagt, wäre eine Herausforderung für diese Gesellschaft. Emmet musste immer noch schmunzeln, wenn er sich die Gesichter seiner Eltern in Erinnerung rief, als Rose ihnen ihr Statement abgeliefert hatte. Rose hatte alles richtig gemacht.

Seine Mutter kochte das Abendessen. Emmet roch den Maisbrei, den sein Vater mochte.

Sie hatten sein Zimmer so belassen, wie er es verlassen hatte, obwohl er ihnen gesagt hatte, dass sie es gern für ihre Zwecke umfunktionieren sollten. Aber jetzt war es hilfreich, dass er seine Sachen noch genau da fand, wo er sie zurückgelassen hatte. Er packte die Drohne und sein Tablet in den Rucksack. Dann suchte er den kleinen Knopf, den er gebaut hatte. Schon sehr früh hatte er sich für verschiedene Fächer interessiert. Seine Eltern hatten ihm neben dem alten Schuppen auf dem Gelände, in dem er sein kleines Labor untergebracht hatte, auch jede Freiheit im Obergeschoss gelassen. Hier oben fand man auf dreißig Quadratmeter verstreut, tausend technische Spielereien, mit denen er sich nebenher beschäftigt hatte. Unter anderem auch diesen kleinen Knopf, der gleichzeitig Sender und Empfänger war. Er hatte es mit dreizehn als Herausforderung gesehen, ihn so klein wie möglich zu entwickeln. Mittlerweile war er nur noch stecknadelkopfgroß, man klemmte ihn mit einer dünnen Verbindung am Ohrknorpel fest. Das Material war rosa, sodass man es bei einem hellen Teint anwenden konnte. Verdammt, er hatte weniger Probleme gehabt, dieses Teil zu entwerfen, als eine passende Verpackung dafür zu finden. Letztlich entschied er sich für eine Streichholzschachtel, in die er einen Zettel packte. Darauf stand – steck es an dein Ohr, kleine Zoe.

Er musste schmunzeln, als er die kurze Nachricht schrieb, weil er wusste, dass sie sich über das Wort klein ärgern würde.

Seine Mutter rief ihn zum Essen. Er packte die Streichholzschachtel ein und ging runter. Dieselbe Situation, als wäre er nie weg gewesen. Fragen nach seinen Noten – gut, wie immer.

Sein Vater fragte: „Nur gut?“

Emmet wechselte das Thema, er unterhielt sich mittlerweile lieber über die Rosen seiner Mutter, als über seine Leistungen. Seine Eltern waren ihm immer fremder geworden. Er hatte keine Ahnung, ob das bei jedem Menschen so war. Aber ihm kam es so vor, als ginge es insbesondere seinem Vater nur noch darum, wie gut sein Sohn wurde. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er einmal zu einem Footballspiel gekommen wäre, als immer dieselbe Frage am Küchentisch zu hören.

Nur gut?

Einerseits war sein Vater hoffnungslos überfordert mit ihm, andererseits verlangte er die besten Leistungen. Es war schizophren und es nervte ihn maßlos.

Um kurz vor zehn schlich er sich aus dem Haus, um keine Fragen beantworten zu müssen. Er nahm den alten Pick-up, den er selbst vom Schrott geholt und repariert hatte, und fuhr die Strecke in knapp zwei Stunden zurück.

Er parkte in Sichtweite zum Grundstück auf der Seite des Zauns, hinter dem er das Dach des Gewächshauses erahnen konnte. Er stieg auf die Ladefläche und band die Streichholzpackung an die Drohne. Mit dem Tablet konnte er die Drohne steuern. Die Lichter hatte er ausgeschaltet, stattdessen flog sie mit Infrarot. Dieses Licht war nur auf kurze Distanz erkennbar. Er hatte die Drohne genommen, die am leisesten war. Dafür war die Kamera schlecht aufgelöst und sie konnte wenig Gewicht tragen, aber es reichte aus.

Um kurz vor zwölf startete er die Drohne von der Ladefläche aus und ließ sie Richtung Zaun fliegen.

Zoe liebte dieses Pulsieren in den Adern. Es gab nichts Berauschenderes als etwas Verbotenes zu tun. Gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass sie sich auf Carter freute. Nicht nur, weil sie die Hoffnung hatte, dass er sie hier raus bringen konnte. Sondern weil sie ihn mehr als spannend fand.

Sie kannte die Routen der Wachmänner wie ihre Westentasche, deshalb hatte sie nur knapp zehn Minuten bis zum Gewächshaus gebraucht, aber weiter kam sie ohne fremde Hilfe nicht. Jetzt stand sie mit klopfendem Herzen an der kalten Glasfassade und starrte den Zaun an. Wie wollte er hier rein kommen?

Mit jeder Sekunde, die verging, schlug ihr Puls schneller. Dann hörte sie ein leises Brummen. Sie blinzelte, um erkennen zu können, was über den Zaun geflogen kam. Auf dem Vordach der Gewächshaustür landete ein dunkler, ungefähr zwanzig Zentimeter großer, ovaler Körper mit Propellern. Auf Zehenspitzen kam sie gerade so an das Ding ran. Sie nahm es an sich und entdeckte die kleine Streichholzschachtel. Vorsichtig stellte sie die Drohne neben sich ab, löste das Band und nahm die Schachtel. Plötzlich ging die Drohne wieder an und flog über den Zaun zurück.

Sie ging ins Gewächshaus und kauerte sich neben die Tür, bevor sie die Schachtel öffnete. Ein kleiner Gegenstand fiel aus der Schachtel, als sie den Zettel herausfischte. Sie kramte auf ihrer Jacke und fand einen kleinen, hautfarbenen Knopf.

Nachdem sie den Zettel gelesen hatte, stieß sie Luft durch die zusammengepressten Lippen.

Kleine Zoe … was dachte der sich eigentlich?

Sie steckte den Knopf in ihr Ohr, der schmale Steg passte genau um den Knorpel.

„Hallo“, flüsterte sie.

„Hey“, antwortete er.

Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie konnte nichts dagegen machen, es war der Klang in seiner Stimme, dieses warme, weiche Gefühl, das sich in ihren Bauch legte. Für einen Augenblick herrschte Stille. Sie biss sich auf die Lippen.

„Alles okay?“, fragte er.

Wahnsinn, dieses Ding war unfassbar klein, trotzdem hörte sie ihn glasklar. Klar war alles okay, ein bisschen enttäuscht war sie trotzdem. Nicht, dass sie erwartet hatte, gleich heute auszureißen, aber zumindest hatte sie gehofft, ihn noch einmal zu sehen. Sie hatte ziemlich lange darüber nachgedacht, welches Shirt sie anziehen sollte. Was lächerlich war, denn sie waren alle einfarbig.

„Wo bist du?“, sie flüsterte immer noch, als würde sie ein Geheimnis mit ihm teilen.

„Etwa zwanzig Meter vor dem Zaun auf der Ladefläche meines Pick-ups.“

Es war seltsam zu wissen, dass er so nah war und doch unerreichbar. „Und jetzt?“

„Und jetzt überlegen wir uns, wie wir dich da rausbekommen.“

Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, weil sie das Lächeln in seiner Stimme hören konnte.

„Grey hat die Sicherheitsvorkehrungen immer weiter verstärkt. Warum?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du bist schon oft abgehauen?“

„Ja, vier Mal. Ein Mal mit meiner Schwester Rachel, es gab höllischen Ärger.“ Sie musste wieder schmunzeln, obwohl die Erinnerung an die Isolation nicht zum Lachen war. „Früher gab es noch ungesicherte Stellen in der Mauer. Mittlerweile ist alles im Abstand von drei Metern zur Abgrenzung am Boden mit Bewegungsmeldern abgedeckt. Rachel kennt sich gut mit Computern aus, sie hat das Sicherheitsnetz mitentwickelt.“

„Das heißt, ihr seid sehr unterschiedlich, deine Schwester und du.“

„Wir sind Zwillinge.“ Es war merkwürdig intim, ein Gespräch mit einem Fremden, aber sie hatte das Gefühl, dass er sie verstand. „Eineiig.“ Und trotzdem konnten sie unterschiedlicher nicht sein. Innerlich war das für sie eindeutig. Äußerlich glichen sie sich. Flammend rote Haare, dieselbe helle Haut. Nur die Augenfarben waren unterschiedlich. Während bei ihr das linke Auge braun und das rechte blau war, war es bei Rachel genau umgekehrt. Es war eine Laune der Natur, genauso wie ihre Fähigkeiten.

„Ich würde dich erkennen“, sagte er.

Fast glaubte sie aus seiner Stimme herauszuhören, dass er lächelte.

„Ach ja? Bist du dir sicher?“

„Hundertprozentig.“

„Na sag ich doch, an Selbstbewusstsein mangelt es dir nicht.“ Sie hätte gern seine Augen gesehen in diesem Moment. Stattdessen lauschte sie gebannt jeder einzelnen Nuance, die sie in seiner Stimme wahrnehmen konnte. Aber er schwieg. Sie konnte nur seinen Atem hören. Es war seltsam, aber hätten sie sich gegenüber gestanden, hätte es wahrscheinlich einen magischen Moment gegeben. Der, indem sich das Liebespaar tief in die Augen sieht, weil die Stimmung des Neckens in eine elektrisierende Ernsthaftigkeit kippt und beiden klar wird, das ein Kuss jedes weitere Wort unnötig macht.

„Du kannst mich hier nicht rausholen, oder?“

Er pfiff leicht durch die Zähne. „Oh doch. Du kannst dich auf mich verlassen.“

Sie glaubte ihm, wahrscheinlich hätte sie ihm auch geglaubt, wenn er ihr erzählt hätte, dass sie morgen früh von einem rosa Einhorn geweckt werden würde. Er hatte diese Art an sich, mitreißend und vertrauenserweckend in einem. Wahrscheinlich war er so ein Typ, mit dem alle auf dem College befreundet sein wollten, Schulsprecher, Supersportler, Schwarm aller Mädchen. So einen, wie der, den sie aus dem Film kannte. Wahrscheinlich war selbst seine Andersartigkeit eine Bereicherung. Nicht wie bei ihr ein Makel, der sie als Verrückte abstempelte.

„Und was möchtest du dafür haben?“, fragte sie. Ihr war klar, dass es nichts umsonst gab. Genauso klar war ihr die Tatsache, dass jede Flucht nur ein Spiel auf kurze Zeit war. Grey hatte sie immer gefunden, egal wo sie gewesen waren.

„Meine Freiheit.“ Es war nicht mehr als ein Hauchen, aber sie hörte es genau.

„Wie meinst du das?“ Plötzlich kam ihr das Innere des Gewächshauses erdrückend vor. Sie ging nach draußen, lehnte sich an die kühle Fassade und sah in den dunklen Nachthimmel.

„Seit ich denken kann, mache ich irgendwelche Tests, oder bekomme Spritzen, Injektionen. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, oder um was es eigentlich geht. Aber eins weiß ich sicher, wenn mich jemand fragen würde was ich möchte, würde ich den ganzen Scheiß lassen und abhauen.“

Ein melancholischer Schimmer legte sich auf ihr Gemüt. Sie wusste genau was er meinte. Mehr noch, sie hatte seit ewiger Zeit das Gefühl, ausgesprochen zu hören, was sie fühlte.

„Ich brauche Zugang zu seinen Daten“, sprach er weiter. „Oder seinem Labor. Irgendwo in diesem riesen Anwesen muss es einen Ort geben, an dem er seine Aufzeichnungen aufbewahrt.“

Er hatte recht, so etwas musste es geben. Doch sie hatte nur begrenzt Zugang zu den Räumen. Den rechten Flügel kannte sie kaum. Rachel würde den Teufel tun und ihr Passwörter verschaffen. „Ich kann dir nicht helfen.“ Es fühlte sich furchtbar an, das zugeben zu müssen, weil es ihre Machtlosigkeit unterstrich.

„Das hast du schon.“

Mit ein paar Worten schaffte er es, dieses aufgeregte Kribbeln wieder zu erwecken, als hatte sie nur für einen Augenblick vergessen, was Hoffnung bedeuten konnte.

„Hat er euch Spritzen verabreicht?“

„Ja, aber es hörte auf als wir dreizehn waren, glaube ich. Rachel hat eine Kampfausbildung bekommen. Bei mir war es Unterricht. Biologie, Chemie. Er hat einen exakten Plan, was mein Studium betrifft …“ Kurz verlor sie sich in der Erinnerung, wie Grey vor ihnen gestanden und erklärt hatte, dass er der einzige Mensch der Welt war, auf den sie zählen konnten. Es war sehr schwer, dem Menschen, der ihnen ein Dach über dem Kopf bot, Paroli zu bieten, obwohl sie immer das Gefühl hatte, auf eine subtile Art manipuliert zu werden. Sie schüttelte den Gedanken ab. „Aber die Spritzen haben nichts gebracht. Zumindest ist mir nichts aufgefallen. Es ist nach wie vor verrückt.“

„Was ist verrückt?“

Sie atmete tief durch. Das war eine Frage die sie scheute, weil die Antwort in ihren Ohren durchgedreht klang. „Ich kann Gedanken löschen.“

Er schwieg.

„Rachel kann Gedanken erschaffen, ich kann sie vernichten. Als wir klein waren und noch nicht wussten, was wir damit anrichten, haben wir damit experimentiert. Wir wussten nicht, wie schwerwiegend es sein kann, wenn Menschen Erinnerungen verlieren oder von außen fremde eingespeist bekommen.“

„Sie drehen durch“, schlussfolgerte er.

„Ja, vielleicht hält uns Grey deshalb hier fest.“ Vielleicht hatte er damit sogar recht. Sie konnte diese Dinge nicht rückgängig machen, es war etwas, womit sie leben musste, genau wie mit der Tatsache, dass sie immer ein Freak sein würde.

„Niemand hat das verdammte recht jemand anderen einzusperren.“ Er klang bestimmt und unverrückbar. „Ich hole dich da raus. Überlege dir schon mal, was du erleben willst.“

Er konnte das wirklich, aus einem Keim in Windeseile Hoffnung wachsen lassen. Ohne zu werten, oder ein Wackeln in der Stimme. Keine Abscheu, oder etwas, das wie schlechte Faszination klang. Als wären sie normal. Jetzt lag es an ihr, zu fragen, was der versteckte Makel an ihm war. Aber sie traute sich nicht. Sie hatte gesehen wie perfekt er kämpfte, wie schnell er sich bewegte. Und dass er gleichzeitig komplexe Formeln lösen konnte. Er war hochbegabt, er wirkte wie der perfekte Mensch, es war erschreckend und faszinierend. Deshalb fragte sie nicht. Weil sie sich bei einem Gedanken ertappt fühlte, den sie bei anderen sich selbst gegenüber nicht erkennen wollte.

„Geh zurück!“ Ein unmissverständlicher Befehlston in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. „Mehrere Männer sind gerade nach draußen, sie suchen dich.“

„Woher weißt du das?“

„Wärmebildkamera, hängt mit an der Drohne.“

Was auch immer. Zoe ging zügig zum Eingang zurück.

„Du bist über einen anderen Ausgang gekommen.“ Sie nickte. Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort. „Nimm denselben Weg.“

Sie drehte um und ging zur Fassade, um in deren Schutz zum Hintereingang zu laufen.

„Bleib stehen.“

Ruckartig verharrte sie und hielt den Atem an. Erst hörte sie nichts, dann drangen leise Schritte durch die Nacht.

„Atme ruhig. Sie werden weitergehen. Du bist viel zu klein, als dass man dich bemerken könnte.“

Ihr Puls dröhnte in ihren Ohren. Die Männer drehten um, woher hatte er das gewusst?

„Los.“ Ein sachliches Kommando.

Sie bewegte sich wie eine Marionette nach seinen Anweisungen, bis sie vor der Bibliothek stand.

„Geh zu deinem Zimmer, sprich nicht mehr mit mir. Morgen um siebzehn Uhr gehst du nach unten. Bleib an der Tür stehen, ich hole dich ab. Falls du eine Mütze hast, zieh sie an.“

Sie versuchte, jeden Punkt abzuspeichern, während sie die Treppen hinauflief. Es war lächerlich, kein Mensch war zu sehen, und trotzdem hatte sie auf einmal den Eindruck, als hätten die Wände Augen. Als wäre sie durch Carter plötzlich in einer Verschwörungstheorie gelandet.

„Eine Sache noch …“ Wieder dieses unverkennbare Lächeln in seiner Stimme. Ein gewaltiger Funkenregen stob in ihrem Bauch auf. „Ich heiße Emmet.“

Wie vom Donner gerührt stand sie mit der Hand an der Klinke vor ihrer Zimmertür. Das Signal war weg. Sie hörte nicht einmal mehr die Geräusche der Nacht durch den Sender in ihrem Ohr. Emmet. Sie sprach den Namen stumm aus, nur, um ihn auf den Lippen zu spüren. Ein wunderschöner Name. Schnell ging sie in ihr Zimmer.

Rachel war nicht da. Sie fing an, den Schrank nach etwas zu durchsuchen, das einer Mütze am nächsten kam. Aber so etwas gab ihre Garderobe nicht her. Sie hatte sich noch niemals ein Kleidungsstück selbst gekauft. Grey hatte zwei Mal im Jahr Kleiderpakete für die Zwillinge. Es waren immer schlichte Dinge. Meist Hosen und Shirts oder Pullover ohne Schnickschnack. Die Farben Weiß, Schwarz und Grau dominierten. Ihr war das tendenziell gleichgültig, weil sie sich an solchen Sachen nicht maß. Die paar Mal, die sie ausgerissen war und andere in ihrem Alter gesehen hatte oder einen Blick auf Zeitschriftencover oder Fernsehen werfen konnte, hatte sie alles fasziniert betrachtet. Die unterschiedliche Musik war besonders spannend, oder dass manche Menschen Schmuck trugen. Aber sie hatte es eher im Stillen abgespeichert und nicht darum getrauert, dass sie so etwas nicht besaß. Doch jetzt kramte sie in dem Schrank, als gäbe es nichts Wichtigeres, als eine Mütze. Sie fand nur ein helles Baumwolltuch, das sie sich um den Kopf binden konnte. Rachel hatte es einmal als Halstuch benutzt, als sie nach einer besonders harten Trainingseinheit erkältet war. Wenn sie sich einen Zopf flechten und ihn unter dem Tuch verstecken würde, konnte man nur noch wenig von dem Feuerrot erkennen. Sie nahm an, dass es Emmet darum gegangen war.

„Was machst du da?“

Ruckartig drehte sie sich zu Rachel um, die irritiert in der Tür stand. „Nichts.“ Intuitiv griff sie an ihr Ohr und zog den kleinen Knopf ab, während sie sich umdrehte und zu ihrem Bett ging. „Wo warst du?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Es gab Probleme mit dem Tor. Ich konnte es mir nicht genauer ansehen, ich sollte nur den Code neu programmieren. Aber da ist etwas an der Mechanik nicht in Ordnung. Das muss am Tor ausgetauscht werden.“

Zoe machte ein zustimmendes Geräusch, obwohl sie nur daran denken konnte, was sie heute erlebt hatte. Dass sie morgen allein, ohne Rachel gehen würde, trieb ihr ein mulmiges Gefühl in den Magen. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es so besser war. Rachel war nicht der Typ für so eine Art Ausflug, und mehr war es nicht. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie draußen überleben konnte. Vielleicht dachte Emmet, dass er ihr nun zu einer einmaligen Flucht verhelfen würde. Während sie sich nur einen Ausflug in die Freiheit vorstellte.

O Gott.

Bei dem Gedanken daran, wie naiv sie an alles rangegangen war, wurde ihr noch komischer zumute. Sie legte sich aufs Bett und atmete tief durch. Sie würde versuchen ein paar Infos für ihn zu bekommen und morgen um siebzehn Uhr würde sie vor dem Eingang warten. Wenn er wirklich kommen und es schaffen würde, sie hier rauszuholen, dann hatte sie eine Sache, die sie gern erleben wollte, schon geschafft. Denn dann konnte sie einen Abend mit Emmet verbringen.

Punkt sechzehn Uhr fünfundfünzig stand Emmet im Schutz von ein paar Bäumen vor Greys Anwesen in der Cragmoor Road.

Mittlerweile waren es Jahre, in denen er darauf gehofft hatte, mehr über Grey und seine Arbeit herauszufinden. Ein Insider wie Zoe bot den perfekten Weg zum Ziel. Trotzdem stand er jetzt mit seinem Tablet vor dem Tor und fieberte dem Augenblick entgegen, in dem er Zoe lächeln sehen würde. Die Informationen waren beinahe unwichtig geworden. Gestern Abend hatte er noch vier Störquellen außerhalb der Mauern aufgestellt, damit waren die Bewegungsmelder beschäftigt. Sie meldeten permanent Eindringlinge, obwohl über die Kameras nichts zu sehen war. Das war Punkt eins seines Planes. Auf dem Anwesen gab es sicherlich Aufruhr. Hinter sich hörte er schon die Militärwagen nahen, sie waren Punkt zwei. Er hatte sich ins Netzwerk seiner Base gehackt und einen Alarm-Code freigeschaltet. Dieser besagte, dass sich zwei geflohene politische Gefangene aus Kolumbien auf Greys Anwesen befanden.

Es war nicht die feine Englische, das Militär zu benutzen, aber er hatte wenig Zeit gehabt und um Geiseln handelte es sich ja. Es war nur eine Auffassungsfrage. Es war nicht mehr als ein Klick auf dem Touchscreen und ein zweiter Virus zerstörte die Mechanik des frisch reparierten Tores. Punkt drei.

Mit Eintreffen des Militärs öffnete sich das Tor. Emmet wartete hinter ein paar Bäumen, bis die Wagen durch das Tor gefahren waren, dann steckte er sein Tablet unter seine Jacke und spurtete hinterher. Er hatte seine Einsatzuniform an und fiel so unter den anderen Soldaten nicht auf. Da er selbst den Einsatzbefehl geschrieben hatte, wusste er genau, wie der Trupp ausschwärmen würde. Schon wurde erstes Gebrüll laut, hinter dem Gebäude gerieten die Soldaten mit Greys Wachschutz aneinander.

Punkt siebzehn Uhr ging die Tür auf und Zoe linste nach draußen. Sie hatte ein Tuch um ihre Haare gebunden. Zuerst suchte sie nervös die Ursache des Tumultes, dann erkannte sie ihn in der Uniform. Ein kurzes Lächeln flog über ihre Lippen, als er auf sie zukam. Er hielt ihr seine Hand entgegen. Sie griff zu.

Er rief seinen Kameraden zu, dass er eine Zivilistin evakuiere, und zog sie über die Auffahrt Richtung Tor. Er spürte, dass sie seine Hand drückte. Es war lächerlich. Er baute hier gerade verdammt großen Mist, das war weit mehr als ein dummer Jungen-Streich, trotzdem schoss das Adrenalin durch seinen Körper, als hätte er sein ganzes Leben darauf gewartet, diese Frau an der Hand zu halten. Er lief schnurstracks mit ihr durch das Manöver, direkt nach draußen. Vor dem Tor rannten sie Hand in Hand zu seinem Pick-up. Er öffnete die Beifahrertür und machte eine einladende Geste.